Irrational von Schangia (Shinra/Shizuo) ================================================================================ Kapitel 1: One Shot ------------------- Kishitani Shinra war kein eifersüchtiger Mensch. Er war zu selbstsicher, zu geerdet, und sich seiner Stärken und Schwächen zu sehr bewusst, als dass er ein Gefühl wie Eifersucht hätte empfinden können. Zumindest war das vor den letzten drei Jahren seiner Schullaufbahn der Fall gewesen. Davor hatte Shinra jahrelang in dem Glauben gelebt, sein Interesse an Shizuo wäre rational, platonisch und frei von jeden Hintergedanken. Er hatte gedacht, dass sein Herz nur deshalb schneller schlug, wenn er sich in seiner Nähe aufhielt, weil Shizuo anders war als andere Menschen. Weil er ihn als Versuchsobjekt sah, als außergewöhnliche Spezies, die es zu erforschen galt. Außerdem wurde es niemals langweilig, wenn sie Zeit miteinander verbrachten. Niemals hätte er sich träumen lassen, wie viel mehr dahinter steckte, das er nicht rational erklären konnte. *** Als sie sich das erste Mal getroffen hatten, war Shizuo gerade dabei gewesen, auf dem Pausenhof ihrer Grundschule einem völlig überrumpelten Mitschüler einen Mülleimer an den Kopf zu werfen. Gut, er hatte sich dabei die Schulter ausgekugelt und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden, aber Shinras Interesse an ihm war augenblicklich geweckt worden. Er wollte ihn auch noch am selben Tag besuchen, aber die Ärzte hatten ihn nicht ins Zimmer gelassen. Also war er wieder gegangen und hatte ungeduldig darauf gewartet, dass Shizuo wieder entlassen wurde. Nur wenige Tage später saß er schon wieder schlecht gelaunt in seinem Klassenzimmer, sodass Shinra seine Chance während der Mittagspause nutzen konnte. Die meisten von Shizuos Mitschülern hatten den Raum verlassen, und er wusste, dass Shizuo seine Pause so gut wie immer drinnen verbrachte, also konnte er ganz gemütlich von seinem eigenen Klassenzimmer zu dem des anderen schlendern und sich dann lächelnd vor seinem Tisch positionieren. »Freut mich, dass es dir wieder besser geht, Shizuo-kun«, begann er, ohne darauf zu warten, dass sein Gesprächspartner von seinem Bento aufsah. Als er schließlich doch den Kopf hob, zog er nur fragend eine Augenbraue hoch, schluckte den Bissen runter, auf dem er bis eben noch ahnungslos gekaut hatte, und musterte ihn genau. »...kennen wir uns?« Ein wenig perplex kam Shinra zum ersten Mal in den Sinn, dass er und Shizuo noch nie miteinander gesprochen hatten und seine vertrauten Worte deswegen wohl ziemlich unheimlich wirken musste. Dennoch lächelte er weiter und stellte sich vor. »Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Kishitani Shinra.« »Also kennen wir uns nicht«, schloss Shizuo desinteressiert und aß weiter. »Eh... nein, noch nicht, aber—« Shinra brach mitten im Satz ab, als Shizuo wütend knurrte – wie ein Tier, schoss es ihm durch den Kopf – und anklagend mit seinen Essstäbchen auf ihn zeigte. »Dann lass mich in Ruhe.« Mit so viel offener Ablehnung hatte Shinra zugegeben nicht gerechnet. »A-aber... wollen wir nicht Freunde werden?«, versuchte er es erneut, doch Shizuo runzelte darauf nur die Stirn und verzog das Gesicht. »Freunde?«, hakte er misstrauisch nach, so als würde er das Wort nur mit schlechten Dingen verbinden. »Du riechst, als würdest du in einem Krankenhaus leben. Mit so gruseligen Menschen gebe ich mich nicht ab.« Hätte er sich ein bisschen weniger im Griff, hätte Shinra den Arm gehoben und an seiner Kleidung gerochen. Er war in letzter Zeit nicht im Labor seines Vaters gewesen, also musste Shizuos Geruchssinn sehr viel stärker ausgeprägt sein als bei anderen Menschen. Nur ein weiterer Grund, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. »Wie gemein. Willst du mich nicht erst einmal richtig kennenlernen?« »Nein«, antwortete Shizuo vehement, doch Shinra überging ihn gekonnt, zog sich einen der Stühle näher an Shizuos Tisch und setzte sich neben ihn. »Sobald wir etwas Zeit miteinander verbracht haben, wirst du mich gar nicht mehr missen wollen.« Für einen Moment sah Shizuo so aus, als würde er ihn am liebsten vom Stuhl schubsen. Dann stöhnte er genervt auf und vergrub das Gesicht in der Hand, die nicht die Essstäbchen hielt. »Welchen Teil von Nein verstehst du nicht?!« Natürlich hatte Shinra nicht locker gelassen. Seine Neugier ließ gar nichts anderes zu, als dass er Shizuo belagerte und sich auf ihn fixierte, um mehr über ihn herauszufinden. Wie funktionierte sein Körper? Woran lag es, dass er so viel stärker war als andere Menschen? War es seine Knochenstruktur? Muskeln und Sehnen? Oder lag es gar nicht an seinem Körper, sondern war neurologischen Ursprungs? Seine Haut fing an, angenehm zu kribbeln, wenn Shinra daran dachte, wie besonders Shizuo war. *** Weil Shizuo glaubte, dass Shinras Haus eine Mischung aus Labor und Klinik war, hatte er Shinra für ihr erstes Treffen zu sich nach Hause eingeladen. Er hatte ihm in diesem Zusammenhang auch sehr deutlich klar gemacht, wie sehr er Krankenhäuser hasste. Nur zur Vorsicht, denn Shinra war ihm von Anfang an nicht ganz koscher vorgekommen. Deswegen hatte er auch eigentlich gewollt, dass Kasuka nicht daheim ist, aber sein Bruder hatte nur mit den Schultern gezuckt und mit vielsagendem Blick zu dem Messerblock in der Küche geschaut. Kasukas Gleichgültigkeit beruhigte ihn sogar so sehr, dass er nicht panisch aufsprang, als er Shinras Krankenhausgeruch schon vom Flur her riechen konnte, bevor dieser überhaupt die Klingel betätigt hatte, sondern für seine Verhältnisse beherrscht aufstand und nur ein wenig fluchte. Dennoch verzog er das Gesicht, als er die Tür öffnete, während Shinra noch dabei war, das Klingelschild zu inspizieren. Das schien ihn jedoch nicht zu stören, ganz im Gegenteil; Shinras Lächeln wurde umso breiter, als er Shizuo sah und in die Wohnung eintrat. Augenblicklich begann er damit, alles genau zu betrachten und sich gedanklich Notizen zu allen möglichen Gegenständen zu machen. So bemerkte er zunächst nicht, wie Kasuka ihn musterte, als er das Wohnzimmer betrat. »Das ist der Junge, der dich im Krankenhaus besuchen wollte.« Nachdem er die anfängliche Überraschung überwunden hatte, erinnerte Shinra sich daran, Kasukas Blick gekreuzt zu haben, als er in Shizuos Zimmer geschaut hatte. Kasuka hatte allerdings damals wie heute nicht den Eindruck gemacht, als würde er sich die Gesichter von Fremden merken. »Eh, echt?«, fragte Shizuo, blickte verwirrt zwischen ihnen hin und her. In seinen Augen lag die Frage, warum Shinra nicht einfach reingekommen war. Bevor er jedoch zu einer Erklärung ansetzen konnte, kam Kasuke ihm zuvor. »Ja, aber ihm scheint es besser zu gefallen, zwielichtig durch die Gegend zu schleichen. Er hat die ganze Zeit im Gang den Krankenschwestern im Weg gestanden.