Down Hill 1: Arrival von Sky- (Welcome to Hell) ================================================================================ Prolog: Ein heftiger Streit --------------------------- Der Himmel war düster und bewölkt. Es regnete in Strömen, Donner ertönte und das Wetter wirkte so trostlos und eintönig, dass selbst die ganze Stadt grau und trist erschien. Der Regen prasselte gegen die Scheiben und das einzige Geräusch außer dem Regenprasseln kam von den Tasten des Laptops und vom Fernseher her, wo gerade ein Actionfilm lief. Der vertraute Geruch von Nikotin hing in der Luft und hatte seltsamerweise etwas Beruhigendes an sich. Zumindest störte er Mello nicht. Er kannte ihn von damals her und bis heute war er sein ständiger Begleiter. Das mochte vor allem daher kommen, weil sein Mitbewohner und bester Freund Matt nicht ohne diese verdammten Sargnägel leben konnte. Ihr gemeinsamer Alltag war irgendwie eintönig geworden, als das Waisenhaus damals abgerissen wurde und mit ihm auch das Erbe des letzten L’s dahin war. Sie waren in diese Welt hineingeboren worden, in der Kira der totalitäre Herrscher war und als lebende Gottheit verehrt wurde. Damals, vor knapp 26 Jahren, hatte die Ära des legendären Phantomdetektivs ein Ende gefunden, als der Kampf gegen Kira in einer Niederlage endete. Der L nach ihm hatte es zwar auch versucht, war aber genauso getötet worden wie alle danach. Und kaum, dass bekannt war, dass dieses Waisenhaus in Winchester, welches auch Wammys House genannt wurde, eine Art Ausbildungsstätte für den nächsten L war, wurde es geschlossen. Einige Kinder waren spurlos verschwunden und nie wieder gesehen worden, manche wurden getötet, einige konnten am Leben bleiben. Matt und Mello bildeten da keine Ausnahme. Near hatte es damals leider nicht geschafft. Zusammen mit Linda, Cole und einigen anderen war er verschleppt worden und sie wussten alle, dass sie längst nicht mehr unter den Lebenden weilten. Zugegeben, Mello bedauerte es schon ein klein wenig, dass sein Rivale um den Titel des nächsten L’s nicht mehr lebte. Auch wenn er diesen Zwerg nie wirklich leiden konnte, aber so ein Ende hatte Near nicht verdient. Er hätte kämpfend sterben sollen, dann hätte er wenigstens noch beweisen können, dass man sich nicht mit den Erben L’s anlegen sollte. Doch die Zeiten waren längst vorbei. Den Kampf des letzten großen L hatte Mello nur noch wage in Erinnerung. Er hatte wirklich zu ihm aufgesehen, ihn bewundert und davon geträumt, wie er zu werden. Doch selbst dieser L hatte es nicht geschafft. Nichts und niemand vermochte Kira wirklich aufzuhalten. Es war… hoffnungslos. Nach dem Tod seines einzigen Helden hatte Mello in mehrerlei Hinsicht resigniert und sich einfach an das jetzige Leben angepasst. Genauso wie Matt. Naja, bei Matt war es ja auch überhaupt nicht verwunderlich. Dieser Kerl war so anpassungsfähig, dass er wirklich überall zurechtgekommen wäre. Sie beide hingen wirklich immer zusammen ab und zwischen ihnen existierte eine tiefe Freundschaft. Doch diese Freundschaft war für sie beide vielleicht nicht ganz der Begriff, mit dem sie das verbanden, was sie wirklich fühlten. Mello war nicht entgangen, dass Matt zwar eine recht gleichgültige Einstellung zur ganzen Welt hatte und ihm die Menschen herzlich egal waren, sowie auch das derzeitige Regime. Ja er hatte überhaupt keine Motivation und lebte in den Tag hinein und war zufrieden mit dem, was er hatte. Er besaß keine Ziele. Aber was bei ihm herausstach, war die Tatsache, dass er sich sehr um seinen besten Freund zu kümmern schien. Er war zur Stelle, wenn man ihn brauchte und er hatte immer ein offenes Ohr. Auch schien er der Einzige zu sein, der Mellos aggressive und gewaltbereite Seite aushalten konnte und dieser auch mit einer fast schon gelangweilt anmutenden Gelassenheit gegenübertrat. Manchmal fragte sich Mello schon, ob es überhaupt etwas gab, was seinen besten Freund wirklich zur Weißglut bringen konnte. Nun, wahrscheinlich musste schon der Weltuntergang folgen. Oder ein Stromausfall… oder ein Tabakverbot. Nachdem sie das Waisenhaus verlassen hatten und nach Amerika ausgewandert waren, waren sie zusammengezogen und teilten sich die Wohnung. Zuerst verlief alles ganz normal und unspektakulär. Matt arbeitete als Hacker und Mello betrieb ab und zu mal illegale Geschäfte mit der Mafia. Irgendwie musste man sich ja über Wasser halten. Aber dann irgendwann war die Veränderung in ihre Freundschaft gekommen. Und das war, als sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Nun, sie waren betrunken gewesen, besonders Mello hatte kaum noch geradeaus laufen können und er war in Matts Bett eingeschlafen. Da war es irgendwie dazu gekommen, dass mehr daraus wurde. Und was zunächst ein einmaliger Ausrutscher blieb, wurde bald mehr. So verrückt es auch klang, aber es kam hin und wieder mal vor, dass sie wieder miteinander schliefen. Dazu brauchten sie nicht mal einen großartigen Anlass. Für Mello war es eine Art Stressabbau und für Matt… tja, da war sich der 20-jährige nicht ganz sicher. Vielleicht war der Sex für Matt ja ein Mittel, um sich die Langeweile zu vertreiben und etwas mehr Abwechslung in den Alltag zu kriegen. Aber so ganz sicher war er sich da nicht. Immerhin traf er sich nicht noch zusätzlich mit Frauen, so wie Mello. Manchmal fiel es dem Kleinmafioso schwer, seinen besten Freund richtig zu durchschauen und zu erkennen, ob das jetzt nur tiefe Freundschaft für ihn war oder nicht. Selbst diese Fliegerbrille, die er ihm damals geschenkt hatte, als Matt völlig verweint als kleiner Junge ins Waisenhaus gekommen war, trug er bis heute noch und das fast ohne Ausnahme. „Hört sich an, als würde es gleich gewittern“, meinte Matt, ohne von seinem Laptop aufzusehen. „Wolltest du nicht noch raus?“ „Bist du bescheuert? Bei dem Wetter doch nicht. Hab keinen Bock, nass zu werden.“ Wieder ein kurzes Schweigen, nachdem ein kurzes, bestätigendes „Hm“ gefolgt war. Matt schien völlig in seine eigene Welt abgetaucht zu sein. Doch das änderte sich, als er das Tippen sein ließ und zu Mello rübersah. „Sag mal, wie soll das eigentlich mit uns beiden weitergehen?“ Der Blondhaarige zog bei der Frage die Augenbrauen zusammen. „Wie kommst du jetzt auf den Mist?“ „Ich meine ja nur. Wir wohnen zusammen, arbeiten für uns und wir schlafen miteinander. Was genau ist das für dich?“ „Na was wohl?“, meinte Mello und zuckte mit den Achseln. Dann nahm er sich eine Tafel Schokolade und biss ein Stück ab. „Wir sind Freunde, die ab und zu mal Sex haben. Mehr nicht. Ist doch klar.“ Hier aber klappte Matt den Laptop plötzlich zu und sein Blick wurde ernst. Und das war bei ihm nur selten zu beobachten. „Ach so. Und da ist es nicht seltsam für dich, ausgerechnet mit deinem besten Freund in die Kiste zu springen?“ „Was willst du damit andeuten?“ „Du schleppst hier diese ganzen Frauenzimmer rein, nagelst sie und schickst sie wieder in die Wüste. Das ist deine Masche, ich bin sie ja schon gewöhnt. Aber mit mir machst du das nicht. Da ist es doch fraglich, ob du nicht vielleicht…“ Er ließ den Satz absichtlich unbeendet, damit sich sein Freund den Rest denken konnte. Und genau das sorgte dafür, dass Mello rot sah. Er sprang auf, warf die Schokoladentafel beiseite und ging zu Matt hin, dann packte er diesen am Kragen und zerrte ihn hoch. „Was willst du damit andeuten? Dass ich schwul wäre oder so? Ist es das, was du denkst?“ „Was regst du dich auf?“ fragte Matt nur und blieb gelassen, doch Mello geriet immer mehr in Rage. Er konnte sich nicht mehr beherrschen und schlug Matt direkt ins Gesicht. Noch ehe sich der 19-jährige davon erholen konnte, schlug Mello ihn erneut und verpasste ihm einen Tritt in die Magengrube, der seinen besten Freund zu Boden schleuderte. „Jetzt lass dir mal eines gesagt sein: ich bin kein verdammter Homo! Nur weil wir zwei miteinander schlafen, heißt das noch lange nicht, dass ich auf Kerle stehe und anderen die Schwänze lutsche, klar? Sag das noch einmal, dass ich eine Schwuchtel bin und ich schlag dir die Zähne aus! Wir beide sind nur Freunde, also hör ja auf, mir irgend so eine kranke Scheiße anzuhängen.“ Er wusste, dass das, was er da sagte, nicht richtig war, aber er war in diesem Moment so sauer, dass es ihm vollkommen egal war. Matt blieb immer noch ruhig, doch sein Blick blieb weiterhin sehr ernst. „Was hast du für ein Problem damit? Du hast ja auch nie sonderlich herumgemeckert, wenn ich es dir besorgt habe.“ Ein weiterer Schlag folgte und in dem Moment war Mello einfach nur so sauer, dass er im schlimmsten Fall seinen besten Freund krankenhausreif geprügelt hätte. „Wenn du eine Schwuchtel bist, ist das allein dein Problem, also hör gefälligst auf, mich verschwulen zu wollen, nur weil es dir in den Kram passt. Wir zwei sind Freunde, kapiert? Nur Freunde, die miteinander schlafen, sonst nichts. Das macht mich noch lange nicht zum Homo.“ Eigentlich rechnete Mello damit, dass Matt das Thema begraben würde, doch nun stand dieser auf und nun war er es, der zuschlug. Und zum allerersten Mal erlebte Mello ihn wirklich wütend. Die Wucht des Schlages war so heftig, dass der 20-jährige das Gleichgewicht verlor und stürzte. Doch Matt sagte nichts, er stand einfach nur da und sah auf seinen besten Freund herab. In seinen Augen, die hinter dem Glas der Fliegerbrille verborgen lagen, war Wut, Enttäuschung und Schmerz zu sehen. „Schön“, sagte er nur noch tonlos und wandte sich ab. Mello, der nun gar nichts mehr verstand, kam langsam wieder auf die Beine und presste sich eine Hand gegen seine Wange. Auch wenn Matt nicht danach aussah, er konnte zuschlagen wie ein Boxer. Er sah, wie sein bester Freund zur Tür ging und diese öffnete. „Matt… wo willst du hin?“ „Raus“, sagte dieser, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen. „Ich muss mal an die frische Luft.“ „Willst du mir jetzt etwa die Schuld geben? Du hast mit deinen scheiß Homogehabe angefangen!“ „Lass mich in Ruhe, Mihael!“ Damit knallte er die Tür hinter sich zu und ließ Mello zurück. Dieser setzte sich auf die Couch, aß seine Schokolade weiter und nach einer Weile hatte er sich wieder beruhigt. Und insgeheim bereute er auch, dass er so ausgerastet war und Matt geschlagen hatte. Oh Mann, dachte er und biss ein Stück von der Tafel ab. Ich hab es dieses Mal wohl echt übertrieben. Naja, dann entschuldige ich mich eben, wenn er wieder zurück ist und dann hat sich die Sache geklärt. Also wartete Mello, bis Matt zurückkehrte. Doch selbst als es spät wurde, kam dieser nicht zurück. Selbst in den darauf folgenden Tagen tat sich nichts. Mello versuchte ihn daraufhin anzurufen und schrieb ihm Nachrichten, doch Matt antwortete nicht und als vier Tage lang nichts geschah, machte er sich langsam ernsthaft Sorgen, schnappte sich sein Motorrad und fuhr die Gegend ab, um nach ihm zu suchen. Er versuchte das Handy orten zu lassen und fand es in einer Gasse nicht weit vom Haus entfernt neben einem Müllcontainer liegen. Es vergingen Tage und schließlich Wochen, in denen Mello nach seinem besten Freund suchte. Die Wochen wurden zu Monaten und als ein Jahr ins Land ging, begann sich ein schrecklicher Gedanke in seinem Kopf zu manifestieren: Matt war endgültig fort. Er hatte es endgültig zu weit getrieben und nun hatte er den einzigen Menschen vertrieben, der es mit ihm all die Jahre ausgehalten hatte. Und damit auch den einzigen Menschen, der ihm wirklich wichtig war. Warum nur hatte er auch so dermaßen ausrasten und Matt schlagen müssen? Warum nur hatte dieser plötzlich mit solchen Sachen kommen und ihn so überfahren müssen? Er hatte doch gar nicht so heftig reagieren wollen. Und jetzt… jetzt hatte er endgültig niemanden mehr. Er war allein… Kapitel 1: Ankunft in Down Hill ------------------------------- Das Erste, was er wahrnahm, waren die heftigen Kopfschmerzen. Er lag auf einem harten und kalten Boden, es roch leicht muffig und die Luft war kühl. Irgendwie erinnerte ihn dieser Geruch an einen Keller. Ein Keller? Moment mal, da stimmte doch etwas nicht. Was zum Teufel suchte er denn auf dem Boden eines Kellers? Als er die Augen öffnete, war das Nächste, was ihm auffiel, das künstliche Licht und die kalten fensterlosen Betonwände. Scheiße, dachte er sich und setzte sich auf. Sein Rücken tat weh, was wohl ein Zeichen dafür war, dass er schon etwas länger hier lag. Sein Kopf hämmerte regelrecht und ihm wurde kurzzeitig wieder schwarz vor Augen. Übelkeit überkam ihn und ihm wurde schwindelig, weshalb er erst mal sitzen blieb, um seinen Kreislauf langsam wieder in Gang zu bringen. Selten hatte er sich so beschissen gefühlt wie jetzt. Außer vielleicht, wo er vor knapp drei Jahren in eine heftige Schlägerei geraten war, als er nach Matt gesucht hatte. Doch warum war er in so einer miserablen Verfassung, wieso war er hier und vor allem: wo zum Teufel war er überhaupt? Der 24-jährige versuchte angestrengt zu rekonstruieren, was denn alles passiert war, bevor er das Bewusstsein verloren hatte, aber das war aufgrund seiner Kopfschmerzen und seiner anfänglichen Benommenheit nicht gerade einfach. Er erinnerte sich noch, dass er in einer Bar gewesen war, um etwas zu trinken. Dabei hatte er eine Schlägerei mit einem Rocker angefangen und hatte sich danach weitergeschleppt, nachdem er selbst ein paar heftige Schläge kassiert hatte. Wenn seine Erinnerung ihn nicht trog, dann war er durch die Hintertür rausgegangen und in einer Gasse gelandet. Tja und dann? Dann waren da diese komischen Anzugtypen mit den Sonnenbrillen gekommen, die wie eine Parodie von Agent Smith aus den Matrixfilmen aussahen. Dann hatten sie ihm eins über den Schädel gezogen und das hatte ihm endgültig sein Bewusstsein geraubt. Vorsichtig fasste er sich an die Stelle, wo ihn der Schlag getroffen hatte und zuckte zusammen, als der Schmerz wieder da war. Verdammt noch mal, warum zum Henker hatten ihn diese Drecksäcke niedergeschlagen und verschleppt? So wie die ausgesehen hatten, mussten es irgendwelche Regierungsfritzen sein. Zumindest sprachen die Anzüge und das Erscheinungsbild dafür. Ob es die CIA war oder der Secret Service? Mit Sicherheit. Denen sah es doch eh ähnlich, dass sie aus heiterem Himmel Leute verschleppten und sie irgendwo einsperrten. Meist kamen sie dann mit irgendwelchen Terrorverdächtigungen und so einem Schwachsinn. Oder aber es war die die KEE, was so viel wie „Kiras Eliteeinheit“ bedeutete. Diese war vor dreißig Jahren ins Leben gerufen worden und machte es sich zur Aufgabe, „gefährliche Individuen“ augenblicklich aus dem Verkehr zu ziehen, ohne richterlichen Beschluss und ohne Begründung. Viele der Menschen, die sie verschleppt hatten, waren nie wieder gesehen worden. Reinste Sowjetmethoden, wie Mello fand. Aber wenn er von denen verschleppt worden war, was wollten sie von ihm und wo hatten sie ihn hingebracht? Er sah sich um und bemerkte, dass es eine Art großer Raum war, in dem gut und gerne 50 bis 100 Menschen Platz hatten. Links gab es einen Gang, wo auf dem Schild Westblock und darunter Asylum stand. Rechts ging es zum Ostblock, wo man Efrafa I und direkt darunter Helena geschrieben hatte. Mit diesen ganzen Namen konnte er auch nichts anfangen und er war sich nicht ganz sicher, wohin er gehen sollte, noch wo er war. Alles, was er sonst fand, war eine Art riesiges Graffiti an der Wand, welches aber eher aussah, als wäre es getrocknetes Blut. Jemand hatte WELCOME TO HELL geschrieben. Oh super… das hatte er jetzt wirklich gebraucht. Irgendwie hatte er nicht gerade ein gutes Gefühl bei der Sache. „Große Klasse… wo zum Teufel bin ich denn?“ „Eine durchaus berechtigte Frage für jemanden, der gerade erst hier angekommen ist.“ Mello zuckte zusammen, als er plötzlich diese Stimme hörte und drehte sich um. Das Herz blieb ihm vor Schreck fast stehen, als er einen Mann sah, der einen langen khakifarbenen Kapuzenmantel trug und dessen Gesicht hinter einer Maske versteckt war, welche ein abartiges Grinsen zierte. Er sah aus, als wäre er einem Horrorfilm oder einer Gruselgeschichte entsprungen. Sein brünettes Haar war zerzaust und was auffiel, war eine lange Haarsträhne an der linken Seite, durch die sechs Perlen gezogen waren. Neben ihm stand ein schwarzhaariger Mann von ungefähr 26 bis 27 Jahren, dessen Augen etwas Listiges besaßen. Im Gegensatz zu dem anderen Typ sah er recht normal aus, hatte eine türkisweiß gestreifte Strickjacke und eine hellgrünes Shirt und eine bequeme Jeanshose an. Er hatte an der rechten Seite eine lange Haarsträhne, durch die ebenfalls sechs bunte Perlen gezogen waren, allerdings in der gegensätzlichen Farbe zu seinem Begleiter. Mello kam langsam auf die Beine und wich zwei Schritte zurück, um den Abstand zu ihnen zu vergrößern. In dieser seltsamen Situation konnte er nicht wirklich abschätzen, was sie mit ihm vorhatten. Und bei seiner miserablen Kondition hatte er ohnehin kaum eine Chance gegen die beiden. „Und wer seid ihr bitteschön?“ „Gefühl ist alles, Namen sind Schall und Rauch“, antwortete der Schwarzhaarige und ein kühles und leicht angriffslustiges Lächeln spielte sich auf seine Lippen. „Du kannst mich Horace nennen, Horace Horrible. Und das ist Kaonashi. Betrachte uns ruhig als kleines Begrüßungskomitee.“ Horace Horrible? Kaonashi? Was waren das denn bitte für bescheuerte Namen? Offenbar benutzten sie genauso wie er einen Decknamen. Nur klärte das immer noch nicht wirklich die Frage, wer genau sie eigentlich waren. „Und wo sind wir hier bitteschön? Seid ihr die Typen gewesen, die mich hergeschleppt haben?“ „Schön wäre es, dann wären wir wenigstens einmal draußen gewesen“, meinte Horace und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Kao und ich sind schon seit einer ganzen Weile nicht mehr oben gewesen.“ „Du wurdest ins Gefängnis gebracht“, erklärte Kaonashi. Seine Stimme klang tief und rau und irgendwie konnte Mello nicht anders als daran zu denken, dass das vielleicht ein gestörter Psychopath war. Zumindest sah der Kerl ganz stark danach aus. „Besser gesagt in ein ganz spezielles Gefängnis, welches es bisher nur einmal auf der Welt gibt. Hast du schon mal von Down Hill gehört?“ Down Hill? Mello musste seine grauen Zellen anstrengen, um sich zu erinnern, was das noch mal war, aber der Schlag hatte wohl ziemlich ordentlich gesessen, denn das Denken fiel ihm nicht gerade leicht. Das merkten auch die beiden anderen und so erklärte Kaonashi es ihm. „Down Hill ist ein gigantischer unterirdischer Gefängniskomplex. Hier werden Schwerverbrecher, Rebellen, Feinde des Systems aber auch Leute mit ungeklärter Identität eingeliefert und für den Rest ihres Lebens hier eingesperrt. Down Hill ist einzigartig, weil es das einzige Gefängnis ohne Leitung ist. Zwar bekommen wir regelmäßig Vorräte geliefert und es gibt auch Schmuggelrouten, aber hier findest du nirgendwo einen Wärter oder Gefängnisdirektor. Down Hill wird von den Insassen selbst geleitet, zumindest mehr oder weniger. Hauptsächlich herrschen hier die verschiedenen Gruppen, die sich mit der Zeit gebildet haben.“ Na toll. Dann war er also tatsächlich von der Regierung verschleppt und hierher gebracht worden. Wahrscheinlich deshalb, weil es keine Hinweise auf seine wahre Identität gab. Außer Matt kannte niemand seinen wahren Namen. Und jetzt war er in Down Hill gelandet. Dem unterirdischen Gefängnis, aus welchem noch niemals der Ausbruch gelungen war. Zumindest, wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte. Im Grunde war das doch nur die moderne Version von Alcatraz. „Na großartig. Das wird ja immer besser. Na was soll’s. Ich verschwinde von hier.“ „Da bist du nicht der Erste, der das gesagt hat“, meinte Kaonashi und lachte trocken. „Aber niemand entkommt lebend aus Down Hill.“ „Das werden wir ja sehen.“ Horace verschränkte die Arme und lächelte abfällig. Es war allzu offensichtlich, dass er Mello nicht für voll nahm und sich über seine Fluchtgedanken amüsierte. „Hoffnung ist ein Jagdhund ohne Spur“, meinte er nur und so langsam merkte Mello, dass es offenbar seine Art war, berühmte Dichter zu zitieren. „Aber wenn du unbedingt dein Glück versuchen willst, dann bitte. Jeder, der es versucht hat, ist bisher umgekommen.“ „Dafür wurde Down Hill konzipiert“, ergänzte Kaonashi nickend. „Es ist ein Ort ohne Wiederkehr. Zwar können wir uns innerhalb des Gefängnisses frei bewegen, aber raus kommt keiner. Das ist das Problem. Eine feste Burg ist unser Gott, und am festesten, im Schutz der Erde, das Burgverlies. Aber irgendwann gewöhnt man sich daran, dass es hier weder Tageszeit noch Jahreszeit gibt. Im Grunde ist es egal ob drin oder draußen, wir sind in jeder Hinsicht Gefangene. In Zeit und Raum, in unserem Körper und im Zeitgeist, ja sogar als Freigeist. Für die meisten Gefängnisinsassen ist das Gedächtnis hier die einzige Aussicht, die sie noch haben. Nur jene, die im Kerker geboren wurden, beklagen sich nicht über das Leben hier, denn sie kennen die Freiheit nicht. Für sie ist das Leben im Gefängnis ihre Freiheit. Wir haben schon immer in einem Gefängnis gelebt, nur hat sich jetzt eben für dich die Definition von Gefängnis geändert, gleich mitsamt deiner neuen Wohnsituation.“ „Als ob mich das großartig interessiert“, schnaubte Mello und funkelte Kaonashi feindselig an. Er konnte sich nicht helfen, aber irgendwie beschlich ihn das Gefühl, als hätte der Kerl nicht mehr alle Latten am Zaun. Wahrscheinlich war das irgendein gestörter Psycho, der sich einen Spaß erlauben wollte, weil er anscheinend nichts Besseres zu tun hatte. Stattdessen begann er hier irgendeinen Schwachsinn zu reden und plötzlich einen auf philosophisch zu machen, indem er über die Definition von Gefängnissen redete. Aber wenigstens machte dieser Typ keine Anstalten, ihn anzugreifen, genauso wenig wie dieser Horace Horrible. So wie es aussah, kannten sich die beiden schon recht lange und waren wohl als Team unterwegs. „Und wo genau befinde ich mich jetzt?“ „Am so genannten Point Zero“, antwortete Horace. „Das ist der Ort, wo alle Neuankömmlinge aufwachen. Es wird deshalb auch Ebene 0 genannt. Von hier aus gelangst du nach unten in Ebene -1, welches auch das Hell’s Gate genannt wird. Allerdings würde ich nicht dort hingehen, wenn ich du wäre. Wie der Name schon sagt, ist da unten die Hölle los. Dort werden all die Leichen heruntergeworfen, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben. Zwar war ich noch nie dort gewesen, aber Gerüchten zufolge sollen es Berge von ihnen sein. Im Hell’s Gate gibt es weder Aufzug noch Treppe. Bist du einmal unten, kommst du nie wieder raus. Einzig ein kleiner Luftschacht führt wieder raus, nur den wirst du da unten bei den miserablen Lichtverhältnissen kaum finden. Außerdem haben sich diese ganzen giftigen Verwesungsgase so aufgestaut, dass du eh verrecken wirst, wenn du zu lange dort unten bist.“ „Als ob ich auch vorhätte, nach unten zu gehen, wenn der Weg in die Freiheit nach oben führt.“ „Du wirst dich wundern, auf welche Schwachsinnsideen so manche kommen“, meinte Horace nur mit einem beiläufigen Schulterzucken. „Jedenfalls gelangst du von hier aus entweder in den Ost- oder Westblock. Im Ostblock findest du den Stützpunkt Efrafa I. Die Insassen bilden sich aus inhaftierten Soldaten, Rebellen und anderen Schwerkriminellen zusammen. Sie sind bis an die Zähne bewaffnet und je nachdem, ob du Freund oder Feind bist, können sie einem echt unangenehm werden. Vor allem, wenn man von dem Monster absieht, welches sie sich halten. Stimmt’s, Kao?“ Kaonashi nickte und ergänzte „Im Ostblock liegt auch die Festung Helena. Es ist genau wie das Asylum ein Gefängnis in einem Gefängnis. Es wird von Frauen geleitet und bewohnt und Männer haben dort keinen Zutritt. Die Frauen haben sich dort verschanzt, um sich vor den ständigen Überfällen der Männer zu schützen. Das Asylum im Westblock war anfangs mal ein zusätzliches Gefängnis für besonders gefährliche Kriminelle gewesen, allerdings sind die dort recht schnell ausgebrochen und treiben teilweise hier irgendwo noch ihr Unwesen. Die meisten sind in die oberen Ebenen übergegangen, einige haben sich längst gegenseitig abgemurkst. Das Asylum ist derzeit fast verlassen, nur ein paar Häftlinge hausen dort noch.“ „Und wie komme ich nach oben?“ „Über den Ost- und Westblock gibt es je einen Aufzug und eine Treppe. Hier am Point Zero gibt es dummerweise nichts davon, nicht mal einen Luftschacht, weshalb die Luft hier auch besonders miserabel ist.“ Aha, das hieß dann also, er musste entweder in den Ost- oder Westblock gehen, um nach oben zu gelangen. Nun musste er sich entscheiden, in welche Richtung er gehen sollte. Nach Osten oder Westen? Im Osten lag ein schwer bewaffneter Stützpunkt mit gefährlichen Kriminellen und dann gab es noch eine Art Festung. Nicht gerade der beste Ort, um alleine und unbewaffnet da reinzuspazieren. Wenn er entdeckt wurde, konnte es problematisch werden. Also war es klüger, über den Westblock nach oben zu gelangen, wenn es dort nicht so viele Insassen gab wie im Ostblock. „Danke für die Info, aber ab jetzt komm ich allein zurecht. Ich werde im Westblock mein Glück versuchen.“ „Wenn ich du wäre, würde ich nicht dort hingehen“, riet ihm Kaonashi und lehnte sich mit dem Rücken zur Wand, wobei er die Arme verschränkte. „Im Westblock treiben zwei Monster ihr Unwesen und die lieben den Geschmack von Frischfleisch.“ Doch das interessierte Mello nicht wirklich. Auch wenn seine Kopfschmerzen noch ziemlich unangenehm waren, aber er fühlte sich dennoch durchaus in der Lage, sich gegen zwei Insassen wehren zu können. Er hatte sich schon oft genug geprügelt, um zu wissen, wie er seinen Gegner ausschalten konnte. So schnell nahm es keiner mit ihm auf. Und überhaupt: warum sollte er sich von irgendwelchen Freaks etwas sagen lassen? „Wieso sollte ich auf einen Typ hören, der sein Gesicht hinter einer Maske versteckt? Oder bist du so hässlich?“ Horaces Gesicht verfinsterte sich und er wollte schon auf Mello losgehen, aber Kaonashi hielt ihn zurück und lachte. Es war ein eiskaltes Lachen, welches dem 24-jährigen einen Schauer über den Rücken trieb. „Du siehst nur eine Maske und einen Freak, aber du erkennst nicht, was dahinter liegt. Viele Menschen tragen eine Maske. Für manche ist sie ein Mittel zum Schutz, für andere ist sie ein Mittel zum Zweck. Außerdem ist die Maske als Lüge viel besser zu ertragen als das wahre Gesicht dahinter. Erst hinter ihrer Maske sind die Menschen wirklich sie selbst, so sagte schon Edgar Allan Poe.“ Der hat sie doch nicht mehr alle beisammen, dachte Mello und wandte sich ab. „Du hast echt zu viel Knastluft geatmet. Mir reicht’s, ich mach die Biege.“ Damit machte er sich auf den Weg und Kaonashi sah ihm nach. „Dann wünsche ich viel Glück bei deiner Flucht“, rief der Maskierte ihm hinterher, doch es war nicht zu überhören, dass diese Worte nicht wirklich ernst gemeint waren. Naja, er nahm Mellos naive Ansichten auch nicht sonderlich ernst. Und auch Horace winkte ihm noch mit einem amüsierten Grinsen hinterher und rief „So schreite in dem engen Bretterhaus den ganzen Kreis der Schöpfung aus. Und wandele mit bedächtiger Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle.