Down Hill 2: Efrafa von Sky- ================================================================================ Kapitel 8: Morph und Christine ------------------------------ Geräuschvoll hatte Matt die Türe zugeknallt und fluchte leise vor sich hin und wollte sich gerade hinsetzen, bis er dann merkte, dass Morph und Christine gerade in einem Gespräch waren. Daraufhin wollte er wieder gehen, um sie nicht zu stören, doch da fragte Christine direkt „Alles in Ordnung, Matt?“ Er atmete tief durch und setzte sich zu ihnen. Morph schenkte ihm ein Glas Schnaps ein und klopfte ihm auf die Schulter. „Ist es wegen Mello? Hat er dich schon wieder so beschimpft?“ „Nein“, murmelte der 23-jährige und stürzte den Inhalt seines Glases hinunter. „Es ist nur…“ Er sprach nicht weiter, denn da raste ein strechender Schmerz durch seinen Kopf wie eine glühende Nadel. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste er sich eine Hand gegen die Schläfe. „Es ist nur so, dass ich immer noch so viel Wut in mir habe, dass ich ihm am liebsten eine reinhauen würde.“ „So viel aufgestaute Aggressionen sind nicht gut“, meinte Morph. „Das gibt nur Kopfschmerzen und Magengeschwüre.“ „Manche Dinge brauchen Zeit“, meinte Christine und trank ihr Glas aus. „Ich kann dich verstehen und niemand würde es dir verdenken. Aber sag mal, empfindest du immer noch etwas für ihn?“ Unsicher zuckte Matt mit den Schultern und musste zugeben „Ich weiß es nicht. Früher hab ich ihn geliebt… Aber jetzt ist das Einzige, was ich hauptsächlich fühle, nur Wut und Enttäuschung. Aber sag mal Christine, wie ist die Verfolgung gelaufen? Habt ihr Umbra einfangen können?“ „Leider ein“, gab die Soldatin zu und schenkte sich nach. „Es ist durch den Schacht abgehauen, der nach Hell’s Gate führt. Ich hab aber Hiram Bescheid gesagt, er soll eine Einheit losschicken. Meine habe ich nach Core City geschickt. Vielleicht haben wir ja Glück und finden es. Jetzt erst mal bleibt nur zu hoffen, dass Zain, Fowler, Sniper und Sancho überleben. Irgendwann müssen wir mal einen Treffer landen und Umbra schnappen, damit die ganzen Opfer nicht umsonst gewesen waren.“ Als Christine das sagte, verdüsterte sich ihre Miene. Sie schien sich an etwas Bestimmtes zu erinnern. An schreckliche Dinge, da sie in dem Moment ihr Medaillon umfasste, welches sie um den Hals trug. Sie hatte es nie abgenommen und es war ihr kostbarster Besitz. „Ja die Sache ist nicht gerade einfach“, bestätigte Morph. „Aber wenn ich etwas neues von meinen Informanten habe, werde ich sofort Bescheid geben. Ich bin aber jetzt gleich noch bei Echo. Ich hab ihm versprochen, ihm noch etwas vorzulesen und nach Umbras Angriff ist er sowieso schon ziemlich verschreckt.“ „Dann geh am besten zu ihm. Er braucht dich jetzt.“ Morph betrachtete Matt etwas skeptisch und sah, dass dieser immer noch etwas geladen war und ihm diese plötzlich eingetretenen Kopfschmerzen ziemlich zu schaffen machten. „Und du kommst wirklich zurecht?“ „Ja, schon in Ordnung. Ich brauch nur etwas Ruhe, das ist alles. Kümmere dich um Echo. Er braucht dich jetzt.“ Morph nickte und stand auf, doch er blieb an der Tür stehen. „Wenn er dir weder so wehtun sollte, sag es mir.