« So ganz stimmte das nicht. Shinra war sehr bemüht darum gewesen, niemanden im Weg zu stehen. »Ähm, Kasuka-kun...«, wollte er die Situation ein wenig entschärfen, doch Shizuos entgeisterter Gesichtsausdruck verriet ihm, dass jede Hilfe zu spät kam. »Oh Gott, und ich hol uns diesen Freak auch noch in die Wohnung. Kasuka, geh in dein Zimmer, ich regle das!« Wenn Shinra gedacht hatte, Shizuos unmenschliche Kraft als Zuschauer zu betrachten wäre Nervenkitzel genug, war es nichts gegen das Gefühl zu wissen, dass seine Wut einem selbst galt. Mit einem Mal trat ihm Angstschweiß auf die Stirn. »S-shizuo-kun, bitte, stell den Kühlschrank wieder hin!« Während sich Shizuos angestrengtes Schnaufen mit Shinras beinahe hysterischem Aufschrei mischte, griff Kasuka seelenruhig zum Telefon und wählte die Nummer, die ihm vertrauter war als die seiner Eltern. »Ich rufe schon mal im Krankenhaus an.« *** Es geschah nicht selten, dass Shinra sich über Shizuo lustig machte. Meist war es ein gespielt abfälliger Kommentar darüber, dass Shizuo – obwohl er eigentlich recht intelligent war – Zusammenhänge manchmal nicht sofort erfassen konnte, weil sie für ihn schlichtweg unbedeutend waren. Noch öfter jedoch galt Shinras Spott dem an mentaler Schlichtheit grenzenden Pragmatismus seines Freundes. Shizuo wusste, dass Shinra solche Dinge immer mit einem lachenden Auge von sich gab, doch das änderte nichts daran, dass er impulsiv darauf reagierte. Wie bei jedem anderen Menschen auch wehrte er sich physisch, doch im Gegensatz zu anderen achtete er beinahe penibel darauf, Shinra nicht ernsthaft zu verletzten. Er war dankbar dafür, dass er sich mittlerweile so gut im Griff hatte. Der Grund für dieses Privileg war vermutlich, dass sie Kindheitsfreunde waren, zumindest erklärt Shinra es so, wenn andere ihn darauf ansprachen. Aber eigentlich hoffte er, dass es die gleichen Gründe waren, aus denen er Shizuo automatisch in Schutz nahm, wenn jemand ihn als dumm bezeichnete. *** Obwohl Izaya für seine Hilfe bei der Verwirklichung des Biologieclubs niemals eine explizite Gegenleistung gefordert hatte, war Shinra klar, dass dies nicht an seiner vermeintlichen Güte lag. Izaya war kein netter Mensch, sondern eine Existenz irgendwo zwischen Soziopath und Psychopath, die sich ein perverses Vergnügen daraus machte, mit anderen zu experimentieren. Seine Behauptung, dass er Menschen lieben würde, hatte Shinra ihm noch nie geglaubt, und je öfter er sie hörte, desto einfacher fiel es ihm, hinter das gekünstelte Lächeln zu sehen, das ihm einen Schauer über den Rücken gejagt hätte, wenn ihm nicht klar gewesen wäre, dass er tief drin noch ein bisschen kaputter war als Izaya. Gerade weil Shinra darum wusste, kam er auf oberflächlicher Ebene gut mit ihm zurecht. Er hatte es lernen müssen, gezwungenermaßen, denn es verging kaum ein Tag, an dem Izaya nicht in ihrem Clubraum herumlungerte, ohne wirklich ein Teil davon zu sein. Die meisten anderen Mitglieder kamen selten; gerade zum Ende der Woche hin war Shinra meistens allein. Wirklich stören tat ihn das nicht – so hatte er wenigstens seine Ruhe –, aber es war auch manchmal ganz angenehm, jemanden zum Reden zu haben. Selbst, wenn dieser Jemand der unausstehlichste Mensch war, den man kannte und jemals kennen würde. Zumindest, bis ihre trivialen, bedeutungslosen Gespräche auf ein bestimmtes Thema fielen. »Weißt du, was ich mich immer schon gefragt habe, Shinra?« Eine unschuldig klingende Frage, von der Shinra wusste, dass auf sie nichts Gutes folgen würde. Er sah nicht auf von dem Buch, das er gerade las, und bemühte sich stattdessen, seine Stimme ehrlich interessiert klingen zu lassen. »Was denn?« Sowie er aus dem Augenwinkel sah, wie sich Izayas Mund zu einem Grinsen verzog, wusste er, um was es gehen würde. »Du bist so ein intelligenter, interessanter Mensch. Wie kommt es, dass du dich von einem Monster wie Shizu-chan so in den Bann ziehen lässt?« Instinktiv verzog Shinra das Gesicht, als er das Wort Monster hörte, wenn auch nur minimal. Doch er wusste, dass Izaya ihn beobachtete, also zwang er sich, schnell wieder so zu lächeln, als würde er seinem Gegenüber nicht mit voller Wucht eine Schere in den Hals stechen wollen. »Shizuo-kun ist kein Monster«, sagte er irgendwann sehr viel beherrschter, als er sich eigentlich fühlte. Selbst Izaya schien überrascht, oder er schauspielerte es einfach nur gut. »Oho?« Shinra hasste, dass seine Stimme bei diesem simplen Ausruf tiefer klang als sonst. Denn für gewöhnlich bedeutete es, dass Izaya einen Schwachpunkt gefunden hatte; den einzigen Schwachpunkt, den Shinra je haben würde. Das Lächeln verließ seine Augen, wurde kalt, als er den anderen über den Rand seiner Brille hinweg ansah. »Ich würde sagen, wir beenden die Konversation hier, Orihara-kun.« Darauf lachte Izaya, kurz und heiter und affektiert, und Shinra spürte eine Wut in seinem Magen brodeln, die es nur gab, wenn er sich in Izayas Nähe aufhielt. Wie immer in solchen Situationen vermied er stur jeden Augenkontakt, sondern starrte angestrengt auf die Seiten des Buches in seinen Händen, ohne zu lesen, was dort geschrieben stand. »Du bist ein komischer Kauz«, meinte Izaya abschließend, als er in einer eleganten Bewegung von dem Tisch glitt, auf dem er bis eben gesessen hatte. Er klopfte Shinra leicht auf die Schulter, machte sich allerdings keine Mühe, sein Grinsen zu verbergen, als der andere minimal zurückzuckte. Shinra war eine weitere Berührung davon entfernt, sich zu übergeben. Es erleichterte ihn ungemein zu sehen, wie Izaya zum Abschied winkend den Raum verließ. »Zu viel der Ehre«, murmelte er leise und versuchte vergebens, den bitteren Geschmack in seinem Mund zu ignorieren. *** Wenn man ihn gefragt hätte, was er an Izaya am meisten hasste, hätte Shinra nicht lange überlegen müssen. Es war der Einfluss, den er auf Shizuos Leben hatte. Sicher, sie konnten einander nicht ausstehen und versuchten bei jeder sich ergebenden Gelegenheit, den jeweils anderen umzubringen. Aber Izaya war stetig präsent, spukte immer in Shizuos Gedanken herum, und das war es, was Shinra missfiel. Er hasste ihn dafür, dass er alles war, worüber Shizuo manchmal mit ihm zu sprechen wusste. Aber noch mehr hasste er sich an manchen Tagen selbst dafür, dass er ihm Shizuo überhaupt vorgestellt hatte. *** Wenn er die Wahl hatte, würde Shinra Shizuos natürliche Haarfarbe der blonden Färbung jederzeit vorziehen. Nicht so sehr, weil er dunkle Haare schöner fand als blonde – Shizuo war so oder so einer der attraktivsten Männer, die er kannte –, sondern weil es nur zwei Menschen gab, die ihn mit seiner ursprünglichen Haarfarbe kannten. Das war zum einen Kasuka, selbstverständlich, und zum anderen er selbst. Shinra fühlte sich zufrieden, wenn er daran dachte, dass ihn das