“ Damit verschwand Mello in den Gängen, die zum Westblock führten. Kaonashi und Horace sahen ihm noch nach, machten aber nicht die Anstalten, ihm zu folgen. Stattdessen machten sie sich in die andere Richtung auf, nämlich zum Ostblock. „Was denn?“ fragte Horace und schmunzelte amüsiert. „Du willst ihn allen Ernstes zu den Cohan-Brüdern spazieren lassen?“ „Es ist seine Entscheidung und nicht meine“, erklärte Kaonashi und ging voran. „Schon merkwürdig. Zuerst machst du dich extra auf den Weg hierher, um das Begrüßungskomitee zu spielen, was ja nun überhaupt nicht deine Art ist, erteilst ihm Ratschläge, was dir noch weniger ähnlich sieht und überlässt ihn dann seinem Schicksal? Mein Lieber, ich bin zwar Psychologe, aber bei dir gerät man stets ins Ungewisse.“ „Steht auf meiner Maske vielleicht so etwas wie Kinderbetreuung? Wenn er meint, er kommt zurecht, dann soll er sehen, was er von seiner maßlosen Fehleinschätzung hat. Die wird ihm in Down Hill noch früher oder später den Kopf kosten. Insbesondere, wenn er Sigma und Scarecrow Jack über den Weg läuft, was definitiv der Fall sein wird. Der soll erst mal seine Lektion lernen.“ „Aber trotzdem wundert es mich, dass du dich für ihn interessierst. Hab ich da etwa einen Grund, eifersüchtig zu werden?“ „Mach dich nicht lächerlich“, gab Kaonashi zurück und blieb stehen, wobei er die Hände in den Manteltaschen vergraben hatte. „Und jetzt hör auf, mich mit diesem Schwachsinn zu nerven. Wenn ich diese Maske nicht tragen würde, dann würdest du ja nur wieder mein Gesicht analysieren, um herauszufinden, was mir gerade durch den Kopf geht.“ Horace kassierte einen Knuff gegen den Oberarm, reagierte darauf aber mit einem Lachen und ging weiter. Nach kurzem Zögern folgte Kaonashi ihm. „Schauspieler und Psychologen sind eh gefährliche Gesellen“, fügte der Maskierte hinzu. „Schauspieler verstellen sich, um den Betrachtern etwas vorzugaukeln, was nicht da ist und Psychologen enthüllen den Menschen ihr wahres Selbst. Und fatal ist die Mischung aus beidem, so wie in deinem Fall.“ „Na jetzt sei nicht so miesepetrig, Kao. Ich frag mich sowieso gerade, was Clockwise wohl gerade macht.“ „Mit Sicherheit wieder seine Disneyfilmchen gucken oder sich vergebens als Koch versuchen, obwohl er so gut wie du und ich weiß, dass er das besser sein lassen sollte. Als Koch ist er eine einzige Katastrophe. Aber ich hab eh noch was vor, du gehst schon mal zurück.“ Horace hob erstaunt die Augenbrauen. „Was hast du vor?“ „Ich werde mich mit Nine und Eleven treffen. Nine bat mich ja, ihn zu informieren, wenn dieser Mello auftaucht und ich hab so das Gefühl, als hätte er irgendetwas vor.“ „Woher kennt er ihn denn überhaupt?“ „Sie stammen angeblich aus dem gleichen Waisenhaus, bevor es geschlossen wurde.“ „Ach ja, da war doch was. So wie dieser eine Typ, der vor einer Weile hergekommen ist, was? Ist mir dennoch ein Rätsel, was an denen so besonders sein soll, aber mein Gott… unser Waisenhaus war ja auch nicht wirklich das, was man als normal bezeichnen konnte. Genauso wenig wie unsere Adoptivfamilie.“ Hier aber packte Kaonashi Horace grob am Arm und stieß ihn gegen die Wand. Und da Horace wegen der Maske nicht erkennen konnte, was seinem Freund gerade durch den Kopf ging, war er für einen kurzen Moment erschrocken. Insbesondere, da er dessen aggressive und impulsive Ader kannte. „Wag es nie wieder zu sagen, dass wir von denen adoptiert worden sind, klar? Wir waren nie deren Familie, sondern nur ihre Testobjekte. Du hattest ja noch Glück gehabt, aber die Helmstedters waren niemals unsere Familie und werden es auch niemals sein.“ „Ist ja gut“, rief Horace beschwichtigend und befreite sich wieder aus dem Griff. „Ich weiß, dass das blöd ausgedrückt war. Und du müsstest ja eigentlich wissen, dass ich sie genauso sehr verachte wie du.“ Als sie die Treppe erreichten, trennten sich ihre Wege. Während Kaonashi die Treppe nahm, ging Horace zur Öffnung des Luftschachts, kletterte hoch und rief „Fiver!“ Ein leises Poltern war zu hören und er sah dann auch schon einen ca. 17-jährigen blondhaarigen Jungen vorsichtig um die Ecke blicken, der große türkisfarbene Augen hatte. Er strahlte übers ganze Gesicht und winkte ihm zu. Horace grüßte zurück. „Bring mich zurück.“ Stumm nickte der Junge und wies ihn mit einer winkenden Handbewegung, ihm zu folgen. Für gewöhnlich nahm Horace immer den Luftschacht, nachdem Kaonashi ihm dies angeraten hatte. Denn diese Wege waren die sichersten und außerdem waren ja Fiver und sein Begleiter Sezru da. Sie waren die Einzigen, die sich in diesem gigantischen Labyrinth auskannten und einen sicher zum Zielort bringen konnten. Also machte sich Horace mit Fivers Führung auf den Rückweg und während er durch die Luftschächte kroch, in denen man locker aufrecht sitzen konnte, musste er wieder an Mello denken und konnte sich dabei ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er konnte schon verstehen, wieso Kaonashi ein gewisses Interesse an ihm hatte. Mello war so wie er damals, als er noch im Waisenhaus gelebt hatte… Kapitel 2: Down Hill Asylum --------------------------- Es dauerte eine Weile, bis Mello den Westblock erreichte und die Aussicht war wirklich nicht die beste. Offenbar hatte Kaonashi tatsächlich Recht und das Asylum war ein Gefängnis innerhalb eines Gefängnisses, so verrückt das auch klang. Eine halb offene Stahltür führte ins Innere und was er zu sehen bekam, war genau das, was man von einem Gefängnis wirklich erwarten würde. Lange Gänge und Zellen mit Gittern. Ja, ein typisch amerikanisches Gefängnis. Doch zu seiner Überraschung war diese Anlage größer als er gedacht hätte. Der Gang war ziemlich lang und es ging auch in höhere Etagen. Zusätzlich schien es noch weitere verzweigte Gänge zu geben. Dies ließ bei ihm wiederum die Frage aufkommen, wie groß denn eigentlich das Gefängnis Down Hill selbst war. Nun, jedenfalls sollte es wirklich gigantisch sein. Das größte Gefängnis weltweit, wie er gehört hatte. Und auch das einzige unter Tage. Hier rauszukommen würde sicherlich nicht einfach werden. Vor allem, weil damit zu rechnen war, dass es nahe der Oberfläche genug Sicherheitsanlagen geben musste, die einen Ausbruch verhinderten. Natürlich hatte es Mello gewundert, dass es ein Gefängnis untertage gab, aber andererseits minimierte dies die Fluchtmöglichkeiten. Eines an der Erdoberfläche bot genügend Ausbruchsmöglichkeiten, wenn man sich kreativ genug anstellte und hier gab es nur einen einzigen Weg raus, nämlich nach oben und zwar genau durch den Weg, über den alle Insassen reingekommen waren. Es war eine außergewöhnliche und vielleicht auch verrückte Idee, aber andererseits war es ein Geniestreich sondergleichen, auch wenn er es nicht gerne zugab. Vor allem weil es im Gefängnis nach Kaonashis Aussage offenbar keine Wärter gab. Man wurde hier einfach reingeworfen, mit Strom, fließendem Wasser, Sauerstoff und Nahrung versorgt, aber ansonsten war hier jeder sich selbst überlassen. Und das warf für ihn die Frage auf, warum das so war. Wieso ließ man hier zu, dass es hier drin eventuell zu einer kompletten Anarchie kommen konnte? War dies vielleicht eine Art abartiges Experiment, eine bizarre Verhaltensstudie? Hoffte man darauf, dass sich hier alle gegenseitig umbringen würden, damit man sich selbst nicht die Hände schmutzig machen musste? Oder war es vielleicht anders? Womöglich hatte es hier mal Wärter gegeben und sie waren umgebracht worden, nachdem die Insassen aus ihren Zellen entkommen konnten. Diese Möglichkeit bestand ja auch. Aber darum konnte er sich später noch Gedanken machen. Erst einmal zählte es, in die obere Ebene zu gelangen und dann irgendwie zu schauen, dass er schnellstmöglich nach oben kam und sich einen Fluchtplan zurechtlegte. Freiwillig hier bleiben würde er jedenfalls nicht. Genauso wenig wie er sein Schicksal als Insasse von Down Hill akzeptieren würde. Kein Gefängnis der Welt konnte ihn aufhalten. Er hatte sich immer schon zu helfen gewusst und wer im Ghetto aufgewachsen war, bevor er nach dem Tod seines drogensüchtigen Vaters im Waisenhaus gelandet war, der wusste, wie man in so einer Umgebung überleben konnte. Und Fakt war, dass sich Mello von niemandem aufhalten ließ. Nein, er würde sich von niemandem herumkommandieren lassen oder auf die Worte eines maskierten Freaks hören. Der Kerl war doch sowieso genauso durchgeknallt wie sein Begleiter. Und wenn er draußen war, dann würde er erst mal die Biege machen und am besten untertauchen, bevor man ihn wieder hierher brachte. Und dann… ja was dann? Wahrscheinlich würde er wieder Geldgeschäfte für die Mafia abwickeln so wie immer. Ein Leben als Krimineller führen und dann, wenn er Zeit hatte, nach Matt suchen, auch wenn er wusste, dass es vergebens war. Inzwischen waren vier Jahre vergangen und so langsam bezweifelte er, dass Matt überhaupt noch am Leben war. Manchmal, wenn er alleine war und ihn der Alkohol noch nicht betrunken genug gemacht hatte, da spielten sich vor seinem inneren Auge Szenarien ab. Er sah Matt vor sich, wie er von einer Gang überfallen und erschossen worden war, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Wie er von einem Auto angefahren und dann schwer verletzt einen Abhang hinuntergeworfen wurde, weil man keine Spuren zurücklassen wollte. Oder noch schlimmer… dass er an einen Serienkiller geraten war, der es vielleicht auf Rothaarige abgesehen hatte. Vielleicht war er damals auch von Menschenhändlern entführt und verkauft worden, war an Organhändler geraten oder ins Ausland verschleppt worden. Im Laufe der Jahre hatte Mello wirklich alle Szenarien durchdacht und sich so verdammt hilflos gefühlt. Diese bohrende Ungewissheit, was aus Matt geworden war, hatte ihm schlaflose Nächte bereitet und immer wieder stellte er sich die Frage, warum er nur so hatte reagieren müssen, als Matt ihm diese eine verdammte Frage gestellt hatte. Verdammt noch mal, dieser Idiot hatte doch damit rechnen müssen, dass er eine geklebt kriegt. Niemand nannte Mello ungestraft einen Homo. Zwar war er mit Matt in die Kiste gegangen, aber das machte ihn noch lange nicht schwul. Dieser Blödmann war doch selber schuld, er hatte es doch provoziert, also warum hatte er diese Frage denn bitteschön unbedingt stellen müssen, obwohl er doch wissen musste, dass er dafür eine verpasst bekam? Ach verdammt, es half doch eh nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es war nicht mehr zu ändern, dass Matt fort war und wer weiß. Vielleicht lebte er ja und führte ein schönes Leben und hatte vielleicht ein nettes Mädchen kennen gelernt, das ihn so nahm wie er war. Er würde die meiste Zeit im Haus hocken, an seinem Computer sitzen und die Bude mit seinen Zigaretten vollqualmen. Ja, das war vielleicht das Beste so, aber dennoch tat Mello dieser Gedanke weh. Vor allem, weil es noch nie vorgekommen war, dass Matt einfach so abhaute und nie wieder zurückkehrte. Sie waren schon immer unzertrennlich gewesen, seit sie sich im Waisenhaus kennengelernt hatten. Matt war damals elf Jahre alt gewesen und völlig verweint und verstört ins Waisenhaus gekommen. Er hatte nie wirklich über den Grund gesprochen, wieso er in Wammys House gelandet war, aber er hatte von Roger gehört, dass Matts Familie angeblich von der Regierung beseitigt worden war, weil sie zu gefährlich war. Matt war der Einzige, der den Angriff der KEE überlebt hatte und seine Familie sterben zu sehen und selbst mit knapper Not dem Tod zu entkommen, war traumatisch für ihn gewesen. Mello hatte den Tod seiner Eltern weitaus gefasster aufgenommen, was aber auch daran lag, weil er sowieso nicht mehr in ihnen gesehen hatte, als bloß seine Erzeuger. Sein Vater war ein Junkie gewesen und das letzte reingedrückte Heroin war eben der goldene Schuss gewesen. Seine ältere Schwester Deborah war Prostituierte gewesen und von ihrem Zuhälter abgeknallt worden, weil sie zu wenig Kunden hatte und seine Mutter war an Gebärmutterhalskrebs verstorben, als er gerade mal drei Jahre alt war. Seine Herkunft hatte ihn geprägt und er war dadurch zu einem recht abgehärteten Charakter geworden. Matt hingegen war zu Anfang eine Heulsuse gewesen. Und obwohl Mello Heulsusen hasste, hatte er Matt Gesellschaft geleistet und ihm schließlich die Fliegerbrille geschenkt. Seitdem hatte dieser sie fast nie abgenommen. Manchmal war es so, als wäre sie ihm angewachsen. Und seit er diese Brille besaß, hatte er auch nie wieder geweint. Es war, als hätte diese Maske ihm neue Kraft verliehen… ein neues Selbst. Unfreiwillig musste er da wieder an das denken, was Kaonashi ihm gesagt hatte. Ob diese Brille für Matt auch eine Art Maske gewesen war? Ach was, für solche Gedanken hatte er später noch genügend Zeit, wenn er endlich hier raus war und deshalb war es besser, wenn er sich endlich wieder auf das Wesentliche konzentrierte, denn es wurde langsam dunkel im Down Hill Asylum. Viele der Lampen waren kaputt, flackerten oder hingen teilweise lose von der Decke. Darum gab es viele dunkle Ecken und aus diesem Grund war Mello besonders vorsichtig. Er war leise und achtete auf jedes Geräusch. Doch je weiter er in den Westblock vordrang, desto mehr wurde ihm bewusst, wie verwahrlost dieser Ort eigentlich war. Überall lag Dreck, die Wände waren von Kratzern und Graffitis verunstaltet und überall waren an den Wänden und auf dem Boden dunkle Flecken zu sehen. Höchstwahrscheinlich altes Blut. Zumindest roch dieser Ort hier ganz stark danach. Aber seltsamerweise sah er hier nirgendwo Leichen. Vermutlich hatte man sie in dieses Hell’s Gate entsorgt, so wie Horace erzählt hatte. Wenn man bedachte, dass man hier in einem unterirdischen Gefängnis war, dann musste man in so einem Fall schnell handeln. Ansonsten würde das im schlimmsten Fall zu allerlei Krankheiten im Gefängnis führen aufgrund der Leichenfäulnis. Atemwegserkrankungen, im schlimmsten Fall sogar Typhus und Cholera. Bei dem Blutbad, was sich hier mal abgespielt hatte, wollte Mello lieber nicht wissen, was sich hier für ein Anblick geboten hatte. Aber der Blutgeruch war seltsamerweise noch recht frisch. Nur zusätzlich roch es hier auch muffig und nach Dreck. Ja, die Luft hier drin stank und je weiter er ins Innere dieser Anlage vordrang, desto schlimmer wurde es. Mellos Blick wanderte zu den Zellen und er blieb kurz stehen, als er einen Schatten in der Ecke sah. Da war ein Mann, der an einer Halsfessel nackt in der Ecke kauerte. Seine Augen waren verbunden und er sah ziemlich übel zugerichtet aus. Zuerst blieb der 24-jährige stehen und war sich erst mal unschlüssig, ob der Kerl überhaupt seine Anwesenheit wahrgenommen hatte. Nein, die Augen waren verbunden und mit der Halsfessel würde er mit Sicherheit auch keine Schwierigkeiten machen. Und aufgrund der Tatsache, dass der Mann nackt war, ließ sich nicht sonderlich schwer erraten, was das bedeutete. Mello war sich sehr wohl im Klaren, dass es im Gefängnis auch zu Übergriffen kam. Und in einem Gefängnis, wo es kein Wachpersonal gab, mussten die Zustände katastrophal sein. Es war ihm ohnehin ein Rätsel, wie man so etwas nur genehmigen konnte. Selbst für Kiras Verhältnisse war das doch verachtenswert. Naja, als Krimineller hatte man offenbar nicht mal mehr das Recht auf Menschenwürde. Das sah diesem Kerl doch wiederum ähnlich. Da blieb es nur abzuwarten, was dieses Gefängnis für ihn zu bieten hatte. Wenn Mello ehrlich war, wollte er es lieber nicht herausfinden, deshalb musste er besonders auf der Hut sein. Nachdem er eine Abzweigung erreichte, entschied er sich, nach rechts zu gehen, doch abrupt blieb er stehen, als er im schwachen Licht der flackernden Deckenbeleuchtung eine Gestalt sah, die langsam herangeschlurft kam. Viel erkannte er nicht. Nur einen schwarzen Kapuzenpullover, der das Gesicht verdeckte. Sie kam direkt auf ihn zu und sofort reagierte Mello und öffnete eine der leeren Zellentüren, woraufhin er sich versteckte. Normalerweise war das ja nicht wirklich seine Art, aber bei dem vielen Blut überall wollte er eine offene Konfrontation lieber vermeiden. Insbesondere weil er ohnehin unbewaffnet war und er nicht abschätzen konnte, was sein Gegner für ein Kerl war. Im Schatten verborgen harrte er aus und wartete. Er musste nicht lange warten, als er auch schon die Gestalt sah. Sie lief etwas gebeugt und unbeholfen, so als würde sie das Laufen noch nicht richtig beherrschen. Die Arme hingen schlaff herunter und dennoch wirkte es so, als seien sie jederzeit bereit anzugreifen. Immer noch konnte Mello das Gesicht der Gestalt nicht erkennen, aber vom Körperbau her ließ sich zumindest sagen, dass es ein Mann war. Etwas zu dünn vielleicht und die Jeans, die er trug, war auch schon recht ramponiert und schmutzig. Schuhe trug er keine, sondern lief barfuß. Sein Atem war rasselnd und schließlich blieb er stehen und sah sich um. Egal wie er den Kopf auch drehte, Mello konnte das Gesicht einfach nicht sehen. Es war so, als würde unter der Kapuze nur eine schwarze Leere existieren. Mello konnte seinen rasselnden Atem hören und es klang irgendwie danach, als würde diese Gestalt nur sehr schwer Luft bekommen. Irgendwie jagte ihm diese Person einen eiskalten Schauer über den Rücken. Er konnte sich nicht helfen, aber sie wirkte auf ihn so fremd und unmenschlich, dass er sich im ersten Moment fragte, ob dieses Ding überhaupt ein Mensch war. Allein wie es sich bewegte, wirkte es so unnatürlich. Dann aber kam das Wesen langsam näher. Es blieb am Gitter stehen und dann… begann es zu schnüffeln. Ja, es begann die Luft einzuziehen, so als versuche es, einen Geruch aufzunehmen. Scheiße, dachte Mello. Will dieses Ding mich da etwa wittern können? Was zur Hölle ist das nur für ein Freak? Wie will der mich denn bitteschön riechen, wenn es hier überall nach Blut und Dreck stinkt? Wahrscheinlich ist das irgend so ein Irrer, der hier in dieser Bruchbude haust. Gerade wollte das Wesen Anstalten machen, die Tür zu öffnen und in die Zelle zu gehen, in der sich Mello versteckt hatte, doch da ließ es abrupt die Tür los, sah sich kurz um und eilte davon. Einen kurzen Moment wartete der 24-jährige noch und kam dann unter dem Bett hervor. Alter Verwalter, das war ja mal ein gruseliges Erlebnis gewesen. Ob das dieses Monster war, wovon Kaonashi gesprochen hatte? Nun, ehrlich gesagt wirkte es nicht gerade wie ein Mensch. Na hoffentlich blieb das seine einzige Begegnung mit der unheimlichen Art. Auf weitere Treffen konnte er ganz gut verzichten. Schließlich ging er weiter und passte nun umso mehr auf. Zwar konnte er nicht sagen, ob dieser Kapuzenfreak gefährlich war, aber er wollte lieber kein unnötiges Risiko eingehen. Nicht, solange er keine richtige Waffe hatte. Schließlich erreichte er wieder eine Abzweigung und so langsam fragte er sich, ob er überhaupt den richtigen Weg ging, denn so langsam geriet er in Zweifel. „Scheiße Mann, wie groß ist diese Anstalt hier eigentlich?“ Dieses Mal entschied er sich, geradeaus zu gehen, doch als er sah, dass von rechts jemand kam, blieb er abrupt stehen, machte einen Schritt zurück und versteckte sich hinter der Wand. Im nächsten Moment kam auch schon ein junger Mann mit fast kreidebleicher Haut ins Licht, der eine dunkelrote kurzärmelige Kapuzenjacke trug. Sein Gesicht war von Piercings und Tätowierungen gezeichnet, auch seine Arme zierten schwarze Tattoos. Er trug ein schwarzweiß gestreiftes Shirt, schwarze fingerlose Handschuhe und um den Hals trug er eine Kette mit einem Messingschlüssel. Sein Haar war lang gewachsen und schwarzrot gefärbt. Doch das Unheimlichste an ihm waren die Augen. Sie waren komplett weiß, als hätte er weder Pupille noch Iris. Diese leblosen Augen glotzten scheinbar ins Leere und für einen Moment setzte Mellos Herz vor Schreck beinahe einen Schlag aus. Doch dann realisierte er, was mit dem Kerl nicht stimmte: er war blind. Na denn, ein Blinder konnte ihm ja wohl kaum gefährlich werden. Lautlos schlich Mello an ihm vorbei und sah, wie dieser langsam seine Wege ging. Na also, der Kerl hatte ihn nicht bemerkt. Da hatte er noch mal Glück gehabt. Mello ging weiter und erreichte nach einer kurzen Weile eine Art Büro, wo vielleicht mal ein Wärter gearbeitet hatte, der die Schwerstkriminellen beaufsichtigen musste. Traf sich doch ganz gut. Vielleicht fand er hier drin eine Information, wie er denn zu den Aufzügen kam. Die Tür ließ sich öffnen und sofort begann er damit, den Schreibtisch zu inspizieren. Nach und nach öffnete er die Schubladen und fand einige Akten. Aus reiner Neugier nahm er sich eine und fand ein Foto. Es zeigte einen kleinen Jungen, gerade mal neun oder zehn Jahre alt. Seine Augen waren vollkommen weiß und leer. Dann musste das also der blinde Typ sein, den er gerade getroffen hatte. Name: Simon Cohan Geschlecht: männlich Nummer: AX-0997-D Sicherheitsstufe: 5 Simon Cohan alias „Sigma“, verhaftet in Annatown Ohio, am 28.03.19xx wegen Mordes an Edgar und Melissa Cohan (Vater und Mutter). Alter: 7 Jahre. Mello musste stutzen. Sieben Jahre? Welches Kind brachte dann bitte die eigene Familie um, vor allem wenn er blind war? Nun war er neugierig und las die Notizen weiter. Cohan gab an, seit seiner Geburt an einer Augenanomalie zu leiden. Der behandelnde Arzt, Dr. H. Helmstedter, attestierte eine Pigmentanomalie der Pupille und Iris, die auf einen angeborenen Gendefekt zurückzuführen sind. Simon Cohan gab an, seine Eltern ermordet zu haben, weil er ihre Augen haben wollte. Aufgrund mangelnder Zurechnungsfähigkeit wurde Cohan in die Annatown Psychiatrie eingewiesen. Dr. Worthsmith diagnostizierte bei dem Patienten eine krankhafte Obession für alle Arten von Augen, was auf seine eigene Missbildung und der Ablehnung seiner Umwelt gegen seine Person zurückzuführen ist. Nach dem Mord an drei weiteren Patienten wurde veranlasst, Cohan in die Sicherheitsverwahrung von Down Hill zu überstellen. Es gilt absolute Vorsicht. Cohan kann sein Umfeld perfekt täuschen. Er wird versuchen, den hilflosen und verängstigten Jungen vorzuspielen oder sich blind zu stellen. Aus diesem Grund darf seine Zelle niemals geöffnet werden, egal unter welchen Umständen. Des Weiteren ist ein Sicherheitsabstand von mindestens zwei Metern einzuhalten. Der Inhaftierte ist mit der höchsten Sicherheitsstufe zu behandeln. Zusätzlich ist der Kontakt zu Jackson Cohan in jedem Fall dringend zu unterbinden. Im Falle eines Ausbruchs sofort Verstärkung anfordern, oder den Insassen auf der Stelle töten. Ein eiskalter Schauer durchfuhr Mello, als er das las. Scheiße, der Kerl war gar nicht blind, so wie er gedacht hatte. Der konnte tatsächlich sehen! Er konnte echt von Glück reden, dass dieser Freak ihn nicht gleich angegriffen hatte, aber was nicht war, konnte ja noch werden. Bei weiterem Durchstöbern fand er noch eine Akte, auf der dieses Mal „Jackson Cohan“ stand. Nun, wenn die beiden tatsächlich hier als Team agierten, war es vielleicht ratsam zu wissen, mit was er es hier zu tun hatte. Also nahm Mello auch die Akte und überflog sie schnell. Name: Jackson Cohan Geschlecht: männlich Nummer: AX-0998-E Sicherheitsstufe: 5 Jackson Cohan, alias „Scarecrow Jack“, verhaftet in Annatown Ohio am 31.10.19xx wegen Mordes an Neill Cohan (Vater), Teresa und John Cohan (Tante und Onkel). Alter: 10 Jahre. Cohan ist aufgrund schwerer Brandverletzungen ins Krankenhaus von Annatown eingeliefert worden. Laut Bericht versuchte seine Tante ihn zu verbrennen. Cohan erschlug seinen Vater, seine Tante und seinen Onkel mit einer Axt und zeigte bei seiner Festnahme ein extrem gewalttätiges Verhalten. Mit absoluter Vorsicht zu behandeln! Eine Diagnose des behandelnden Arztes Dr. H. Helmstedter bescheinigte Cohan Brandverletzungen 2. und 3. Grades am ganzen Körper, einen geburtsbedingten Nervenschaden, der das Schmerzempfinden stark reduziert und eine hochgradige Geistesstörung und Unzurechnungsfähigkeit. Der Inhaftierte ist extrem gewalttätig und aggressiv, deshalb in Einzelhaft unterzubringen. Unter keinen Umständen seine Zelle öffnen oder sich ihm mehr als drei Meter nähern. Cohan wird ohne zu zögern sofort angreifen und versuchen zu töten. Ihn unter allen Umständen von Sigma fernhalten. Im Falle eines Ausbruchs sofort töten. Scheiße, in was war er da bloß hineingeraten? Er musste schnell weg hier, bevor dieser „Sigma“ noch seinen durchgeknallten Verwandten holte. Da Mello keine Karte fand, ließ er es sein und verließ schnell das Büro. Er eilte den Gang entlang und wollte auf gut Glück den Aufzug finden. Doch kaum, dass er um eine Ecke ging, stand ihm plötzlich ein groß gewachsener Mann mit langem schwarzem Haar und stechend gelben Augen gegenüber. Er trug eine Gashalbmaske, einen langen dunkelbraunen Kapuzenmantel und schwarze Handschuhe. In seiner Hand hielt er eine blutverschmierte Machete. Sein Atem war schwer rasselnd und etwas Wahnsinniges funkelte in seinen Augen. Er war gut und gerne 1,90m groß. Mellos Herz setzte einen Schlag aus und er war für einen Moment wie erstarrt, als er diese Gestalt vor sich sah, die mehr wie eine verwahrloste Vogelscheuche oder wie ein irrer Killer aus einem Horrorfilm wirkte. „Kleines Schweinchen“, knurrte er und seine Stimme jagte dem 24-jährigen einen Schauer über den Rücken. Das war Jackson Cohan, das Monster aus dem Westblock. Kapitel 3: Sigma und Scarecrow Jack ----------------------------------- Einen Moment war Mello wie erstarrt, als er Jackson Cohan in leibhaftiger Gestalt vor sich sah. Dieser Hüne war gut 20cm größer als er und so wie er aussah, schien er nicht gerade auf ein kleines nettes Kaffeekränzchen aus zu sein. Nein, die blutverschmierte Machete in seiner Hand sprach eine ganz andere Sprache. „Kleines Schweinchen“, zischte er hinter der Maske hervor und in dem Moment ergriff Mello die Flucht. Er rannte wie von der Tarantel gestochen los und hörte hinter sich die Schritte seines Verfolgers. Scheiße verdammt, das konnte knapp werden. Wenn er sich jetzt verirrte, war es aus. So wie er in der Akte gelesen hatte, war dieser Kerl das reinste Monster. Und dem anderen wollte er auch nicht wirklich noch mal über den Weg laufen. Scheiße, wenn er wenigstens wüsste, wohin er denn überhaupt laufen sollte. Er hatte keinen Plan, wo er war und wie groß diese verdammte Gefängnisanstalt hier überhaupt war. Das war doch alles ein einziger Alptraum. Das konnte nie und nimmer wirklich passieren. Irgendwie musste er aber auch wirklich Pech haben. Erst geriet er mit diesem verdammten Rocker in eine Schlägerei, dann schlugen ihn irgendwelche Regierungsfritzen nieder und sperrten ihn in dieses Loch hier ein. Er musste aber auch wirklich nur Pech haben… Instinktiv bog Mello nach links ab und schlug eine Tür hinter sich zu. Natürlich wusste er, dass er diesen Irren nicht wirklich aufhalten konnte, aber womöglich konnte er auf diese Weise irgendwie den Abstand zu ihm vergrößern. Andere Alternativen blieben ja nicht so wirklich. „Scheißendreck!