“ Matt versprach es und damit verließ Morph das Zimmer, um dafür nach Echo zu sehen. So blieben schließlich nur noch zwei Personen im Raum und eine Weile lang schwieg Christine. Womöglich hätte sie etwas gesagt, aber etwas schien sie davon abzuhalten. Stattdessen begann sie nun damit, ihre Waffe zu reinigen. Matt entging dieser innere Zwiespalt trotzdem nicht und so fragte er „Gibt es etwas, das du mir sagen willst?“ „Nicht direkt“, sagte sie knapp und wirkte sehr nachdenklich. „Ich mag nur diese Stille nicht. Genauso wenig wie ich den Lärm hasse. Außerdem musste ich mich an eine Weisheit erinnern, die mir mein Mann immer gesagt hat, als du von deiner Wut Mello gegenüber gesprochen hast.“ „Du bist verheiratet?“ fragte Matt überrascht. Es war das erste Mal seit ihrer Begegnung, dass Christine etwas von ihrer Vergangenheit preisgab. Ihr Blick senkte sich und fast tonlos erklärte sie „Ich war es.“ Eine Zeit lang schwieg sie wieder, bis sie dann sagte „Wenn man jemanden liebt, sollte man sich niemals im Streit von ihm verabschieden. Man sollte sich immer im Guten verabschieden, denn man kann nie wissen, wann der Tag kommen wird, an dem euch der Tod auseinanderreißen wird. Und dann wird man sich den Rest seines Lebens nur Vorwürfe machen, dass man einander so viele schlimme Dinge gesagt hat und man nie wieder die Chance bekommen wird, sich für diese Worte zu entschuldigen.“ „Rätst du mir jetzt etwa, ich soll Mello all die Dinge verzeihen, die er zu mir gesagt hat?“ „Nein. Aber ich glaube, du bist nicht der Einzige, der leiden musste.“ „Was willst du mir raten?“ „Ich bin kein Mensch, der gerne Ratschläge gibt und ich bin auch nicht sonderlich gut darin. Ich bin nur der Ansicht, dass es niemandem etwas bringt, immer nur an diesem Schmerz und diesem Hass festzuhalten. Um nicht an dem Schmerz zu zerbrechen, muss man nach vorne sehen, weder nach rechts, noch nach links. Man darf niemals zurückblicken und sein Ziel aus den Augen verlieren. Und wenn du nicht in der Lage bist, eines Tages dieses Thema zu klären und mit dir selbst ins Reine zu kommen, dann wird es dich dein Leben lang verfolgen wie eine Narbe. Glaub mir, ich weiß genau, wovon ich spreche.“ „Und wie bist du damit fertig geworden?“ „Gar nicht“, sagte sie und irgendwie erschien es Matt so, als wäre sie in diesem Moment gealtert. Hatte sie vorher noch einen vitalen und starken Eindruck erweckt, wirkte sie in diesem Moment abgeschlagen, erschöpft, müde und ausgezehrt. „Es gibt Dinge, denen kann man nicht entfliehen. Und egal wie weit du auch läufst, sie holen dich ein und verfolgen dich unerbittlich wie Erinnyen. Du hast noch Glück. Deine Geister lassen sich bekämpfen und wenn du die Kraft findest, dich mit Mello auszusprechen und ihm zu vergeben, dann wirst du auch mit dir selbst ins Reine kommen. Mein Rat lautet also daher: überleg dir gut, was du tun willst.“ Eine Weile lang sprach keiner von ihnen ein Wort, dann aber erhob sich Matt schließlich, verabschiedete sich und verließ den Raum. Nachdem Christine ihre Pistole gereinigt hatte, setzte sie sie wieder zusammen und verharrte dann für einen Moment, bevor sie die Pistole lud, den Hahn spannte und dann die Waffe gegen ihre Schläfe drückte. Sie schloss die Augen und legte einen Finger um den Abzug. Es war so einfach… es würde so schnell gehen, auf diese Weise zu sterben. Alles, was sie tun musste war, den Abzug zu betätigen. Sie hatte so vielen Menschen das Leben genommen… so viele Kameraden verloren und nie