ein wenig besonders machte. Oder zumindest stellte er sich gerne vor, dass dem so war. Vermutlich dachte Shizuo gar nicht über solche Dinge nach. Shinra hingegen dachte gerne an ihre Kindheit zurück, damals, als es nur ihn, Shizuo und Kasuka gegeben hatte. Als er der einzige relevante, nicht blutsverwandte Mensch in Shizuos Leben gewesen war. Als seine Haare noch braun und Izaya noch kein Teil seines Lebens gewesen war. *** Irgendwann war Shinra mal auf die wahnwitzige Idee gekommen, Shizuo zu fragen, ob er Kasuka genauer untersuchen dürfte um herauszufinden, inwiefern sich sein Körper von dem seines Bruders unterschied. Sein aus dieser Frage resultierender, dreiwöchiger Krankenhausaufenthalt war der erste seines Lebens. Aber es störte ihn nicht, denn jeden anderen Menschen hätte Shizuo dafür vermutlich direkt auf den Friedhof befördert. Wenn er ganz ehrlich war, dann war Shinra sogar ein bisschen stolz darauf, dass er so glimpflich davongekommen war. *** Manchmal fragte Shinra sich, was Shizuo in der Mittelschule alles erlebt hatte. Welche Lehrer er gehabt hatte, wie gut er mit den verschiedenen Fächern zurechtgekommen war, wie oft er sich am Tag geprügelt hatte, ob er danach lange im Krankenhaus gelegen hatte, und wie leicht ihm die Abschlussprüfung gefallen war. Ob er Freunde gefunden hatte, die ihn so mochten, wie er war, und wenn ja, wie viele. Ob er sich verliebt hatte, und ob man ihm vielleicht das Herz gebrochen hatte. Am meisten interessierte Shinra aber eigentlich, ob Shizuo ihn genauso vermisst hatte, wie er ihn. Als er ihn bei der Eröffnungszeremonie ihrer Highschool gesehen hatte – milde geschockt von der neuen Haarfarbe und dem manchmal distanziert wirkenden Blick –, hatte Shinras Herz trotz aller wissenschaftlichen Erklärungen, die dagegen sprachen, einen Schlag lang ausgesetzt. Als er ihn dann angesprochen und Shizuo mit einem ›Yo Shinra, lange nicht gesehen‹ und einem Lächeln geantwortet hatte, von dem Shinra hoffte, dass nur er es kannte, waren es sicherlich noch einmal drei Schläge gewesen. Von da an war es fast so gewesen wie früher. Nur, dass Shizuo nicht wirklich von den letzten drei Jahren erzählen wollte. Shinra hatte das Nachsehen, auch wenn es ihn brennend interessierte und das Einzige, das ihn von weiteren Fragen abhielt, Shizuos distanzierter Blick war. »Für jemanden, der so sehr an der Wissenschaft interessiert ist wie du, redest du sehr oft vom Schicksal«, hatte Shizuo nach ein paar Wochen gemeint, ganz beiläufig und vermutlich ohne irgendwelche Hintergedanken. Es war nichts weiter als eine läppische Bemerkung, während sie ihre Pause auf dem Schuldach verbrachten, aber sie warf Shinra dennoch kurzzeitig aus der Bahn. Glaubte er an Schicksal? Angesichts seiner Erziehung stand das eigentlich außer Frage, aber wenn er es in den wenigen Wochen seit Schulbeginn bereits so oft angemerkt hatte, dass Shizuo ihn darauf ansprach, konnte er sich dessen nicht mehr so sicher sein. Was bedeutete es überhaupt, ans Schicksal zu glauben? Shinra benutzte den Ausdruck nur, weil ihm der Gedanke gefiel, dass eine höhere Instanz sie wieder zusammengebracht hatte. Dass jemand, etwas der Meinung war, sie gehörten zusammen, und sie deswegen wieder vereint hatte. Es gab ihm eine gewisse Sicherheit, eine kleine Chance, dass seine Hoffnung nicht vergebens war. *** Bis auf Celty und seinen Vater hatte zunächst niemand gewusst, dass Shinra nur äußerst selten reguläre Patienten behandelte, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte das auch so bleiben können. Vielleicht wäre es das auch, wenn er von Anfang an zu Aufträge angenommen hätte, die vorher vereinbart worden waren, anstatt einfach spontan bei seinen zumeist vorbestraften Klienten vorbeizuschauen. Sich abends auf offener Straße von zwielichtigen Gestalten ansprechen und in ein heruntergekommenes Gebäude führen zu lassen, war zugegeben nicht seine beste Idee gewesen. Dabei war es so ein vergleichsweise leichter Auftrag gewesen, der ihm in Relation dazu verdammt viel Geld einbrachte. Schmutziges Geld, aber was interessierte das die internationalen Banken, bei denen er sich schon sehr früh – und auf den Rat seines Vaters hin – Konten hatte einrichten lassen? Shinra summte sogar leise vor sich hin, als er die Schussverletzungen des Mannes vor sich behandelte. Die Wunden waren nicht lebensbedrohlich, aber die Kombination aus hochrangigem Yakuza-Mitglied, illegalen Waffen und verfeindeten Familien hatte bisher niemals Gutes hervorgebracht, und so war es nicht verwunderlich, dass Shiki ihn mit wachsamen Augen musterte. »Es mag nicht das erste Mal sein, dass wir Ihre Dienste in Anspruch nehmen«, begann Shiki nach einer Weile mit gespielt gleichgültigem Ton, »aber das hier bleibt wie immer unter uns, nicht wahr?« »Hai hai~ selbstverständlich«, unterbrach Shinra sein eigenes Summen grinsend und begann damit, die frisch vernähte Wunde zu verbinden. Alles wäre wie immer gewesen – ein Auftrag in der gesetzlichen Grauzone, stillschweigende Partner und eine üppige Bezahlung, von der er und Celty mehrere Wochen lang mehr als gut leben konnten. Hätten die zwei Dutzend Männer, die draußen im Flur Wache standen, nicht mit einem Mal angefangen, schmerzverzerrte Schreie von sich zu geben. Zunächst noch recht leise, gemischt mit ein paar Flüchen und Drohungen, doch sehr schnell konnte man sich anhand der Geräusche fast schon bildhaft vorstellen, wie vollkommen überrumpelte Ganoven gegen Mauern geschleudert und ohnmächtig geprügelt wurden. Shinra seufzte laut und hielt in seiner Arbeit inne. Im nächsten Moment trat Shizuo unter lautem Gebrüll die Tür ein und brachte die verbliebenen Wachen im Zimmer mit seiner Raserei so sehr aus dem Konzept, dass sie ganz vergaßen, ihre Waffen auf ihn zu richten. »Shinra, du Schwachkopf, warum lässt du dich so einfach verschle— hä?« Er hatte fast schon damit gerechnet, dass es irgendwann so weit kommen würde. Es war nicht selten, dass er gerade dann Anrufe von seinen Klienten bekam, wenn er mit Shizuo oder anderen unterwegs war, und auch an diesem Abend war es nicht anders gewesen. Vermutlich war Shizuo ihm gefolgt, hatte beobachtet, was geschehen war, und sich in seiner Schlichtheit seine eigene kleine Horrorgeschichte zusammengereimt. Was nicht hieß, dass Shinra es nicht irgendwo ziemlich niedlich und rührend fand. Es war nur einfach der völlig falsche Zeitpunkt. So blieb ihm nichts anderes übrig, als Shiki – der trotz all des Chaos völlig gelassen im Sessel hinter ihm saß und das Geschehen beinahe schon desinteressiert beobachtete – entschuldigend anzulächeln. »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie ein Auge zudrücken würden. Er hat gerade erst als mein Bodyguard angefangen und kennt sich noch nicht im Geschäft aus.