“ fluchte er und warf sogleich die nächste Tür hinter sich zu, dann eilte er eine Treppe rauf und erreichte eine Stahltür, in der sich lediglich ein kleines Sichtfenster befand. Ansonsten war Endstation. Oh Gott, er war in einer Sackgasse gelandet. Na hoffentlich konnte er irgendwie die Tür verbarrikadieren, wenn er erst mal drin war und dann diesen Kerl abschütteln. Mello riss sie auf und schloss sie sofort, dann stemmte er sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Keine Sekunde später versuchte sein Verfolger die Tür zu öffnen. Er warf sich mit seinem gesamten Gewicht dagegen und Mello hatte alle Mühe, dieser Kraft entgegenzuwirken. „Kleines Schweinchen“, knurrte Jackson in einer fast schon unmenschlichen Stimme. „Ich kriege dich so oder so. Ich kann deine Angst riechen, kleines Schweinchen.“ Doch kurz darauf schien Jackson wohl gemerkt zu haben, dass er auf diese Weise nicht weiterkam. Er ließ von der Tür ab und das machte den 24-jährigen stutzig. Was denn? Der Typ gab so schnell auf? Na der muss ja echt eine miserable Geduld haben. Nein, das war es nicht. Mit Sicherheit würde er etwas anderes versuchen. Ein lautes Poltern nicht weit entfernt schreckte ihn auf und er drehte sich um. Scheiße, da war noch eine andere Tür! Eine Sekunde später brach sie auf und sein maskierter Verfolger war nun ebenfalls im Raum. Sofort riss Mello die Tür auf und wollte flüchten, doch da stand wieder der Kerl mit den leeren Augen vor ihm. Sigma… Simon Cohan. Noch ehe Mello reagieren konnte, ließ Sigma einen Stein auf ihn niedersausen und traf ihn hart am Kopf. Der heftige Schlag ließ den 24-jährigen kurzzeitig schwarz vor Augen werden. Er verlor die Kontrolle über seinen Körper und brach zusammen. „Na sieh mal einer an“, hörte er eine Stimme sagen, die wohl von Sigma stammte. „Da ist extra jemand gekommen, um uns einen Besuch abzustatten. Wie reizend. Jack, fessle ihn. Wir wollen doch nicht, dass unser Gast uns so schnell wieder verlässt.“ Mello versuchte noch, sich zu wehren, doch da drückte Sigma seinen Kopf mit dem Absatz seines Stiefels auf den Boden, während Scarecrow Jack ihm die Arme auf dem Rücken zusammenband. Im Anschluss wurde er an den Haaren hochgezerrt und blickte wieder in diese wie tot wirkenden Augen. Sein Kopf schmerzte und ein Blutrinnsal floss seine Stirn hinunter. „Na was führt dich denn hierher? Hast du dich etwa verirrt? Oder bist du extra unseretwegen gekommen? Das wäre doch gar nicht nötig gewesen, aber wir freuen uns immer über Besuch. Hm… dein Gesicht ist mir neu. Kann es sein, dass du ein Neuankömmling bist?“ „Und wenn es so wäre?“ „Oho“, rief Sigma und sah zu Scarecrow Jack rauf. „Hast du das gehört, Scarecrow? Der Junge ist erst heute angekommen! Na das bedeutet doch gleich, dass wir für ihn eine kleine Willkommensfeier veranstalten sollten.“ „Danke, aber ich verzichte“, gab Mello zurück und sein Blick verfinsterte sich. Auch wenn Sigma mit seinen komischen Augen gruselig wirkte genau so wie sein gestörter Verwandter, aber von denen würde er sich ganz sicher nicht einschüchtern lassen. Darauf konnte er noch lange warten. „Sag so etwas doch nicht“, meinte Sigma und begann nun sein Gesicht genauer zu studieren. „Wir geben unseren Neuankömmlingen gerne eine kleine Einstandsparty. Immerhin wirst du noch eine sehr lange Zeit hier unten bleiben, fürchte ich. Und du wirst den Himmel und die Sonne nie wieder sehen, also solltest du die Freuden, die Down Hill zu bieten hat, durchaus zu schätzen wissen. Immerhin sitze ich für meinen Teil schon seit 21 Jahren hier drin fest, Scarecrow Jack hat auch schon sein 20-jähriges Jubiläum. Und die Chance, hier wieder rauszukommen, tendiert gegen Null, also ist die einzig logische Konsequenz daraus, sich das Leben hier möglichst angenehm und komfortabel zu gestalten und seinen Spaß zu haben. Aber wie wäre es, wenn wir in einer etwas angenehmeren Atmosphäre miteinander plaudern? Der Boden hier ist doch wirklich nicht der richtige Platz für ein nettes Gespräch. Na komm Jack, nimm ihn hoch und komm mit.“ Damit wurde Mello hochgezerrt und ehe er sich versah, hatte Scarecrow Jack ihn an den Hüften gepackt und über seine Schulter gelegt. In dieser Position war es Mello nunmehr gänzlich unmöglich, abzuhauen. Insbesondere, da seine Arme auf den Rücken gefesselt waren. Und ehrlich gesagt wollte er lieber nicht wissen, was die beiden mit ihm vorhatten. „Du musst Jack entschuldigen“, sagte Sigma, der seinerseits voranging. „Er ist nicht gerade der Gesprächigste. Das bringt es wohl mit sich, wenn man einen Dachschaden entwickelt, nachdem die eigene Tante einen zu verbrennen versucht. Er hat auch nicht gerade die besten Erfahrungen, was Manieren anbetrifft, aber er ist wirklich ein braver kleiner Bruder. Nicht war, Scarecrow?“ Keine Antwort, nur ein lauter, rasselnder Atem. Dann aber brachte er ein heiseres „Ja“ hervor. Diese Stimme jagte Mello einen eiskalten Schauer über den Rücken und auch wenn er es nicht gerne zugab, dieser Scarecrow Jack machte ihm irgendwie Angst. Aber wahrscheinlich sollte er mehr Angst vor Sigma haben, denn so wie es schien, hatte er dieses Monster ziemlich gut unter Kontrolle. „Na erzähl mal wie du heißt.“ „Das geht dich ja wohl gar nichts an, du Freak“, gab Mello feindselig zurück, doch über diese Antwort lachte Sigma nur. „Ich glaube, du bist dir nicht im Klaren, in welcher Lage du dich hier gerade befindest, mein Freund. Nur zu deiner Information: wir können ganz in Ruhe und zivilisiert miteinander plaudern und so eine nette Gesprächsrunde eröffnen. Oder aber ich sag Jack einfach, er soll dir die Bauchdecke aufschlitzen und dich mit deinen eigenen Gedärmen erdrosseln. Das ist auch kein großes Problem. Du kannst dich entscheiden.“ Mit denen ist sicher nicht zu spaßen, dachte Mello sich und sah ein, dass er mit seiner Art nicht weiterkam. Die beiden würden Ernst machen und ihm noch tatsächlich die Eingeweide rausreißen, wenn er ihr Spielchen nicht mitspielte. Schließlich erreichten sie einen Raum und als nächstes wurde Mello auf einen Stuhl gelegt, der ihn irgendwie an diese Stühle aus den Zahnarztpraxen erinnerte. Vermutlich war das hier mal ein Behandlungszimmer gewesen. Nur stank es hier drin fast noch schlimmer als in den Gängen. Sofort wurde er festgeschnallt und das Licht wurde angeschaltet. „So“, rief Sigma nun und klopfte ihm auf die Schulter. „Ich darf dich in meinem kleinen Refugium herzlich Willkommen heißen.“ Mello musste blinzeln, da das Licht ihn erst blendete. Er hatte sich schon zu sehr an die miserablen Lichtverhältnisse in der Gefängnisanstalt gewöhnt. Aber dann erkannte er, dass er sich tatsächlich in einer Art Behandlungszimmer befand. Nur standen in den Regalen keine medizinischen Geräte oder Arzneien, sondern Gläser, in denen Augen schwammen. Menschliche Augen. Ihm gefror das Blut in den Adern bei diesem Anblick und er musste sich an den nackten Mann mit der Augenbinde erinnern, den er gesehen hatte… an die Akte, die er gefunden hatte. Sigma hatte eine Obsession für Augen… er hatte seine Eltern getötet, weil er an ihre Augen wollte. Er sammelte die Augen der Häftlinge, die nach Down Hill gebracht wurden. Großer Gott… wo war er denn nur hineingeraten? Warum nur hatte er diesen wahnsinnigen Einfall haben müssen, ausgerechnet durch die Anstalt zu gehen? Warum nur hatte er ausgerechnet die falsche Abzweigung nehmen und in einer Sackgasse landen müssen? „Ich muss zugeben, das Sammeln ist meine große Leidenschaft. Wenn nicht zu sagen, meine Lebensaufgabe“, erklärte Sigma und begann nun, mehrere Messer und Zangen auf einem Tisch auszubreiten. „Interessanterweise unterliegen so viele Menschen dem Trugschluss, dass ich blind bin, da sie glauben, ich besäße keine Pupillen und keine Iris. Aber das stimmt nicht. Ich habe sie, aber sie sind weiß. Deshalb geht man automatisch davon aus, ich wäre völlig hilflos. Es erstaunt mich immer wieder, wie leicht es doch ist, die Leute zu täuschen. Zugegeben, ich hab es selbst nicht glauben wollen, als ich mit fünf Jahren zum ersten Mal in einen Spiegel geblickt und mich selbst so gesehen habe, wie alle anderen mich sehen. Meine Eltern sagten, ich wäre anders, weil ich eine kranke Missgeburt bin. Und Gott hasst nun mal Missgeburten. Ich sah in ihren Augen, dass sie sich vor mir ekelten und mich verachteten, aber mehr noch sah ich, dass sie Angst vor mir hatten. Genauso wie alle anderen Menschen. Ich bin diesem interessanten Phänomen weiter nachgegangen und habe mich damit beschäftigt, warum es wohl so ist, dass ich die Fähigkeit besitze, das wahre Wesen der Menschen zu durchschauen und zu erkennen, wie sie wirklich denken und fühlen, während meine Augen nichts dergleichen preisgeben. Und die einzig logische Schlussfolgerung liegt darin, dass unsere Augen gleichzeitig auch unsere Seelenspiegel sind. Ja mehr noch: sie sind das Gefäß unserer Seele. Und der Grund, wieso ich mit diesen Augen zur Welt gekommen bin, ist einfach der, weil ich im Gegensatz zu allen anderen Menschen keine richtige Seele besitze. Wie also löst man das Problem? Organe kann man transplantieren, gewisse Körperteile durch Prothesen ersetzen, aber wie eignet man sich eine Seele an? Ganz einfach: man extrahiert sie dem anderen, indem man ihm seine Augen nimmt. Derzeit suche ich noch nach den perfekten Augen für mich, aber ich habe schon viele gesammelt, die so ungefähr meinen Erwartungen entsprechen und die es wert sind, aufbewahrt zu werden. Und ich tue den Leuten sogar noch einen Gefallen. Ich mache ihre Seele unsterblich, indem ich sie von diesem wertlosen und verrottenden Körperballast befreie.“ Der hat sie doch nicht mehr alle, dachte Mello und wurde so langsam unruhig. Der ist vollkommen wahnsinnig. Will der mir jetzt etwa auch die Augen rausnehmen? Scheiße Mann, ich muss mir echt was einfallen lassen, sonst bin ich dran! „Die Angst steht dir gut zu Gesicht. Nun sag mir doch mal, Junge: wie heißt du denn nun oder besser gesagt wie nennst du dich?“ „Mello…“ „Mello?“ rief Sigma und hob erstaunt die Augenbrauen. „Ja da klingelt irgendetwas… Und dieser Blick in deinen Augen erinnert mich an jemanden. Ach verdammt, da war doch mal jemand gewesen, den wir hier hatten. Jack, erinnerst du dich noch an diesen einen Kerl? Das war der, der zusammen mit Echo hergekommen ist.“ „Der Brillentyp“, antwortete Scarecrow Jack mit rasselnder Stimme und nun schien es dem 30-jährigen wieder einzufallen. „Ja genau. Er hatte wirklich interessante Augen. Genauso wie du. Das Ganze ist schon eine lange Weile her, vielleicht ein paar Jährchen. Da hatten wir so einen Typ aufgegabelt, den sie frisch hier eingeliefert hatten. Er hatte einen ähnlichen Blick wie du. Der Blick eines Menschen, der als Kind furchtbare Dinge gesehen hat und der sich damit abgefunden hat, ohne die Liebe und Fürsorge einer Familie aufwachsen zu müssen. Aber mehr noch hat mich auch der Zorn und die Verzweiflung in seinen Augen fasziniert. Und der Schmerz… Wenn ich mich richtig erinnere, hat er irgendwie so einen ähnlichen Namen wie deinen erwähnt, ich könnte mich aber auch täuschen… Hey mein Freund, vielleicht kannst du mir ein klein wenig auf die Sprünge helfen. Es liegt mir irgendwie auf der Zunge, aber mir fällt es gerade nicht ein. So ein Rothaariger, knapp 1,70m groß und jetzt so gut und gerne in deinem Alter. Hat ständig diese bescheuerte Fliegerbrille auf.“ Fliegerbrille? Rote Haare? Mello glaubte nicht richtig zu hören, als Sigma das sagte. Es gab nur einen Menschen, den er kannte, der genau so aussah. Doch so wirklich glauben konnte er es nicht. „Matt…“ „Ja richtig!“ rief Sigma sofort und schnippte mit den Fingern. „Matt war sein Name. Mann, der muss vor knapp drei oder vier Jahren hier angekommen sein. Was für ein lustiger Zufall.“ Nein, das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein. Matt war hier in Down Hill? Ja aber wann war das passiert und wieso hatte er darüber nie etwas herausfinden können? War das etwa der Grund gewesen, wieso seine Suche immer erfolglos blieb und niemand je etwas zu Matts Verbleib sagen konnte? In diesem Moment wusste Mello nicht, was er denken, geschweige denn, was er fühlen sollte. Erleichterung, dass er endlich einen Hinweis auf Matts Verbleib hatte, oder aber Fassungslosigkeit darüber, dass er hier gelandet war? „Oh?“ kam es von Sigma, der ihn interessiert beobachtete. „Wie es aussieht, steht ihr euch sehr nahe ihr zwei. Kann es sein, dass er dir viel bedeutet? Ist er etwa dein Lover?“ „Das geht dich einen Scheißdreck an!“ Hier nahm Sigma das Skalpell in die Hand und rammte es in Mellos Schulter. Dieser schrie vor Schmerz auf, als sich die Klinge durch seine Haut tief in sein Fleisch bohrte. Und als wäre das nicht genug, begann Sigma sie auch noch zu drehen und beobachtete mit Genugtuung das Leid seines Opfers. „Ich dachte, ich hätte mich zum Thema Kooperation deutlich genug ausgedrückt. Zwar bin ich an deinen Augen als Sammelstücke nicht interessiert, aber ich kann sie dir auch gerne ausstechen, wenn du weiterhin so unhöflich zu mir bist. Betrachte das als letzte Warnung. Also ich wiederhole noch mal meine Frage: wie nahe standet ihr euch zwei denn so?“ Mello biss sich auf die Unterlippe und versuchte den Schmerz in seiner Schulter zu ignorieren, doch Sigma drehte die Klinge immer wieder herum, um ihn genau daran zu hindern. Dieser Kerl war nicht nur verrückt, er war ein eiskalter Sadist. Nur schien er seinen Terror wohl hauptsächlich auf die psychische Basis zu konzentrieren. „Wir sind Freunde“, antwortete Mello mit Mühe. „Wir… wir sind im selben Waisenhaus gewesen und kennen uns daher.“ „Da scheint aber mehr gewesen zu sein“, meinte Sigma und griff ihm zwischen die Beine und umfasste mit eisernem Griff seine Weichteile. Bei dieser plötzlichen Berührung in seinem intimsten Bereich zuckte Mello zusammen und schloss die Beine. Sigma grinste breit und lachte kalt. „Wie ich es mir dachte. Dein Körper kennt die zärtlichen Berührungen eines anderen Mannes. Mag sein, dass dein Mund lügt, aber dein Körper kann es nicht. Dieser Matt scheint ja wohl mehr für dich gewesen zu sein als bloß irgendein gewöhnlicher Freund, was? Er war dein „besonderer“ Freund.“ „Wir hatten hin und wieder mal Sex, das war alles“, antwortete Mello und hoffte, dass Sigma endlich die Finger von ihm lassen würde, doch stattdessen verstärkte dieser nur den Griff um seine Hoden, sodass es langsam aber sicher wehtat. „Ach ja?“ fragte der 30-jährige listig. „Und wer hat es wem besorgt? Erzähl mir mehr davon. Wenn nicht, dann schneide ich dir erst die Augen und dann deine Eier raus. Mal sehen, ob du dann etwas gesprächiger wirst.“ Gottverdammt ich muss echt hier raus und zwar schnell, dachte Mello und so langsam aber sicher wurde seine Angst größer. Das alles läuft in eine Richtung, die echt noch in einem absoluten Alptraum enden wird, wenn ich mir nicht schnell etwas einfallen lasse. Diese Freaks werden mich noch echt auseinander nehmen. „Ich warte auf eine Antwort.“ Je nachdem wie ich antworte, wird der Kerl irgendetwas mit mir anstellen. Nur kann er offenbar meine Gefühle so gut durchschauen, dass er sofort erkennen wird, wenn ich lüge. Und wenn ich lüge, wird der mir noch richtig die Hölle heiß machen. „Ich war der Untere“, gestand er und wäre am liebsten im Boden versunken oder hätte sich die Zunge durchgebissen, dass er diesen zwei Verrückten so etwas erzählte. Das war eine so erniedrigende Situation für ihn und er stinksauer. Am liebsten würde er die zwei dafür kalt machen, dass sie ihn so dermaßen erniedrigten und ihn dazu brachten, solche Sachen zu sagen. Niemand hatte sich das bisher ungestraft gewagt, so mit ihm zu spielen. Und das blieb auch Sigma nicht verborgen. „Na da scheint ja jemand eine echte Kämpfernatur zu sein. Darf ich raten? Minderwertigkeitskomplex. Da wärst du nicht der Erste mit diesem Problem. Aber dein Stolz wird dir hier auch nichts bringen, besonders nicht im Down Hill Asylum. Dein Aufenthalt hier kann zu einer echten Hölle, aber auch zu einem Paradies der besonderen Art werden. Du musst nur lernen, deinen Stolz und deine Würde abzulegen und nach unseren Regeln zu spielen. Also erzähl doch mal: wie hat dein Freund es dir denn besorgt? Etwa auf die sanfte oder auf die harte Tour?“ Mello wäre lieber gestorben, als darüber zu reden. Niemanden ging sein Sexleben etwas an und ebenso wenig sprach er auch darüber. Dieser Dreckskerl spielte doch nur mit ihm und machte sich einen Spaß daraus. Als Sigma merkte, dass der Kampfgeist seines Opfers doch nicht so leicht zu knacken war, seufzte er und ließ von ihm ab. „Na wenn du nicht darüber reden willst, dann bitte. Dann werde ich deinen Freund eben selber fragen müssen.“ Diese Worte ließen Mello hellhörig werden. „Matt ist hier?“ fragte er und wollte sich aufsetzen, doch die Fesseln hielten ihn zurück und sie waren auch viel zu stramm, als dass er sich hätte bewegen können. Er konnte nicht glauben, dass Matt tatsächlich hier in dieser Gefängnisanstalt war und hier schlimmstenfalls schon seit Jahren gefangen war. Allein der Gedanke war schrecklich und er sah die schlimmsten Bilder vor seinen Augen. Wie Matt ebenfalls übel zugerichtet und nackt an eine Halsfessel gekettet war und in einer Zelle kauerte. Alleine, ohne Hoffnung und wahrscheinlich schon seit Jahren das Spielzeug dieser beiden kranken Sadisten. Sigma blieb stehen und kicherte. „Natürlich. Er ist schon seit einer ganzen Weile unser Ehrengast. Zwar haben wir schon viele Neuankömmlinge hier gehabt, aber die haben nach einer Weile entweder den Geist aufgegeben oder ich hab sie in Core City verkauft. Für Sexsklaven kriegt man einen guten Preis, besonders für jene, die schon abgerichtet sind und wissen, wie der Hase läuft. Aber manche behalten wir eben. Ich persönlich bin ja hauptsächlich nur an ihren Augen interessiert, aber Scarecrow Jack braucht ja auch einen Spielgefährten, verstehst du? Ich kann auch nicht immer für ihn da sein und ihm Gesellschaft leisten. Mein armer kleiner Bruder braucht ja auch jemanden, der ihm Zärtlichkeit schenkt. Und da kann er auch mal gerne ein paar mehr haben. Denn wenn Jack nicht glücklich ist, bin ich es auch nicht. Und ich denke, wir verstehen uns gut. Da du ja offenbar nicht reden willst, werde ich mir die Antworten von deinem Freund holen und ich denke, er wird weitaus redseliger werden, wenn ich ihn ein bisschen bearbeite.“ Allein der Gedanke, dass Matt hier in dieser Anstalt gefangen war und als Lustobjekt der beiden herhalten musste, ließ Mello all seine Eitelkeiten und seinen Stolz vergessen. Natürlich hasste er es, so gedemütigt und erniedrigt zu werden, aber er konnte nicht verantworten, dass Matt wegen ihm weiterhin unter diesen Kerlen zu leiden hatte. „Nein warte“, rief er deshalb. „Ich werde schon reden.“ „Na also“, meinte Sigma und lächelte zufrieden. „So langsam scheinst du zu kapieren, worauf es hier ankommt. Na denn… ich bin ganz Ohr.“ Kapitel 4: Psychospielchen -------------------------- Mello biss sich auf die Unterlippe und versuchte, seine Wut und seinen Ärger herunterzuschlucken. Ihm wurde erst jetzt das wahre Ausmaß seiner Situation klar. Wenn er sich diesen beiden Irren widersetzte, würden sie nicht nur ihm, sondern auch Matt etwas antun. Und nachdem er schon erfahren hatte, wie lange sein verschollener Freund schon hier gewesen war, wollte er sich lieber nicht vorstellen, was diese beiden Monster ihm bis jetzt alles angetan hatten. Umso mehr war es jetzt seine Pflicht, ihn zu beschützen. „Also dann schieß mal los, Mello. Wie hat Matt es dir besorgt? Die sanfte oder harte Tour?“ „Eher dazwischen.“ „Vorbereiten?“ „Manchmal. Kam ganz drauf an, wie wir beide drauf waren.“ „Spielzeuge?“ „Selten. Nur drei Male, als er mal sauer auf mich war und wir uns in die Haare gekriegt hatten..“ „Und was für welche?“ Dieses bohrende Gefühl der Scham schnürte ihm fast die Kehle zu. Er wollte raus aus dieser Situation und diesem verdammten Sigma eine reinhauen. Noch nie hatte er darüber gesprochen, was Matt mit ihm im Bett alles anstellte. Es ging ja auch niemanden etwas an und wenn er so offen darüber sprechen würde, wäre er sofort als Homo abgestempelt worden. Und ums Verrecken war er nicht schwul! Aber mehr noch als der Gedanke, als Schwuler abgestempelt zu werden, fürchtete er die Konsequenzen, wenn er wieder aufmuckte. Nicht nur für ihn selbst, sondern auch für Matt. „Zwei Mal war es ein Dildo und ein Mal eine Analkette.“ Es kostete ihn immense Überwindung, so etwas zu erzählen und genau das wiederum schien Sigma wirklich Spaß zu machen. Sein Opfer psychisch zu quälen war genau sein Gebiet und er wollte mehr davon sehen. „Warst du dabei gefesselt?“ Mello antwortete mit einem Nicken und kämpfte erneut mit diesen Gefühlen. „Und hat es dir gefallen?“ „Nicht so wirklich.“ „Und wieder lügst du. Aber das lass ich ausnahmsweise noch mal durchgehen. In Wirklichkeit willst du ja nur nicht wahrhaben, dass du auf so etwas stehst. So, da das mit den Spielzeugen und Fesseln ja nun geklärt ist, würde ich gerne noch ein wenig mehr wissen. Erzähl mir doch mal: hattest du neben ihm auch noch andere Typen, mit denen du ins Bett gehüpft bist?“ „Nein“, antwortete Mello wahrheitsgemäß. „Ich hab ansonsten nur was mit Frauen.“ Warum interessierte sich dieser Psychopath denn überhaupt dafür? Gehörte das irgendwie zu seinem kranken Spielchen dazu? Die Antwort darauf war ganz einfach ja. Sigma wusste genau, wie er ihn am besten drankriegen konnte. Und er hasste sich selbst dafür, dass er ein solches Angriffsziel bot. „Und bist du so gekommen, oder musste er dir erst einen runterholen?“ „Wenn er mich gefesselt hat, war es das zweite.“ Dieser elende Mistkerl täte besser daran aufzuhören. Mello brodelte innerlich und wenn er nicht gefesselt wäre, dann hätte er es auf einen Kampf angelegt, aber jetzt in dieser Situation war er diesen beiden hilflos ausgeliefert. Er war an diesem verdammten Stuhl gefesselt, sein Kopf tat ihm weh und die Wunde an seiner Schulter brannte höllisch. Sigma hingegen schien sich sehr zu unterhalten und Spaß an dieser ganzen Sache zu haben. Aufmerksam beobachtete er seinen Gefangenen und dessen Reaktionen auf seine Fragen. Und die Scham und die Wut in seinem Blick zu sehen, bereitete ihm große Genugtuung. Der arme Kerl hatte nicht mal im Ansatz eine Ahnung, was ihm noch alles blühen würde. Jetzt noch gab er sich als starker Kerl, aber Sigma wusste schon, wie er seinen Geist brechen konnte. Dieser Mello würde noch ein hervorragendes Spielzeug abgeben, so viel war sicher. Ein hübsches Gesicht hatte er, wenn nur nicht diese hässliche Brandnarbe an seiner linken Gesichtshälfte wäre, aber andererseits war Scarecrow Jack ja auch keine wirkliche Schönheit. Naja, Jack hatte eh eine kleine Schwäche für Blonde, er würde also noch sehr viel Spaß mit seinem neuen Spielkameraden haben. Aber erst mal wollte Sigma auch noch seinen Spaß mit ihm haben. Immerhin hatte ihr letzter Neuankömmling ja nicht wirklich lange durchgehalten, bevor er durchgedreht war und seinen Kopf so oft und so heftig gegen die Wand geschlagen hatte, bis er gestorben war. Naja, Nachschub gab es hier in Down Hill zuhauf und Mello war in der Hinsicht eben etwas spezieller. Er war eine Kämpfernatur und diese hielten immer am längsten durch. Wer weiß… wenn Jack ihn nicht allzu sehr mit der Machete malträtierte und ihn nicht verbluten ließ, konnte der Kerl vielleicht ein paar Monate durchhalten, im besten Fall sogar ein bis zwei Jahre, bevor er selbst den Verstand verlor. Sensible Heulsusen konnten sie hier nicht wirklich gebrauchen, aber sie verschmähten sie auch nicht. Einen Monat konnte man sie vielleicht bearbeiten und wenn der Widerstand dahin war, konnten sie immer noch gute Sexsklaven abgeben. Im Down Hill, wo sich die Frauen in einer Festung verschanzt hatten und die einzige Frau außerhalb der Schutzmauern eine gefährliche schwer bewaffnete Soldatin war, hatte man kaum Alternativen. Männer waren ja auch nur Männer, die ihren Trieben freien Lauf lassen mussten. Und um diese ständigen Übergriffe irgendwie in den Griff zu bekommen, hatte Sigma sich angeboten, für reichlich Nachschub zu sorgen. Nun gut, es gab zwar immer noch Übergriffe, aber das war nicht sein Problem und die Anfrage nach Sexsklaven war eben hoch. Es gab genügend Insassen, die die Sexsklaven teilweise so brutal durchnahmen, dass sie ihren inneren Blutungen erlagen, manchmal wurden sie totgeprügelt, verendeten an Geschlechtskrankheiten oder nahmen sich das Leben. Und für Sigma war dies nur ein wunderbarer Vorteil. Er führte ein sehr lukratives Geschäft und dabei interessierte es kaum jemanden, wenn er seiner Ware die Augen vorher rausnahm. So hatten sie wenigstens weniger Fluchtmöglichkeiten und man konnte sie besser in Zaum halten. Zuerst spielte er mit dem Gedanken, Mello zu einem Sexsklaven abzurichten, aber so wie er die Sache einschätzte, würde das kaum was werden. Nein, der Kerl hatte zwar schon gewisse Erfahrungen, aber er würde nicht zögern, seinem Kunden sofort in die Kehle zu beißen, wenn er sich ihn auf diese Weise vom Hals schaffen konnte. Er würde bis zum bitteren Ende kämpfen und deshalb hatte er auch etwas anderes für ihn im Sinn. Mello würde Jacksons Spielzeug werden. Dieser besaß die nötige Grausamkeit und Brutalität, um einen solchen Kämpfer wie ihn zu bändigen und abzurichten. Und außerdem hatten sie ihn mit seiner größten Schwäche längst in der Hand. Und das war Matt. Ach es war schon fast wieder zu einfach… In der Hinsicht waren die Leute allesamt doch so durchschaubar und das für jemanden, der fast zwei Drittel seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte. „Und hast du ihm auch mal einen geblasen?“ Er sah, wie sein Opfer sich sträubte und genau das wollte er sehen. Er wollte ihn psychisch quälen und ihm zeigen, wie dieses Spiel gespielt wurde. Es würde allein nach seinem Willen ablaufen und Mello würde nichts dagegen tun können. Genau das machte es doch gerade erst so unterhaltsam. Widerwillig antwortete sein Opfer mit „ja“, woraufhin er nachfragte „Aha. Und machst du das auf Kommando?“ „Nein, auch aus Eigeninitiative.“ „Schon mal im Auto Sex gehabt?“ „Ja…“ „Mensch, das lobe ich mir doch. Siehst du? Wir führen eine nette kleine Unterhaltung und es musste niemand unnötig verletzt werden. Gut für dich, aber vor allem gut für deinen Freund.“ Mello warf Sigma einen hasserfüllten Blick zu und wenn er nicht gefesselt wäre, hätte er ihn schon längst totgeprügelt. So viel war sicher. Doch er beherrschte sich, auch wenn ihm das enorme Mühe kostete. Aber allein der Gedanke, was dieses Monster mit ihm oder Matt sonst anstellen würde, ließ ihn stark bleiben. „Wo ist Matt und was habt ihr mit ihm gemacht?“ „Er hat hier sein kleines hübsches Zuhause und ist ein wirklich treuer Spielkamerad meines kleinen Bruders. Sie haben fast jeden Tag ihren Spaß.“ „Wie bitte?“ fragte Mello fassungslos. „Bring mich sofort zu ihm hin!“ Sigma lachte amüsiert darüber und begann mit dem Skalpell zu spielen, welches er benutzt hatte, um Mello zu bestrafen. „Mein Freund, ich glaube du hast immer noch nicht ganz kapiert, wie der Hase hier läuft. Du bist nicht in der Position, mir etwas zu befehlen. Hier im Westblock habe einzig und allein ich das Sagen und wenn du mir weiterhin so frech kommst, werde ich deinen Freund eigenhändig kastrieren, nachdem ich ihm seine Augen ausgestochen habe.