Sonorités de troi von Hielo ('Carneval du Vagues') ================================================================================ Kapitel 3: 3. Vertu ------------------- „Was soll das heißen, du spielst nicht? Ich dachte...“ Die Proben für den Karneval liefen seit der Bekanntgabe der Auserwählten auf Hochtouren. Teilnehmer um Teilnehmer bekam spezielle Tutoren und Trainingseinheiten zugeteilt und die Übungen gingen häufig bis in die späte Nacht. Eine Behilfsbühne wurde zur Verfügung gestellt, da sich der eigentliche Ort des Spektakels noch im Aufbau befand. Océan und die Anderen schliefen jetzt in einem schicken, kleinen Hotel nahe der Festhalle, damit sie stets abrufbereit waren. Nicht, dass sie das stören würde, aber ihr schlechtes Gewissen holte sie immer wieder ein. So auch zwei Wochen vor dem großen Tag, als Flaque ihre beste Freundin im Stich lies. „Es geht einfach nicht, Océan...Es tut mir schrecklich Leid, aber...“ „Nichts 'aber'! Was soll ich denn jetzt machen? Nur du kennst doch unsere Noten, unseren Ablauf...“, ihre Stimme zitterte vor Wut und Trauer und Unverständnis. Sie wusste nicht, was sie denken oder tun sollte und schließlich war sie wie ein erschrockenes Tier davongerannt. Es war entschieden, einfach so und ohne weitere Erklärung. Flaque würde nicht den Klavierpart für ihren Auftritt spielen und Océan stand nun ohne Rückendeckung da. Nach dem erschütternden Gespräch war sie zu ihrer Trainerin gelaufen und hatte nach Ersatz gefragt, woraufhin diese sofort sämtliche Hebel in Bewegung setzte. Glücklicherweise hatte das Mädchen mit ihrer Vertrauten eine echte Spezialistin an die Hand bekommen, sodass sie sich keinerlei Gedanken um ihren Auftritt machen musste. Selbstverständlich rotierte ihr Kopf voller Irrungen und Dingen, die sie einfach nicht verstehen wollte. Zuerst Cas und nun sogar Flaque. Die zwei wichtigsten Personen in ihrem Leben hatten sie bei der Erfüllung ihres Traums im Stich gelassen. Sie fühlte sich allein, ohne Schutz in dem riesigsten Schneesturm, den sie je erlebt hatte.Und wenn Océan vor etwas Angst hatte, dann vor dem Alleinsein. Ihre Familie, welche Océan so oft es die Zeit erlaubte besuchte, gab ihr gewiss Halt, doch ohne ihre besten Freunde fehlte etwas Entscheidenes. Von Cas hörte sie nur Geflüster. Sein Vater setzte sich wie ein Berserker dafür ein, dass sein Sohn eine namenhafte Rolle im Karneval bekam. Ob diese Unternehmungen allerdings Früchte getragen hatten, wusste Océan nicht, dazu war das Getuschel der anderen Mädchen zu leise gewesen. Sie wollte ihn sehen und mit ihm reden. Ihn fragen, wie es ihm ging und dann einen witzigen Spruch über sein Bein klopfen, obwohl ihr das eigentlich nicht zustand. Der Gedanke brachte sie zum lächeln, während sie in ihrem Hotelzimmer an der Kommode hockte. Vielleicht würde sie ihn während des Karnevals treffen und sich dann noch einmal bei ihm entschuldigen. Für ihre Dummheit und ihren Neid. Ihr Blick glitt aus dem Fenster. Die weiß-grauen Straßen der Hauptstadt waren überschüttet mit Girlanden, Bannern, Glanz und Gloria. Alles glitzerte vor Farben und Frohsinn, sodass man unweigerlich zum Schmunzeln gebracht wurde, verlor man sich auch nur einen Wimpernschlag in dem bunten Gewimmel. Menschen aus den verschiedensten Regionen der Welt tummelten sich vor den künstlerischen Gebäuden, bestaunten die eigenwillige Architektur, die krummen Fenster und die, oft mit Eis verkleideten, Fassaden. Océan entdecke dunkelgrüne, strenge Uniformen der Terramanen, einige der roten, reichlich bestickten Festroben der Pyromanen und auch mit Federn geschmückte, charmante Kleider der Aeromanen. Sogar eine kleine Gruppe unsicherer Lumiomanen stach mit ihren grellen, gelben Gewändern aus der Menge