« Immer noch desinteressiert sah Shiki zwischen Shizuo und Shinra hin und her. »In unserem Metier ist ein Bodyguard keine schlechte Idee. Allerdings...« Er ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen, aber Shinra verstand auch so, worum es ging. »Die Behandlung kostet Sie selbstverständlich nichts.« Darauf grinste Shiki zufrieden und lehnte sich zurück, Shinra lächelte weiterhin unbeirrt, obwohl er noch nicht wusste, wie er das flaue Gefühl in seiner Magengegend definieren sollte, und Shizuo sah sich verwirrt, beinahe schon verloren im Raum um, während er auf seinen Freund wartete. In der Tat hatte er es geschafft, ruhig und gesittet zu warten, bis Shinra seine Arbeit erledigt und sich verabschiedet hatte. Er begleitete ihn weniger, um den Schein zu wahren, als vielmehr darauf zu achten, dass ihm nichts geschah, und Shinra hätte gelogen, wenn er behauptet hätte, er würde sich darüber nicht freuen. Aber Shizuos unüberlegtes Verhalten hatte ihn nun einmal auch eine Menge Geld gekostet, also strafte er ihn nicht nur mit Schweigen, sondern boxte ihn auf dem Weg zurück auch unvermittelt auf den Arm, dreimal schnell auf die gleiche Stelle, so wie er es schon in ihrer Kindheit öfters getan hatte. Wie auch damals schon bedachte Shizuo ihn nur mit einer hochgezogenen Augenbraue. Er schlug Shinra nicht mit voller Kraft, das hatte er noch nie. »Der Auftrag hätte mich durch den Rest des Monats gebracht«, maulte Shinra und musste sich nicht einmal Mühe dabei geben, wie ein bockiges Kind zu klingen. Obwohl er weiterhin stur geradeaus blickte, konnte er sich nur zu gut vorstellen, wie Shizuo mit den Augen rollte. »Da macht man sich einmal Sorgen...« Hinter all dem Gemurre klang er sogar ein wenig gekränkt, und so verlangte es Shinra eine ganze Menge ab, nicht einfach wieder zu lächeln und ihm aufmunternd auf die Schulter zu klopfen, damit er wusste, dass er ihm eigentlich gar nicht böse war und ihn nur ein wenig hatte aufziehen wollen. »Ich finde allein nach Hause«, bemerkte Shinra irgendwann gespielt beleidigt, als er fand, dass er Shizuo lange genug mit Stille gestraft hatte, und wandte dem anderen seinen Blick zu. »Welcher Bodyguard lässt seinen Arbeitgeber denn nachts allein auf offener Straße zurück?« Die Art, auf die er ihn angrinste, verschlug Shinra für einen kurzen Moment den Atem. Er fand es unfair und schamlos, wie Shizuo seine Attraktivität – aller Wahrscheinlichkeit nach unwissend – einsetzte, aber beschweren wollte er sich dennoch nicht. Stattdessen lächelte er, als er die Bedeutung hinter Shizuos Worten ganz begriffen hatte und streckte ihm kurz die Zunge heraus. »Bezahlen werde ich dich nicht.« Ebenfalls lächelnd gab Shizuo ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. »Als ob ich dafür Geld von dir verlangen würde.« *** Shizuo hatte ihm einmal gesagt, dass er sein Lächeln gruselig fand. Darauf hatte Shinra zunächst nichts zu entgegnen gewusst, aber nach seiner anfänglichen Verwunderung hatte er sich schnell wieder gefangen und, natürlich, gelächelt. »Und warum, wenn ich fragen darf?« »Woher soll ich das wi— da, genau das meine ich!« Unruhig rieb Shizuo sich den Nacken, so als hoffte er, Shinra würde nicht bemerken, dass sich die feinen Härchen dort aufgestellt hatten. Shinra sagte darauf zunächst nichts und lächelte weiter, wohl wissend, dass Shizuo mit jeder verstreichenden Sekunde nervöser wurde. »Es gibt nichts, das dich an meinem Lächeln beunruhigen muss«, schmunzelte er amüsiert. »Ich werde dir schon nichts tun.« Vermutlich würde Shizuo ihm gerne glauben, doch die Art, wie sein Blick ohne Fokus hin und her huschte, verriet Shinra etwas anderes. »Ist mir klar.« Er schnalzte mit der Zunge und vergrub die Hände tief in seinen Hosentaschen. Mit Sicherheit würde er jetzt sehr viel lieber rauchen, um sich zu beruhigen, aber seit einiger Zeit unterließ er das in Shinras Gegenwart. »Keine Ahnung, was mich daran verstört. Sorry.« Immer noch lächelnd klopfte Shinra ihm auf die Schulter. Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, nicht zufrieden zu grinsen, als Shizuo minimal zurückzuckte. »Solange es nur mein blendendes Aussehen ist, das dich irritiert, soll es mir recht sein.« Darauf hatte Shizuo mit den Augen gerollt und seinen Schritt beschleunigt. Nicht, dass Shinra ihm das übel nehmen konnte. Er wusste schließlich am besten, wie oft sein Freund sich – oftmals unbewusst – auf seine Instinkte verließ. Wie oft er eher wie ein Tier als wie ein Mensch handelte, weil es für ihn besser funktioniert, als alle anderen Formen der Interaktion. Eigentlich war Shinra froh, dass sein Instinkt ihn nicht im Stich ließ. Denn wenn Shizuo schon bei ihm unruhig wurde, musste er sich wenigstens keine Sorgen machen, dass er mal jemandem zum Opfer fiel, der ihm wirklich schaden wollte. Jemand, der keine Gefühle hatte, die er für Liebe hielt und die ihn davon abhielten, Shizuo etwas anzutun. *** Shinra wusste, dass sein anfängliches (und immer noch bestehendes) Interesse daran, Shizuo zu sezieren, nicht unbedingt von einer vollkommen gesunden Psyche zeugte. Aber er konnte zumindest erklären, woher dieses Interesse kam. Es war wissenschaftlicher Natur, es beruhte auf Faszination und dem dringenden Wunsch, mehr über Shizuo zu wissen als alle anderen. Es ließ sich rational und vollkommen unbedenklich begründen. Shizuo war allerdings nicht der einzige Mensch, den er gerne aufschneiden würde. Manchmal, da malte Shinra sich aus, wie es wohl wäre, wenn Izaya auf dem kalten Metalltisch vor ihm läge, die schlanken Gliedmaßen mit festem Leder gefesselt, damit er sich nicht befreien und davonrennen konnte, egal, wie sehr er es auch wollte. Er stelle sich vor, wie ihm die unnachgiebigen Fesseln in die helle Haut schnitten, bis dunkles Blut zu fließen begann. Dachte an die Angst, die er endlich in seinen Augen würde lesen können. Und dann stach er zu. Schnell und irrational und mit so viel Wucht, wie sein Körper aufbringen konnte. Er wollte ihn und seinen Körper nicht verstehen, er wollte ihm Schmerzen zufügen. Wollte ihn schreien hören, ihn zerstören, wollte fühlen, wie das Leben langsam aus seinem Körper wich, während er die Hände in seinem aufgebrochenen Brustkorb vergrub und sein nur noch schwach schlagendes Herz so fest zusammendrückte, dass es irgendwann versagte. *** Ihm war klar, dass er besser früher als später mit jemandem darüber reden sollte, sonst würden diese angestauten Phantasien irgendwann ans Tageslicht kriechen. Die Menschheit würde jemanden wie Izaya zwar nicht vermissen, aber er war es auch nicht wert, dass Shinra wegen ihm zum Mörder wurde. Leider war die einzige Person, die ihn verstand, gleichzeitig auch die, mit der er nach Möglichkeit nicht über Izaya reden wollte. In diesem besonderen Fall fand er jedoch, dass er eine Ausnahme machen konnte. »Nee, Shizuo-kun«, begann Shinra vorsichtig, nachdem er und Shizuo in der letzten halben Stunde nur schweigend nebeneinander auf der Couch in Shinras Wohnung gesessen hatten. »Hmm?