einen Menschen vergessen, den sie getötet hatte oder jemanden, der an ihrer Seite gekämpft und gefallen war. Sie wollte auch niemanden vergessen, den sie getötet hatte. Nicht nur in Down Hill, sondern auch an der Front. Und als sie daran zurückdachte, da hörte sie wieder die Schreie, den Lärm der Bombenangriffe sah von sterbenden Menschen. Männer und Frauen, Alte und Kinder. Wie viele Jahre war seit Operation Nemesis vergangen? Acht Jahre? Trotzdem verfolgten diese Bilder sie noch Tag für Tag und sie hörte die Schreie der Kinder und ihrer Kameraden. Und immer noch konnte sie den Gestank von Schwarzpulver riechen. Wann würde es wohl endlich vorbei sein? Wann würden diese grauenhaften Alpträume verschwinden und sie nicht mehr heimsuchen? Die einzige Möglichkeit war, es selbst zu beenden. Es hatte sich zu tief in ihr Gedächtnis gebrannt und sie wurde jedes Mal daran erinnert, wenn sie wieder die Schreie von Verletzten und das laute Donnern der Gewehrschüsse hörte. Dann war sie wieder mittendrin und es existierte nur noch dieser eine Instinkt in ihr, den sie ihr damals als Mädchen eingedrillt hatten und der zu einem Reflex geworden war, den sie mehr hasste als ihr eigenes Selbst: der Reflex zum Töten. Es würde wieder passieren, das wusste sie. Deshalb war es unumgänglich, dass sie diesen Weg wählte. Allein schon um zu verhindern, dass es wieder passierte so wie damals. Doch etwas hielt sie davon ab. Sie schaffte es nicht, den Abzug zu betätigen und so ließ sie die Waffe wieder sinken. Fast jeden Tag versuchte sie es und doch hatte sie es nie geschafft, diesen letzten inneren Widerstand zu brechen, der sie an dieses Dasein fesselte. Schließlich atmete sie tief durch und legte die Pistole wieder auf den Tisch, dann öffnete sie ihr Medaillon, in welchem sich ein Foto befand. Sie weinte nicht, als sie dieses warmherzige Lächeln auf dem Foto sah, welches sie seit acht Jahren nicht mehr gesehen hatte. Das gütige Lächeln jener Person, die ihr gezeigt hatte, dass sie keine Kriegsmaschine, sondern ein Mensch war. Jene Person, die durch ihre Hand gestorben war. „Es tut mir leid, Amir…“, sagte sie leise und senkte traurig den Blick. In solchen Momenten fragte sie sich, ob ihr Leben vielleicht anders verlaufen wäre, wenn sie Amir nicht kennen gelernt und weiterhin nur eine einfache Soldatin geblieben wäre. Dann hätte es Operation Nemesis niemals gegeben und sie säße jetzt nicht hier in Down Hill und würde auch nicht mit dem Gedanken spielen, sich endlich selbst die Kugel zu geben. Was, wenn es die Einheit Phoenix nie gegeben hätte? Dann hätte sie ein ganz normales Leben führen können, weitab vom Krieg in staubigen Wüsten, wo man jede Sekunde damit rechnen musste, von einer Bombe oder einer Granate in Stücke gerissen zu werden. Schon verrückt, dachte sie sich. Da wollte ich die ganze Zeit dem Schlachtfeld entkommen und damit auch dem Leben im Krieg und was jetzt? Nun führe ich einen ganz anderen Krieg weiter und kämpfe freiwillig an vorderster Front. Tja, es scheint wohl so, als wäre dies das einzige Leben, was ich noch führen kann… auch wenn ich es hasse und am liebsten davor weglaufen würde. Aber ich bin einfach nicht mehr fähig, ein normales Leben zu führen. Christine versuchte sich an ihre Kindheit zu erinnern. An die großen grünen Felder und Hügel und an das Lied, welches ihr