heraus, obwohl sie das vermutlich gar nicht wollten. Ihr Anblick stimmte die junge Aquamanin wieder etwas fröhlicher. Einige Jahre vor Océans Geburt, wurde das friedliche Volk der Lumiomanen durch einen katastrophalen Vorfall mit ihrem Bruderstamm, den Noctomanen, beinahe ausgelöscht und seitdem trauten sie sich kaum mehr aus ihrer Heimat, dem zentralen Kontinent, heraus. Was nur verständlich war, viele Städte waren zerstört oder beschädigt und auch mit Hilfe der anderen Stämme gingen die Arbeiten nur langsam voran. Seitdem hatten sich die Lumiomanen so weit wie möglich abgeschottet, aus Angst und wohl auch aus dem Bedürfnis nach Ruhe. Auf dem letzten 'Carneval du Vagues' waren ebenfalls einige Lumiomanen anwesend, doch damals hatte Océan sie nicht zu Gesicht bekommen. Einen Noctomanen zu sehen kam ihr nur ganz kurz in den Kopf. Wenn einer von ihnen hier war, dann ganz sicher in Verkleidung und illegal. Doch all das waren nur Ablenkungen, die von ihrem Verstand verzweifelt abgerufen wurden, um ihre Aufmerksamkeit vom Unausweichlichen zu entfernen. Natürlich vergeblich, denn hinter ihr lauerte das Gewand ihres Sieges. Die Näherinnen, welche dieses Jahr für die Kostüme der Solotänzer verantwortlich waren, hatten sich einmal mehr selbst übertroffen. Ein weicher, dünner Seidenstoff, der mit einer besonderen Muschelart in ein zartes Hellblau gefärbt worden war, schmiegte sich an den Oberkörper der Aufstellpuppe im hinteren Teil des Zimmers. Allein dieses Kleidungsstück war sicherlich mehr wert, als alles was Océan bisher gesehen oder besessen hatte. Ganz zu schweigen von dem Schmuck, welcher als Zierde an vielen Ecken und Enden angenäht war. Auch die dazugehörigen blauen und schwarzen Röcke mit den feinen silbernen Verzierungen waren sicherlich aus Seide angefertigt worden, der leichte Schimmer verriet die hohe Qualität des exotischen Produktes. Seide wurde von Funkenraupen gewonnen, welche ausschließlich auf dem westlichen Kontinent der Pyromanen zu finden waren und die Zucht war kein sonderlich leichtes Unterfangen. Zu Stoff versponnen wurde das wertvolle Material in den Maschinen der Aeromanen auf dem nördlichen Kontinent und gefärbt schließlich bei den Aquamanen im Osten der Welt. So hatte dieses Tanzerinnenkleid schon deutlich mehr von der Welt gesehen als Océan. Bis vor ein paar Wochen hätte sich das Mädchen sicherlich kaum bändigen können, bei dem Gedanken, in diesem wundervollen Kostüm endlich dort zu stehen, wo sie Menschen aus aller Welt sehen konnten. Und sie hätte sie mit ihrem Tanz berühren und verzaubern können, sodass sie gesagt hätten, sie würden dieses Schauspiel bis zu ihrem Tode nicht vergessen. Stattdessen hockte Océan hier, mit unendlich schwerem Herzen und weinte still über ihre Einsamkeit. Der große 'Carneval du Vagues', das Spektakel, welches die Stämme vereinte, begann mit einem schüchternem Sonnenaufgang und reichlich Nebel auf den Straßen. Einige Nachteulen, welche sich in den Bars und Lokalitäten amüsiert hatten, trotteten torkelnd zu ihren Übernachtungsmöglichkeiten und würden vom eigentlichen Fest sicherlich nicht das mitbekommen, was sie sich gewünscht hatten. Die Straßen füllten sich rasch mit den verschiedensten Arten von Menschen und die anfängliche Gruppenbildung nach Stämmen war längst herzlichem Miteinander gewichen. Für Océan fing der Tag ebenfalls mit den ersten Sonnenstrahlen an, auch wenn sie vor lauter Nervosität kaum hatte schlafen können. Immer noch hatte man ihr nicht gesagt, wer ihre Klavierbegleitung an Flaques Statt übernehmen sollte und diese Unsicherheit raubte ihr sämtliche Nerven. Bei der Generalprobe hatte ihre Trainerin diesen Part gespielt, allerdings auf Nachfrage nur unverständliches Dies und Das