« Shizuo sah ihn nicht einmal an, lehnte nur den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er sah friedlich aus, fast schon zufrieden. Deswegen gab Shinra sich die größte Mühe, seine nächsten Worte so unschuldig wie möglich klingen zu lassen, obwohl das angesichts ihrer Bedeutung wohl ein aussichtsloses Unterfangen war. »Wenn du Orihara-kun irgendwann geschnappt hast... was machst du dann mit ihm?« »Huh?« Sobald er die Frage registriert hatte, kam seine Antwort ohne Zögern. »Dann töte ich ihn.« Für ihn schien das Thema damit vom Tisch zu sein, was Shinra nicht wirklich wunderte. Shizuo sprach häufig davon, dass er Izaya umbringen wollte, aber auch nicht mehr. Davon zu sprechen war bloße Spinnerei; erst die Planung des genauen Vorgehens machte daraus etwas Greifbares, etwas Reales. Und Shinra wünschte sich nichts sehnlicher, als dass es real wurde. »Aber wie?«, hakte er genauer nach, war untypischerweise genervt von Shizuos Unvermögen, Zusammenhänge sofort zu erfassen. Als würde sein Freund das wissen, kniff Shizuo die Augenbrauen zusammen. »Wie was?« »Wie willst du es beenden?« Die Frage hing im Raum, machte die Luft zwischen ihnen unerträglich schwer. Shizuo schwieg lange, ehe er gemächlich aufstand und dabei eine Zigarette aus seiner fast leeren Schachtel fummelte. »Ich muss allmählich wieder. Man sieht sich.« Er stoppte kurz, als würde er sich wieder daran erinnern, warum er eigentlich dort gewesen war. »Danke, Shinra.« »Nicht dafür«, murmelte Shinra, obwohl Shizuo ihm schon nicht mehr zuhörte. Er nahm es hin und suchte den Fehler bei sich, weil er wusste, dass Shizuo kein Mörder war. Er sagte nichts mehr, als der andere ein paar Worte des Abschieds murmelte und dann verschwand. Stattdessen horchte er auf Shizuos Schritte, gleichmäßig und erstaunlich leise für jemanden mit so viel Kraft, und darauf, wie sie sich langsam von ihm entfernten. Dann war es still in der Wohnung, ganz still, und mit einem Mal wurde Shinra wieder bewusst, wie einsam er eigentlich war. *** »Shizuo-kun? Darf ich dich um einen Rat fragen?« »Mich?« Überrascht hob er eine Augenbraue. »Klar, schieß los.« Shinra lächelte unsicher, spielte abwesend mit dem Skalpell in seiner Hand. »Ich hab darüber nachgedacht, Celty einen Antrag zu machen.« Shizuo war so geschockt, dass ihm seine Zigarette aus dem Mund fiel. »Wenn sie Ja sagt, würde ich mich freuen, wenn du mein Trauzeuge werden könntest.« Er hörte schon gar nicht mehr zu. Das Blut rauschte so schnell durch seinen Körper, dass er sich wie in Watte gepackt fühlte. Wäre sein Kreislauf nicht von jeher stabiler gewesen als bei den meisten anderen Menschen, wäre ihm vermutlich schwarz vor Augen geworden. »Du siehst ein bisschen blass um die Nase aus. Alles in Ordnung?« Gar nichts war in Ordnung, aber das konnte er ihm nicht sagen. Shizuo wusste ja nicht einmal selbst, warum ihm mit einem Mal übel war. Grober als notwendig schob er Shinras Hand beiseite, die der andere vor seinem Gesicht auf und ab bewegt hatte. »Quatsch, mir geht es gut«, log er und wandte den Blick von seinem Freund ab. »Ich freue mich für euch beide.« *** Eigentlich schenkten er und Shizuo sich nichts zu Feiertagen oder zu ihren Geburtstagen. Sie waren beide ohnehin keine Menschen, die besonders viel Wert auf solche Traditionen legten, sondern viel eher pragmatisch, genügsam und in solchen Dingen unkompliziert. Wobei das vielleicht auch an diesem einen Vorfall aus ihrer frühen Kindheit liegen könnte. Damals hatten sie an einem Weihnachtsfest versucht, sich gegenseitig etwas zu schenken. Aber als Shinra den Vogel, den Shizuo und Kasuka ihm als Haustier geschenkt hatten, bei lebendigem Leib aufgeschnitten und untersucht hatte, war es zu einer Art ungeschriebenen Regel für sie geworden, bei simplen Glückwünschen zu bleiben. Ebenso hatte Shinra sich gewünscht, dass es für Shizuo vielleicht zu einer ungeschriebenen Regel werden würde, nur in seinen eigenen vier Wänden zu rauchen. Er mochte es nicht, wenn Shizuo in seiner Wohnung rauchte, nicht im Geringsten. Nicht unbedingt, weil er sich um seine Gesundheit sorgte – Lungenkrebs war das letzte, an dem Shizuo sterben würde –, sondern weil er den Geruch nicht ausstehen konnte. Celty hingegen störte der Geruch wenig, und so kümmerte es sie nicht, ob und wie viel Shizuo in ihrer Wohnung rauchte. Doch sie amüsierte sich manches Mal darüber, dass man deswegen ziemlich gut erkennen konnte, wie oft Shizuo sie in der Woche besucht hatte. Anfangs hatten sie ihn in leere Joghurtbecher äschern lassen. Zunächst hatte das niemanden gestört, nur für Shinra war es irgendwann nicht mehr genug gewesen. Da war dieses seltsame Gefühl in seinem Magen, wenn er Shizuo seine Zigarette ausdrücken sah, dessen Ursprung er auch nach einigen Untersuchungen nicht herausfinden konnte. Also schloss er daraus, dass es an ihrem behelfsmäßigen Aschenbecher lag. Und Shinra wäre nicht der kluge Wissenschaftler und Arzt, zu dem er dank der an Fanatismus grenzenden Erziehung seines Vaters herangewachsen war, wenn er dafür keine Lösung gewusst hätte. Glücklicherweise waren es nur noch ein paar Tage bis Weihnachten gewesen, und gerade weil das Fest in Japan in erster Linie dem Kommerz und nicht dem Glauben galt, wollte er diese Gelegenheit nutzen. »Ich hab aber nichts für dich«, meinte Shizuo in seiner schonungslosen Ehrlichkeit, als er das ordentlich verpackte Geschenk musterte, das er ihm entgegenhielt. Shinra lächelte und zuckte unbedarft mit den Schultern. »Schon okay. Mir war danach.« Es war Genugtuung genug für ihn, Shizuo dabei beobachten zu können, wie er seine Zigaretten von nun an in dem Aschenbecher ausdrückte, den Shinra ihm geschenkt hatte. Mehr als das war es aber Shizuos kurzes, tiefes Auflachen, als er den Aschenbecher auspackte, und von dem nur ein warmes Lächeln zurückblieb, während er den Gegenstand aufmerksam von allen Seiten musterte. Shinra hatte wirklich nichts als Gegenleistung gewollt. Umso überraschter war er, als Shizuo ein paar Tage später vor seiner Wohnungstür stand, eine weiße, zerknitterte Plastiktüte in der Hand. Ohne seine Neugier zu verbergen, griff Shinra in die Tüte und stellte mit Erstaunen fest, dass sie mit Unmengen an Verbandszeug gefüllt war. Ihm gefiel, dass Shizuos Wangen sich minimal rot färbten, als er ihn fragend musterte. »Das Zeug ist ganz schön teuer. Meine Besuche müssen dich ziemlich viel kosten.« Das war es in der Tat, denn Shizuo hatte noch nie für eine Behandlung zahlen müssen, aber das würde Shinra auch niemals von ihm verlangen. Gerade deshalb musste es ihn so glücklich machen, dass Shizuo trotz aller Verlegenheit und Unbeholfenheit so weit gegangen war, ihn dafür entschädigen zu wollen. »Danke, dass du mich immer wieder zusammenflickst.