“ „Ist ja gut, ich hab verstanden“, rief Mello gereizt, versuchte aber irgendwie unterwürfig zu klingen um zu signalisieren, dass er sich unterordnen würde. „Ich will nur sehen, ob es wirklich Matt ist und ob er tatsächlich noch am Leben ist.“ Hier gab Sigma Scarecrow Jack eine kurze Anweisung, die Mello nicht ganz verstand und schon verschwand der unheimliche Riese. Wenig später kam er mit etwas zurück, was Mello verdächtig bekannt vorkam: die Fliegerbrille. Er erkannte sie eindeutig als Matts Fliegerbrille wieder, die er ihm damals geschenkt hatte. Nun war für Mello jeglicher Zweifel aus dem Weg geräumt. Matt war tatsächlich hier in Down Hill und er befand sich in der Gewalt dieser beiden Irren. Und das Schlimmste war, er hatte es nicht verhindern können, dass sein bester Freund hier gelandet war. Und als er das Blut an der Brille sah, schnürte sich ihm die Brust zu. Erneut spielten sich vor seinem geistigen Auge Bilder davon ab, was sie Matt alles angetan hatten. „So, ist das Beweis genug?“ fragte Sigma und war zufrieden über Mellos schockierte Reaktion. „Bitte… ich muss zu ihm und ihn sehen“, rief dieser und stemmte sich gegen seine Fesseln. Doch das war vergebliche Mühe. Die Fesseln würde er nie und nimmer mit Gewalt öffnen können. „Das wird leider nicht möglich sein, zumindest jetzt noch nicht“, meinte der Eyeball Killer und lachte. „Mein Bruder teilt sein Lieblingsspielzeug nun mal nicht so gerne mit anderen. In der Hinsicht ist er nämlich sehr besitzergreifend. Wenn du deinen Freund wirklich wiedersehen und ihm helfen willst, dann musst du auch schön erst mal was dafür tun. Immerhin ist das hier keine Kindertagesstätte oder ein Wunschbrunnen, kapiert? Im Gefängnis gilt nämlich die Regel: wer die Macht hat, der macht auch die Regeln. Und du hast hier als Rookie nun mal gar nichts zu melden. Also dann… was kannst du mir oder besser gesagt Jack bieten, dass er sein Lieblingsspielzeug in Ruhe lässt?“ So langsam ahnte Mello, worauf das Ganze hinauslief und innerlich verkrampfte sich bei ihm alles. Dieser verdammte Dreckskerl verlangte allen Ernstes von ihm, dass er Matts Platz einnahm. Und das Schlimme an der ganzen Situation war, dass er kaum eine Alternative hatte. Wenn er sich weigerte, würde Matt das bezahlen müssen. Wenn er sich auf den Deal einließ, würde er noch das Spielzeug dieses Irren werden. Was also sollte er tun? Etwa riskieren, dass sie Matt noch mehr antun würden als ohnehin schon? Konnte er seinem besten Freund so etwas wirklich zumuten und ihn dermaßen im Stich lassen? Nein, dachte er sich und senkte den Blick. Ich habe Matt schon einmal so mies behandelt, da kann ich ihn doch jetzt nicht im Stich lassen. Immerhin hab ich damals in Wammys House versprochen, für ihn da zu sein und auf ihn aufzupassen. „Also gut“, sagte er leise und mit gesenkter Stimme. „Ich mache es.“ Der Fernseher lief laut und als würde dort schon nicht genug gesungen werden, summte Clockwise fröhlich die Musik mit, während er an der kleinen Herdplatte stand und aus den wenigen Lebensmitteln irgendetwas zu zaubern versuchte. Dieses Mal hatte er Glück gehabt, dass er einen recht guten Preis machen konnte. Er hatte sogar Gewürze bekommen, was nun eine absolute Seltenheit war. Dafür hatte er aber auch einiges mehr zahlen müssen. Vier Koffer um genau zu sein, aber die Investition hatte sich wirklich gelohnt, zumindest in seinen Augen. Und „Hey Clockwise“, hörte er Kaonashi rufen, der gerade wieder zurück war. „Dreh mal die Lautstärke runter. Ich hab keine Lust, mir dieses Geträller von Cinderella anzuhören.“ „Was denn?“ rief Clockwise und schaltete den Fernseher aus. „Ich liebe diese Filme eben.“ „Gib doch zu, dass du selber gerne eine Märchenprinzessin wärst.“ „Ja stichle du nur, Kao. Das bringt mich auch nicht aus meiner guten Laune raus.“ „Das sehe ich. Wir sind im ausbruchsichersten Gefängnis weltweit und du kannst noch zu Walt Disney mitsingen. Aber jetzt verrate mir mal, was das werden soll.“ Damit verwies der Maskierte auf die Kochplatte. „Ich hab dir doch gesagt, du solltest das Kochen sein lassen. Während du in deinem rosaroten Regenbogeneinhorntraumland bist und auf deinen Traumprinzen wartest, lässt du sogar das Wasser anbrennen. Lass mich das machen.“ Damit legte Kaonashi seinen Mantel ab und krempelte die Ärmel seines Shirts ein wenig hoch und stellte sich an den Herd. „Deine Disneyliebe in Ehren Clockwise, aber vom Kochen hast du doch eh keine Ahnung.“ Dem konnte der blondhaarige Schauspieler nur zustimmen. Also setzte er sich stattdessen an den Tisch und schaltete wieder den Fernseher ein, um den Film zu Ende zu sehen. Egal wie oft er sie auch anschaute, von Walt Disney Märchenfilmen konnte er nie genug kriegen. Das wussten sowohl Kaonashi als auch Horace und Erster machte sich oft einen Spaß daraus, ihn mit seiner Liebe für diesen Kitsch aufzuziehen. Wieder wurde die Tür geöffnet und wie aufs Stichwort kam Horace herein. „Hey ihr zwei. Na Clocky, träumst du von deinem Leben als Cinderella?“ „Ach Horace, ich hab dir schon hundert Mal gesagt, dass du mich nicht Clocky nennen sollst. Das klingt dämlich. Und lass mir doch meine Leidenschaft!“ „Nenn mir einen Mann, der nicht Sklave seiner Leidenschaft ist und ich will ihn im Kern meines Herzens tragen.“ „Kein Grund, gleich hier den Hammel rauszulassen“, kam es von Kaonashi, der noch am Herd beschäftigt war. Beleidigt zeigte Horace ihm die kalte Schulter. „Das heißt Hamlet und nicht Hammel.“ „Scheint so, als wäre er wieder schlecht gelaunt“, meinte Clockwise und goss sich etwas Wasser in seinen Becher. „Wie ist denn eigentlich das Gespräch mit Nine und Eleven verlaufen? Und was ist denn jetzt mit diesem Rookie?“ Kaonashi schwieg erst, während er damit beschäftigt war, das wenige Gemüse anzubraten und etwas halbwegs Anständiges auf den Tisch zu bringen. Von ihnen dreien war er nämlich der Einzige, der vernünftig kochen konnte. Clockwise war eher ein guter Arzt und Schauspieler und Horace ein Poet, aber von der Küche hatten sie keinen blassen Schimmer. „Tja, wie es aussieht, ist dieser Mello weder ein Schlüssel, noch ein M.O. Aber so wie ich gehört habe, gehört er offenbar zu diesen Kindern, die damals dafür ausgebildet wurden, eines Tages zum nächsten L zu werden.“ „Ja schön… und was interessiert uns das?“ „Das hab ich Nine auch gefragt. Aber er meinte, wir sollten diesen Kerl ein wenig im Auge behalten. Womöglich können wir ihn dazu benutzen, um an Helmstedter zu kommen und herauszufinden, was er vorhat. Wir können die ganze Arbeit schlecht auf Rhyme abwälzen. Ich frag mich ohnehin, wie lange er das noch durchhält.“ Verständnisvoll nickten die beiden und Clockwise senkte gedankenvoll den Blick. Er wusste, dass Kaonashi sich große Sorgen um Rhyme machte, auch wenn er es sich vielleicht nicht anmerken ließ. Aber er war nun mal der Anführer ihrer Gruppe und als solcher war es seine Aufgabe, die Entscheidungen zu treffen und zu tun, was nötig war. Und sie hatten alle ihr Ziel klar vor Augen und dazu mussten auch Opfer gebracht werden. So hart das auch klang. Sie alle wussten es und jeder rechnete damit, im schlimmsten Fall in Down Hill zu sterben. Und da Kaonashi der Stärkste unter ihnen war, fiel automatisch ihm das Kommando zu. „Sag uns, was wir tun sollen.“ „Wir werden den Untergrund verschärft beobachten und uns bereithalten. Insbesondere du, Horace. Zwar haben wir einen der drei Schlüssel bei uns und einer läuft noch frei herum, aber wir wissen immer noch nicht mit fester Gewissheit, wer der dritte Schlüssel ist und vor allem was es mit Umbra auf sich hat und ob es sich um einen weiteren M.O. handelt. Das lässt sich erst sagen, wenn wir endlich herausfinden, an wen Helmstedter damals geforscht hat und was dann genau passiert ist. Außerdem müssen wir in Erfahrung bringen, was Helmstedter in Down Hill zu suchen hat und was er im Schilde führt. Wir dürfen nicht zulassen, dass er nach draußen kommt, geschweige denn sein Gefolge. Und da der Untergrund mit ihm zusammenarbeitet, müssen wir besonders aufpassen. Deshalb denkt also dran: gebt niemanden euren Namen preis. Unser Aussehen zu verändern reicht nicht allein. Und meidet möglichst den Kontakt zum Untergrund.“ „Schon klar, das hast du uns oft genug eingeschärft“, seufzte Clockwise. „Aber ich kapier nicht, wieso wir uns mit unseren Decknamen anreden müssen, wenn wir doch sowieso allein sind.“ „Weil wir nicht mit Gewissheit sagen können, ob die ganze Anlage nicht doch noch überwacht wird“, erklärte Horace. „Solange wir nicht genügend Infos haben, müssen wir eben aufpassen und auf Nine und Eleven allein können wir uns auch nicht verlassen. Und wenn sie die Identitäten der anderen M.O.s aufdecken, dann ist Schluss mit lustig. Entweder wird Helmstedter etwas drehen, oder aber er hetzt den Untergrund auf und das können wir ja nun wirklich nicht gebrauchen. Stimmt doch, Kao?“ Der Maskierte nickte und begann nun damit, die Soße abzuschmecken. Dazu schob er seine Maske so weit hoch, dass sein Mund freilag. Aber er selbst nahm sie niemals gänzlich ab. Nicht einmal wenn er schlief oder er alleine war. „Und was hast du noch vor?“ fragte Clockwise ihn und stand nun auf, um den Tisch zu decken. „Ich werde nachher im Westblock vorbeischauen, eventuell.“ „Was willst du denn dort? Sigma wird dir noch seinen verrückten Cousin auf den Hals hetzen, wenn er schlecht drauf ist.“ „Soll er ruhig. Jackson kann es sowieso nicht mit mir aufnehmen und das wissen beide. Nein ich will nur nach dem Rookie sehen.“ „Im Ernst? Ausgerechnet du?“ „Ich glaub, ich hab langsam wirklich einen Grund, eifersüchtig zu werden“, meinte Horace und verzog die Mundwinkel. „Wenn Kao wenigstens mal für mich so viel Interesse zeigen würde, als für diesen vorlauten Bengel.“ „Du kannst ja auch auf dich selbst aufpassen, oder nicht?“ Genau diese Antwort hatte Horace irgendwie von Kaonashi erwartet. Manchmal war der Kerl echt kalt wie ein Eisblock. „Mal im Ernst. Ich glaube kaum, dass der Kerl was taugt. Insbesondere nicht für unseren Plan. Er war rotzfrech, vorlaut, vor allem laut, aggressiv und extrem schnell eingeschnappt.“ „Also eigentlich genau wie Kao als kleiner Junge.“ Beide mussten lachen, nur Kaonashi selbst fand das überhaupt nicht witzig und ehe Horace sich versah, hatte dieser ein Messer nach ihm geworfen und es verfehlte nur knapp sein Ziel. Es schlug direkt neben seinem Kopf in der Wand ein. Doch der Psychologe ließ sich davon nicht beirren. Dieses Verhalten war er schon seit damals gewohnt. „Kein schlechter Wurf“, bemerkte er, doch der Maskierte grummelte nur. „Schwachsinn. Eigentlich wollte ich dich treffen.“ „Hattet ihr beide letzte Nacht irgendwie schlechten Sex oder wie darf ich die gereizte Stimmung interpretieren?“ fragte Clockwise und sah abwechselnd zwischen ihnen beiden hin und her. Schließlich stellte Kaonashi den Topf auf den Tisch ab und nahm sich als Erster etwas. „Wenn es wenigstens Sex gegeben hätte“, meinte Kaonashi nur und schob seine Maske wieder genug hoch, dass er etwas essen konnte. Schließlich nahmen sich auch Horace und Clockwise etwas. „Tut mir ja leid“, meinte Horace goss sich etwas Wasser ein. „Aber deine Maske zu sehen ist nicht gerade erotisch.“ „Das war deine Idee gewesen, dass sie so aussieht, damit sie auch abschreckend wirkt. Mit so einer dämlichen Smileymaske wäre ich eine einzige Lachnummer. Und bis wir diese Sache nicht erledigt haben, werde ich die Maske auch nicht abnehmen.“ „Du hast dich echt verändert“, meinte Horace und begann nun ebenfalls zu essen. „Ich mach dir ja keinen Vorwurf deswegen. Es war für uns alle die Hölle und ich weiß, dass du das alles auch für uns tust. Aber manchmal wirkst du wie ein ganz anderer Mensch auf mich und das liegt nicht nur an der Maske.“ „Dinge verändern einen eben“, erklärte Kaonashi. „Du hattest ja Glück gehabt, dass du nicht dasselbe erleben musstest. Ich habe so viele Menschen getötet und ich werde noch mehr töten müssen, um eine weitere Katastrophe zu verhindern. Da verändert man sich eben.“ „Ich muss grausam sein, um eine gute Absicht zu erhalten“, zitierte Horace aus dem Gedächtnis aus dem Stück „Hamlet“. „Der Anfang ist gemacht, aber das Schlimmste steht noch bevor.“ „Wahr ist’s und schade ist, dass es wahr ist. So, ich bin gleich wieder unterwegs.“ „Nimm vorher aber noch deine Präparate“, erinnerte ihn Clockwise und drückte ihm drei Tabletten in die Hand. Kaonashi nahm sie, schluckte sie unzerkaut herunter und trank noch einen Schluck Wasser hinterher. „Mein Körper ist auch schon komplett verkorkst…“ Damit erhob sich Kaonashi nun, legte seinen Mantel wieder an und verschwand durch die Tür. Und so waren Horace und Clockwise wieder allein. Kapitel 5: Die Einstandsparty ----------------------------- Mellos Herz schlug wie verrückt, als er vom Stuhl losgeschnallt und von Scarecrow Jack den Gang entlang gezerrt wurde. Er spielte noch mit dem Gedanken, am besten abzuhauen und von hier zu verschwinden, doch er fürchtete die Konsequenzen. Vor allem für Matt. Dennoch grauste er sich mit jeder Faser seines Körpers sich davor. Allein die Vorstellung, dass dieser Freak gleich über ihn herfallen würde, war abartig. Die vernünftigste Lösung wäre, sich irgendwie zu befreien und dann den 29-jährigen zu überwältigen. Aber da dieser mit einer Machete bewaffnet war, fiel das flach. Jack würde ihn abstechen wie ein Schlachtvieh und sterben wollte Mello auch nicht so schnell. Was für eine beschissene Situation. Entweder wurde er gleich vergewaltigt oder er starb. Wie hatte er nur so dermaßen tief sinken können und zum Sexspielzeug für einen gestörten Psychopathen werden können? Er war echt das Letzte. Aber sollte er wirklich zulassen, dass Matt etwas zustieß? „Wenn ich den Scheiß hier mitmache, kann ich dann zu Matt?“ Ein hämisches Kichern entfuhr Scarecrow Jack und er zerrte seinen Gefangenen weiter den Gang entlang. „Klar doch“, antwortete er mit dieser schauerlichen Stimme. „Wenn es vorbei ist, darfst du zu ihm.“ Schließlich öffnete der Killer mit der Gasmaske eine der Zellentüren und stieß dann Mello hinein. Dieser stürzte zu Boden und ehe er sich versah, fiel die Tür zu und er hörte Schritte, die näher kamen. Das Nächste, was er wahrnahm, war ein heftiger Tritt in die Magengrube, dann folgte ein weiterer gegen seine Schulter und ein Tritt gegen die Lunge presste ihm sämtliche Luft heraus, sodass er kaum noch Luft bekam und für einen kurzen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, als er den nächsten Tritt gegen den Kopf kassierte. „Schrei, kleines Schweinchen“, zischte Scarecrow Jack und nahm seine Maske ab. „Na los doch. Schrei für mich…“ Mello hob benommen den Blick und einen Moment lang war seine Sicht etwas verschwommen. Aber dann allmählich klärte sie sich wieder. Und was er sah, war das nackte Grauen. Jackson Cohans Gesicht war, wie auch der Rest seines Körpers, durch schwere Verbrennungen deformiert und entstellt. Seine rechte Gesichtshälfte wirkte regelrecht von Flammen zerfressen. Von seiner Wange war kaum noch etwas übrig, stattdessen blitzten seine gelblich verfärbten Zähne durch und bildeten ein abartiges Grinsen. Auch sonst wirkte er eher, als wäre er das Opfer einer Säureattacke geworden. Jackson Cohan war nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich zu einem Monster geworden, das kaum noch etwas Menschliches besaß. Noch nie in seinem Leben hatte Mello einen derart abstoßenden Blick bei einem Menschen gesehen und er hätte auch nicht für möglich gehalten, dass es auch tatsächlich so etwas je geben würde. Doch nun war es direkt vor ihm und starrte ihn mit diesen unmenschlichen gelben Augen an und verzog die deformierten Lippen zu einem breiten Grinsen. Allein bei diesem Anblick konnte sich der 24-jährige nicht mal im Ansatz vorstellen, welche Höllenqualen dieses damals erst zehnjährige Kind in den Wahnsinn getrieben haben mussten, dass es zu so einem Monster geworden war. Schließlich packte Jackson ihn an den Haaren, drehte ihn wieder auf den Bauch und drückte sein Gesicht auf den Fußboden. Er wusste, was jetzt kam und er hatte Angst davor. Unfassbar, dass er wirklich mal in so eine Situation geraten und tatsächlich solche Angst haben konnte. Er wollte das nicht. Er wollte nicht, dass dieses Monster ihm zu nahe kam und in ihn eindrang. Niemand durfte das… nur einer hatte je dafür seine Erlaubnis erhalten und dieser eine würde auch die Ausnahme bleiben. Matt… Mello spürte, wie sein Herz schneller schlug und wie sich der kalte Schweiß auf seiner Stirn sammelte. Sein Körper tat von den Tritten höllisch weh, doch er wusste, dass ihm noch gleich ein ganz anderer Schmerz bevorstehen würde und dieser würde noch schlimm genug werden. Matt, dachte Mello und versuchte sich zu beruhigen und auszublenden, was gleich auf ihn zukommen würde. Er durfte nicht daran denken. Er musste es einfach ausblenden, ansonsten würde es nur noch schlimmer für ihn werden. Vielleicht würde es dann erträglicher werden, wenn er an die Zeit mit Matt zurückdachte. Als dieser ihn geküsst und aufs Bett niedergedrückt hatte. Wie sein Kuss nach der Zigarette schmeckte, die er kurz zuvor noch geraucht hatte. Diese gottverdammten Zigaretten, deren unverkennbarer Geruch Erinnerungen bei Mello weckte. Irgendwie war immer dieser Nikotingeruch präsent gewesen, wenn er sich an die Erlebnisse mit Matt zurückerinnerte. Wie sie im Waisenhaus zusammen gelernt hatten und wie Matt einmal über einem der Bücher eingeschlafen war, weil er sich für solche Sachen nicht interessierte. Oder wie er, statt Hausaufgaben zu machen, lieber seine beknackten Videospiele spielte und sich mehr darum sorgte, das nächste Level zu erreichen, anstatt sein Bestes zu geben, um eines Tages L’s Nachfolger zu werden und als Nächster den Kampf gegen Kira aufzunehmen. Nein, das alles war ihm immer egal gewesen. Er hatte in Wammys House nur seine Zeit abgesessen bis es geschlossen wurde und nie Interesse an irgendetwas gezeigt. Weder am Titel L’s, noch an den Sorgen der anderen oder den Problemen der Welt. Und doch war er immer bei ihm geblieben. Ja, sie beide waren immer ein unzertrennliches Team gewesen, bis vor vier Jahren. Mello versuchte sich zu erinnern, wie es gewesen war, als es zu ihrem ersten Mal gekommen war. Sie beide hatten bei einem Besuch in der Kneipe zu tief ins Glas geschaut, insbesondere er selbst. Da keiner von ihnen in dem Zustand vernünftig fahren konnte, hatten sie ein Taxi genommen und waren damit nach Hause gefahren. Ja, so war es gewesen. Matt hatte ihm ins Bett geholfen und ihm dann Jacke und Schuhe ausgezogen. Dann hatte er noch kurz am Bettrand gesessen und geraucht, bevor dann dieser Kuss kam. Der Kuss, der irgendwie diese ziemlich merkwürdige Sexbeziehung zwischen ihnen beiden eingeläutet hatte. Mit hastigen und groben Handgriffen riss Jackson ihm die Hose runter. Mellos ganzer Körper verkrampfte sich und sein Herz schlug immer schneller. Er hatte Angst, verdammt große Angst sogar, obwohl er es selbst nie für möglich gehalten hätte, dass er je so viel Angst haben könnte. Dem Tod hätte er vielleicht noch furchtlos entgegentreten können, aber das hier… das war etwas anderes. Es war auf eine ganz andere Art und Weise viel schlimmer und er wusste, dass das alles andere als angenehm werden würde. Nein, es würde die Hölle werden und er konnte nichts dagegen tun. Der einzige Weg, es zu ertragen war, nicht da zu sein. Denk an irgendetwas anderes und sei einfach nicht da, sei einfach nicht da! Diese Worte rief sich Mello immer wieder in den Kopf und er konzentrierte seine ganze Kraft darauf, sich an die gemeinsame Zeit mit Matt zu erinnern und an ihr erstes Mal. Wie sich seine Berührungen angefühlt hatten… Nun gut, es hatte erst ziemlich wehgetan, aber es war erträglich gewesen. Es war jedes Mal erträglich gewesen, solange es Matt war. Für ihn hatte schon damals festgestanden, dass er niemals irgendeinen anderen Kerl ranlassen würde. Es war für ihn sowieso undenkbar, je was mit einem Kerl anzufangen. Matt war die einzige Ausnahme gewesen, weil sie Freunde waren und er ihm vertraute. Und bei Matt hatte er auch nie das Gefühl gehabt, dass er jetzt schwul geworden war oder so. Sie beide waren einfach zwei Heteros gewesen, die ab und zu mal Sex miteinander hatten. Matt… wie ist es nur dazu gekommen, dass wir beide hier gelandet sind? Wie lange bist du hier unten schon gefangen und hattest diese Ängste ausstehen müssen? Wie oft hast du dich gefragt, warum dich keiner retten kommt, so wie ich jetzt? Ein rasender Schmerz durchfuhr Mellos Körper, als Jackson Cohan mit aller Gewalt und ohne Vorbereitung in ihn eindrang. Es war schlimmer, als er selbst für möglich gehalten hätte und hätte er nicht so eine kämpferische Natur besessen, dann hätte er vielleicht geweint. Doch er konnte sich mit enormer Anstrengung und Willensstärke beherrschen und seine Stimme unterdrücken. Nein, er wollte nicht schreien. Ganz egal was dieser Freak ihm noch antat. Keinen Ton würde er von sich geben. Er wusste, dass er viel aushalten konnte. Er musste einfach nur vergessen, was gerade hier geschah. Wenn es ihm gelang, den Schmerz zu ignorieren und an irgendetwas anderes zu denken, konnte er es besser ertragen. Also versuchte er sich einfach vorzustellen, dass es Matt war und nicht dieses Monster, das unerbittlich immer wieder aufs Neue in ihn eindrang und diese brennenden Schmerzen aufs Neue entfachte. Es tat so weh, dass er kaum die Kraft aufbrachte, nicht daran zu denken, was ihm hier gerade angetan wurde. Und dann noch an diesem Ort in dieser stinkenden Gefängnisanstalt auf diesem dreckigen Boden in einer dunklen Zelle. Wie erbärmlich war das denn bitteschön? In dem Moment konnte er höchstens von Glück reden, dass niemand ihn so sehen musste. Matt… Ob er sich vielleicht genauso schrecklich gefühlt haben musste? „Na los, kleines Schweinchen. Schrei für mich.“ Als wolle Jackson es darauf anlegen, begann er damit, Mello grob an den Haaren zu ziehen und seine Stöße nur noch zu verstärken. Der 24-jährige presste die Zähne zusammen, doch da stieß sein Peiniger seinen Kopf gegen den harten dreckigen Fußboden und dies raubte Mello fast das Bewusstsein. Seine Sicht verschwamm und in dem Moment war ihm, als würde vor seinen Augen eine Erinnerung auftauchen. Er sah Matt vor sich, auf dem Boden sitzend und den Rücken gegen die Couch gelehnt, während er wie immer seine Zigaretten rauchte. Und wie immer war da dieser gleichgültige und fast schon gelangweilte Blick in seinen Augen, den er fast immer hatte. Manchmal erschien es Mello so, als hätte sein bester Freund nie anders dreingeblickt. „Sag mal Matt“, hatte er schließlich begonnen. „Du hast nie wirklich für irgendetwas großartig Interesse gezeigt. Nicht mal für L’s Nachfolge. Ist dir denn außer deinen Spielen und deinen Kippen eigentlich alles egal?“ Er konnte sich selbst nicht erklären, was ihn damals zu dieser Frage geritten hatte. Vielleicht, weil es ihm einfach ein Rätsel war, was denn manchmal so in Matts Kopf vorgegangen war. Er hatte sich nie über irgendetwas aufgeregt, sich nie beschwert oder irgendwelche Ideen und Anregungen geäußert. Da wollte er vielleicht einfach nur wissen, was sein bester Freund überhaupt wollte und vom Leben eigentlich erwartete. Und die Antwort, die er dann erhalten hatte, die hatte ihm auch nicht sonderlich weitergeholfen: „Was bräuchte ich denn sonst? Solange wir zwei zusammen sind, ist doch alles in Ordnung.“ Irgendwie war Matt immer so ruhig und schweigsam geblieben und hatte sich nie über das aggressive und impulsive Temperament seines besten Freundes aufgeregt. Nur einmal war er aus der Haut gefahren und das war, als Mello bei einem gescheiterten Geldgeschäft einen Streifschuss abgekriegt hatte. Matt hatte ihm sein Handy an den Kopf geworfen und ihn gefragt, ob er vielleicht den Verstand verloren habe. Und es gab noch einen Vorfall, wo Matt so richtig sauer geworden war, dass er sogar handgreiflich wurde. Nämlich kurz, bevor er spurlos verschwunden war… Bevor sie ihn hierher nach Down Hill gebracht hatten. Ein entsetzlicher Schmerz riss Mello aus seinen Gedanken und er schrie auf. Seine Gedanken wurden vollständig ausgeblendet und er verlor endgültig die Kraft, sich in irgendwelche Erinnerungen zu flüchten. Scarecrow Jack riss ihn unerbittlich mit grausamer Brutalität wieder ins Geschehen zurück und in seinem Kopf existierte nichts mehr, nur noch diese entsetzlichen Schmerzen und dieses bohrende Gefühl der Scham und des Selbsthasses. Er spürte das Blut, das seine Beine hinunterfloss und der Schmerz war so unbeschreiblich intensiv, dass sich in seinen Augenwinkeln Tränen sammelten, ohne dass er es eigentlich wollte. Das war eine dieser verdammten automatischen Körperreaktionen, die er so sehr hasste. Warum nur hörte das nicht einfach auf? Warum konnte er nicht einfach ohnmächtig werden? Dann hatte er es wenigstens erst mal hinter sich und musste das nicht mehr miterleben. Aber was würde dann passieren? Er würde aufwachen, schmutzig und von Schmerzen gepeinigt… gefesselt und hilflos… Was für beschissene Aussichten. Und vor allem verstand er einfach nicht, warum er sich freiwillig in diese ganze Sache reinmanövriert hatte. In jedem Fall hätte er sich niemals darauf eingelassen, sondern bis zum bitteren Tod gekämpft. Und jeder andere wäre ihm vollkommen egal gewesen. Aber kaum, dass es ausgerechnet Matt war, da schien sich jegliches logisches Denken bei ihm komplett zu verabschieden und er ließ sich freiwillig zum Spielzeug der beiden machen. Warum nur? Warum ließ er jegliche Vorsicht und jede Kontrolle einfach dahinfahren, sobald es um Matt ging? Er wusste selbst, dass er sich in eine total miserable Situation hineinmanövriert hatte, aus der er so leicht nicht mehr herauskam, wenn überhaupt. Er ließ sich von Sigma so leicht manipulieren, nur weil seine Sorge um Matt so groß war. War er denn wirklich so tief gesunken, dass man so leicht mit ihm spielen konnte? Ausgerechnet Mello, von dem man wusste, dass er unbeugsam war und sich von niemandem in die Parade fahren ließ, ganz egal was auch passieren mochte? Wer ihn kannte, wusste, dass man sich nicht mit ihm anlegen sollte, weil er sich rein gar nichts gefallen ließ. Doch jetzt schien alles plötzlich wie auf den Kopf gedreht zu sein. Und er verstand sich in dem Moment selbst nicht, warum er so gehandelt hatte und diese Tortur fast schon freiwillig über sich ergehen ließ. Aber allein der Gedanke daran, dass Matt so leiden musste, konnte er einfach nicht ertragen. Er wollte das nicht… er wollte ihn davor bewahren, dass ihm so etwas angetan wurde. Selbst wenn es bedeutete, dass stattdessen er dafür den Kopf hinhalten musste. Als er spürte, wie eine heiße Flut sein Innerstes durchströmte und er ungewollt selbst zum Höhepunkt kam, sank er auf dem Boden zusammen und keuchte schwer. Wie sehr er sich doch in diesem Moment selbst hasste, dass ihm das passiert war. Wie er sich doch vor sich selbst ekelte. Es fühlte sich alles so entsetzlich falsch an und obwohl er wusste, dass es bloß eine Reaktion seines Körpers gewesen war, schämte er sich dennoch dafür, dass er doch tatsächlich einen Orgasmus gehabt hatte. Er kam sich selbst so widerwärtig und erbärmlich vor, dass er in diesem Moment am liebsten gestorben wäre. Was war sein Körper doch abstoßend… Doch der Alptraum sollte noch lange kein Ende haben, denn Jackson hatte noch lange nicht genug. Und so vergingen die Stunden quälend langsam für den 24-jährigen, in denen er die Hölle auf Erden durchlebte. Regungslos lag Mello Stunden später da und sagte nichts. Sein Hals fühlte sich trocken an, seine Augen brannten wegen der Tränen und sein Kopf fühlte sich dumpf und schwer an. Er spürte, wie Jack sich aus ihm zurückzog und ihm dann die Fesseln abnahm. Nachdem der entstellte Killer wieder seine Maske aufgesetzt und seine Hose wieder hochgezogen hatte, tätschelte er Mello schließlich mit einem unheimlichen Lachen den Kopf und ging zur Tür hin. Er öffnete sie und hielt sie weit offen. „Na? Willst du gehen? Na los, noch hast du die Chance dazu, kleines Schweinchen.