geantwortet. Letzten Endes war Océan mit einem „Keine Sorge“ unter die Dusche geschickt worden. Perfekt. Eine gefühlte Ewigkeit hantierten nun fleißige Helfer an der jungen Aquamanin herum, energisch darauf fixiert, aus ihr das Highlight des Tages zu machen. Hier wurde eine Puderquaste geschwungen, dort ein Pinsel angelegt, ihr Kleid bis auf das kleinste Detail aufpoliert und penibel drapiert. Als sie sich dann im Spiegel ansah, kam Océan sich vor wie ein seltenes Tier, welches gleich in einem Zirkus auftreten sollte. Die ganze Nacht hatte sie sich positive Gedanken einzureden versucht. Dass das hier doch ihr Traum sei, für den sie so lange und so hart gearbeitet hatte. Dass sie es genießen sollte, wo es nur geht. Doch immer und immer wieder blieb sie an Flaque, aber noch viel mehr an Cascatelle hängen. Sie vermisste ihn so sehr. Als Team wollten sie auf der Bühne stehen und die Massen zum Staunen bringen und nun? „Hallo, Prinzessin! Wie ist die Stimmung, meine kleine Schneeflocke?“ Es gab nur einen Menschen, der Océan so nannte: Ihr Vater Goutte. Und genau dieser kam gerade mit einem breiten Grinsen durch die Tür der Garderobe gepoltert. „Papa! Papa, du bist hier!“, rief Océan aufgeregt, befreite sich von den Helfern und flog dem großgewachsenem, bärtigem Mann in die Arme. „Ich hatte mir so gewünscht, dass du es schaffst herzukommen!“ Ihr Vater lachte herzlich und strich seiner Tochter liebevoll durch das Haar, was die Frisurhelfer unweigerlich in Panik versetzte. „Na hör mal! Als ob ich mir den großen Auftritt meiner süßen Lieblingswelle entgehen lassen würde. Die alten Knacker im Rathaus kommen auch mal ohne mich zurecht, vermutlich sind sie gerade selbst ein Gläschen am heben, haha.“, witzelte Goutte über seine Kollegen. Océans Vater war recht selten zu Hause, aber als Mitglied des Diplomatenstabs der Aquamanen war es nunmal wichtig zwischen den Stämmen hin und her zu reisen und da hatte das brave Töchterchen Verständnis für. Außerdem konnte sie ja immer noch mit Cas oder Mer herumbalgen, wenn sie das Bedürfnis nach maskuliner Spaßmacherei hatte. Eigentlich beneidete Océan ihren Vater ein bisschen dafür, dass er so viel herumkam, doch glücklicherweise hatte er ihr schon vor Langem versprochen, sie mitzunehmen. Natürlich erst, wenn sie alt dafür genug war. „Wie geht es dir, mein Mädchen?“ Sie hatte ihren Vater wirklich vermisst. Jetzt, wo er sie besuchte, wurde ihr das noch klarer. Das grimmige, faltige, runde Gesicht, welches es trotzdem schaffte, eine wohlige, wenn auch respektvolle Wärme auszulösen. Und welches vor allem um keinen Spaß verlegen war. „Ganz gut, eigentlich. Aufgeregt, Kribbeln im Bauch.“, log Océan in der Hoffnung, ihr Vater würde es nicht bemerken. Natürlich tat er das. „Deine Maman hat mir von Cascatelle erzählt. Du machst dir bestimmt Sorgen um den Burschen, hm?“, sprach Goutte und fläzte sich auf einen Stuhl in der Umkleide, behielt dabei aber Océans Hand in seiner eigenen. „Ihr seid schon ein schräges Paar, ihr Zwei.“ Océan errötete leicht, was durch das helle Puder aber kaum zu sehen war. Sie waren ja nicht mal mehr Freunde, geschweige denn ein Team. „Ich habe das Gefühl, es sei alles meine Schuld. Die ganze Sache mit Cascatelles Fuß und so...Ich glaube, da hat sich was verändert. Zwischen uns, meine ich.“, entgegnete Océan zaghaft, ihr Herz zersprang beinahe. Es war nicht nur ein Gefühl. Sie wusste, dass sie Schuld hatte. „Vermutlich erinnerst du dich nicht daran, aber als du und Cas noch klein wart, habt ihr immer auf den Hügeln hinter unserem alten Haus gespielt.“ Océan schüttelte sich kurz und unterbrach dann: „Oah, Papa. Bitte, keine Vergangenheitsfloskeln oder väterlichen Ratschläge mit Bezug auf meine Kindheit, ja? Ich bin mir sicher, das mach es nicht besser.