« Darauf lächelte Shinra, bedankte sich und bat ihn herein. Immer noch peinlich berührt zögerte Shizuo, ehe er eintrat, die Tür hinter sich schloss und Shinra ins Wohnzimmer folgte. Während er sich bereits auf der Couch niederließ, legte Shinra die Tüte auf der Küchenzeile ab und holte den Aschenbecher aus dem Schrank. Auf Shizuos verwirrten Blick, als er ihn auf den Wohnzimmertisch stellte, antwortete er mit einem Augenzwinkern. »Du bist der Einzige, der ihn benutzen darf, deswegen hole ich ihn auch nur für dich raus.« *** »Shizuo-kuuun~« »Shinra? Was ist los?« »Celty ist heute den ganzen Tag unterwegs, ich hab keine Aufträge und mir ist langweilig.« »Und deswegen rufst du an?« »Kommst du rüber und beschäftigst mich?« »Ich arbeite gerade.« »Wie lange denn noch?« »Shinra, ich werde ganz bestimmt nicht vorbeikommen.« »Auch nicht, wenn ich sonst vor Einsamkeit sterbe?« »Eh?« »Schon okay, Shizuo-kun. Wenn dir mein Leben so wenig wert ist, dann will ich dich nicht weiter belästigen. Adieu.« »Oi, Shinra, wa— aufgelegt?!« Natürlich war Shizuo gekommen. Keine Viertelstunde später hatte er schwer atmend vor seiner Haustür gestanden – die schicke Kleidung durchgeschwitzt – und vollkommen entgeistert geschaut, als Shinra bei diesem Anblick laut losgelacht hatte. Er hatte Shinra dafür auch geschlagen, dreimal schnell auf die gleiche Stelle, um seinem Unmut Luft zu machen. Letzten Endes war er aber dennoch eingetreten, hatte sich murrend von seiner Fliege und Weste befreit und sich betont mies gelaunt auf dem Sofa niedergelassen. Es war eine Routine, die aus ihrer gemeinsamen Kindheit stammte. Deswegen wusste Shizuo auch, dass sie gleich ›Frankensteins Monster im Kampf gegen Ghidorah‹ gucken würden, ganz gleich, wie oft sie das schon getan hatten. *** »Yo, Celty.« Celty war überrascht, Shizuo um diese Tageszeit im Park anzutreffen, aber vermutlich hatte er heute seinen freien Tag. Nachdem er vor ihr zum Stehen kam, lächelte er sie bemüht fröhlich an. Die Geste wirkte so falsch, dass sie ganz vergaß, ihn ebenfalls zu begrüßen. Seine nächsten Worte verwirrten sie nur noch mehr. »Glückwunsch zur Verlobung.« Wenn sie gekonnt hätte, hätte Celty sich an ihrer eigenen Spucke verschluckt. ›Eh?‹, tippte sie mit zittrigen Fingern, total überrumpelt von den eigentlich nett gemeinten Worten. »Hat er dir den Antrag noch nicht gemacht?« Überrascht hob Shizuo eine Augenbraue, dachte kurz nach. Die nächsten Worte waren mehr an sich selbst gerichtet als an Celty. »Verdammt, jetzt hab ich ihm die Überraschung versaut...« Beide schienen ein wenig überfordert mit der jetzigen Situation zu sein. In der peinlich berührten Stille zog Shizuo nervös an seiner Zigarette, während Celty den Finger unruhig über den Tasten ihres Handys kreisen ließ. Nach einer Weile erinnerte sie sich jedoch an etwas, das Shinra ihr vor ein paar Tagen erzählt hatte. Mit einem Mal tippte sie eifrig drauf los, zeigte Shizuo das Display und wartete geduldig, bis er alles gelesen hatte. ›Shinra und ich werden nicht heiraten. Als er dir letztens davon erzählt hat, war das ein Witz. Er meinte aber schon, dass du so aussahst, als hättest du ihm geglaubt.‹ Er nickte schwach, damit sie weiterschrieb. ›Entschuldige bitte. Ich bin mir sicher, dass er es nicht böse gemeint hat.‹ Natürlich hatte er es nicht böse gemeint. Shinra meinte nichts von dem, was er seinen Freunden antat, wirklich böse, aber das bedeutete nicht, dass es nicht manches Mal böse enden konnte. Shizuo wusste selbst nicht, warum ihn diese Nachricht so erleichterte, aber er wollte es auch nicht hinterfragen. Weil er nicht einmal mehr richtig auf Celty achtete, bemerkte er zunächst nicht, dass sie ihm das Display wieder vor die Nase hielt. ›Shizuo?‹ »Hm?« ›Wieso lächelst du?‹ *** Es war nichts Ungewöhnliches für Shizuo, spät nachts mit ein paar mäßig bedrohlichen Verletzungen – die Mundwinkel grimmig nach unten verzogen und eine Zigarette zwischen den aufgeplatzten Lippen – vor Shinras Wohnungstür zu stehen. Seit sie wieder gemeinsam zur Schule gingen, war es auch für Shinra nichts Neues mehr, ihn lächelnd hinein zu beten und seine Wunden zu versorgen. Meist war er ohnehin noch wach, auch dann, wenn er nicht gerade erst von einem Auftrag zurückkam. Sein Schlafrhythmus war noch nie gesund gewesen, und seine Arbeit hatte es nicht besser gemacht. Deswegen war er auch noch hellwach, als es mitten in der Nacht an seiner Tür Sturm klingelte. Für jeden anderen Menschen hätte es wie eine zufällige, misslungene Aneinanderreihung von Tönen geklungen,die in den Ohren schmerzte, wenn man sie zu lange hörte. Doch Shinra hörte darin eine Melodie, und zwar immer die gleiche, denn obwohl Shizuo bloß wahllos auf die Klingel einzuprügeln schien, hatte er dennoch eine Routine. Shinra mochte Shizuos Melodie und ließ sich stets Zeit damit ihn hineinzulassen, bis sie verstummt war und er ein genervtes Knurren von der anderen Seite der Tür hören konnte. »Guten Abend, Shizuo-kun. Was führt dich zu so später Stunde noch hierher?«, begrüßte Shinra ihn, als er die Tür öffnete. Ihm war klar, dass sein Lächeln nicht förderlich für Shizuos ohnehin schon miese Laune war, aber das hatte ihn noch nie gestört. »Halt den Rand und lass mich rein.« Wortlos trat Shinra zur Seite und schloss die Tür, nachdem Shizuo eingetreten war. Kurz überlegte er, ob er die Blutflecken im Flur später noch beseitigen sollte, entschied sich dann aber doch dafür, dass der nächste Tag reichen würde. »Wem hab ich deinen Zustand denn zu verdanken? Orihara-kun?«, fragte Shinra bemüht heiter, während er alle benötigten medizinischen Instrumente zusammentrug und vor Shizuo auf dem Wohnzimmertisch aufstellte. Shizuo hatte sich derweil ein Handtuch geschnappt, unordentlich auf der Couch ausgebreitet und sich mit einem genervten Stöhnen auf die Polster fallen lassen. »Frag doch nicht, wenn du es ohnehin weißt.« Dass Shizuo so gereizt klang und sich umgehend die nächste Zigarette anzündete, nachdem er die letzte im Aschenbecher ausgedrückt hatte, lag nicht an Shinra. Das war ihm klar, und so nahm er es ihm nicht übel. Izaya nahm er es allerdings ein wenig übel, aber das war in diesem Moment nicht wichtig. Also antwortete er darauf nicht und begann stattdessen, Shizuos Wunden zu versorgen. »Und überhaupt«, Shizuo machte eine unwirsche Handbewegung und sah ihn fast schon empört an, »was bist du so spät noch wach?« Shinra sah von seiner Arbeit an Shizuos Bein auf und lächelte ihn an. »Wer würde dich denn sonst wieder zusammenflicken?