“ Mello bekam nur am Rande mit, was Scarecrow Jack sagte und hob benommen den Kopf. Natürlich wollte er abhauen, aber… sein Körper machte da einfach nicht mit. Er hatte einfach nicht mehr die Kraft dazu, aufzustehen und zu fliehen. Nicht nach dem stundenlangen Martyrium, welchem er ausgesetzt gewesen war. Jeder Zentimeter seines Körpers schmerzte höllisch, sein Innerstes brannte wie Feuer und außerdem versagte langsam aber sicher sein Kreislauf. Sein Körper war schmutzig und besudelt. Scarecrow Jack war zufrieden und lachte. „Ich hoffe, die Einstandsparty hat dir gefallen. Morgen werde ich mich jedenfalls nicht mehr zurückhalten, kleines Schweinchen… Und deinen Freund wirst du nie wiedersehen.“ Das war das Letzte, was Mello noch wahrnahm, bevor er das Bewusstsein verlor. Kapitel 6: Überraschender Besuch -------------------------------- Verdächtige Schritte hallten durch die Gänge des Down Hill Asylums und ließen den gefürchteten Eyeball Killer aufhorchen. Das waren definitiv nicht die Schritte von Scarecrow Jack. Nein, dass waren die Schritte einer ganz bestimmten Person. Auch das noch, dachte er sich und schnappte sich eines der Messer, die auf dem Tablett neben ihm auf dem Tisch bereitlagen. Der hat mir gerade noch gefehlt. Sofort ging er auf den Gang raus und tatsächlich entdeckte er nach einer Weile eine Gestalt mit brünetten Haaren und einer unheimlichen Maske. „Na sieh mal einer an“, bemerkte Sigma, lächelte kalt und kam direkt auf den Eindringling zu, der für ihn durchaus kein Unbekannter war. „Was führt dich denn in mein Territorium, Kaonashi? Wenn es um die Lieferungen geht, ich regle alles mit Big Daddy. Oder bist du hier um Ärger zu machen? In dem Fall…“ „Wenn du Ärger haben willst, ist das dein Problem“, entgegnete Kaonashi ruhig und vergrub die Hände in den Manteltaschen. „Ich hab gehört, du hast wieder einen Rookie eingesammelt. Er müsste knapp 23 bis 25 Jahre alt sein, blond und mit einer Brandnarbe im Gesicht. Sagt dir das was? Ich hab gesehen, wie er schnurstracks hergekommen ist.“ „Ach, willst du ihn kaufen? Tut mir leid, aber mein kleiner Bruder hat irgendwie Gefallen an seinem neuen Spielzeug entdeckt. Und ich kann es ihm ja wohl schlecht wegnehmen.“ „Du verhätschelst ihn zu sehr“, seufzte der Maskierte und schüttelte den Kopf. „Da ist es ja auch kein Wunder, dass er so besitzergreifend ist. Und ich dachte, ich hätte dir angeraten, mit dem neuen Spielzeug ein klein wenig vernünftiger umzugehen. Ansonsten ist es ja auch nur eine Frage der Zeit, bis das Hell’s Gate voll ist. Und gute Ware kriegt man ja auch nicht jeden Tag rein. Außerdem will ich den Rookie nicht kaufen. Als Pet taugt er doch sowieso nichts und ich glaube, das weißt du auch. Sonst hättest du ihn doch persönlich abgerichtet.“ „Wenn du ihn nicht kaufen willst, was willst du dann von ihm?“ fragte Sigma misstrauisch und fragte sich, was in Kaonashis Kopf wohl gerade vor sich ging, doch das ließ sich mit der Maske unmöglich sagen. Und gerade bei ihm war Vorsicht geboten. Insbesondere da er gerade Jackson nicht zur Hand hatte. „Ich will nur ein klein wenig mit ihm plaudern“, antwortete der Maskierte. Doch Sigma lachte nur trocken und meinte „Irgendwie kaufe ich dir das aber dummerweise nicht ab.“ „Dein Pech“, gab Kaonashi gleichgültig zurück und zuckte mit den Achseln. Dieser Kerl, dachte Sigma und verzog die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. Er hat nicht die geringste Angst vor mir und Jackson und dann nimmt er sich auch noch die Frechheit heraus, hier einfach so reinzuspazieren und das auch noch so selbstverständlich, als wäre das hier sein Territorium. Der hat sie ja nicht alle. Sigmas Hand umschloss das Messer in seiner Tasche. „Du hast Nerven, Kaonashi. Hier im Westblock bin immer noch ich der Shutcall und du hast hier nichts verloren. Das ist mein Gebiet und wer hier reinspaziert, der gehört mir, kapiert? Und wenn ich mit dir fertig bin, reiße ich dir Maske vom Gesicht und nehme mir deine Augen. Mal sehen was sie mir über dich verraten.“ „Nicht viel“, gab Kaonashi trocken zu. „Es sind die Augen eines Freaks. Nicht mehr und nicht weniger.“ „Dann umso passender für einen Freak wie mich, was?“ Und wie aufs Stichwort griff Sigma an. Er zog das Messer und ließ es auf Kaonashi niedersausen, doch anstatt, dass dieser auswich, hob er zur Abwehr einen Arm und fing den Schlag ab. Doch anstatt, dass die Klinge seine Haut durchschnitt und eine tiefe blutige Wunde riss, prallte sie einfach ab, als sie auf harten Widerstand stieß. Und das brachte ihn nun endgültig aus dem Konzept. Noch ehe er registrierte, was geschah, holte Kaonashi auch schon zum Gegenschlag aus und verpasste ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Der Schlag hatte eine so immense Wucht, dass er Sigma von den Füßen riss und durch den Gang schleuderte. Der Eyeball Killer hatte eine gebrochene Nase und sah für einen kurzen Moment Sterne, dann aber kam er langsam wieder zu sich. „Verdammt noch mal… Was war das denn bitte? Hast du eine Rüstung unter deinen Klamotten?“ „Ich bin nur ein Freak, das ist alles“, erklärte Kaonashi und wandte sich ab. „Dieses Mal lasse ich es bei einem blauen Auge bei dir. Solltest du mich aber noch mal angreifen, dann breche ich dir beide Arme und werfe dich der hungrigen Meute zum Fraß vor. Dann können sie dich genauso schön auseinandernehmen wie deine Pets. Und wenn du deinen Pseudobruder auf mich hetzt, dann werde ich euch beide töten, nachdem ich euch jeden einzelnen Knochen gebrochen habe. Merk es dir also: leg dich nie wieder mit mir an, wenn du nicht sterben willst.“ Sigma presste eine Hand auf seine blutende Nase und funkelte Kaonashi hasserfüllt an. Was glaubte dieser Kerl, wer er eigentlich war? Seit er hier war, spielte er sich auf, als würde das ganze Gefängnis ihm gehören und trieb sich einfach in den Territorien der anderen Shutcalls herum. Und vor allem nahm er sich auch noch die Frechheit, sich mit den Cohans anzulegen. Jenen, die am längsten hier im Gefängnis waren und die deshalb einen gewissen Status innehatten, auch wenn sie Freaks waren. Aber kaum, dass dieser Kaonashi ins Gefängnis gekommen war, tötete dieser drei Shutcalls, die die Gebiete innerhalb von Core City kontrollierten und übernahm gleich die gesamte Ebene. Und dann trieb er sich wirklich überall herum, sogar im Westblock und nahm sich Freiheiten raus, zu denen sich niemand wagen würde. Insbesondere nicht, wenn er Sigma den Eyeball Killer kannte. „Mir ist es ja egal, was du hier mit den Rookies veranstaltest und ob du sie von deinem Cousin so lange durchnehmen lässt, bis sie verrecken oder sie als Pets verkaufst. Jeder verdient seine Kohle auf verschiedene Art und Weise und mich interessieren die Rookies auch überhaupt nicht. Mit denen kannst du machen was du willst. Aber wage es nicht noch mal, mich anzugreifen, hörst du? Beim nächsten Mal bringe ich dich definitiv um!“ „Was glaubst du eigentlich, mit wem du es zu tun hast?“ fragte Sigma wütend. „Du schneist hier einfach rein, bist gerade mal ein paar Jahre hier und spielst dich direkt so auf. Glaubst du allen Ernstes, ich lass mir das gefallen? Ich bin schon seit 21 Jahren hier und ich sag hier, wo es langgeht. Typen wie du haben absolut keinen Respekt vor anderen.“ Doch diese Worte interessierten Kaonashi nicht wirklich und er ging einfach. „Du bist hier nicht der einzige Shutcall in Down Hill. Und die Gesetze sind klar geregelt: der Stärkere bestimmt, wo es langgeht. Und Fakt ist: ich bin genauso ein Shutcall wie du und kein Rookie oder Freshman mehr. Ich bin stärker als du und ohne mich hättest du den Job nicht mehr in Core City. Also hör auf, mir auf die Nerven zu gehen und kümmere dich um deinen eigenen Kram.“ Damit ging Kaonashi und Sigma, der wusste, dass er unmöglich gegen diesen Kerl ankam, musste ihn wohl oder übel gehen lassen. Eines Tages, dachte er und wischte sich das Blut weg. Eines Tages würde er es diesem Bastard zeigen und ihm seine Augen rausnehmen. Dann würde er seine wertlosen Überreste einfach Jackson überlassen. Und wenn der keine Lust mehr auf ihn hatte, verkauften sie ihn, wenn er bis dahin noch nicht verreckt war, als Pet in Gomorrha. „Wir werden sehen, wer wen zuerst umbringen wird. Eines Tages werde ich mir deine Augen aneignen, da verlass dich drauf und dann gehörst du mir.“ „Das wird sich zeigen“, meinte Kaonashi nur noch. „Du bist doch sowieso nur zum Shutcall des Westblocks geworden, weil du der Einzige bist, der deinen Psychopathen von Cousin im Griff hat. Hättest du dein Schoßhündchen nicht, wärst du nicht wirklich zu dieser Position gekommen. Du vertraust auf Jacksons Stärke und seine bedingungslose Loyalität dir gegenüber, weil du für ihn wie ein großer Bruder bist. Aber ohne ihn bist du bei weitem nicht so stark wie du denkst. Und genau darin liegt dein Fehler. Denn ich brauche niemanden. Ich bin aus eigener Kraft Shutcall von Core City geworden und schaffe es auch allein, meinen Posten zu verteidigen, im Gegensatz zu dir.“ Mit diesen Worten ging Kaonashi wieder seiner Wege und ließ seinen Kontrahenten zurück. Am liebsten wäre Sigma ihm gefolgt und hätte ihn noch mal von hinten angegriffen, aber er war nicht dumm. Er wusste, dass er alleine keine Chance gegen diesen Kerl hatte. Wer auch immer Kaonashi hinter der Maske war, er war kein gewöhnlicher Gegner. Sigma war zwar ein eiskalter Killer und Sadist mit einer krankhaften Obsession für Augen, aber er war nicht so dumm, sich mit jemanden anzulegen, der ihn locker töten konnte. Er kannte seine Stärken und Schwächen genau und Kaonashi war jemand, mit dem er sich lieber nicht anlegen sollte. Immerhin hatte dieser sogar Scarecrow Jack, das unbesiegbare Monster aus dem Westblock, einfach in die Knie gezwungen. Kaonashi war ein Monster der anderen Art. Das wusste Sigma sofort. Aber eines Tages würde er auch Kaonashi in die Finger kriegen und ihm seine Augen nehmen. Er nahm sich immer das, was er wollte und niemand würde ihn daran hindern. Wie lange er bewusstlos gewesen war, konnte er nicht sagen. Vielleicht ein paar Minuten, womöglich sogar Stunden. Doch selbst seine Gedanken waren wie gelähmt und er schaffte es nicht einmal aufzustehen. Wozu denn auch? Die Tür war abgeschlossen und er kam hier sowieso nicht raus. Und wenn er abhaute, würden sie Matt etwas antun. Was für eine beschissene Lage, dachte er sich und fühlte sich so müde und erschöpft. Sein Hals tat weh, sein Mund fühlte sich trocken an und ihm war schlecht. Was für einen erbärmlichen Anblick er doch gerade abgab. Er ekelte sich vor sich selbst und wünschte sich, er hätte wenigstens die Kraft zum Weiterkämpfen. Es musste doch irgendetwas geben, was er ausrichten konnte. Und wenn es nur ein wenig war… Es konnte doch nicht sein, dass er einfach so aufgab, nur weil so ein entstellter Freak ihn vergewaltigt hatte. Ach Mann, er schaffte es aber auch immer wieder, sich selbst in solch beschissene Situationen zu bringen. Egal ob innerhalb oder außerhalb des Gefängnisses. Nur standen die Chancen dieses Mal bei weitem schlechter als gedacht und er bezweifelte auch selbst, dass er hier jemals wieder rauskommen würde. Zumindest heute würde er überhaupt nichts mehr ausrichten können. Seine ganze Kraft war dahin, sein Körper fühlte sich so schwer wie Blei an und wirklich alles tat ihm weh. Und er war einfach nur noch müde und erschöpft. „Na da hat wohl jemand seine Einstandsparty gekriegt, wie ich sehe.“ Diese Stimme gehörte nicht zu Sigma oder Jackson. Dennoch kam sie Mello irgendwie bekannt vor. Er hob den Kopf und sah dann auch schon dieses bizarre Grinsen auf der Maske und erkannte sie sogleich wieder. Kaonashi stand auf der anderen Seite des Gitters und hob kurz die Hand zum Gruß. „Na da hast du ja noch mal Glück im Unglück gehabt, würde ich mal sagen. Für eine Einstandsparty sieht das ja noch recht überschaubar aus.“ „Willst du dich über mich lustig machen?“ fragte Mello gereizt und schaffte es mit unsäglicher Mühe, sich irgendwie aufzusetzen. Dennoch spürte er jeden einzelnen Knochen und die brennenden Schmerzen in seiner unteren Hälfte. „Nein, das war ernst gemeint“, erklärte Kaonashi. „Normalerweise fallen glatt vier bis fünf auf einmal über die Rookies her und das kann gerne mal den ganzen Tag dauern, bis die Meute endlich fertig ist. Manchmal kommt es zu massiven Knochenbrüchen und Todesfällen, je nachdem an wen man gerät. Und bei dir hat Jackson ja nicht mal seine Machete benutzt. Da sahen andere Opfer von ihm bei weitem schlimmer aus.“ „Soll ich ihm jetzt etwa noch dafür danken? Warum hast du mich nicht aufgehalten?“ „Wieso sollte ich?“ fragte der Maskierte und schien nicht sonderlich betroffen von dem Anblick zu sein, aber vermutlich kannte er so etwas schon zur Genüge, sodass es ihm nicht mehr wirklich nahe ging. Irgendwie schien er da schon recht abgestumpft zu sein. „Ich hab dir einen Rat gegeben und du hast die Entscheidung getroffen, meinen Rat zu ignorieren und trotzdem zu gehen. Also hast du auch die Konsequenzen zu tragen, die deine Entscheidung mit sich bringt. Aber ehrlich gesagt wundert es mich, dass du dich so dermaßen schnell von den beiden hier einsperren und durchnehmen lässt. Ich hab dir echt ein wenig mehr Kampfgeist zugetraut. Oder ist dir dein Leben etwa so egal geworden?“ „Was soll das werden? Willst du irgendwie Mitleid heucheln oder so? Darauf kann ich verzichten.“ „Was liegt an meinem Mitleid? Ist Mitleid nicht das Kreuz, an das der genagelt wird, der Menschen liebt? Nein, mein Mitleid ist keine Kreuzigung und Mitleid empfinde ich schon lange nicht mehr. Aber jetzt mal im Ernst, Junge: erklär mir mal, was dich dazu geritten hat, hier als Pet für Jackson zu enden.“ „Es ist wegen Matt“, erklärte Mello mit heiserer Stimme und als Kaonashi merkte, wie es um den 24-jährigen stand, holte er eine kleine Wasserflasche hervor und warf sie ihm durch das Gitter zu. Schnell öffnete Mello den Verschluss und trank. Es war wirklich eine Wohltat, als das kalte Wasser seine ausgetrocknete Kehle hinunterfloss und noch nie war er so dankbar wie in diesem Augenblick gewesen, etwas trinken zu können. Und wenn es nur Leitungswasser war. „Er ist in der Gewalt der beiden und Sigma hat damit gedroht, dass er ihm etwas antut, wenn ich seine Spielchen nicht mitspiele.“ „Und das hast du ihm einfach geglaubt?“ „Er hatte Matts Fliegerbrille. Dieselbe, die er seit Jahren trägt und die ich ihm damals geschenkt habe.“ „Aber persönlich gesehen hast du ihn nicht?“ „Nein. Sigma sagte, ich würde ihn sehen, wenn ich ihr Spiel mitspiele.“ Kaonashi seufzte und schlug sich eine Hand gegen die Stirn oder besser gesagt an die Stelle, wo sie war, da er nur gegen seine Maske schlug. „Daran merkt man echt, dass du noch nie im Knast gewesen bist. Du lässt dich echt ziemlich leicht verarschen, kann das sein?“ „Hätte ich denn zulassen sollen, dass sie ihm etwas antun?“ „Du hättest es darauf ankommen lassen sollen“, erklärte Kaonashi. „Was glaubst du wohl, wie oft diese Psychonummer hier abgespielt wird? Verdammt oft und wenn man nicht alles auf eine Karte setzt, dann wird dich der nächste Typ gleich wieder verarschen. Ach Mensch… Einst waren die Menschen Affen und auch jetzt scheint mir der Mensch mehr Affe zu sein als irgendein Affe. Selbst wenn es deine eigene Mutter wäre, da hättest du doch zumindest genug Verstand besitzen müssen, um dich zu fragen, ob der Kerl nicht vielleicht blufft. Na? Ist dir das nie in den Sinn gekommen?“ „Nein, weil ich mir Sorgen gemacht hab. Ich bin seit vier Jahren auf der Suche nach ihm gewesen und hab mit dem Schlimmsten gerechnet. Ich hab ja auch gemerkt, dass das eine total blöde Idee war.“ „Die dir ein paar Hämatome, vielleicht eine Prellung, eine Kopfwunde und Analfissuren eingebrockt hat. Schlimmstenfalls sogar innere Blutungen.“ „Was willst du eigentlich von mir? Hast du deinen Spaß, mich so zu sehen?“ „Jetzt krieg dich mal wieder ein. Für einen Rookie, der gerade erst mal einen Tag hier ist, bist du ganz schön vorlaut. Wenn du hier in Down Hill überleben willst, solltest du besser auf jene hören, die sich hier auskennen und wissen, wie der Hase läuft. Ansonsten ist es nur der Anfang deines Untergangs. Und Ratschläge von Leuten, die sich hier auskennen, sind mehr wert als Geld. Denn es sichert dir dein Überleben und hilft dir, weiterzukommen. Deshalb solltest du endlich mal dein Hirn einschalten und die Ratschläge anderer annehmen, wenn sie schon bereit sind, sie dir ohne eine Gegenleistung zu erteilen.“ Da Kaonashi offenbar helfen wollte, beruhigte sich Mello wieder ein wenig und trank noch einen Schluck Wasser, bevor er die Flasche wieder zurückgab. „Ist ja gut. Aber erklär mir mal bitte, was dieses ganze Rookie-Gequatsche soll.“ „Hier im Gefängnis gibt es eine Art eigene Sprache. Es gibt viele Arten von Insassen und sie haben meist eine bestimmte Bezeichnung. Als Rookies bezeichnet man jene, die noch ganz neu hier sind und von nichts eine Ahnung haben. Wenn sie erst mal eine Weile hier sind und schon ein paar Sachen kennen, nennt man sie Freshmen. Es gibt dann noch die 170er, die Sittiche, Ghosts und noch einige andere. Sigma zum Beispiel ist ein Shutcall, ein Häftlingsboss. Down Hill besteht aus mehreren Ebenen und diese Ebenen haben bestimmte Territorien, die von Gruppen kontrolliert werden. Einzige Ausnahme sind die oberste und unterste Ebene, die nicht bewohnt sind. Jede vorherrschende Gruppe hat einen Anführer und der ist der Shutcall. Sie haben die größte Macht und den stärksten Einfluss. Sigma betreibt meist in Core City Handel. Er krallt sich die Rookies, die hergebracht werden, richtet sie zusammen mit seinem Cousin ab, nachdem er ihnen die Augen entfernt hat und verkauft sie dann als Pets, also als Sexsklaven, die oft wie Haustiere gehalten werden. Das wäre so ungefähr dein Schicksal geworden, wenn Jackson nicht so ein Interesse an dir gehabt hätte. Es hätte durchaus schlimmer werden können.“ „Soll ich mich jetzt darüber freuen?“ „Du hast doch echt keine Vorstellung, was für Zustände in diesem Gefängnis herrschen. Vergewaltigungen, Schlägereien oder Morde stehen hier eben an der Tagesordnung, weil es seit 15 Jahren keine Wärter mehr gibt. Hier gilt also einzig und allein das Gesetz des Stärkeren und wenn du überleben willst, musst du schon zusehen, dass du Verbündete findest oder dich einer Gruppe anschließt. Als Einzelkämpfer hast du nur dann eine Chance, wenn du den nötigen Intellekt und die physische Stärke besitzt. Und was deinen Freund betrifft… den kenne ich sogar.“ Diese Nachricht gab Mello neue Energie und er horchte auf. Kaonashi wusste etwas über Matt? „Du kennst Matt? Wo ist er und wie geht es ihm? Ist er wirklich hier im Westblock?“ Kaonashi seufzte leise und kratzte sich am Hinterkopf. „Nun ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht für dich, was diesen Matt betrifft.“ „Was ist die schlechte?“ „Er war vor vier Jahren hier gewesen. Sigma hat also nicht gelogen, was die Tatsache betrifft, dass dein Freund mal hier ein Gefangener gewesen war.“ „Und was ist die gute Nachricht?“ „Matt hat es damals geschafft zu entkommen. Durch den selbstlosen Einsatz eines anderen Insassen gelang es ihm, aus dem Westblock rauszukommen und in Efrafa Schutz zu finden. Die meiste Zeit hält er sich dort auf. Also wenn du nicht gerade noch vorhast, wieder dein Glück zu versuchen und planlos durch die oberen Ebenen zu spazieren und wieder an den nächsten Psychopathen zu geraten, würde ich dir anraten, lieber erst nach Efrafa zu gehen. Frag dort entweder nach Rhyme, Morph oder Christine. Den dreien kannst du wirklich vertrauen. Wenn du zurück zum Point Zero willst, um von dort aus nach Efrafa I zu kommen, müsstest du bis zur ersten Trakttür geradeaus, dann nach links bis du am Büro vorbei kommst, zwei mal nach rechts bis du an der Zelle eines Typen vorbei kommst, der langes schwarzes Haar hat und nackt an einer Halsfessel angekettet ist. Wenn du an seiner Zelle vorbeikommst, musst du nach links und dann nur noch geradeaus. Dann bist du raus und kommst zum Point Zero zurück. Danach gehst zu zum Ostblock und dort ist glücklicherweise alles ausgeschildert.“ „Schön und gut“, murmelte Mello. „Nur wie komm ich bitte aus dieser Zelle raus? Und in meinem Zustand schaffe ich es kaum, vor den beiden abzuhauen.“ „Sigma hat gerade andere Sorgen und ich denke, das gibt dir einen guten Vorsprung. Damit eines klar ist: helfen werde ich dir nicht, aber ich gebe dir Werkzeug mit, damit du dir selbst helfen kannst. Ab jetzt liegt es ganz bei dir, was du daraus machst und wie viel dir an deinem Leben liegt. Ich bin ein Geländer am Strome: fasse mich, wer mich fassen kann! Eure Krücke aber bin ich nicht.“ Damit warf Kaonashi ihm etwas zu, das beim Aufprall auf dem Boden einen metallischen Klang erzeugte. Es war ein Schlüssel. Und höchstwahrscheinlich der Schlüssel zur Zellentür. Doch so ganz traute Mello dem Braten nicht. „Wieso tust du das für mich?“ „Tja, wer weiß…“, murmelte Kaonashi nur und zuckte mit den Achseln. „Vielleicht, weil hinter dieser Maske noch etwas anderes steckt als der Gedanke an Vergeltung. Letzten Endes ist es auch egal, wie weit ein Esel auch reiten mag, er wird nie als Pferd zurückkommen. Und du erinnerst mich da an jemanden, den ich vor langer Zeit gekannt und beinahe vergessen habe. So, dann bin ich auch mal weg. Ich wünsch dir viel Glück bei deinem Ausbruch. Und vergiss nicht: frag nach Rhyme, Christine oder Morph. Das sind die einzigen in Efrafa, die ich wirklich für vertrauenswürdig genug halte. Die Werkzeuge hast du nun, jetzt liegt es ganz bei dir, wie stark dein Wille ist, dass du deinen eigenen Körper überwinden kannst.“ Damit drehte sich Kaonashi um und ging davon. Mello sah ihm nach und war sich nicht ganz sicher, was das alles zu bedeuten hatte und warum dieser Kerl ihm eigentlich half. Und vor allem wusste er nicht so wirklich, wer er war. Er schien sich hier ziemlich gut auszukennen und zu wissen, wie der Hase lief. Wie lange er wohl schon in Down Hill war? Irgendwie wurde Mello nicht ganz schlau aus seinem Gerede, aber für ihn stand fest, dass Kaonashi keiner dieser durchgeknallten Irren wie Sigma war. Stattdessen schien er eher einen Hang zur Tiefsinnigkeit zu haben. Naja, er konnte sich ja noch später darum Gedanken machen. Jetzt erst mal war es wichtig, dass er so schnell wie möglich von hier abhaute, bevor diese beiden Psychopathen zurückkamen. Also biss Mello die Zähne zusammen und kämpfte sich auf die Beine. Es kostete ihn eine ungeheure Kraftanstrengung und Willenskraft. Die Schmerzen lähmten jede seiner Bewegungen und für einen Moment zweifelte er, dass er es wirklich schaffen würde. Doch dann kam ihm ein neuer Gedanke: Matt… Er wusste jetzt, dass Matt im Ostblock war und dass es ihm gut ging. Und allein dieser Gedanke, dass er ihn bald wiedersehen würde, erweckte in ihn neue Kräfte. Über seine Verletzungen konnte er sich noch später beklagen. Jetzt erst einmal galt es, hier rauszukommen und in den Ostblock zu gelangen. Dann war er hoffentlich erst mal in Sicherheit. Kapitel 7: Umbra ---------------- Kaonashi war gerade dabei, das Asylum zu verlassen, da sah er Horace auf ihn zukommen und blieb überrascht stehen. „Was zum Henker hast du hier zu suchen?“ rief er wütend. „Ich hab dir gesagt, du hast im Asylum nichts zu suchen!“ Er schlug mit der Faust gegen die Wand und hinterließ dabei einen Riss, doch das brachte Horace nicht sonderlich aus der Ruhe. Im Gegenteil, er lächelte verschlagen und war die Ruhe selbst. Außerdem kannte er Kaonashis manchmal etwas aufbrausendes Temperament, welches er schon als kleiner Junge besessen hatte. „Ich dachte mir, ich greif deinem kleinen Rookie unter die Arme und ärgere die Cohans ein klein wenig. So hat er zumindest einen kleinen Vorsprung, bis die beiden die Verfolgung aufnehmen. Nach der Einstandsparty wird er sowieso kaum laufen können und da wird er es auch nicht weit schaffen.“ „Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, dass du dich von ihnen gefälligst fernzuhalten hast. Du kannst es mit den beiden nicht aufnehmen!“ „Damit schon.“ Damit holte Horace eine geladene Tokarev hervor und präsentierte sie mit einem fast schon stolzen Ausdruck im Gesicht wie ein Kind, das sein neuestes Spielzeug zeigte. Er schien ziemlich selbstsicher zu sein, selbst in dieser Situation, wo es darum ging, es mit zwei blutrünstigen und extrem gefährlichen Insassen aufzunehmen. „Ich krieg das schon hin. Du hast sicher noch genügend andere Dinge zu tun, also überlass das ruhig mir. Und wenn sie dann doch Ärger machen, knall ich die beiden einfach ab oder hau durch die Luftschächte ab. Sezru oder Fiver können mich dann wieder zurückbringen.“ Kaonashi knirschte mit den Zähnen und man sah ihm an, dass ihm das überhaupt nicht passte. Das, was Horace da vorhatte, war schon verrückt genug. Aber dass er sich ausgerechnet mit den Cohans anlegte, war blanker Wahnsinn und er verstand auch nicht so wirklich, was ihm da bitteschön durch den Kopf ging, dass er sich auf so eine Verrücktheit einließ. Vor allem, weil für ihn nichts dabei heraussprang. „Was bezweckst du denn bitte mit der Aktion? Ich dachte, du kannst ihn nicht ausstehen.“ „Das hab ich nie gesagt“, sagte Horace sofort und steckte die Pistole wieder ein. „Es ist nur seine Art, die mich ein klein wenig nervt. Aber da es dir offenbar aus irgendeinem unerfindlichen Grund wichtig zu sein scheint, ihm ein bisschen unter die Arme zu greifen, damit er den Arsch hochkriegt und hier rauskommt, helfe ich dir eben. Also was ist? Soll ich das kleine Ablenkungsmanöver spielen, oder nicht?“ Kaonashi dachte nach und war nicht wirklich überzeugt. Vor allem, weil er wusste, wie extrem gefährlich insbesondere Jackson Cohan war. „Na gut“, sagte er schließlich. „Aber ich bleib trotzdem in der Nähe, falls es schief gehen sollte. Pass aber trotzdem auf, wenn du dich dort rumtreibst. Ich hab von einem der Pets gehört, dass Umbra sich im Westblock herumschleichen soll und ich kann nicht abschätzen, wie es momentan drauf ist.“ „Umbra?“ fragte Horace und hob verwundert die Augenbrauen. „Dieses Ding hat sich doch schon seit knapp einem halben Jahr nicht blicken lassen. Was will es denn im Westblock?