“ Woraufhin Goutte ihr kurzerhand den Mund zuhielt. Die Helfer, die für die Schminke zuständig waren, zuckten sofort schmerzerfüllt zusammen, aus Angst, ihre mühevolle Arbeit würde ruiniert. „Du hast Cas doch gerne, oder?“, fragte Goutte ruhig und mit einer unendlichen Gutherzigkeit in der Stimme, welche den Raum flutete, wie warmes Wasser einen Badetrog. Natürlich hatte sie Cascatelle gerne. Viel mehr, als sie es selbst eigentlich wahr haben wollte, doch ihr Vater hatte, genau wie ihr Bruder zuvor, den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie überlegte, warum dieses 'Mögen' sie nicht davon abgehalten hatte, Cas zu sabotieren. Ihm auf so unfaire Art und Weise wehzutun und dann nicht mal den Schneid zu besitzen, direkt mit ihm darüber zu sprechen. Aber es war so. Sie mochte Cas. Mehr als alle anderen. Ihr Vater streichelte sie einmal mehr über den Kopf und lächelte breit hinter seinem dichten, weißen Bart. „Na hör mal. Seit wann ist mein Kind denn so still und betrübt, wie das Meer am morgen? Kopf hoch. Ich wette alle fünf Kontinente, dass ihr Beide euch wieder fangen könnt. Sowas wie euch sieht man nur selten. Hier ist die große Chance, Cas zu beweisen, was du drauf hast. Mädchen, du tanzt den Solopart beim Carneval du Vagues! Wo ist dein Stolz hin?“ Je länger Goutte sprach, umso lauter wurde seine Stimme und irgendwann schien er fasst vor Enthusiasmus zu brüllen. Die vier Helferinnen wurden merklich kleiner und versuchten sich mit emsigen Aufräumen zu beruhigen, wohingegen Océan ihren Vater nur mit riesigen Augen anstarrte. In ihrem Inneren begann es zu prickeln. Sie brannte mit einer Flamme, um welche sie jeder Pyromane beneidet hätte. Wie dumm sie doch gewesen war. Welch bessere Möglichkeit Cas zu erreichen gab es denn, als auf einer riesigen Bühne vor tausenden von Menschen? Für alle sichtbar würde sie tanzen, wie sie noch nie in ihrem Leben getanzt hatte. Und sie würde diesen Tanz nur ihm widmen. Alle Emotionen, die sie durch Worte nicht ausdrücken könnte, sollte ihr Körper nun für sie wiedergeben. Diese Botschaft würde Cascatelle verstehen, da war sie mehr als sicher. „Hinaus mit dir, du alter, schreiender Seebär! Ich muss mich vorbereiten!“, verkündete Océan, während sie aufsprang und ihren lachenden Vater Richtung Tür schob. Er wusste, wie dankbar seine Tochter ihm war. ~ Die Minuten krochen langsam wie die Flut an Océan vorbei, während sie hinter der Bühne saß und nervös an einem der detailliert verzierten, silbernen Gürtel herumfingerte. Das Feuer brannte nach wie vor in ihr, aber auch ein Profi wie sie bekam vor so einem Auftritt ein wenig Lampenfieber. Die Geräusche ihrer Umgebung nahm sie kaum war, genauso wie das Jubeln des Publikums oder den Gesang der jungen Aquamanin, welche gerade auf der Bühne ihr Bestes gab. Ihre bernsteinfarbenen Augen waren geschlossen, ihre Gedanken konzentriert und vor allem fixiert. Dann spürte sie, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie fuhr herum und hinter ihr stand Flaque. Hübsch sah sie aus. Ihr feines, hellblaues Haar war zu kunstvollen Schnecken geflochten worden, gespickt mit vielen kleinen Eiskristallen und ihre schmale Gestalt wurde von einem beeindruckenden, langen Kleid mit unzähligen Stickereien umrahmt. Das Gesicht war allerdings kaum bearbeitet, lediglich ein dezentes Muster war ihr auf die Schläfen gemalt worden und betonten die rosigen Wangen ihrer besten Freundin, welche sich nun während eines Lächelns leicht verformten. „Hallo, Océan.“, wisperte Flaque hervor, doch anstatt zu antworten umarmte Angesprochene das überraschte andere Mädchen einfach. Wie unendlich gut das tat. „Hallo, meine Flaque...