« Sie wussten beide, dass das nicht der eigentliche Grund war, aber keiner von ihnen war jemals gut darin gewesen, solche Dinge anzusprechen. Shizuo musterte ihn lange, suchte nach anderen Gründen, doch irgendetwas an Shinras Lächeln schlug ihm auf den Magen. Er nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und sah aus dem Fenster. »Es ist nicht gut für dich«, meinte er schließlich und richtete seinen Blick wieder auf Shinra, der ihn seiner Arbeit inne gehalten hatte. »Du solltest mehr schlafen.« Shinra antwortete darauf nicht sofort, strich stattdessen das Handtuch auf der Couch glatt und vermied es, Shizuo in Augen zu sehen. »Wer viel schläft, ist einsam«, erklärte er schließlich leise und fühlte sich augenblicklich so verletzlich, als hätte er sich mit einer Zielscheibe auf der Brust vor einen schwerbewaffneten Psychopathen gestellt. Fast so, als hätte er seine Gedanken gelesen, stöhnte Shizuo genervt auf und rieb sich mit einer Hand übers Gesicht. Dann stand er auf, zog das blutige Handtuch vom Polster und zeigte demonstrativ auf das Möbelstück vor sich. »Leg dich hin.« »Was?« Shizuo sah aus, als würde er ihn ob seiner Begriffsstutzigkeit am liebsten erwürgen, hielt sich aber zurück. »Ich hab gesagt, du sollst dich hinlegen! Und dann machst du die Augen zu und schläfst gefälligst!« »Aber Shizuo-kun, da— aah!« Shinras Protest ging in einen erschrockenen Aufschrei über, als Shizuo ihn hochhob und auf der Couch absetzen wollte. Er war so perplex, dass er versäumt, sich zu wehren und letzten Endes mit offenem Mund auf dem weichen Polster saß und seinen Freund fassungslos ansah. Bevor er seine Gedanken sammeln konnte, ließ Shizuo sich mit verschränkten Armen auf dem Boden zwischen Couch und Tisch nieder. »Wenn das Problem ist, dass du nicht alleine schlafen kannst, warte ich halt, bis du eingeschlafen bist.« Für Shizuo mochte diese Erklärung stimmig klingen, doch Shinra brauchte ein paar Momente, bis er sich damit abfinden konnte. Er überlegte lange, blendete Shizuos ungeduldiges Gemurmel aus, und entschied sich dafür, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, ab und zu auf ihn zu hören. Ohne ein weiteres Wort legte er sich hin, wandte Shizuo den Rücken zu und schlief das erste Mal seit Wochen bis zum späten Morgen durch. *** Das Wetter besaß manches Mal eine ganz widerliche Ironie. Dann lachte es einem voller Hohn entgegen, ehe es kalte Wassermassen herabregnen ließ. Ganz besonders dann, wenn man eilig durch die Straßen hetzte, das letzte Telefonat wie regenkalter Schweiß im Nacken, die tiefe Stimme des besten Freundes bis zu dem Punkt im Ohr, an dem sie versagte und aufgelegt wurde. Shizuo würde nicht sterben, konnte nicht sterben, und obwohl Shinra das wusste, rannte er so schnell, dass seine Lungen brannten, als hätte man ihm tausend scharfe Skalpelle zwischen die Rippen gerammt. Dennoch wäre er weiter gerannt, wenn ihm nicht irgendwann ein Gedanke gekommen wäre. Shinra wurde langsamer, merkte mit einem Schlag, dass er kaum mehr Luft bekam, und blieb schließlich stehen, bis sein Herz weniger schnell schlug und sein Atem nicht mehr stoßweise kam. Er musste sich beruhigen, ehe er auf Shizuo traf. Das war seine Pflicht, seine eine Eigenschaft, die ihn zu einem guten Arzt machte und auf die er stolz war – er blieb immer ruhig und gelassen, egal, was seinen Patienten fehlte. Diese Ruhe übertrug sich schnell auf andere Menschen und beeinflusste nicht selten, wie gut eine Behandlung verlief. Er durfte nicht aufgelöst und zerstreut vor Shizuo erscheinen, wenn er ihm helfen wollte. Nachdem er sich dessen bewusst geworden war, setzte er sich wieder in Bewegung, langsamer dieses Mal und mit festerem Schritt. Es dauerte einige Zeit, bis Shinra an der Adresse angekommen war, die Izaya ihm in einer Mail mit vielen Emoticons hatte zukommen lassen und nach deren Erhalten er sein Handy gegen eine Wand geworfen hatte, weil er wusste, was ihn erwarten würde. Als er den ersten Schritt in die Seitengasse setzte, war sein Herzschlag fast wieder auf einem normalen Level angelangt. Erst, als er Shizuo erblickte, wie er in einer Lache seines eigenen Blutes an der verdreckten Hauswand lehnte, hämmerte es wieder gegen seinen Brustkorb. »Ara~? Wer hat dich denn so zugerichtet, Shizuo-kun?« Seine Stimme war tiefer als sonst, emotionslos, und klang fremd in seinen Ohren. Da es aber in diesem Moment die benötigte Distanz zwischen sie brachte, störte er sich nicht daran. Shizuo hob träge den Kopf, als er seinen Namen hörte. Er brauchte eine Weile, ehe er seinen Blick auf Shinra fokussieren konnte, doch als er erkannte, wer keinen Meter vor ihm stand, lachte er bitter auf. Das Geräusch klang freudlos, rau und kehlig, so als hätte seine Luftröhre bei dem Kampf einige Schäden davon getragen. »Rate doch mal.« Nachdem er für einen Moment das Gesicht verzog, spuckte er ein Mischung aus Blut und Speichel aus. Dann setzte er sich ein wenig gerader hin, vermutlich um Shinra zu beweisen, dass trotz der ganzen gebrochenen Knochen in seinem Körper kein Grund zur Sorge bestand. Unter normalen Umstände hätte Shinra darauf nur gelächelt, ihn wegen seiner Unachtsamkeit getadelt und ihn dann verarztet. Aber Shizuos jetzigen Zustand hatte er keinen normalen Umständen zu verdanken. Die Abnormalität, die das alles verursacht hatte, hieß Orihara Izaya, und im Moment war Shinra sich ziemlich sicher, dass er den anderen ohne mit der Wimper zu zucken niedergestochen hätte, wenn er anwesend gewesen wäre. Bestimmt war er das sogar, hielt sich an irgendeinem sicheren Ort versteckt wie die feige, rückgratlose Ratte, die er war. Wie ein Tumor hatte er sich vor Jahren in ihrer beider Leben gedrängt und nur für Unheil gesorgt, hatte Shizuo in seine kranken Experimente involviert und ihn selbst gedanklich weit über hundertmal zum Mörder werden lassen. Izaya hatte es nicht verdient, Teil ihres Daseins zu sein, und noch viel weniger hatte er das Recht, Shizuos Gedanken so sehr einzunehmen, dass für Shinra kein Platz mehr blieb. »Wenn ich Izaya erwische, werde ich—« Shizuo kam nie dazu, seinen Satz zu beenden. »Hör auf, seinen Namen zu sagen«, verlangte Shinra mit brüchiger Stimme, die im Kontrast zu dem festen Griff stand, mit dem er Shizuo am Kragen packte, ihn zu sich zog und forsch die eigenen Lippen auf seine aufgeplatzten presste. Alles, woran er dachte, war Izayas Existenz aus Shizuos Gedanken zu verbannen und durch seine eigene zu ersetzen, ganz gleich wie. Umso mehr überraschte es ihn, als Shizuo nach kurzem Zögern eine Hand in seinen dunklen Haaren vergrub und ihn näher zog, um den Kuss zu vertiefen. Er lächelte schwach, bemerkte erst jetzt den metallischen Geschmack von Shizuos Blut in seinem Mund. Er hätte stundenlang so weitermachen können, vermutlich tagelang, doch der kleine, rationale Teil von ihm schrie händeringend nach Luft. Nachdem er sich von Shizuo gelöst hatte, wischte Shinra sich ein wenig Blut vom Mundwinkel und beobachtete zufrieden, wie sein Freund sich über die Lippen leckte. Einige Augenblicke lang sahen sie einander einfach nur schweigend an, die Atmung ein wenig schneller als sonst. Schließlich schloss Shizuo kurz die Augen, sammelte sich, und schenkte Shinra dann ein Lächeln, das ihm den Atem vollends stocken ließ. »Und, wie schmeckt mein Blut?