“ „Keine Ahnung. Aber wenn du es siehst, dann verschwinde sofort, klar? In meiner Gegenwart verhält es sich zwar nicht aggressiv, aber bei dir und den anderen bin ich mir nicht so ganz sicher. Die letzten, die an Umbra geraten sind, wurden von ihm regelrecht in Stücke gerissen.“ „Schon klar, ich pass auf. Und nur zu deiner Info, mein Lieber: ich bin nur ein Jahr jünger als du und kein kleiner Junge mehr. Ob du es glaubst oder nicht, aber ich kann mir sogar schon die Schuhe zubinden.“ „Hör auf, dich auch noch darüber lustig zu machen, dass ich mir Gedanken mache“, knurrte Kaonashi und wandte sich ab. „Genau das nervt mich manchmal an dir. Ich kann genauso gut gegen eine Mauer reden, du bringst dich so oder so in Lebensgefahr.“ „Wie gesagt, ich weiß mich zu wehren und ich war von uns beiden schon im Waisenhaus der schnellste Läufer.“ Damit kam Horace auf ihn zu, schob seine Maske ein Stück weit hoch und gab ihm einen Kuss. „Und wenn ich wieder zurück bin, kriegst du eine kleine Belohnung dafür, dass du so süß warst und dem Bengel geholfen hast. Clockwise kann ja im Nebenzimmer seine Filmchen gucken, dann ist er zufrieden. Also was ist?“ „Na schön. Aber geh kein unnötiges Risiko ein. Ich hab keine Lust, dass ein Häftlingskrieg daraus wird oder dass ich dir noch hinterher den Arsch retten muss.“ „Wann musstest du mir denn bitteschön den Arsch retten, hm? Doch allerhöchstens nur, als wir noch klein waren und danach war ich es, der dir den Allerwertesten gerettet hat, wenn ich mich erinnere. Nenn mich was für ein Instrument du willst. Du kannst mich zwar verstimmen, aber nicht auf mir spielen.“ Damit gab Horace ihm noch einen Kuss mit dem Versprechen „Das war jetzt kein Abschiedskuss“ und ging weiter. Kaonashi hingegen sah ihm noch nach, überlegte kurz, was er machen sollte und entschied sich dann zum Gehen. Horace hatte ja eigentlich Recht. Er konnte gut auf sich selbst aufpassen und Gefahren manchmal sogar schneller erkennen als Kaonashi selbst. Seine Fähigkeiten erlaubten es ihm, seine Mitmenschen sogar noch besser zu durchschauen, als Sigma es konnte. Schon immer hatte er diese Fähigkeiten besessen. Sie machte ihn erst so gefährlich, gleich neben seinem Talent zur Schauspielerei. Nach kurzer Überlegung entschloss sich Kaonashi schließlich doch zum Gehen und ging gemächlich diese kalten und schmutzigen Gänge des Asylums entlang, welches bis vor diesem einen bedeutsamen Tag vor 15 Jahren eine gesicherte Gefängnisanstalt gewesen war. Solange, bis ein Wärter den verhängnisvollen Fehler begangen hatte, sich von einem Kind in die Irre führen zu lassen. Kaonashi hatte es zwar selbst nicht miterlebt, da er noch nicht allzu lange hier war, aber er wusste so einiges über Down Hill. Und das war seine Stärke. Nun, er konnte Horace eigentlich getrost gehen lassen. Die beiden Cohans würden schon wissen, was ihnen blühte, wenn sie sich mit jemanden anlegten, der zu Kaonashis Leuten gehörte. Mello ahnte derweil nichts von seinem Glück, als er sich aufraffte und seine Flucht aus dem Asylum antrat. Sigma hatte sich zurückgezogen, um erst mal seine Nase zu richten und die Blutung zu stoppen. Dieser verdammte Dreckskerl, dachte er sich und sah das blutige Ergebnis von Kaonashis Schlag im Spiegel. Das wird er noch bereuen. Eines Tages ganz sicher… „Mensch, wenn ich dich so sehe, würde ich glatt denken, dein letztes Date ist in die Hose gegangen.“ Er brauchte sich nicht umzudrehen um zu wissen, wer da sprach und biss sich genervt auf die Unterlippe. „Was hast du hier verloren?“ „Na ich hab gehört, dass du in der letzten Zeit immer weniger Pets an Big Daddy verkaufst. Und da fragt man sich doch schon, ob du langsam nachlässig wirst, mein Lieber. Entweder wir kriegen immer weniger Zuwachs in Down Hill, was ich allerdings stark bezweifle oder aber die Pets tanzen dir allesamt auf der Nase herum.“ „Mein kleiner Bruder braucht eben etwas Spielzeug, um sich die Langeweile zu vertreiben.“ „Ach ich sehe schon, wohin der Hase läuft: Jackson wird immer brutaler und macht seine Spielsachen kaputt. Ich frag mich echt, wie du das auf die Dauer finanzieren kannst.“ „Lass das mal gefälligst meine Sorge sein und kümmere dich um deinen eigenen Kram. Oder ist das der einzige Grund, weshalb du mir auf die Nerven gehst?“ „Nun, mich interessiert da etwas ganz Bestimmtes“, erklärte Horace und lehnte sich mit dem Rücken zur Wand, während er Sigma genau im Auge behielt. Er wusste, dass er mit dem Feuer spielte und ja aufpassen musste. Normalerweise würde er so etwas auch nicht tun, schon gar nicht für irgendeinen Fremden, den er nicht kannte und der obendrein noch so unverschämt gewesen war. Aber Kaonashi schien sich für diesen Mello zu interessieren und deshalb stand für ihn fest, dass er auch einen Beitrag leistete, um zu helfen. Und wenn es eben nur dazu diente, Sigma in ein Gespräch zu verwickeln, damit wenigstens eine Gefahrenquelle aus dem Weg geräumt war, während Mello das Asylum verließ. „Der Massenausbruch aus dem Asylum vor 15 Jahren. Ich habe ja schon so einige Gerüchte gehört, aber mich würde einfach mal aus reiner Neugier interessieren, wie das damals bewerkstelligt worden ist, dass ausgerechnet der Westblock, der als Hochsicherheitstrakt bekannt war, als allererster von den Insassen überrannt worden ist. Von den Häftlingen, die damals hier reingekommen sind, leben nur noch wenige, aber du bist einer der ersten Häftlinge gewesen, die hergekommen sind, was dir zusätzlich noch den Rang eines Patriarchen einbringt. Wie habt ihr das damals angestellt?“ Sigma grinste und warf das blutige Taschentuch beiseite. „Das ist einfach. Wenn man als Kind nach Down Hill kommt, rechnet niemand damit, zu was du fähig bist. Die Menschen neigen eben sehr schnell dazu, sich von der Erscheinung täuschen zu lassen. Und letztendlich wird ihr Irrglaube zu ihrem Untergang. Man muss nur wissen, welchen Wärter man täuschen muss und wie man ihn am besten täuscht. Und wenn du ein Kind bist und lange genug geduldig bleibst und alle Abläufe gut kennst, dann zahlt sich diese Geduld aus und ehe du dich versiehst, bist du frei. Das einzige Problem ist nur, dass du nicht aus Down Hill entkommen kannst, aber zurück in meine Zelle wollte ich auch nicht. Also beschloss ich, Chaos zu stiften und ließ die Gefangenen frei. Den Rest kannst du dir ja denken.“ „Ihr habt das Gefängnis übernommen und das Personal getötet. Schon klar. Aber eines interessiert mich dann doch noch: wie kommt ein Siebenjähriger dazu, seine eigenen Eltern zu töten? Muss man dafür zum Monster geboren werden, oder kommt es ganz einfach daher, dass sie dich nie geliebt haben? Ist es, weil sie dir ins Gesicht gesagt haben, dass ihr einziges Kind eine kranke Missgeburt ist, oder rührt es vielmehr daher, weil du so von dem Gedanken besessen warst, normal zu sein, dass du sogar über Leichen gehen würdest?“ Diese direkte Provokation wollte sich Sigma nicht gefallen lassen. Nicht von so einem daher gelaufenen Schauspieler wie Horace und so zog er sein Messer und wollte angreifen, doch Horace reagierte schneller und ehe sich der Eyeball Killer versah, blickte er direkt in den Lauf einer Pistole und blieb abrupt stehen. „Na wir wollen doch keine Gewalt anwenden, oder?“ „Was denn? Traust du dich etwa nicht, mir gegenüberzustehen, ohne mir dieses Ding vors Gesicht zu halten?“ „Ich bin nicht lebensmüde, das ist alles. Und wenn ich in diesem Gefängnis eines gelernt habe, dann, dass man lieber auf den mit der gefährlicheren Waffe hören sollte. Also? Wollen wir nicht wie zwei zivilisierte Menschen miteinander reden, oder willst du dich von deinen Kniescheiben verabschieden?“ Tja, dachte Horace und konnte sich ein schadenfrohes Grinsen kaum verkneifen. So schnell kann es also gehen, dass sich das Blatt wendet und eben derselbe Kerl, der andere noch vor wenigen Stunden bedroht und malträtiert hatte, jetzt selbst derjenige war, der sich in Acht nehmen musste. Nun, in Down Hill konnte so etwas schneller passieren, als einem selbst lieb war. Doch als sich ihnen Schritte näherten, wurde Horace hellhörig und auch Sigma war unruhig. Diese Schritte klangen nicht nach Jackson. Das war jemand anderes. Noch jemand war ins Asylum eingedrungen. Schwerer rasselnder Atem war zu hören und dann sahen sie es beide: eine Gestalt mit einem Kapuzenpullover, deren Gesicht man nicht erkennen konnte, kam auf sie zu. Die Gangart wirkte etwas unbeholfen und schlurfend und etwas Fremdartiges und Unheimliches ging von ihr aus. „Scheiße“, zischte Horace und richtete die Pistole auf das Wesen. „Ausgerechnet jetzt muss das Monster auftauchen.“ „Du wusstest, dass dieses Vieh sich hier in meinem Block herumtreibt?“ rief Sigma wütend. Horace seufzte und erklärte „Kao hat es beiläufig erwähnt. Scheiße verdammt…“ „Verschieben wir das Gespräch auf später?“ „Einverstanden.“ Langsam zogen sie sich zurück und hielten sich bereit. Die Gestalt mit der Kapuze blieb stehen und hob den Kopf. Doch selbst jetzt konnte keiner wirklich erkennen, was sich da unter dieser Kapuze verbarg und dann hörte man, wie das Wesen zu schnüffeln begann, so als würde es eine Fährte wittern. Kaonashi und Sigma kannten diese Kreatur, welche von allen bloß „Umbra“ genannt wurde. Es war eines Tages einfach im Gefängnis aufgetaucht und weder Messer noch Kugeln vermochten es zu töten. Es reagierte nicht auf Worte, ganz egal in welcher Sprache und aufgrund seines Verhaltens kam oft der Verdacht auf, dass es nicht mal ein richtiger Mensch war, sondern eher ein Experiment aus dem Versuchslabor. Manche Gerüchte besagten sogar, dass Umbra im Hell’s Gate aufgewachsen wäre und deshalb mehr Tier als Mensch sei. Selbst Sigma wagte es nicht, sich mit dieser Kreatur anzulegen und ausnahmsweise war er mal mit Horace einer Meinung. Besser war, sie traten langsam und vorsichtig den Rückzug an, bevor dieses Monster sie noch attackierte. In dem Fall waren sie beide so gut wie tot. Langsam näherte sich Umbra ihnen und sog geräuschvoll die Luft ein. Und dabei fragten sie sich beide, ob das Wesen tatsächlich etwas wittern konnte und wenn ja, ob es sich eher anhand des Geruchs orientierte, statt über das Gehör. Langsam gingen Horace und Sigma zurück, während Umbra mit gekrümmter Haltung stehen blieb, den Kopf langsam suchend bewegte und dabei schnüffelte. Zu versuchen, mit dieser Kreatur zu kommunizieren, war vollkommen sinnlos. Umbra sprach nie ein Wort und reagierte auf gar nichts, was sogar die Frage aufwarf, ob es überhaupt in der Lage war, Menschen zu verstehen. „Wo ist nur dein verdammter Cousin, wenn man ihn braucht?“ flüsterte Horace Sigma zu und wahrscheinlich dachte dieser im Moment genau dasselbe. Jackson war der Einzige, der es vielleicht mit Umbra aufnehmen konnte, außer Kaonashi. Nur dummerweise trieb er sich mal wieder irgendwo im Asylum herum merkte natürlich nichts. Und nach ihm zu rufen schied auch aus. Schlimmstenfalls würde Umbra sofort angreifen, wenn sie zu laut wurden und dann waren sie tot. Denn auch wenn dieses Monster recht langsam und unbeholfen herumschlich, es war verdammt schnell, wenn es Beute verfolgte und ebenso brutal und mörderisch, wenn es ums Töten ging. „Schon eine Idee, wie wir es loswerden sollen?“ Sigma lachte trocken. „Klar. Du gehst vor und beschäftigst ihn und ich hau ab.“ „War ja klar, dass das kommen musste. Und ehrlich gesagt, hatte ich fast denselben Gedanken. Nur dass du die Ablenkung spielst.“ Langsam zogen sie sich weiter zurück und standen fast mit dem Rücken zur Tür, die zu Trakt E führte. Sie konnten die Tür abschließen und dann abhauen in der Hoffnung, dass Umbra nicht versuchte, die Tür aufzubrechen. Selbst was das anging, war dieses Monster unglaublich stark und schaffte es mit Leichtigkeit, diese Türen aus den Angeln zu reißen, auch wenn es nicht danach aussah. Doch eines verwunderte Horace nun doch: was schnüffelte Umbra denn die ganze Zeit so herum und wieso folgte es ihnen? Nun wollte er es selbst wissen und roch erst an seiner Kleidung und dann bei Sigma. „Was wird das, wenn’s fertig ist?“ fragte der Eyeball Killer irritiert, doch auch selbst Horace war sich nicht hundertprozentig sicher. „Ich glaube, es wird von irgendeinem Geruch angelockt. Sag mal, hast du irgendetwas aufgetragen oder so?“ „Sehe ich etwa danach aus? Wir sind hier in Down Hill, du Genie. Da ist diese Art von Luxus eh überflüssig.“ „Ja aber irgendetwas scheint Umbra zu wittern und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum es uns hinterherschleicht. Und ich bin es jedenfalls nicht.“ „Ach ja? Dann kannst du…“ Ehe Sigma weitersprechen konnte, kam Umbra aus seiner Starre heraus und stürmte auf sie zu. Sofort drehten sich Sigma und Horace um und liefen ebenfalls los. Noch während der Flucht zog der Schauspieler die Tokarev und schoss. Er traf Umbra ins Gesicht, oder zumindest war er sich sicher, dass er es ins Gesicht getroffen hatte. Doch es geriet nicht mal ins Wanken, sondern lief einfach weiter, als wäre die Kugel einfach an ihm abgeprallt. „Verdammt noch mal“, zischte Sigma und rannte schneller. „Dass ich in meinem eigenen Revier weglaufen muss…“ „Es zwingt dich ja niemand dazu“, gab Horace zurück. „Kannst es ja gerne mal auf gut Glück versuchen.“ Sie eilten um die Ecke und schlossen die Tür hinter sich, um durch Trakt E weiterzuflüchten. Doch Umbra stieß diese mit gewaltiger Kraft auf, dass sie sich verbog, stürzte sich dann auf Sigma und riss ihn zu Boden. Horace blieb noch kurz stehen, dann entschied er sich lieber, weiterzulaufen. „Dann will ich euch beide mal nicht weiter bei eurem Date stören. Viel Spaß noch ihr beiden.“ Damit lief der Schauspieler davon und war froh, dass er aus der Nummer jetzt raus war. Mann, das war knapp. Na vielleicht hatte er ja auch Glück und Umbra würde erst mal Sigma zerfleischen. Dann hatten sie in Down Hill ein Problem weniger. Nur durfte er bloß nichts davon Kaonashi erzählen, sonst würde der noch richtig sauer werden. Sigma versuchte sich freizukämpfen und Umbra von sich zu stoßen, doch sein Gegner war viel zu stark und drückte ihn gewaltsam mit dem Gesicht zu Boden und hielt ihn an den Haaren gepackt. Immer noch hörte er den rasselnden Atem dieses Wesens und spürte diese eiskalte Hand, die sich anfühlte, als würde sie einer Leiche gehören. Umbra hielt ihn unerbittlich fest und das mit solcher Gewalt, dass sich Sigma kaum bewegen konnte. Angst hatte der Eyeball Killer keine. Er fürchtete den Tod schon lange nicht mehr und wer hier in Down Hill lebte, der stellte sich morgens sowieso immer wieder aufs Neue die Frage, ob er den Tag überleben würde und am Abend stellte man sich dann die Frage, wieso man noch nicht tot war. Er hatte noch nie den Tod gefürchtet, selbst damals nicht, als sein Vater mit dem Gewehr auf ihn gezielt hatte, um ihn zu töten. „Gott hast nun mal Missgeburten wie dich“, das waren seine Worte gewesen, bevor Sigma ihn getötet hatte. Genauso wie er seine Mutter erstochen hatte. Wer als kleines Kind in die Mündung eines Gewehrs blickte, welches die eigenen Eltern auf einen zielten, dann verlor man selbst seine Angst davor, wenn man nicht psychisch zugrunde ging. Man wurde dann etwas, das man „Monster“ nennt. Und was für eine Ironie war diese Situation doch jetzt. Er, Simon „Sigma“ Cohan, bekannt als Eyeball Killer und eines der berüchtigten Monster aus dem Westblock, würde nun von einem anderen Monster getötet werden. Nämlich dem wahren Monster von Down Hill. Was für eine bittere Ironie… Innerlich bereitete er sich darauf vor, dass Umbra ihm gleich das Genick brach oder sonst was mit ihm anstellte. Vielleicht riss dieses Ding ihn in Stücke oder fraß ihn sogar. Wenn Umbra tatsächlich aus dem Hell’s Gate stammte, konnte es ja nur überlebt haben, wenn er sich über die ganzen verrotteten Leichen hermachte. Große Klasse, dann bin ich jetzt also Futter für dieses Monster. Und Jackson lungert mal wieder irgendwo herum und spielt mit seinen Pets. Dieser Idiot ist aber auch wirklich zu gar nichts zu gebrauchen, wenn es darauf ankommt. Sigma bereitete sich innerlich auf das Ende vor, doch anstatt, dass Umbra ihn zerfleischte oder ihm das Genick brach, beugte er oder besser gesagt es sich zu ihm herunter und begann wieder zu schnüffeln. Ja, es roch ihn regelrecht ab, so als würde ein ganz bestimmter Geruch an ihm haften, den es erschnüffeln wollte. Sigma wurde nicht ganz schlau daraus, was Umbra damit bezweckte und was genau es an ihm roch, aber dann glaubte er, etwas zu hören. So als versuche Umbra zu sprechen. „M… ha… ah…“ Die Stimme klang sehr rau und schwach, so als wäre sie noch nie benutzt worden und dann geschah etwas, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte: Umbra ließ von ihm ab. Ja, es ließ ihn einfach los und ging davon. Ratlos sah der Eyeball Killer diesem unheimlichen Wesen mit der Kapuze hinterher und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Hatte Umbra gerade etwa versucht zu sprechen? Wollte es ihm irgendetwas sagen? „Oh Mann“, murmelte er und kam wieder auf die Beine. „Da bin ich echt schon seit 21 Jahren in diesem Drecksloch und hab immer noch keinen Plan, was abgeht…“ Kapitel 8: Mellos Flucht ------------------------ Mello hatte es wirklich enorme Kraft gekostet, aufzustehen und sich zur Zelltür zu schleppen. Auch als er es endlich geschafft hatte, sie zu öffnen und wieder auf den Gang zu gelangen, rebellierte sein Körper gegen diese Anstrengung und wirklich alles in ihn schrie danach, einfach liegen zu bleiben und zu warten, bis die Schmerzen weg waren. Aber so schnell wollte er nicht aufgeben. Kaonashi hatte ihm immerhin den Weg beschrieben und er musste unbedingt nach Efrafa, um Matt wiederzusehen. Allein der Gedanke daran half ihm, diese verdammten Schmerzen zu ignorieren und sich selbst weiterzuquälen, um endlich aus diesem Höllenloch rauszukommen. Er konnte später noch herumjammern und sich von seinen Verletzungen erholen. Jetzt erst einmal galt es, schnell hier rauszukommen, bevor dieses Durchgeknallten-Duo zurückkam. Das konnte er jetzt am allerwenigsten gebrauchen und wenn er richtig Pech hatte, dann sperrten sie ihn gleich wieder ein und er kam nie hier raus. Wer weiß, ob er überhaupt wieder eine solche Gelegenheit bekommen würde, von hier abzuhauen, wo Kaonashi doch schon extra hergekommen war, um ihm zu sagen, wie er hier rauskam und ihm den Schlüssel für die Zellentür zu geben. Wahrscheinlich war es die einzige, die er je bekommen würde und aus diesem Grund musste er sich verdammt noch mal zusammenreißen und hier möglichst schnell verschwinden. Also wie war das noch gleich? Wo sollte er zuerst hin? Angestrengt dachte er nach und versuchte sich Kaonashis Worte ins Gedächtnis zu rufen, auch wenn ihm das gerade wirklich mehr als schwer fiel. Zuerst musste er zur Trakttür geradeaus. Ja richtig und danach links abbiegen. Na hoffentlich ging auch alles gut. Mello biss die Zähne zusammen und ging voran und hoffte inständig, dass er sich nicht irrte und schlimmstenfalls in die falsche Richtung lief. Zwar hatte er ein gutes Gedächtnis und konnte sich eigentlich darauf verlassen, aber das nützte ihm auch nichts, wenn Kaonashi ihm falsche Informationen gegeben hatte. Allerdings bezweifelte er, dass dieser tatsächlich gelogen hatte. Sonst hätte er sich doch gar nicht die Mühe gemacht, zu ihm zu kommen, selbst auf die Gefahr hin, ebenfalls von den Cohans gefangen genommen zu werden. Nein, er war sich sicher, dass dieser komische Kerl mit der Maske die Wahrheit gesagt und ihm den richtigen Weg genannt hatte. Aber warum das alles? Wieso half er ihm und gab ihm obendrein noch den Zellenschlüssel und erzählte ihm, wo er Matt finden konnte? Irgendwie kam ihm das alles ziemlich spanisch vor, vor allem weil er diesen Kaonashi doch überhaupt nicht kannte. Oder vielleicht doch? War es vielleicht möglich, dass Kaonashi eventuell eines der Kinder aus Wammys House sein konnte? Das wäre zumindest eine Erklärung, wenn nicht die Tatsache dagegensprechen würde, dass Kaonashi ihn ansonsten direkt mit Namen angesprochen und sich als Wammy-Sprössling zu erkennen gegeben hätte. Oder existierte eine andere Verbindung zwischen ihnen, wenn überhaupt? Es wollte Mello einfach nicht in den Kopf, warum ihm so ein Fremder einfach half, vor allem im Knast, wo man für alles eine Gegenleistung erwartete und man rein gar nichts geschenkt bekam. Hier war sich jeder selbst der nächste und das eigene Überleben hatte oberste Priorität. Freundschaft gab es im Gefängnis nicht, allerhöchstens Zweckgemeinschaften, weil man voneinander profitieren konnte. Entweder schloss man sich zu Banden zusammen und regierte den Knast, oder aber man verkaufte sich an jemanden, um vor anderen Häftlingen beschützt zu werden. Alles war möglich und deshalb sah er keine wirkliche Logik darin, was Kaonashi sich mit dieser Aktion versprach. Jedenfalls schien dieser Kerl zwar in vielerlei Hinsicht abgestumpft zu sein, was diese Brutalität anging, die in Down Hill offenbar vorherrschte und er griff vermutlich niemals aktiv ein, um jemandem zu helfen. Oder zumindest ließ er nicht den Anschein erwecken. Jedenfalls war er kein barmherziger Samariter, sonst hätte er nicht zugelassen, dass Mello in die Gewalt dieser Psychopathen geriet und stundenlang von Jackson vergewaltigt wurde. Da hatte er ihm nicht geholfen. Wohl vielleicht, um ihm eine Lektion zu erteilen? Ja, irgendwie erschien es ihm tatsächlich so, als habe Kaonashi ihm eine Lektion erteilen wollen, indem er ihn einfach in die Falle tappen und leiden ließ. Denn wie sagte man so schön? Verbrannte Finger sind die besten Lehrmeister. Und vermutlich sollte dies eine ernst gemeinte Warnung an ihn sein, dass er nicht so blindlings nach vorne stürmen, sondern lieber Vorsicht walten lassen sollte. Er durfte niemandem leichtfertig vertrauen und vor allem durfte er keine Schwäche zeigen. Down Hill… das war ein Gefängnis der anderen Art. Wer hierher kam, der würde nie wieder das Tageslicht sehen. Dies war nicht bloß ein Gefängnis, nein es war ein Grab. Hier wurde man hinabgeworfen und lebendig begraben, unterhalb der Erdoberfläche. Und in dieser gesetzlosen Hölle regierten die Starken über die Schwachen. Wer nicht die Nerven dafür hatte und sich nicht zur Wehr setzen konnte, der war verloren. Wer überleben wollte, musste kaltblütig und fest entschlossen sein. Man musste seine Menschlichkeit über Bord werfen und grausam sein. Und vor allem musste man bereit sein, Dinge zu tun, für die man seine Prinzipien und auch seinen Stolz ablegen musste. Mello erkannte so langsam, dass er viel zu blauäugig vorgegangen war und die Sache eindeutig unterschätzt hatte. Er war sich sicher gewesen, dass er es ganz alleine schaffte und nicht auf Hilfe angewiesen war. Und was hatte ihm das alles gebracht? Er war von einem sadistischen Psychopathen vergewaltigt worden, nachdem er nur knapp dem Schicksal als Blinder entkommen war, weil Sigma keinerlei Interesse an seinen Augen geäußert hatte. Was wohl Matt durch den Kopf gegangen war, als er von hier geflohen war und in Efrafa Schutz gefunden hatte? Womöglich dasselbe, worüber Mello gerade nachdachte, während er immer weiter geradeaus ging. Und wenn er daran dachte, wie lange Matt schon hier war, fragte er sich, was sein bester Freund bis jetzt alles erlebt haben mochte. Die Hölle auf Erden? Hatte er vielleicht Verbündete gefunden, bei denen er zumindest halbwegs sicher war? Nun, wenn Mello sich einer Sache wirklich sicher war, dann einer: Matt kam sicherlich gut zurecht. Schon immer hatte er sich perfekt an alle Arten von Situationen anpassen können. Egal wie schwierig sie auch waren. Er hatte sich recht schnell mit seinem Leben im Waisenhaus abgefunden, genauso wie danach, als es geschlossen wurde und sein Zuhause weg war. Selbst als sie nach Amerika ausgewandert waren und sich in Los Angeles niedergelassen hatten, hatte Matt nicht lange gebraucht, um sich zurechtzufinden. Da würde er in den letzten vier Jahren auch sicher einen Weg gefunden haben, um im Knast überleben zu können. Matt brachte so schnell nichts aus der Ruhe und der Tag, an dem er mal in Panik geriet, war wahrscheinlich der, an dem die Apokalypse über sie hereinbrach. Und dass er sich zu helfen wusste, bewies doch allein die Tatsache, dass ihm die Flucht aus dem Westblock gelungen war. Wie wohl ihr Wiedersehen nach all der Zeit sein würde? Ob sich Matt freuen würde, dass sie sich nach vier Jahren endlich wiedersehen würden? Na auf jeden Fall würde er recht sprachlos sein, das mit Sicherheit. Aber Mello war sich sicher, dass alles gut werden würde, wenn sie wieder das alte Team wären. Gemeinsam würden sie alles schaffen und deshalb sollte er endlich mal einen Zahn zulegen und zusehen, dass er hier rauskam. Nachdem er endlich die Trakttür erreicht hatte, rief er sich noch mal Kaonashis Worte ins Gedächtnis und ging nach links. Nun musste er nur noch nach diesem Büro Ausschau halten, welches vermutlich auch dasselbe war, in welchem er die Akten zu Sigma und Scarecrow Jack gefunden hatte. Na da hatte er wenigstens einen Orientierungspunkt. Während er weiterging, fragte er sich, wie Matt wohl der Ausbruch gelungen war. Irgendwie hatte er im Hinterkopf, dass Kaonashi erzählt hatte, dass er Hilfe von einem anderen Insassen bekommen hatte. Tja, da hatte er wohl echtes Glück gehabt. Er wusste selbst, dass Matt nicht gerade körperlich sonderlich stark war. Den Sportunterricht im Waisenhaus hatte er meistens geschwänzt gehabt und anstatt draußen Fußball mit den anderen zu spielen, hatte er lieber drinnen gesessen und seine Videospiele gespielt. Mit 14 Jahren hatte er bereits angefangen zu rauchen und eine Schelte nach der anderen von Roger kassiert. Aber in der Hinsicht war er eben komplett schmerzfrei und machte einfach weiter. Auf alles reagierte er nur mit einem gleichgültigen Achselzucken, so als würde alles, was man ihm sagte, zum einen Ohr rein und zum anderen Ohr wieder rausgehen. Ob er immer noch derselbe Matt war, den er in Erinnerungen hatte? Oder hatte Down Hill schon erste Spuren hinterlassen und ihn verändert? Nein, das glaubte er eigentlich nicht so wirklich. Matt hatte schon immer so eine Charakterfestigkeit und diese innere Ruhe besessen, mit der er wirklich in jeder Situation gelassen sagen konnte „Dann ist das halt eben so“. Aber war er denn tatsächlich schon immer so gewesen? Mello erinnerte sich an die Anfangszeit in Wammys House, als Matt zu ihnen bekommen war und was für eine Heulsuse er gewesen war. Nächtelang hatte er Alpträume gehabt und teilweise auch laut schreiend aus dem Schlaf aufgewacht. Mello wusste es am allerbesten, immerhin hatte er sich mit Matt damals ein Zimmer geteilt. In den ersten Tagen war Matt ziemlich verstört gewesen und da wollte er sich lieber nicht vorstellen, was dieser erlebt haben musste. Nun, wenn seine Familie tatsächlich von der Regierung oder besser gesagt von der KEE ermordet wurde, dann war das auch kein Wunder. Die meisten Kinder taten sich erst mal ziemlich schwer mit dem Verlust ihrer Familie und hatten eine schwere Anfangszeit. Trotzdem hätte Mello ihm manchmal gerne eine reingehauen, weil er wegen ihm schlaflose Nächte gehabt hatte. Dann aber hatte er sich anders entschieden und mit Matt gesprochen, als dieser wieder mal Tränen in den Augen hatte. Dieser hatte natürlich sofort alles abgestritten und erklärt, dass er nur was im Auge habe. Schon damals hatte er echt miese Ausreden. Doch anstatt gleich einen Streit vom Zaun zu brechen, was ja bekanntlich Mellos Art war, hatte er ihm die Fliegerbrille geschenkt. Matt hatte ihm irgendwie leid getan und aus irgendeinem Grund hatte er ihn aufmuntern wollen. Er hatte sie ihm einfach in die Hand gedrückt und ihm gesagt „So, damit kriegst du nichts mehr in die Augen!