“ „Und? Bist du soweit? Du wirst gleich anmoderiert, nicht wahr?“ Océan nickte bejahend und sagte dann mit selbstsicherer Stimme: „Aber ich bin bereit. Ich fühle mich, als könne ich den Ozean teilen!“ Flaque kicherte kurz. „Ich bin sicher, das wirst du auch.“ „Hör zu, Flaque...Es tu-“ Doch da kam ein Bühnenhelfer auf sie zu und wies Océan an, jetzt Stellung zu beziehen, es würde jeden Moment losgehen. Ein schnelles, aber vielsagendes Drücken der Hände sprach fast alles aus, was hätte gesagt werden müssen, dennoch rief Flaque ihrer Freundin ein 'Viel Spaß' hinterher. „Und nun, sehr geehrte Damen und Herren, präsentieren wir Ihnen eine ganz besondere junge Dame. In Ihrem zarten Alter von gerade mal 14 Jahren trägt sie bereits eine Kraft in sich, die sie nun mit Ihnen teilen möchte. Begleitet von dem besten Pianisten ihrer Generation, werden diese beiden Menschen versuchen, Sie in ihre ganz eigene Welt zu entführen. Hier sind für Sie Océan Mireille und...“ Der Augenblick war da. Die Konzentration perfekt. Die Gedanken vollständig bei der zärtlich einsetzenden Musik. „...Cascatelle Brouillard!“ Die Zeit blieb stehen. Alles war in einen Zustand des kompletten Stillstandes gewechselt, fast wie ein See, dessen Wogen von keinerlei Wind berührt wurden. Hatte sie richtig gehört? Sie konnte sich nicht umdrehen um nachzusehen, ihre Kür begann mit dem Rücken zum Publikum. Nein, sie musste sich fangen. Dieser Augenblick war zu wichtig, um ihn verstreichen zu lassen und ganz langsam flossen die Sekunden wieder dahin. Stetig und beruhigend, wie das Wasser. Ihre Hand bewegte sich und ihr Blick folgte, dann machte sie den ersten Schritt. Dann noch einen und noch einen, bedacht darauf im Rhythmus der Musik mitzuschwingen. Nach den nächsten zwei Schritten war sie in ihren Bewegungen verloren, dachte nicht mehr darüber nach wohin ihre Füße sie trugen, wie sich ihre Arme, ihre Hüfte, ihre Beine bewegten. Jeder ihrer Impulse beherbergte ein Gefühl, so klein und doch so klar sichtbar. Ihre Trauer und Reue darüber, liebe Menschen verletzt zu haben. Ihren Stolz, jetzt hier zu tanzen, trotz ihres hinterhältigen Unterfangen. Aber vor allem ihre unbändige Freude, als sie Cas am Klavier sitzen sah. Mit Hingabe spielte er die ruhigen Töne, in einem Takt, der Océan mit Leichtigkeit beflügelte und ihre Bewegungen unterstützte, wie eine Hand, die geschmeidig einen Pinsel führt. Auf dieser Welle der Noten und Emotionen glitt sie dahin, behütet und warm. Endlos hätte sie weitertanzen können, doch mit einer letzten, eleganten Bewegung verklang die Musik und es wurde still. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. Dann gab es kein Halten mehr. Das Publikum jauchzte vor Entzückung, Blumen wurden auf die Bühne geworfen, Pfeifen und Applaus folgten, die Begeisterung schien keine Grenzen zu kennen. Océan verharrte noch immer schwer atmend in der letzten Pose, erst ganz langsam fand sie zurück in die Realität. Ihre Augen wanderten ohne Umweg sofort auf die rechte Seite der Bühne, dorthin, wo das große, weiße Klavier stand und hinter welchem ein erschöpfter junger Mann hervortrat. Er lächelte. Er lächelte sie an. In seinem Gesicht konnte sie Dinge wie 'Gut gemacht' und 'Ich bin stolz auf dich' lesen. Das lies sie alle Blockaden brechen und sie fiel ihm weinend um den Hals, woraufhin das Jubeln der Masse noch größer wurde. „Du bist da...du bist wirklich da...und du hast gespielt...“, schluchzte sie, vergrub ihr Gesicht in seinem Nacken und klammerte sich an ihm fest, als wäre er der letzte Mensch der Welt. Cas war erst etwas überrascht, schloss sie dann aber ebenfalls in die Arme und strich ihr sanft über Hinterkopf. „Natürlich bin ich da. Als ob ich dir den ganzen Ruhm allein gönnen würde.