ihre Großmutter beigebracht hatte. Und da ihr dieses Lied gerade so passend erschien, begann sie erst die Melodie zu summen und dann aus dem Gedächtnis heraus das alte Lied aus ihrer Heimat zu singen. „Schlaf, schlaf, Zeit jetzt zu schlafen Schlaf, schlaf, Träume kommen zu dir Träume von Frieden und Freiheit So lächle in deinem Schlaf, liebes Kindlein. Einst erklangen unsere grünen Täler Mit Liedern von singenden Kindern Aber nun schreien die Schafe bis zum Abend Und unsere Hütten sind leer und zerstört Schlaf, schlaf, Zeit jetzt zu schlafen Schlaf, schlaf, Träume kommen zu dir Träume von Frieden und Freiheit So lächle in deinem Schlaf, liebes Kindlein Wir standen mit Köpfen zum Gebet geneigt Während Fabriken unsere Häuser zerstörten Die Flammen schwärzten die klare Bergesluft Und viele waren tot bei Tagesanbruch Schlaf, schlaf, Zeit jetzt zu schlafen Schlaf, schlaf, Träume kommen herbei Träume von Frieden und Freiheit So lächle in deinem Schlaf, liebes Kindlein Wo nur bleibt der Mut unseres Hochlandes Unsere Truppen, einst so erbittert im Kampfe Kauern zitternd und ängstlich wie Vieh Und warten darauf, über den Ozean zu segeln Schlaf, schlaf, Zeit jetzt zu schlafen Schlaf, schlaf, Träume kommen zu dir Träume von Frieden und Freiheit, So lächle in deinem Schlaf, liebes Kindlein Es ist sinnlos zu Flehen und Beten Fort, fort ist alle Hoffnung zu bleiben Schlaf, schlaf, der Anker er wartet Weine nicht in deinem Schlaf, liebes Kindlein.“ Morph klopfte vorsichtig an Echos Tür und schaute hinein. Wie erwartet saß dieser zusammengekauert auf seinem Bett, während er Musik hörte. „Oh“, bemerkte der Japaner sofort. „Sieht so aus, als hätte Leaks den CD-Player wieder zum Laufen gekriegt. Und? Was hörst du denn gerade?“ „Ein altes Green Day Album. Hat Blackavar mir gegeben.“ Morph schloss die Tür und setzte sich zu Echo ans Bett. „Du hast dich sicher ziemlich erschrocken, als Umbra aufgetaucht ist, oder?“ Stumm nickte der blinde 16-jährige und seufzte leise. „Ich hatte solch eine Angst, dass es mich töten würde, dass ich einfach nicht mehr wusste, wohin ich gehen sollte. Ich hab mich so hilflos gefühlt, weil ich nichts sehen kann…“ Hierauf nahm Morph ihn tröstend in den Arm und Echo erwiderte die Umarmung sofort. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe dir versprochen, dich immer zu beschützen, egal was auch kommen mag. Und auch jeder andere hier in Efrafa wird nicht zulassen, dass Umbra, die Cohans oder sonst irgendjemand dir etwas antut. Aber es ist in Ordnung, Angst zu haben. Jeder hätte in deinem Fall Angst gehabt. Soll ich heute Nacht bei dir schlafen, damit du dich sicherer fühlst?“ Dieses Angebot versetzte Echo in große Begeisterung und er strahlte daraufhin übers ganze Gesicht. „Wirklich? Du bleibst heute Nacht echt bei mir?“ Morph schmunzelte, als er sah, wie sehr sich Echo darüber freute und streichelte ihm den Kopf. „Na klar. Ich lese dir auch was vor und…“ „Ach kannst du mir nicht irgendetwas aus deinem Leben erzählen, Morph? Ich meine… wir beide sind jetzt schon ein Jahr zusammen und irgendwie erzählst du mir nie etwas über dich, oder zumindest nur ziemlich wenig. Alles was ich weiß ist, dass du 27 Jahre alt und Japaner bist. Und außerdem wollte ich sowieso etwas wissen.“ „Und was?