“ Ja… seit dem Tag hatte Matt kein einziges Mal mehr geweint. Und seitdem waren sie beide auch ein Team gewesen. Nie hatte sich Matt großartig beschwert und das impulsive und vor allem recht explosive Temperament seines besten Freundes immer mit Gelassenheit hingenommen und ihn zwischendurch wieder auf den Boden der Tatsache zurückgebracht. Obwohl Matt immer so wirkte, als würde ihn rein gar nichts interessieren, war er immer da gewesen. Kein anderer hatte es je so lange an seiner Seite ausgehalten, aber Matt schon. In dem Moment musste sich Mello wieder an den heftigen Streit vor vier Jahren erinnern, kurz bevor Matt spurlos verschwunden war. Er fragte sich wirklich, was Matt damals dazu geritten hatte, plötzlich mit der Idee anzukommen, dass sein bester Freund schwul war. Zugegeben… Mello wusste selbst, dass er ziemlich überreagiert hatte und er hätte Matt auch nicht schlagen dürfen. Er erinnerte sich an die nie endende Suche. Wie er stundenlang die Straßen abgesucht und sämtliche Leute ausgefragt hatte. Wie er seine Selbstvorwürfe in Alkohol ertränkt und sogar geweint hatte, weil er so verdammt einsam war und nicht wusste, was mit Matt passiert war. Erst da war ihm klar geworden, was für eine wichtige Rolle Matt eigentlich in seinem Leben spielte. Er war der beste Freund, den er je gehabt hatte. Der Einzige, der es so lange bei ihm ausgehalten hatte. Matt war der einzige Mensch, den er je wirklich in sein Leben gelassen hatte und der ihm wirklich wichtig war. Und er hatte ihn einfach geschlagen und angebrüllt, nur weil dieser diese eine verdammte Tabufrage stellen musste. Seine größte Angst in dem Moment war, dass Matt sich komplett von ihm abwenden würde. Dass er ihm diesen handfesten Streit einfach nicht verzeihen konnte und sie nie wieder so wie damals Freunde werden würden. Ja, das wäre das Schlimmste für ihn… Nach einer Weile erreichte Mello endlich das Büro und sah sich selbst in der Reflexion des Sicherheitsglases. Er sah wirklich schrecklich aus und erschrak auch im ersten Moment vor sich selbst. Sein Haar war von Blut verklebt und schmutzig, genauso wie sein Gesicht. Auf seinen Armen zeichneten sich erste Spuren von Hämatomen ab und er sah auch jetzt die Wunde an seinem Kopf, die Scarecrow Jack ihm zugefügt hatte. Sie hatte längst aufgehört zu bluten, aber so wie er die Sache einschätzte, musste sie trotzdem behandelt werden, ansonsten würde sie sich noch entzünden. Sein Gesicht wirkte irgendwie eingefallen wie das eines Magersüchtigen, er war kreidebleich wie eine Leiche und seine Augen waren stark gerötet. Er sah wirklich katastrophal aus und dabei verbargen die Klamotten ja noch das Schlimmste. So wie sein Körper wehtat, hatte dieser verdammte Sadist ihn echt übel zugerichtet. Das Schlimmste aber war, dass er unten rum so verdammt schmutzig war. Er versuchte nicht an den Orgasmus zu denken, den er gehabt hatte, als Jackson in ihm abgespritzt hatte. Das war für ihn eigentlich noch schlimmer gewesen als die Tatsache, dass dieses Schwein über ihn hergefallen war. Er fühlte sich selbst so abstoßend und widerlich und in dem Moment, als er sich an die schrecklichen Augenblicke zurückerinnern musste, begann sein Magen heftig zu rebellieren und zu verkrampfen. Er musste sich übergeben, aber da er seit einer gefühlten Ewigkeit nichts mehr gegessen hatte, kam da auch nicht viel raus. Seltsamerweise verspürte er nicht mal Hunger, seit er hier war. Vermutlich, weil solche körperlichen Empfindungen nicht sonderlich vom Gehirn registriert wurden, wenn man sich in einer solch extremen Stresssituation befand und durchaus andere Sorgen hatte. Ein weiteres Mal musste er sich übergeben und merkte erst jetzt die starke Übelkeit. Außerdem flimmerte es kurzzeitig vor seinen Augen und ihm wurde schwindelig. Na toll, dachte er sich und versuchte, bloß nicht umzukippen. Denn er glaubte nicht, dass er noch die Kraft zum Aufstehen haben würde, wenn es erst mal dazu kommen würde. Ausgerechnet wenn ich abhauen will, muss mein Kreislauf komplett versagen. Entweder kommt es daher, weil ich nichts im Magen habe, oder es ist dieser scheiß „Einstandsparty“ zu verdanken, dass ich mich so beschissen fühle. So ein verdammter Mist. Wenn das so weitergeht, dann holen die mich noch ganz sicher ein und ich kann meine Flucht vergessen. Ein plötzlicher Schuss schreckte ihn auf und er sah sich hastig um. Was war das denn gewesen? Schüsse? Im Gefängnis? Ach du heilige Scheiße! Hatten die Insassen jetzt etwa auch noch Schusswaffen hier in Down Hill? Was kam denn noch alles auf ihn zu? Ich muss echt sehen, dass ich hinne mache, sonst kann ich meine Flucht echt vergessen. Nachdem er tief durchgeatmet hatte, lief er weiter, doch er merkte, dass sein Körper da nicht so wirklich mitmachen wollte. Manchmal fiel es ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten, weil alles um ihn herum zu wanken und sich zu drehen begann. Dann wurde ihm einfach schwarz vor Augen und er musste kurz stehen bleiben, um nicht noch umzukippen. Na komm schon, rief er sich selbst in Gedanken zu und kämpfte sich weiter. Du hast es bald geschafft und bist hier raus. Wenn du Efrafa erreichst, kannst du gerne umfallen und ohnmächtig werden. Dann bist du wenigstens in Sicherheit und kannst dich von deinen Verletzungen erholen. Aber jetzt erst mal musst du hier raus, sonst kriegen dich diese zwei Psychopathen noch und dann ist es endgültig vorbei. Dann fallen sie wie die Raubtiere über dich her und du wirst Matt nie wieder sehen. Sein Wille war nach wie vor ungebrochen, aber er merkte selbst, wie schwer es war, seinen Körper „zu überwinden“, wie Kaonashi gesagt hatte. Ihm war so verdammt übel und sein Kreislauf war komplett im Keller. Tief atmete er noch mal durch und mobilisierte erneut seine Kraftreserven und ging nach rechts. Soweit er sich recht erinnerte, sagte Kaonashi, dass er zwei Mal nach rechts gehen sollte, dann bei dem Typen in der Zelle mit den langen schwarzen Haaren noch mal nach links, dann geradeaus und er war raus. Theoretisch. Blieb nur zu hoffen, dass derjenige, der da gerade geschossen hatte, nicht noch zu ihm kam und Ärger machte. Mello kämpfte sich noch ein Stück weiter, bis er dann plötzlich Schritte hinter sich hörte. Abrupt blieb er stehen und drehte sich um. Das Entsetzen überkam ihm, als er sah, dass es Scarecrow Jack war. Scheiße… der hatte ihm gerade noch gefehlt. Mit seinen mörderisch funkelnden Augen starrte der entstellte Killer ihn an und schien offenbar selbst gerade nicht wirklich glauben zu können, was er da sah. Dann aber rief er wütend „Willst du etwa abhauen, kleines Schweinchen?“, woraufhin er mit der Machete in der Hand losstürmte. Mello seinerseits nahm die Beine in die Hand und ergriff die Flucht. Scheiße verdammt. Es musste aber auch wirklich alles schief gehen, seitdem er hier war. Erst tappte er ausgerechnet in diese Todesfalle, ließ sich von Sigma austricksen und jetzt, wo er endlich aus dieser Zelle entkommen war und drauf und dran war, diese Anstalt zu verlassen, passierte so etwas. Und das Schlimme war, dass er kaum die Energie zum Rennen hatte. Na hoffentlich war sein Körper überhaupt noch in der Lage, genug Adrenalin auszuschütten, damit er einen Zahn zulegen konnte. Ansonsten sah es mehr als düster für ihn aus. Tatsächlich spürte er, wie es durch seine Adern strömte und er deutlich schneller laufen konnte. Der Schmerz war wie ausgeblendet, er nahm ihn überhaupt nicht mehr wahr, ebenso wenig wie die Müdigkeit. Er bog noch einmal nach rechts ab und rannte weiter. Allein der Gedanke, dass er fast draußen war und es dann endlich hinter sich hatte, gab ihm Hoffnung und Kraft, weiterzulaufen und nicht stehen zu bleiben, ganz egal was auch… Mello erstarrte in der Bewegung, als Jackson die blutverschmierte Klinge der Machete in seine Seite schlug und eine tiefe Wunde riss. Der 24-jährige geriet ins Stolpern und spürte das warme Blut über seinen kalten Körper fließen und der stechende Schmerz, der ihn wieder zurückholte. Er presste eine Hand gegen seine Seite und dann packte Jackson ihn an der Schulter, drehte ihn um und rammte ihm die Machete direkt in den Bauch. Mello stöhnte vor Schmerz auf und keuchte. Das war nun endgültig zu viel für ihn. Er rang nach Luft und wankte, sein Körper krümmte sich aufgrund der schweren Verletzung zusammen und er presste seinen Arm gegen die Wunden. Unaufhörlich floss Blut und er spürte nur noch diese fast schon heiße flüssige Wärme seinen Körper hinunterfließen, die gleichzeitig so tückisch gefährlich war, weil er wusste, dass dies seinen bevorstehenden Tod durch Verbluten bedeuten würde. Warum nur, fragte er sich, während er sich mit einer Hand an der Wand abstützte und versuchte, irgendwie auf den Beinen zu bleiben. Warum nur konnte ich nicht schneller sein als er? Ja, das würde er sich noch wahrscheinlich im Augenblick seines Todes fragen. Doch nun war es zu spät. Die Machete hatte ihn schwer verletzt und es würde sich nur noch um eine Frage von wenigen Minuten handeln, bis der Blutverlust so groß war, dass es zu einer Schockreaktion kam und er in absehbarer Zeit verbluten würde. Verzweiflung überkam ihn. Er wollte nicht sterben. Nicht hier in diesem Drecksloch und schon gar nicht durch die Hand eines solchen Psychopathen. Er wollte leben und Matt wiedersehen. Er wollte ihm sagen, wie sehr ihm das alles leid tat und er wollte wieder sein Gesicht sehen und seine Stimme hören. Nur noch ein einziges Mal… mehr wollte er nicht. Mello wankte rückwärts zurück, stützte sich an der Wand ab und sah, wie Jackson erneut die Machete zum Angriff erhob. Dieses Mal würde er ihn töten. Das stand fest. In Mellos Augen sammelten sich kleine Tränen, als er erkannte, dass er nichts dagegen ausrichten konnte und sein ganzer Kampfgeist, seine Sturheit und sein Trotz gegen alle Widrigkeiten ihm rein gar nichts gebracht hatten. Er war vollkommen machtlos und nicht in der Lage, seinem eigenen Schicksal zu entrinnen. Es war seine Entscheidung gewesen, das Asylum zu durchqueren und nun war die Konsequenz dafür sein Tod. Was für ein Alptraum… Langsam wankte er zurück, ertastete dann aber plötzlich eine Leere in der Wand. Eine Art Schacht, den er in seiner Benommenheit gar nicht bemerkt hatte, war da direkt neben ihm, der in die Tiefe führte. Und damit direkt hinunter in die untere Ebene… dem Hell’s Gate. Er verlor den Halt und schaffte es nicht, sich irgendwie zu fangen, oder irgendwo festzuhalten. Er rutschte ab und stürzte den pechschwarzen Schacht hinunter, aus welchem der faulige Geruch des Todes nach oben drang und die Luft des Asylums verpestete. Kapitel 9: Erinnerung --------------------- Ein leises Schluchzen war zu hören. Das Weinen eines Kindes… Was? Ein Kind? Ach so, ja… das war ja der Neue, der erst gestern angekommen war und der schon seit seiner Ankunft nachts keine Ruhe gab. Müde rieb er sich die Augen und tastete blind nach der kleinen Nachttischlampe auf der Kommode neben seinem Bett. Nach einer Weile fand er sie auch und schaltete sie ein, woraufhin sein Zimmer mit einem etwas gedämpften gelben Licht erfüllt wurde. Ans Weiterschlafen war sowieso nicht mehr zu denken. Bei dem Geschluchze bekam er eh kein Auge zu. Müde rieb er sich die Augen und versuchte sich wieder ans Licht zu gewöhnen, damit er wenigstens die Augen aufmachen konnte, um zu sehen, was genau los war. Er setzte sich schließlich auf und sah Matt auf der Seite liegen, zusammengekauert und einen wirklich bemitleidenswerten Anblick bietend. Er hatte sein Kissen wie ein Kuscheltier an sich gedrückt und schluchzte leise. Vermutlich versuchte er möglichst ruhig zu sein, um seinen Zimmergenossen nicht aufzuwecken. Nun, was das anbetraf, hatte er es jedenfalls nicht geschafft. Er war etwas klein geraten, etwas zu dünn für sein alter und gerade mal elf Jahre alt. Na in dem Alter konnte man es ja noch verzeihen, wenn man nach dem Tod der Familie so eine Heulsuse war. Und das war es auch, was Mello davon abhielt, ein Theater zu machen, weil der Neue ihn mit seiner Flennerei um den Schlaf brachte und ihn wach hielt. „Mum…“, hörte er Matt leise schluchzen. „Dad… Theo…“ Es war wie ein leiser verzweifelter Ruf nach der Familie. Einer Familie, die man sehr geliebt hatte und die einfach so genommen worden war. Man selbst war ins kalte Wasser gestoßen worden, in die reißenden Fluten der Einsamkeit und musste zusehen, wie man klar kam. Entweder ging man unter, oder ein Rettungsboot fand sich, an welchem man sich festhalten konnte. Mello hatte das Glück gehabt, dass er seiner Familie eh nicht sonderlich nahe stand und gut damit leben konnte, dass sie nicht mehr da war. „Hey…“ Matt schreckte hoch und setzte sich ruckartig auf. Seine Augen zeugten von Angst. Nicht vor Mello, sondern von etwas anderem. Nämlich der KEE, die seine Familie auf dem Gewissen hatte. Immer noch waren die Erinnerungen so präsent, dass er mit der Angst lebte, dass sie ihn holen kommen würden. Ganz offensichtlich war er ein Traumaopfer, wie so manch andere im Waisenhaus. Hastig wischte sich Mellos neuer Zimmergenosse die Tränen weg, aber er konnte trotzdem nicht aufhören zu weinen. „Entschuldige, ich kann nicht… ich kann…“ Es klopfte an der Tür und leise öffnete sie sich. Es war Near. Er wirkte ein klein wenig verschlafen und rieb sich die Augen. „Ich hör euch nebenan. Könntet ihr die Lautstärke ein wenig senken? Ich schreib morgen einen Aufsatz.“ „Verpiss dich Near“, giftete Mello ihn an. „Ist ja nicht jeder so ein Eisklotz. Er ist erst gestern angekommen, also lass ihn doch.“ „Es ist fast ein Uhr und wir haben morgen wieder Unterricht.“ „Mach dir Ohrenstöpsel rein und fertig aus. Also raus hier!“ Damit verschwand Near und schloss die Tür hinter sich. Allein wenn er Near sah, konnte er ausrasten und am liebsten hätte er dieser kleinen Albinoratte den Hals umgedreht. Naja, jetzt war der erst mal weg und nun konnte er sich um Matt kümmern. Langsam ging Mello zu ihm hin und fragte „Du vermisst deine Familie, nicht wahr?“ Ein stilles Nicken kam zur Antwort. „Ich durfte nicht mal ein Foto behalten. Nicht mal das Bild, wo wir als Familie drauf sind. Ich hab Angst, dass ich mich eines Tages nicht mehr erinnern kann, wie sie aussahen.“ „Man gewöhnt sich hier recht schnell dran“, erklärte Mello und setzte sich zu ihm. „Und weißt du… du hast Glück, dass du hier gelandet bist. Hier hast du mehr Freiheiten, als in einem anderen Waisenhaus und man das machen, was einem Spaß macht. Da wo ich herkomme, herrschen da ganz andere Regeln.“ „Wo kommst du her?“ „Aus Brooklyn. Ich hab vor dem Tod meiner Familie im Ghetto gelebt und kam dann in ein Waisenhaus. Es war echt beschissen dort, aber dann kam Watari und hat mich hergebracht. Im Grunde genommen ist der Laden hier gar nicht mal so übel. Und ignorier diesen Blödmann Near einfach. Seit er hier ist, ist er ein total eiskalter Einzelgänger und redet kaum mit jemandem. Der nimmt sowieso keine Rücksicht, also lass dir von ihm nichts sagen. Wenn du wegen deiner Eltern heulen willst, dann mach es doch. Linda hat zwei Wochen gebraucht, um damit klar zu kommen.“ „Und du?“ „Ich hatte nie wirklich einen Bezug zu meiner Familie. Mein Vater war ein Junkie, meine Mutter starb als ich drei war und meine Schwester war eine Nutte. Also nicht gerade die Traumfamilie. Mein Alter hat sich nie für mich und meine Schwester interessiert, also hat sie mich stattdessen großgezogen. Aber so wirklich viel hat sie mir jetzt auch nicht bedeutet.“ „Das muss sicher traurig gewesen sein, oder?“ Mello sagte nichts dazu, denn er hasste es, über seine Familie oder über seine Gefühle zu reden. In seinen Augen war das Schwäche und er wollte auch nicht wie ein Mädchen erscheinen. Matt schien zu merken, dass sein Zimmergenosse nicht weiter auf das Thema eingehen wollte und ließ es deshalb, weiter nachzufragen. Stattdessen legte er sich wieder hin und zog die Decke fest vollständig über den Kopf. „Nachts, wenn ich Alpträume hatte oder nicht schlafen konnte, ist Theo immer zu mir ins Bett gekommen und hat mich getröstet.“ „Theo?“ „Mein großer Bruder.“ Mello dachte kurz nach, dann schließlich hob er die Bettdecke an und kroch zu Matt ins Bett. Dieser war mehr als verwirrt darüber und verstand nicht, was das plötzlich zu bedeuten hatte. Dieser Junge kannte ihn doch erst seit drei Tagen und so wie er gehört hatte, war er manchmal ein echter Rowdy. Und jetzt auf einmal legte er sich zu ihm ins Bett. „Was… was machst du da?“ „Wenn ich bei dir liege, kannst du dann schlafen?“ „I-ich kann’s versuchen“, murmelte Matt und wischte sich die Tränen weg. „Und du bist sicher, dass…“ „Frag nicht so blöd und schlaf, bevor ich es mir anders überlege.“ Matt konnte es immer noch nicht glauben, aber er war in diesem Moment wirklich sehr glücklich darüber, dass Mello das für ihn machte. Und vielleicht half ihm das ja auch, nicht mehr diese schrecklichen Alpträume zu haben, als die KEE ihr Haus gestürmt und das Feuer eröffnet hatte. Wie er und Theo weggerannt waren und sein Bruder ihm gesagt hatte, er solle allein weitergehen. Es war das Letzte, was Theo zu ihm gesagt hatte, bevor die Kugel ihn in den Rücken traf. Das Blut und die Schreie seiner Eltern… seine Flucht durch die Straßen und die Ängste, die er ausgestanden hatte… Der schreckliche Gedanke daran, dass die KEE auch ihn holen würde. Es war die Hölle gewesen und so wirklich konnte er noch nicht glauben, dass er tatsächlich jetzt in Sicherheit war. L hatte ihn gerettet, ihn hierher gebracht und ihm gesagt „Du brauchst keine Angst zu haben. Hier an diesem Ort kann dir nichts passieren“. L hatte ihn gerettet und er brauchte sich nicht mehr davor zu fürchten, dass die KEE ihn finden und ebenso töten konnte. „Wie ist deine Familie gestorben?“ „Meine Mutter ist an Krebs gestorben, meine große Schwester wurde von ihrem Zuhälter abgeknallt, nachdem mein Alter an einer Überdosis verreckt ist. Danach bin ich in ein Waisenhaus gekommen, aus dem mich L und Watari schließlich rausgeholt haben.“ Mello merkte, wie Matt deutlich ruhiger wurde und schließlich die Augen schloss. Scheinbar half es tatsächlich, wenn jemand bei ihm im Bett lag und er sich nicht so allein fühlte. Na wenigstens half es… zumindest ein bisschen. „Warum machst du das für mich?“ fragte Matt schließlich nach einer kurzen Weile, doch so wirklich wusste Mello auch keine Antwort darauf. Er wunderte sich ja selbst, warum er so etwas tat. Seit er hier war, hatte er sich nie die Mühe gemacht, die anderen Waisenkinder zu trösten, oder ihnen diese Nähe zu geben. Deshalb antwortete er auch ganz einfach „Keine Ahnung.“ Zugegeben, es fühlte sich auch nicht sonderlich schlecht an, als er so bei Matt lag und diesen warmen Körper an dem seinen spürte. Es hatte wirklich etwas Beruhigendes an sich und gab ihm irgendwie das Gefühl von… Geborgenheit… Wann hatte er das letzte Mal so ein Gefühl gehabt? Das musste gewesen sein, als sein Vater ihm den Arm gebrochen hatte, als er mal wieder auf einem seiner Drogentrips war. Deborah hatte ihn ins Krankenhaus gefahren und ihn im Arm gehalten, als er aufgrund der starken Schmerzen geweint hatte. Da musste er sechs Jahre alt gewesen sein. Das war das einzige Mal, soweit er sich erinnern konnte, dass ihn jemand im Arm gehalten oder ihm anderweitig diese Nähe gegeben hatte. Und nun… jetzt war es ein Junge, den er erst seit gestern kannte. Mello spürte, wie er langsam müde wurde und dabei war, einzuschlafen. Doch da fragte Matt ihn „Mello?“ „Ja?“ „Wie heißt du eigentlich mit richtigem Namen?“ Mello überlegte kurz, ob er es wirklich sagen sollte. Roger hatte ihnen allen immer wieder eingeschärft, dass sie niemals ihre wahren Namen preisgeben sollten. Ihre ganze Vergangenheit war ausgelöscht worden, seit sie in Wammys House waren. Sie alle waren Phantomkinder ohne Identität und so sollte es bleiben. Doch dann entschied er sich, diese eine heilige Regel von Wammys House zu brechen. „Mihael Keehl.“ „Mihael“, murmelte Matt und lächelte müde. „Ein schöner Name. Zumindest… ist er besser als Mail Jeevas.“ „Ach was. Sieh es doch mal so: unsere Vornamen fangen beide Mit M an und hören mit einem L auf. Und unsere Nachnamen haben beide zwei E’s hintereinander.“ „Stimmt, jetzt wo du es sagst. Das ist schon wirklich ein komischer Zufall. Nur komme ich nicht aus Brooklyn wie du, sondern aus New Orleans.“ „Naja, aber es ist immer noch Amerika.“ „Auch wieder wahr. Du sag mal… wenn wir doch eh schon im selben Zimmer sind… wollen wir nicht vielleicht Freunde sein?“ „Klar, kein Problem. Aber nur, wenn du das hier niemandem erzählst, dass ich hier bei dir liege. Ansonsten hau ich dich windelweich!“ Matt versprach es und er schien tatsächlich ein klein wenig glücklicher zu sein. Und so dauerte es nicht lange, bis er eingeschlafen war. Und kurz darauf schlief auch Mello ein. Er schlief so tief und fest, dass er am nächsten Morgen den Wecker gar nicht hörte und er stattdessen von Near geweckt wurde, der sich offenbar gefragt hatte, wieso die beiden noch nicht beim Frühstück waren. „Was liegt ihr beide da im Bett?“ fragte er etwas ungläubig und sofort war Mello hellwach. „Das geht dich einen Scheißdreck an, Near. Und ich schwör dir eines: wenn du das irgendjemandem sagst…“ „Es ist mir eh egal, was ihr da macht“, erklärte der 10-jährige trocken und wandte sich um. „Ich bin auch nur hier, weil Amanda mich geschickt hat. Ihr solltet euch besser beeilen, bevor das Frühstück vorbei ist.“ Damit verließ Near das Zimmer und Matt und Mello beeilten sich, dass sie noch rechtzeitig in den Speisesaal kamen. Tatsächlich schafften sie es noch, schnell etwas zu essen, bevor der Unterricht losging und sie zum Chemiesaal gehen mussten. Da Matt sich nicht im Waisenhaus auskannte, begleitete Mello ihn und erklärte ihm auch unterwegs einiges. Sie setzten sich schließlich gemeinsam an einen der Tische und warteten auf Frau Doktor Bloom, die sie als Biologie- und Chemiedozentin hatten. Sie war eine nette und verständnisvolle Frau und wusste, wie sie mit den einzelnen Kindern umzugehen hatte. Sie war die beste Lehrerin, die Mello je gehabt hatte und er mochte sie irgendwie auch. Nur als Lehrerin versteht sich. Der Unterricht begann mit der Überprüfung der Hausaufgaben, danach eröffnete ihnen Frau Bloom „Heute werden wir ein neues Thema anfangen. Nämlich das Thema Vererbungslehre. Wer weiß denn, was wir zum Beispiel für Eigenschaften vererben oder vererbt bekommen?“ Ein paar Hände wurden hochgestreckt, auch Mello meldete sich, doch dabei entging ihm nicht, dass Matt auf seinem Platz zusammensank und er den Blick senkte. Er sah aus, als würde er gleich wieder in Tränen ausbrechen. Und das merkte auch Dr. Bloom. „Stimmt etwas nicht?“ „Das ist der Neue“, erklärte Randy, mit dem Mello des Öfteren Fußball spielte. „Er ist erst seit Montag hier.“ „Oh“, rief die Doktorandin und verstand schon, was los war. Sie sah kurz auf ihrer Liste nach und fand den Namen des neuen Mitschülers. „Matt, wenn es zu viel für dich wird, kannst du gerne nach draußen gehen, oder mit einem der Sozialpädagogen sprechen, okay? Wenn es dir nicht gut geht, musst du nur Bescheid sagen.“ Er nickte nur stumm, blieb aber sitzen. Er versuchte, sich zusammenzureißen, doch Mello sah, wie sein Sitznachbar litt. Ausgerechnet jetzt das Thema Vererbungslehre durchzunehmen, wenn die Familie vor den eigenen Augen abgeknallt wurde, war nicht gerade das ideale Timing, aber daran ließ sich jetzt auch nichts ändern. In der Mittagspause ging Mello schließlich in den Speisesaal zusammen mit den anderen. Eigentlich rechnete er damit, dass Matt ebenfalls mitkommen würde, doch dieser verschwand einfach und kam auch nicht mehr zum Unterricht zurück. Er blieb den ganzen Tag verschwunden und selbst zum Abendessen tauchte er nicht auf. Nun, sonderlich neu war so ein Verhalten bei einem Neuankömmling nicht. Viele verkrochen sich in den ersten paar Tagen, um sich die Zeit zu nehmen, den Schock über den Verlust ihrer Familien zu verarbeiten und deshalb ließen auch die Lehrer sehr viel Rücksicht walten. Es war ohnehin vorgesehen, dass die Kinder Stück für Stück in den Alltag des Waisenhauses integriert wurden und dabei auch psychologisch begleitet wurden. Grund dafür war ein Waisenkind vor einigen Jahren, welches Selbstmord begangen hatte, nachdem es den ganzen Leistungsdruck nicht mehr ausgehalten hatte. Solch einen Vorfall wollte man nicht noch einmal haben, weshalb die Kinder in der Anfangszeit psychologisch betreut wurden und danach noch die Hilfe von Sozialpädagogen in Anspruch nehmen konnten. Natürlich gab es einige Kinder, die gut damit umgehen konnten. Near zum Beispiel besaß genug innere Stärke, um mit seinem Dasein als Waise zurechtzukommen, nachdem er sich dazu entschlossen hatte, seine Gefühle zu verschließen und von nun an nur noch rein objektiv zu denken und zu entscheiden. Jeder hatte für sich einen Weg gefunden, um damit klar zu kommen und Matt würde seinen Weg auch noch finden. In den nächsten Tagen ließ sich Matt kaum noch blicken. Meist verschwand er für mehrere Stunden spurlos und tauchte wenn überhaupt nur zum Abendessen oder zum Frühstück auf. Höchstens am Wochenende kam er aus seinem Schneckenhaus raus und ging mit Mello zusammen in die Stadt. Es war Sommer und sie gingen zusammen ein Eis essen, dann schauten sie beim Game Store vorbei, wo Matt sich neue Videospiele und Konsolen ansah, danach kamen sie an einem Geschäft für Sportausstattungen vorbei. Dabei fiel Matt etwas auf und er blieb am Schaufenster stehen. Mello tat es ihm gleich und fragte „Was ist los?“ Er bemerkte, dass Matts Blick an der Schaufensterpuppe hängen blieb, die aussah wie ein Fallschirmspringer. Sie trug eine Fliegerbrille mit gelbfarbenen Gläsern. Der Elfjährige antwortete nicht auf Mellos Frage, sondern starrte nur auf diese Fliegerbrille. Offenbar erinnerte sie ihn an etwas Bestimmtes, was vermutlich mit seiner Familie zu tun hatte. Dann aber schüttelte er nur den Kopf und meinte „Ach nichts“ und ging weiter. Und kaum, dass sie wieder zurück waren, zog sich Matt wieder komplett zurück und ließ sich kaum noch blicken. Auch den Unterricht schwänzte er. Irgendwann reichte es Mello und so nutzte er die Pause zwischen den Unterrichtsstunden, um nach seinem Zimmergenossen zu suchen. Und er hatte auch eine Idee, womit er seinen neuen Freund vielleicht aufmuntern konnte. Er suchte das Waisenhaus Stück für Stück ab und fand den Rotschopf schließlich in der Bibliothek in der ersten Etage. Zusammengekauert saß er auf dem Boden in einer Ecke und spielte auf einem Nintendo. „Hey“, rief Mello ihm zu und mit einem trüben Blick in den Augen hob Matt den Kopf. Er sah aus, als hätte er wieder geheult. „Was sitzt du hier so rum und versteckst dich? Oder ist es dir peinlich, wenn dich jemand beim Heulen sieht?