“, sagte er schelmisch. „Als ob ich dich lange allein lassen könnte...“ Langsam löste sie sich von ihm und schaute in seine schönen braunen Augen. Dabei hatte sie ihn doch alleine gelassen. All die Monate, war sie ihm aus dem Weg gegangen und nie hatte er sich beschwert. Wie dumm sie gewesen war. „Cas...“ „Komm! Wir Zeit, dass wir uns feiern lassen! Ewig werden die nicht mehr applaudieren und der Moderator schaut uns schon ganz böse an.“, meinte Cascatelle, nahm sie bei der Hand und führte sie bis an den Rand der Bühne. Rasch wischte sich Océan die Tränen von den Wangen und genoss den Sturm an Euphorie, der ihr und ihrem Freund entgegengeschleudert wurde. Nachdem etliche Stunden später die Feierlichkeiten abgeschlossen waren, fand das traditionelle Festessen aller Beteiligten und deren Familien statt. Die riesige Halle in der Nähe des Rathauses war dafür mit einem beträchtlichen Buffet ausgestattet worden, welches ohne Probleme ganz Batist satt bekommen hätte. Das war jedenfalls der Eindruck, den Océan von diesem Haufen an leckerem Essen bekam. So stand sie, immer noch in ihrem Kleid, da sie noch keine Zeit hatte sich umzuziehen, an einem der Tische und naschte von den Süßigkeiten, die dort aufgestellt waren. Von dort hatte sie auch einen recht guten Überblick über das Geschehen um sie herum und konnte in aller Ruhe Leute beobachten. Ihre Mutter und ihr Vater unterhielten sich gerade mit einem befreundeten Paar, dessen Gesichter Océan aber nicht wirklich bekannt vorkamen, während Mer mit einem seiner Freunden aus der Hauptstadt tratschte. Vermutlich hatten die Beiden gerade etwas sehr Lustiges ausgetauscht, denn sowohl Mer als auch sein Begleiter lachten herzlich und schlugen sich freundschaftlich auf die Schulter. Allerdings konnte Océan Flaque nirgendwo entdecken. Ihre erste Vermutung, dass ihre beste Freundin wohl schon zu Bett gegangen war, zerschlug sich schnell. Eigentlich war Flaque niemand, der sich solch eine Schlemmerei entgehen lassen würde. Und Océan hatte das Gefühl, dass es noch einiges an Gesprächsbedarf zwischen ihnen gab, warum würde Flaque also nicht erscheinen? Sicherlich hatte sie noch etwas zu erledigen und würde später zu ihr stoßen, oder Océan sah sie in dem Gewusel an fröhlichen Menschen schlichtweg nicht. „Du wirst es nicht glauben, aber Flaque hält gerade ein Schwätzchen mit einer unserer Stammesführerinnen.“ Cas war neben sie getreten und lehnte sich vorsichtig an den Tisch. Sie hatte ihn gar nicht kommen sehen oder hören, sodass sie jetzt hastig den Bissen Kuchen herunterschluckte und sich kurz räusperte. „Wirklich? Warum wohl?“, entgegnete Océan und suchte erneut nach ihrer Freundin. Cas kicherte kurz. „Frag morgen mal nach, das würde ich auch gerne wissen. Es schien aber nichts Negatives zu sein, Flaque strahlte über das ganze Gesicht.“, sagte er. „Und das ist wohl ein gutes Zeichen.“ „Ich hoffe es doch. Verdient hätte sie ein bisschen mehr Aufmerksamkeit allemal.“ Cas summte eine knappe Bestätigung bevor er sie vorsichtig am Handgelenk fasste. „Kommst du eben mit?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten zog er Océan sanft in Richtung Ausgang. Er führte sie durch zwei Treppenhäuser in eine Gartenanlage innerhalb des Gebäudes, wo von Zeit zu Zeit kleinere Konzerte gegeben wurden. Nun war er allerdings menschenleer und von Schneeblumen und anderen schönen Pflanzen bevölkert, welche auf dem westlichen Kontinent wuchsen. In der Mitte des Gartens sprudelte eine kleine, kunstvolle Wasserfontäne, der es wohl noch nicht kalt genug war um zuzufrieren. Dazu gesellten sich einige Schneeflocken, die zu fallen begonnen hatten. Nichts ungewöhnliches, aber es machte die Welt noch ein bisschen stiller, als sie um diese Uhrzeit ohnehin schon war. „Wow...