« Von da an hätte alles so einfach verlaufen können, aber Shinra war nie jemand gewesen, der gerne den leichten Weg nahm. Mit schief gelegtem Kopf tippte er sich mit dem Zeigefinger ans Kinn, so als würde er angestrengt nachdenken. »Nicht anders als Hamsterblut«, antwortete er schließlich lächelnd und musste sich mit aller Kraft zurückhalten, um angesichts des fassungslosen Gesichtsausdrucks von Shizuo nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. »Was.« Shinra ignorierte ihn, stand auf und brachte ein wenig Abstand zwischen sie. »Also—« »Shinra, was?!« Shizuo war ebenfalls aufgestanden und hätte sich wohl nicht ansatzweise so gut auf den doch recht wackeligen Beinen gehalten, wenn ihn der Schock nicht von den Schmerzen abgelenkt hätte. Um ihn ferner abzulenken, sah Shinra von einer Behandlung vor Ort ab und machte sich stattdessen auf den Weg nach Hause. Ein paar Meter hinter ihm humpelte Shizuo mit einem immer noch reichlich verstörten Gesichtsausdruck. Und so war der Vorfall ziemlich schnell wieder vergessen. Zumindest war Shinra davon ausgegangen. *** Einige Tage später wäre ihm fast das Telefon aus der Hand gefallen, als er Shizuos Nummer auf dem Display aufleuchten sah. Hin und her gerissen zwischen ignorieren, wegdrücken und abnehmen, lief er verwirrt durch seine Wohnung und verfluchte, dass Celty nicht da war, um ihm einen Ratschlag zu geben. Wenn er ihn ignorierte, würde Shizuo es wieder und wieder versuchen, und wenn er ihn wegdrückte, würde er ganz Ikebukuro in Schutt und Asche legen, bis er ihn gefunden hatte. Also konnte er ebenso gut direkt abnehmen. »Was gibt's?« Er gab sich Mühe, beiläufig zu klingen, konnte aber das Zittern in seiner Stimme nicht ganz verbergen. »Bist du gerade unterwegs, oder warum dauert es so lange, bis du abhebst?« Eine kurze Pause, ehe er ernster fortfuhr. »Bist du in Schwierigkeiten? Ich kann sofo—« »Nein, nein! Alles in Ordnung, ich war nur nicht im Zimmer.« All seine Nervosität war verflogen und ein Lächeln fand den Weg auf seine Lippen. Es wurde ein weniger breiter, als er Shizuo am anderen Ende der Leitung erleichtert seufzen hörte. »Also bist du Zuhause?« »Und langweile mich, genau.« Bevor Shinra fragen konnte, ob er ihn nach der Arbeit nicht besuchen wollte, kam Shizuo ihm zuvor. »Dann komm vorbei.« »Was?« Ein genervtes Aufstöhnen. »Ich hab keine Lust darauf, dass wir ständig nur in deiner Wohnung sind, also kommst du heute mal zu mir.« Shinra wollte protestieren, doch Shizuos nächste Worte ließen ihm den Atem stocken. »Ich dachte, das macht man so, wenn man... ach, komm einfach rüber!« Und damit legte er auf. Ein paar Augenblicke lang starrte Shinra auf sein Handy, und versuchte auszublenden, wie warm sich sein Gesicht anfühlte. Dann griff er sich seinen Schlüssel und machte sich auf den Weg. Obwohl er gemächlichen Schrittes gegangen war, schlug ihm das Herz bis zum Hals, als er vor Shizuos Tür stand. Mehrere Minuten waren bereits ereignislos verstrichen, in denen er versuchte, sich wieder zu beruhigen. Es wollte ihm jedoch partout nicht gelingen, und so steckte er den Schlüssel, mit dem er bis eben noch unruhig gespielt hatte, zurück in seine Tasche. Shinra wusste sowieso nicht, warum Shizuo ihm überhaupt einen Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben hatte. Während er allmählich sogar darüber nachdachte, einfach wieder zu gehen, konnte er dumpfe Schritte, gefolgt von ungeduldigem Gemurmel, hören. »Ich hab hier drin nichts mehr zu tun, Shinra, als kannst du ruhig reinkommen«, erklärte Shizuo ihm durch die Tür, und Shinra fühlte sich so lächerlich, so ertappt, dass er fast hysterisch losgelacht hätte. Natürlich wusste Shizuo, dass er schon seit einiger Zeit vor der Tür stand. Entweder, er hatte ihn gehört, oder seine Instinkte hatten eingesetzt und ihn Shinras Angstschweiß riechen lassen. Sobald die Tür aufging, wollte Shinra zu einer Erklärung ansetzen. »Shizuo-kun, ich—« Weiter kam er nicht. Shizuo legte ihm eine Hand in den Nacken, zog ihn zu sich und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. Er wurde nicht einmal rot, so als wäre es das Normalste auf der Welt, seinen ehemaligen besten Freund so zu begrüßen. »Was ist? Willst du den ganzen Tag dort stehen bleiben?« Ohne eine Antwort abzuwarten wandte Shizuo sich ab und ging zurück in seine Wohnung. Shinra musste in keinen Spiegel sehen, um zu wissen, wie überfordert er aussehen musste, und so blieb er noch eine kurze Weile stehen. Nachdem er sich endlich so weit gefangen hatte, dass er wieder Herr über seinen Körper war und Shizuo in die Wohnung folgen konnte, stutzte er. Irgendetwas war anders als sonst. Prüfend sah er sich im Raum um, fand jedoch keine Erklärung. Als Shizuo – der sich mittlerweile aufs Sofa gesetzt hatte – seinen Blick bemerkte, deutete er auf das Fenster. »Ich hab bis eben gelüftet. In der Wohnung rauche ich aber seit einigen Tagen nicht mehr.« »Warum?« Es war reiner Reflex, aus dem er diese Frage stellte, also erwartete er keine Antwort. Doch Shizuo schien Gefallen daran gefunden zu haben, ihn zu überraschen. Warm lächelnd legte er seinen Kopf so in den Nacken, dass er Shinra ansehen konnte. »Du magst den Geruch nicht, oder?« In diesem Moment hätte Shinra am liebsten jeden Bewohner von Ikebukuro umarmt (ja, sogar Izaya) oder sein Glück zum immer noch halb geöffneten Fenster hinaus geschrien. Stattdessen erwiderte er das Lächeln und setzte sich neben Shizuo, näher, als er es noch vor ein paar Tagen gemacht hätte. Einem Impuls folgend legte er den Kopf an seine Schulter. Er spürte, wie Shizuo sich kurz verkrampfte, aber ebenso schnell wieder entspannte und ihm sogar zögernd den Arm um die Schulter legte, um ihn näher zu ziehen. »Welchen Film gucken wir denn?«, fragte Shinra unschuldig und wartete auf Shizuos tiefes Lachen. »Rate doch mal.« *** Kishitani Shinra war ein eifersüchtiger Mensch. Das wusste er mittlerweile, und auch wenn er diese Eigenschaft für überaus menschlich hielt, verachtete er sich schon ein wenig dafür, dass er sich nicht davon freisprechen konnte. Diese ungesunde Fixierung machte ihn verwundbar, und das war etwas, das ihm in seinem Milieu zum Verhängnis werden konnte. Aber wenn er auf Shizuos Hand hinab sah, die seine schlanken Finger fest umschlossen hielt, erschien ihm das als ein geringer Preis für das irrationale, beflügelnde Glücksgefühl, das durch seinen Körper strömte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)