“ „Ich wein doch gar nicht“, gab Matt zurück, aber man hörte allein schon aus seiner Stimme, dass er gerade noch heftig geweint hatte. „Ich hatte nur was im Auge.“ Die Ausrede hörte Mello nicht zum ersten Mal. Inzwischen waren schon zwei Wochen vergangen und Matt war immer noch eine Heulsuse. Mello seufzte und zerrte ihn hoch. Dann holte er eine Fliegerbrille mit gelbfarbenen Gläsern hervor, die er Matt kurzerhand aufsetzte. Es war jene Fliegerbrille, die Matt bei ihrem Stadtbummel im Schaufenster gesehen und angestarrt hatte. „So“, sagte er schließlich. „Jetzt kriegst du nichts mehr ins Auge. Also hast du auch keinen Grund mehr, Trübsal zu blasen und zu weinen. Also was ist? Gehen wir zusammen in den Speisesaal? Heute ist Pizzatag und so wenig wie du gegessen hast, musst du doch fast verhungert sein.“ Matt sagte nichts, sondern wirkte eher, als könne er nicht verstehen, was da gerade passiert war. Seine Augen wurden groß und mit einem Male war auch diese tiefe Traurigkeit verschwunden, die sich darin widergespiegelt hatte. „M… Mihael…“ „Keine Ahnung, was diese Brille für dich bedeutet hat, als du sie so im Schaufenster angestarrt hast. Aber wenn es dir damit besser geht, dann nimm sie ruhig.“ Immer noch war Matt vollkommen sprachlos und ließ sich von Mello mehr oder weniger mitzerren, der die Bibliothek verließ und den Speisesaal ansteuerte. Doch dann blieb Matt stehen und rief „Warte!“ Abrupt blieb der Zwölfjährige stehen und fragte natürlich „Was ist denn?“ Daraufhin legte Matt eine Hand auf seine Schulter und dann… gab er ihm einen Kuss. Das war nun endgültig zu viel für Mello. Er lief rot im Gesicht an und rief „Was soll der Scheiß? Wieso… das war mein erster Kuss, du Arschloch!!!“ Doch Matt lächelte nur und erklärte „Das war ein Dankeschön.“ „Indem du mir meinen ersten Kuss klaust, du Blödmann? Du hast sie doch nicht mehr alle!“ Normalerweise wäre Mello komplett ausgerastet und hätte ihm eine reingehauen. Ja er hätte ihn ordentlich vermöbelt für diese Unverschämtheit, doch er kam gar nicht erst auf den Gedanken. Das alles war so verwirrend für ihn und er verstand auch gar nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Seit wann küsste man sich denn? Oh Mann… entweder war dieser verdammte Matt in einer echt schrägen Gegend aufgewachsen, oder er hatte nicht mehr alle Latten am Zaun. Der war doch echt vollkommen durchgeknallt. Und vor allem verstand er nicht, wieso er auch noch dabei so rot im Gesicht wurde. Als ob es ihm jemals gefallen würde, dass ihn ein Junge küsste. Wenn schon, dann hätte es ein Mädchen sein sollen. Ja genau, ein Mädchen. Doch Matt schien das alles recht locker zu sehen. „Dann sieh es einfach als Freundschaftskuss an. Und der zählt nicht als erster Kuss.“ „Echt jetzt?“ „Klar. In Russland haben sich die Kommunisten doch auch immer gegenseitig geküsst und es hat nicht gezählt.“ „Also gut. Aber mach so etwas nie wieder, klar? Ich meine, das ist doch ekelhaft!“ „Wenn du meinst“, meinte Matt nur mit einem Achselzucken und folgte Mello in den Speisesaal. Von dem Tag an hatte Matt nie wieder geweint oder sich verkrochen. Zwar schwänzte er hin und wieder mal den Sportunterricht und saß lieber im Haus und spielte Videospiele, anstatt draußen mit den anderen zu spielen. Das änderte aber nichts daran, dass er sich weiterhin an Mello hielt. Sie teilten sich ein Zimmer, sie lernten zusammen und saßen auch im Unterricht immer nebeneinander genauso wie bei den Mahlzeiten. Sie waren wirklich unzertrennliche Freunde geworden und auch wenn Matt sich mit diesem Kuss eine echt merkwürdige Aktion geleistet hatte, akzeptierte Mello ihn weiterhin als seinen besten Freund. Er versuchte es als einfachen Kuss unter Freunden abzutun und die Sache damit einfach zu vergessen. Aber komischerweise bekam er jedes Mal ganz merkwürdiges Herzklopfen, wenn er an den Kuss zurückdachte. Kapitel 10: Im Inneren von Hell's Gate -------------------------------------- Merkwürdig, dachte Mello, als diese Bilder vor seinem Auge wieder verschwanden und wieder in die Tiefen seines Unterbewusstseins verschwanden. Wie kann ich denn von meiner Zeit in Wammys House träumen, wenn ich doch tot bin? Oder ist es möglich, dass ich wie durch ein gottverdammtes Wunder doch noch überlebt habe? Nein, das ist eigentlich völlig unmöglich. Er erinnerte sich doch, dass er mehrere Meter in die Tiefe gestürzt war. Nie und nimmer hätte er den Sturz überlebt, nachdem er in den Schacht gefallen war. Irgendetwas musste den Aufprall abgedämpft haben. Nur was? Er öffnete die Augen, stellte aber fest, dass es hier drin fast völlig finster war. Lediglich ein paar rote Lampen gaben ein schwaches Licht ab und ein infernalischer Gestank herrschte hier unten. Der Geruch war süßfaulig und brannte in der Kehle, sodass er husten musste. Seine Augen tränten regelrecht und er hatte das Gefühl zu ersticken. Großer Gott, was war das denn bloß für ein Ort? Er versuchte aufzustehen, doch da rutschte der Boden unter ihm ab und er stürzte eine Art kleinen Hügel hinunter. Er landete wieder auf einem weichen Boden, der sich aber wirklich mehr als komisch anfühlte. Und auch hier sammelte sich dieser widerwärtige Gestank, der ihm fast die Luft abschnitt. Ihm wurde erneut schlecht und er wollte aufstehen und möglichst schnell hier raus, doch da durchfuhr ein entsetzlicher Schmerz seinen Körper und er spürte das warme Blut, das seinen Körper hinablief. Ja richtig, er war doch von Jacksons Machete schwer verletzt worden. Ach verdammt noch mal, warum nur musste er in dieses Loch fallen? Wo war er denn bitteschön und wie kam er hier raus? So wie es roch, würde er fast glauben, dass er auf einer Art Müllhalde war. Der Gestank von Verwesung war so infernalisch, dass er das Gefühl hatte, als würde dieser Geruch sich auf seinem gesamten Körper ausbreiten wie ein Parasit. Als würde der Gestank in ihn eindringen und ihn bis auf die Knochen damit infizieren, sodass er selbst anfangen würde wie eine Leiche zu stinken. Moment mal… Leiche? Eine böse Vorahnung überkam den 24-jährigen, doch er wagte es nicht, hinzusehen. Angst überkam ihn. Angst vor dem, was er sehen würde, wenn er versuchen würde, den Boden unter seinen Füßen genauer zu erkennen. Oh Gott, bitte lass es das nicht sein, was ich befürchte. Das darf es nicht sein! Mellos Herz begann wie wild zu schlagen, Adrenalin wurde durch seine Adern gepumpt und mit einem Male beherrschte ihn die nackte Todesangst. Langsam sah er herunter und wurde in seiner schlimmsten Befürchtung bestätigt: er lag auf einem Leichenberg. Wirklich überall waren Leichen, die teilweise längst verwest waren. Einige waren mumifiziert, andere hatten sich komplett zersetzt und die Luft war erfüllt vom lauten Surren der Fliegen. Überall wo er hinblickte, sah er Leichen. Leichen von Frauen und Männern, teilweise brutal verstümmelt und zerfetzt, manche von ihnen kaum noch zu identifizieren. Andere sahen aus, als wären sie von Krankheiten dahingerafft worden, nachdem sie ein wochen- bis sogar monatelanges Martyrium hinter sich hatten. Egal wohin er sah, er sah nichts als Leichen und riesige Fliegenschwärme, die ihre Larven in den verrottenden Körpern der Insassen abgelegt hatten. Dieser Anblick war endgültig zu viel für Mellos Psyche nach dem Horror, den er schon vorher erdulden musste. Dieser Ort hier… diese fleischgewordene Hölle war schlimmer als alles, was er sich in seinen schlimmsten Alpträumen jemals hätte ausmalen können. Er schrie entsetzt auf und wollte nur noch eines: aus diesem Alptraum aufwachen. So einen Ort konnte es doch nie und nimmer wirklich geben. Nein… er wollte das nicht glauben. Er wollte das alles nicht mehr eine Sekunde länger ertragen, ja er wollte nur noch schnellstmöglich raus hier und weit weg von diesem Ort. Warum nur hörte das nicht endlich auf? Wieso nur musste das alles passieren und womit hatte er das hier verdient? Mello versuchte aufzustehen, doch seine Beine gehorchten ihm kaum noch. Er hatte bereits viel Blut verloren und spürte, wie ihm langsam kalt wurde, obwohl dieser Ort warm und stickig war. Ihm war speiübel und wenn er sich nicht vorhin schon erbrochen hätte, dann hätte er es spätestens jetzt getan. Irgendwo hörte er Stimmen. Er hörte das qualvolle Stöhnen von Menschen, die noch lebten und die hier zum Sterben hinuntergeworfen worden waren und die nun hier qualvoll und elendig hier krepieren mussten. Hier in dieser stinkenden und verwesenden Hölle, wo es nichts gab als den Tod. Was für ein Horror. Tränen der Verzweiflung kamen ihm. Er wollte hier drin nicht sterben. Es musste doch irgendwie einen Weg geben, der hier rausführte. Horace hatte doch gesagt, dass es irgendwo einen Luftschacht gab oder etwas anderes in der Art. Ja, er musste diesen Luftschacht finden und hier raus. Wenn er den Luftschacht erreichte, hatte er vielleicht noch eine kleine Chance, hier rauszukommen und zu verschwinden. Mit Mühe versuchte er sich an dem Leichenberg hochzuziehen, doch da packte ihn etwas am Arm und er sah in das schmerzverzerrte Gesicht eines Mannes, der unter unzähligen Leichen eingeklemmt war. Er hatte keine Augen mehr, sondern nur noch zwei blutige Löcher. „Hilf mir“, flehte er Mello an. „Ich will hier nicht sterben. Hilf mir bitte.“ Doch Mello wusste, dass er diesem Mann nicht helfen konnte. Sein Körper war inzwischen so schwach, dass er selbst in Zweifel geriet, ob er es selbst überhaupt schaffte, hier wieder rauszukommen. „Lass mich los! Loslassen!“ rief er und versuchte sich aus dem Griff des Mannes zu befreien. Doch da streckten noch andere ihre Hände hilfesuchend nach ihm aus. Viele von ihnen waren schwer verletzt, einige mehr tot als lebendig und ihre verzweifelten und kraftlosen Hilferufe erfüllten das Innere dieser entsetzlichen Ebene. Das war also Hell’s Gate… Die Hölle auf Erden. Nie hätte Mello sich vorstellen können, dass es so einen Horror wirklich geben könnte und er selbst noch ein Teil davon wurde. Und er wusste nicht, was in diesem Moment schlimmer war. Die Angst vor diesem Ort, oder die Verzweiflung, dass er kaum noch stehen konnte und tief in seinem Herzen wusste, dass er hier genauso elendig verrecken würde wie die anderen, die ihn um Hilfe anflehten. Auf dieser menschlichen Müllhalde, wo er mit hunderten von Leichen verrotten würde. Er wollte es nicht akzeptieren und kämpfte sich weiter. Obwohl die Lichtverhältnisse so schwach waren, dass er kaum etwas sehen konnte, wollte er nicht aufgeben. Es konnte doch nicht sein, dass er zwischen all den Leichen inmitten dieses infernalischen Verwesungsgestanks krepieren würde wie ein Straßenköter. Nicht auf dieser Leichendeponie, wo alles verfaulte und verweste. Tränen der Verzweiflung sammelten sich in seinen Augen, er versuchte sich durch dieses Leichengebirge zu kämpfen, doch da verließ ihn endgültig die Kraft und er brach zusammen. Die Erschöpfung und der Blutverlust waren zu groß, als dass sein Wille zu überleben dagegenhalten konnte. Sein Körper hatte seine Grenzen erreicht und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er verloren hatte. Er würde hier sterben… Sein Körper würde aufgrund des hohen Blutverlusts einen Schock erleiden, sein Kreislauf würde endgültig den Geist aufgeben und er würde dann einfach sterben. Nie hätte er sich träumen lassen, dass es mal so mit ihm zu Ende gehen würde. Natürlich hatte er gewusst, dass kein feierliches Staatsbegräbnis auf ihn warten würde. Keine Familie, die um ihn trauerte und kein mit Blumen geschmückter Sarg. Aber das war für ihn nicht schlimm gewesen. Er hätte auch nichts dagegen gehabt, in einer Hintergasse zu sterben, nachdem ein Räuber oder irgendjemand anderes ihm eine Kugel durch den Schädel gejagt hatte. Es wäre ihm egal gewesen. Aber um nichts in der Welt wollte er in dieser Hölle sterben. Was für ein Horror, dachte er und lag nun da zwischen all den Leichen. Dem Tod ins Auge blickend und mit Tränen in den Augen. Und ich hatte nicht einmal die Chance, Matt wiederzusehen und ihm zu sagen, wie sehr es mir leid tut, dass ich ihn damals geschlagen habe. Ich werde nie wieder die Gelegenheit bekommen, um ihm zu sagen, wie lange ich nach ihm gesucht und was ich mir für Sorgen um ihn gemacht habe. Geschweige denn, dass ich ihm jemals sagen kann, wie sehr ich ihn vermisst habe. Ich werde nie erfahren, was er alles erleben musste und wie es ihm geht. Nein, stattdessen verrecke ich hier auf dieser stinkenden Mülldeponie aus Menschen, bis auch mein Körper langsam verrottet und nur noch als Fraß und Brutstätte für die Fliegen dient. So hatte er sich sein Ende wirklich nicht vorgestellt. Er spürte, wie seine Augenlider langsam schwer wurden und er immer schwächer wurde. Lange würde es wohl nicht mehr dauern, bis er starb. Zumindest nahm er keine Schmerzen mehr wahr. Ein Zeichen dafür, dass allmählich der Schockzustand eingesetzt hatte. In dem Fall würde es sich wohl nur noch um wenige Minuten handeln, bevor es auch für ihn zu Ende ging. Matt… es tut mir alles so unendlich leid. Ich wünschte, ich hätte dich wenigstens noch ein allerletztes Mal sehen und ein allerletztes Mal deine Stimme hören können, bevor ich sterbe. Aber wenigstens hatten wir eine tolle Zeit zusammen, bis vor vier Jahren… Langsam schlossen sich Mellos Augen, aber auch nur für kurz, als er plötzlich eine Bewegung wahrnahm und sein Bewusstsein zurückkehrte. Etwas näherte sich ihm und nur verschwommen erkannte er eine Kapuzengestalt, die an ihn herankroch und ihn anstarrte. Aufgrund der Kapuze konnte er das Gesicht nicht sehen, aber er konnte dennoch hören, wie dieses Wesen leise schnüffelte. Moment mal… das war doch dieser komische Kapuzentyp aus dem Asylum. Was hatte er hier zu suchen? Und was wollte er von ihm? Vielleicht ist er ja Kannibale und checkt ab, ob ich wirklich genießbar für ihn bin, dachte Mello sich. Das würde zu seinem größten Unglück noch fehlen. Doch dann streckte das Wesen mit der Kapuze seine Hand aus und… strich sanft über seine Wange. Diese Hand fühlte sich eiskalt an, so wie die einer Leiche. Mello hörte den rasselnden Atem der Kreatur und dann eine heisere Stimme. Ja, sie versuchte zu sprechen… „M… Mi… ha…“ Wie? Was hatte das Wesen gerade gesagt? „Mihael…“ Mello konnte es nicht fassen, als diese Kreatur doch tatsächlich diesen Namen gesagt hatte. Seinen wahren Namen. Aber wie war das möglich? Woher kannte es denn bitte seinen richtigen Namen? Es gab doch nur eine Person, die… Matt, schoss es Mello durch den Kopf. Konnte es wirklich sein, dass dieser Kerl da vielleicht Matt sein konnte? War das wirklich möglich? Mello wollte etwas sagen, doch selbst dazu hatte er nicht mehr die Kraft. Es fiel ihm ja schon schwer genug, überhaupt bei Bewusstsein zu bleiben. Er sah, wie das Wesen die Hand zu seiner Kapuze führte und dann biss es sich selbst in die Hand. Ja, es biss so fest zu, dass seine Zähne die Haut durchbohrten und Blut herausquoll. Oder zumindest wäre Blut geflossen, doch stattdessen tropfte eine schwarze zähflüssige Masse heraus, die irgendwie von der Konsistenz her an Kleister erinnerte. Dann drückte es Mellos Kiefer mit seiner anderen Hand gewaltsam auseinander und ließ diese dickflüssige Masse in seinen Mund tropfen. Es schmeckte widerwärtig und nur im Ansatz nach Blut. Mello wollte sich dagegen sträuben, doch das Wesen hielt ihm Mund und Nase zu und zwang ihn dazu, dieses Zeug zu schlucken. Erst als er alles heruntergewürgt hatte, ließ es von ihm ab und biss sich erneut gewaltsam in die Hand, woraufhin es wieder blutete. Dieses Mal war sein Blut jedoch nicht mehr so zähflüssig wie zuvor und nachdem es genug geblutet hatte, schob es Mellos Shirt hoch und ließ sein Blut auf die Wunden tropfen. „Wa-was machst du da?“ brachte der 24-jährige mit unsäglicher Mühe hervor, nachdem er mehrmals krampfhaft husten musste. Das Wesen hob kurz den Kopf, um ihn anzusehen, doch es antwortete nicht. Es versuchte zwar irgendwie Worte zu formen, doch offenbar war es der menschlichen Sprache nicht mächtig. Fraglich war, ob es ihn überhaupt verstanden hatte. Nachdem es genug von seinem Blut in Mellos Verletzung an der Seite hatte tropfen lassen, widmete es sich nun der Bauchverletzung zu, die wohl am schwersten war. Mello begriff nicht ganz, was das Wesen mit dieser Aktion bezweckte. Wollte es irgendwie auf eine sehr unbeholfene Art und Weise Blut spenden? Wer oder was war dieses Ding eigentlich und woher kannte es seinen richtigen Namen? „Mihael“ brachte das Wesen mit großer Mühe hervor und strich wieder mit seiner unversehrten Hand über Mellos Kopf. Schließlich ließ es im Anschluss noch etwas von seinem Blut auf die Kopfwunde tropfen, die sich Mello ebenfalls zugezogen hatte und dann sah Mello das Unfassbare: mit einem Mal hörte die Wunde bei diesem Wesen auf zu bluten. Von einer Sekunde zur anderen stoppte die Blutung und das Blut selbst schien von der Haut einfach absorbiert zu werden. Was zum Teufel war das nur für ein Monster? Das war doch nie und nimmer ein Mensch! Mello spürte, wie ihm immer kälter wurde. Eine innere Kälte breitete sich in seinem Körper aus und seine Gliedmaßen begannen zu zittern. Ihm war so furchtbar kalt, als würde ihm buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren. Es schnürte ihm die Lungen zu und er bekam kaum noch Luft. Es war kalt… so verdammt kalt, dass es fast schon schmerzhaft war. Großer Gott, was passierte da nur gerade mit ihm? War das der Blutverlust oder hatte dieses Wesen etwa damit zu tun, dass es sich anfühlte, als würde er innerlich erfrieren? Er rang keuchend nach Luft und kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Vor seinen Augen verschwamm alles und er fürchtete, dass er gleich noch das Bewusstsein verlieren würde. Doch er hatte Angst davor, denn er wusste nicht, was passieren würde. Was hatte diese Kreatur nur mit ihm vor und was würde ihm bevorstehen, wenn er wieder aufwachte? Wäre er dann immer noch hier in dieser Hölle oder würde ihn vielleicht doch ein kleines Wunder retten und er musste nicht hier sterben? Innerlich hoffte er es ja, doch nach dem Martyrium, das ihn seit seiner Ankunft in Down Hill widerfahren war, verlor er so langsam den Glauben daran. Hier in diesem Gefängnis, welches nichts anderes war als ein gigantisches Grab, gab es keine Hoffnung, genauso wie es keinen Lichtschimmer gab. Der Tod hier war nur noch eine Frage der Zeit. Dieser Ort war die Hölle. Es war eine von Menschenhand erschaffene Hölle, in der die Starken die Schwachen unterdrückten. Dieser Ort machte aus Menschen Ungeheuer… Mellos ganzer Körper verfiel in ein unkontrolliertes Zittern, teilweise verkrampften sich seine Muskeln und wieder spürte er diese entsetzlichen Schmerzen. Er stöhnte gequält auf und fragte sich, ob dies jetzt vielleicht sein Ende war. War das hier vielleicht die so genannte Todesagonie, die er noch erdulden musste, bevor es mit ihm zu Ende ging? Er wusste nicht, wie lange dieser Zustand andauerte. Vielleicht nur ein paar Sekunden, womöglich aber auch Minuten. Dann ließ es langsam wieder nach. Diese quälende innere Kälte schwand und mit ihr auch die Krämpfe und das heftige Zittern. Erschöpft lag er da und spürte nur noch, wie diese zwei eiskalten Hände ihn packten und wie er hochgezogen wurde. Was passierte denn jetzt mit ihm? Wollte es ihn etwa von hier wegbringen? Ja aber wohin? Mello hatte nicht mehr die Kraft dazu, sich noch weiter darum Gedanken zu machen. Vor seinen Augen verschwand alles in eine tiefe Dunkelheit. Doch bevor er endgültig das Bewusstsein verlor, schaffte er es noch, ein paar letzte Worte zu sagen. „Matt… es tut mir leid…“ Das Wesen hielt kurz inne, so als hätte es tatsächlich diese Worte verstanden. Es sagte aber nichts, es brachte nur ein heiseres „Mihael“ zustande und lud sich dann den Bewusstlosen über die Schulter. Kaonashi wartete ungeduldig am Eingang zum Westblock auf Horace und fragte sich, warum das wohl so lange dauerte und ob vielleicht etwas schief gelaufen war. Dann aber hörte er Schritte und sah Horace herbeieilen. Er war ziemlich aus der Puste und musste erst einmal wieder zu Atem kommen und sich von dem Spurt erholen. „Was ist passiert? Sind die beiden hinter dir her gewesen oder warum bist du so gerannt?“ „Umbra“, brachte Horace hervor und musste sich an der Wand abstützen. In so einem Zustand hatte Kaonashi ihn selten gesehen und dabei war Horace ein verdammt guter Läufer. Er musste wirklich um sein Leben gerannt sein. Und als er auch noch hörte, dass die Ursache dafür Umbra war, setzten bei ihm die Alarmsignale ein. „Hat es dich attackiert oder verletzt?“ „Nein. Es war offenbar hinter Sigma her, frag mich aber nicht wieso. Ich war gerade dabei, mich mit ihm ein wenig zu zanken um deinem Rookie genug Vorsprung zu verschaffen, da kam auf einmal Umbra auf uns zu. Es hat dann irgendwie geschnüffelt, als wolle es eine Fährte aufnehmen und dann hat es uns verfolgt. Sigma und ich haben die Beine in die Hand genommen und sind abgehauen, aber dann hat sich Umbra auf ihn gestürzt und ich hab natürlich die Gelegenheit genutzt und bin abgehauen. Zuerst wollte ich zu den Treppen hin, aber da kam mir auch schon Scarecrow Jack entgegen und hat mich durch das halbe Asylum gejagt. Ich konnte ihn schließlich abhängen und das offenbar mit Erfolg. Tja und jetzt bin ich eben halt ziemlich aus der Puste. Mann… ich glaub, ich bin schon lange nicht mehr so gerannt, seit ich 16 Jahre alt war.“ „Und Mello?“ „Den hab ich nicht gesehen. Wahrscheinlich kommt er gleich, oder aber er hatte das Pech und ist Jack in die Arme gelaufen.“ Langsam aber sicher kam Horace wieder zu Atem, musste aber dennoch eine kurze Verschnaufpause einlegen, bevor er weitergehen konnte. Diese Flucht durch das ganze Asylum war nicht ohne gewesen und selbst für einen fitten Läufer wie ihn anstrengend. „Und ich konnte mich nicht mal warm machen“, beklagte sich der Schauspieler. „Das gibt morgen sicher Muskelkater.“ „Na jetzt hast du dir ja deinen Feierabend verdient und jetzt hör auf zu jammern. Du kriegst ja noch deine Belohnung für die Mühe, die du dir eigentlich gar nicht erst hättest machen müssen.“ „Ach was. Wenn es für dich ist, tu ich es doch gerne, Kao. Und was jetzt? Willst du noch warten und sichergehen, dass dein kleiner Rookie-Freund auch den Weg findet?“ Diese Frage beantwortete Kaonashi mit einem klaren „Nein“. „Ich habe ihm genug Hilfestellung gegeben und wenn er es nicht schafft, ist es nicht meine Schuld. Nur was mich interessieren würde wäre, was Umbra denn im Asylum zu suchen hatte und was es von Sigma will. Knapp sechs Monate war es wie vom Erdboden verschluckt, taucht urplötzlich im Asylum auf und das zu dem Zeitpunkt, wo dieser Mello auftaucht.“ „Du vermutest einen Zusammenhang?“ Unsicher zuckte Kaonashi mit den Schultern und auch Horace war etwas skeptisch. Es konnte reiner Zufall gewesen sein, dass Umbra genau zu dem Zeitpunkt zurückkehrte, wo dieser Mello nach Down Hill gebracht wurde. Die Wahrscheinlichkeit eines Zufalls war auch sehr hoch, aber andererseits hatten sie beide im Hinterkopf, dass Nine deutliches Interesse an Mello gezeigt hatte. Und in dem Fall hatte das alles auch seine Gründe. „Was sollen wir jetzt machen?“ „Wir gehen zurück. Ich hab genug getan und ich hab auch nicht sonderlich Lust, noch weiter hier dumm rum zu stehen. Ich bin ja auch nicht die Gefängnis-Nanny.“ „Das klingt schon mehr nach dir“, rief Horace zufrieden und klopfte ihm auf die Schulter. Gerade wollten sie sich auf den Weg in Richtung Ostblock machen, da bemerkten sie, dass da jemand aus der Richtung des Westblocks herbei kam. Kaonashi und Horace wandten sich um und sahen, dass es Umbra war. Und er hatte jemanden bei sich. Kaonashi reagierte sofort und stellte sich schützend vor Horace. Da Umbra absolut unberechenbar war, wollte er lieber kein Risiko eingehen. „Was willst du damit?“ Damit wies er auf den augenscheinlich leblosen Körper und als er genauer hinsah, erkannte er, dass es Mello war. Offenbar hatte es ihn schlimm erwischt. Umbra antwortete nicht, sondern setzte den Bewusstlosen vorsichtig auf dem Boden ab und strich mit seiner totenbleichen und eiskalten Hand vorsichtig über dessen Gesicht. Kaonashi trat näher und sah sich das Ganze näher an. „Ach du Scheiße“, murmelte er. „Das sieht böse aus.“ Nun kam auch Horace dazu und sah die Verletzungen und vor allem das kalkweiße Gesicht. „Lebt er überhaupt noch?“ Kaonashi fühlte den Puls und tatsächlich: Mello lebte, wenn auch nur gerade eben noch. Aber dann fiel ihm der Geruch auf und sofort wandte er sich seinem Begleiter zu. „Bleib lieber weg von ihm.“ „Wieso? Was ist?“ fragte der Schauspieler irritiert und ging sofort zwei Schritte zurück. „Es riecht stark nach Verwesung. Ich vermute mal, er ist einen der Schächte hinuntergestürzt und im Hell’s Gate gelandet.“ „Shit“, rief Horace und wich nun noch weiter zurück. „Und was jetzt? Der Typ braucht dringend einen Arzt. Sollen wir ihn zu Clockwise bringen?“ „Nein. Es wäre besser, wenn er nach Efrafa kommt. Die haben dort eine Quarantänestation im Gegensatz zu uns. Im schlimmsten Fall wird eine Seuche ausbrechen, wenn wir nicht aufpassen. Ich schlage vor: ich bring ihn eben bis vor die Tür, du gehst schon mal zurück und stellst dich unter die Dusche. Das letzte, was wir riskieren können, wäre eine Seuche.“ „Und du willst ihn allen Ernstes nach Efrafa bringen, obwohl der Doktor dort ist?“ „Helmstedter steht unter der Beobachtung des Untergrunds. Zwar beschützen sie dieses Monster, aber solange die in der Nähe sind, wird es Helmstedter nicht wagen, dem Jungen was anzutun. Etwas anderes wäre glatter Selbstmord und würde gar nicht zu ihm passen.“ „Hm… auch wieder wahr.“ Damit ging Horace und so wandte sich Kaonashi Umbra zu, als er dabei war, sich den bewusstlosen Mello auf den Rücken zu laden. „Ich werde ihn in Sicherheit bringen. Keine Sorge, es wird ihm gut gehen.“ Umbra reagierte nicht, sondern schien Kaonashi viel eher zu beobachten. Dann aber begann es offenbar zu verstehen, was sein Gegenüber vorhatte und erhob sich, dann schlich es in Richtung Westblock davon. Kaonashi seinerseits machte sich auf den Weg zum Ostblock. „Das ist ja mal interessant“, murmelte der Maskierte und ein listiges Grinsen spielte sich über seine Mundwinkel, was aber niemand hätte sehen können. „Da scheint Umbra doch tatsächlich an dir interessiert zu sein, mein Lieber. Wirklich erstaunlich. Du bist kein Schlüssel und auch kein M.O. und trotzdem: kaum bist du hier, wirkst du wie ein Magnet auf Umbra. Warum wohl? Tja, das werde ich auch schon noch herausfinden. Und wer weiß… vielleicht bist du ja noch ganz nützlich für uns. Und dann werde ich auch endlich herausfinden, was der Doktor im Schilde führt und was es mit Umbra auf sich hat. Ich glaube, wir zwei werden uns noch öfter treffen, mein lieber Mello. Aber du kannst dich wirklich glücklich schätzen. Du hast echt mehr Glück als Verstand und bis jetzt kenne ich niemanden, der das Hell’s Gate jemals lebend verlassen hat.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)