“, sagte Océan leise, aber bewundernd und trat einige Schritte in die unberührte Friedlichkeit, schauderte dann aber und schlang schützend ihre Arme um den Körper. Sie hatte vergessen, dass sie noch ihr Kleid trug und das bot leider nicht sonderlich viel Deckung vor der bitterlichen Kälte. Cas beobachtete sie einen Augenblick, zog dann seinen weißen Frack aus und legte ihn dem frierenden Mädchen um die Schultern. „Danke.“, brachte Océan heraus und schmiegte sich in den weichen Fellkragen, der an ihren Wangen lag. Was für einen prächtigen Anzug man Cascatelle dort geschneidert hatte. Reinweiß, mit silbernen Knöpfen und feinen, blauen Stickereien an den Schwalbenschwänzen und am linken Fußsaum. Die dazugehörige Weste war mit einem wunderschönen, hellblauen Muster versehen, das in perfektem Einklang mit Cas' Charakter und seiner Art zu Klavier zu spielen lag. „Wär doch schade, wenn du dich jetzt noch erkälten würdest, oder?“, sagte Cascatelle lächelnd und riss Océan aus ihren Beobachtungen, brachte sie dadurch aber zum Erröten. „Auch, wenn es etwas schade ist, diesen Anblick bis auf Weiteres zu verdecken.“ „W-welchen Anblick?“ Océan rechnete fest mit einem anzüglichen Kommentar. Irgendetwas über eine spärliche Oberweite oder einen pummeligen Bauch oder einen dicken Hintern. „Dich, du...Doofkopf“ Sie schaute ihn etwas entgeistert an. Was hatte er gesagt? „Dich in diesem Kleid. Es ist wunderbar.“ Es war nicht das Kompliment, das sie so in Schrecken versetzte, sondern dieses eine Wort. Doofkopf. So hatte sie ihn nur ein einziges Mal genannt und zwar als sie bei ihm im Krankenhaus gewesen war. War das ein Zufall? „Womit habe ich das denn verdient? Du bist doch sonst nicht so nett zu mir.“, stammelte Océan unsicher, wich Cascatelles Blick aus und vergrub sich ein Stück tiefer in den Frack. „Nein, tu das bitte nicht. Du weißt genau, worüber ich mit dir reden möchte, Océan, und ich will, dass du mich dabei anschaust.“, erwiderte Cas, jetzt mit einem ernsten Ausdruck im Gesicht. „So habe ich weniger Angst, angelogen zu werden.“ „Du...hast es also mitbekommen? Dass ich da war, meine ich.“, flüsterte sie leise, traute sich aber immer noch nicht ihn wieder anzusehen. Cas nickte. „Die ganze Zeit. Jedes Wort. Alles. Und ich verstehe so wenig davon.“ In seiner sonst so angenehmen Stimme lag ein eigenartiger Unterton, den selbst Océan bis jetzt nur sehr selten gehört hatte und dessen Klang sie verachtete. Aber dieser Ton war es auch, der die Aquamanin dazu bewegte, sich Cas wieder zuzuwenden. Worte kamen ihr allerdings nicht über die Lippen, stattdessen füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie wollte so viel auf einmal sagen. So viel lag ihr in diesem Moment auf der Seele, doch alles steckte in ihrem Hals fest, wie ein großer Knäuel an Gefühlen, der sich einfach nicht lösen wollte. Dabei hatte sie diese Unterhaltung doch gewollt. „Warum?“ Wie konnte ein kleines Wort so viel auslösen? Océan begann zu zittern, obwohl ihr kaum noch kalt war. Dann holte sie tief Luft, erinnerte sich an die Leichtigkeit des Tanzes und öffnete ihren Mund in der Hoffnung, er und ihr Herz würden das Richtige tun. „Ich weiß es nicht. Ich würde dir so gerne eine zufriedenstellende Antwort geben, aber ich weiß selbst nicht, warum. Warum ich dir so weh getan habe, warum ich deine Ausrüstung manipuliert habe und warum ich so feige war, nicht mal Konsequenz für alles zu tragen. Stattdessen hab ich einfach weitergemacht, als sei nichts passiert. Ich hab gehofft, wenn ich dir im Krankenhaus sage, dass ich es war, würde die Last auf meinen Schultern leichter. Doch geholfen hat's gar nichts. Und ich muss jetzt damit leben, dass du mich hasst. Aber bitte glaub mir, ich wollte nie, dass du dich so schwer verletzt. Ich dachte, wenn du siehst, dass deine Ausrüstung kaputt ist, trittst du nicht an. Ich dachte, du kontrollierst alles nochmal bevor du antrittst...ich dachte...“ Dann überschlug sich ihre Stimme und sie konnte nichts mehr sagen. Auch Cas wusste nicht so recht, was er sagen sollte. „Oceán?“ „Ich...war so wütend auf dich. Warum hast du gesagt, ich solle nicht mitmachen? Warum sind wir nicht zusammen angetreten, so wie wir es all die Jahre wollten? Warum hast du mich so im Stich gelassen?“, schluchzte sie, zog die Nase hoch und krallte sich in das warme Fell, doch Cas ergriff wieder ihre Hand. „Weil...ich nicht mit dir zusammen auftreten wollte. Ich hatte Angst vor der Zusammenarbeit mit dir. Ich hatte Angst, dass sich etwas ändern könnte. Zwischen uns, meine ich.“ „Was? Aber genau das hat doch alles geändert! Dass du dich alleine angemeldet hast!“, meinte Océan etwas lauter, als sie eigentlich beabsichtigt hatte. Zögerlich legte Cas ihr eine Hand auf die gerötete, von den Tränen nasse Wange und lächelte sie zärtlich an. „Ich glaube, du verstehst das nicht so ganz. Aber es war klar, dass du mal wieder so langsam im Köpfchen bist.“ Dann trat er einen Schritt näher, beugte sich herunter und platzierte seine Stirn vorsichtig auf der ihren, sodass ihre Augen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. „Weißt du, es ist nicht leicht, Erwartungen zu erfüllen, wenn man das Mädchen, das man mag, die ganze Zeit um einen herum hat. Das lenkt ab.“ Eine Pause folgte. Ein Augenblick, ähnlich dem, den Océan ein paar Stunden zuvor auf der Bühne erlebt hatte. Die Welt schien den Atem anzuhalten. Doch diesmal durchschnitt Cascatelles unsichere Stimme diesen Moment. „Nach dem...Malheur war ich einige Zeit wirklich deprimiert und wütend auf dich. Ich hätte nie erwartet, dass du so weit gehen würdest. In meiner Naivität habe ich dir gesagt, du sollst nicht antreten, obwohl ich doch besser als jeder andere wusste, wie viel dir daran lag. Das tut mir aufrichtig Leid. Ich hatte gehofft, wenn wir nicht zusammen auftreten, legt sich dieses neue Gefühl wieder und es könnte nach dem Wettbewerb und einigen klärenden Worten wieder so weitergehen, wie bisher. Aber das war der größte Irrtum von allen. Denn so einfach besiegt man so ein starkes Gefühl nicht. Nicht durch Verletzungen und nicht durch allen Abstand der Welt. Also habe ich Flaque gebeten, mir den Klavierpart zu überlassen. Das besänftigte nicht nur meine Eltern, sondern ich konnte so vielleicht auch ein bisschen was gut machen, oder was meinst du?“ Nachdem Cas das gesagt hatte, richtete er sich wieder auf und kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf. Océan blieb still, schaute ihn nur mit großen Augen an. Ihren Cas. Ihren dummen, schrecklichen, egoistischen, wunderbaren Cas. „Jetzt sag schon was, das war gerade wirklich peinlich. Ich bin doch sonst nicht der Typ da-“ Anstatt ihn zu Ende sprechen zu lassen, fiel Océan ihrem Freund um den Hals und sie landeten im Schnee. Doch diesmal war es anders, als auf der Bühne. Océan fühlte sich so befreit und so glücklich, wie schon seit Monaten nicht mehr. Nichts beschwerte mehr ihr Herz und nichts riss mehr an ihrer Seele, sodass sie gar nicht anders konnte, als lauthals zu lachen. „Du Doofkopf!“, gluckste sie und bohrte ihr Kinn in Cascatelles Schulter. „Du doofer Doofkopf!“ „Wenn hier einer ein Doofkopf ist, dann du, du Schwerverbrecherin!“, stimmte Cas in ihr Lachen ein. So lagen sie dort und kicherten, bis beiden der Bauch wehtat. Alles war genau so, wie es sein sollte. „Wenn wir das nächste Mal teilnehmen, geht das Ganze aber fair ab, verstanden?“ „Versprochen!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)