“ „Warum hasst du Mello denn so sehr und bist so fies zu ihm? Ich weiß ja, dass er nicht immer der Netteste ist, aber er ist doch kein schlechter Mensch. Ich meine, Rhyme und Birdie mögen ihn ja auch.“ „Birdie mag doch jeden in Down Hill, weil sie so naiv ist“, merkte Morph an und lachte etwas abfällig. „Sie würde sogar Godzilla mögen. Aber weißt du Echo, ich hasse Mello nicht. Ich hasse keinen Menschen, denn so etwas verzerrt nur die Sicht der Dinge. Es ist einfach so, dass ich seine Ansichten völlig inakzeptabel finde. Er hat damals einige Dinge gesagt und getan, die wirklich schlimm sind und er hat sich insbesondere gegen Homosexuelle sehr abfällig geäußert. Und genau das kann ich einfach nicht ab. Weißt du, in Japan hat man es nicht gerade einfach, wenn man schon recht früh erkennt, dass man schwul ist. Vor allem nicht, wenn die erste Beziehung der eigene Nachhilfelehrer war.“ „Was?“ platzte es aus Echo heraus, als er das hörte. „Du… du hattest was mit deinem Nachhilfelehrer?“ Morph seufzte und nickte. „Ja, ist ziemlich klischeehaft, ich weiß. Ich war 15 Jahre alt, er war knapp doppelt so alt. Mit ihm hatte ich eine etwas kurze Beziehung, bis dann meine Eltern dahinterkamen. Tja und die waren alles andere als begeistert darüber.“ „Kann ich mir vorstellen. Immerhin war der Typ dein Lehrer und doppelt so alt wie du. Naja wobei… du bist ja auch elf Jahre älter. Wenn meine Eltern noch leben würden, die würden auch erst mal umfallen. Das war doch ein Schock in dreifacher Hinsicht für die, oder?“ Dem konnte Morph nur zustimmen. Er lehnte sich mit dem Rücken zur Wand und legte einen Arm um Echos Schultern. „Es gab sehr viele Auseinandersetzungen zwischen uns und dabei haben sie mir auch mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie das nie und nimmer akzeptieren werden. Sie wollten das Gesicht vor der Öffentlichkeit wahren und machten mir klar, dass sie mich verstoßen würden, wenn ich mir weiterhin solche Eskapaden erlaubte. Ich hatte damals nicht den Mut gehabt, mich gegen meine Eltern durchzusetzen und hab deshalb nachgegeben. Nachdem ich mein Studium beendet hatte, suchten sie mir gleich eine Frau aus, die ich heiraten sollte. Zwar war ich gerade mal 20 Jahre alt, aber sie wollten mich so schnell wie möglich verheiraten, um bloß nicht die Kontrolle über mein Leben zu verlieren und mein Leben bloß in die richtige Bahn zu lenken. Ihr Name war Haruna und sie war eigentlich ganz nett, aber mehr als freundschaftliche Sympathie habe ich nie für sie empfunden. Ich konnte keine Frauen lieben, selbst wenn ich gewollt hätte. Und als dann unsere Tochter Kaguya auf der Welt war, da habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich hatte genug davon, mir von meinen Eltern mein ganzes Leben vorschreiben zu lassen und ein Leben zu führen, welches ich nicht leben wollte. Also setzte ich alles auf eine Karte und stand dazu, dass ich schwul bin.“ „Und wie haben sie es aufgenommen?“ „Naja… meine Eltern haben mich daraufhin verstoßen und gesagt, ich solle mich nie wieder bei ihnen blicken lassen und ich wäre für sie gestorben. Ich war in ihren Augen eine Schande für die ganze Familie und Haruna ist natürlich auch aus allen Wolken gefallen. Sie ist ausgerastet und hat mich auch ziemlich beschimpft. Dann machte sie mir klar, dass ich meine Tochter nie wieder sehen würde und hat dann die KEE gerufen, die mich dann auch gleich mitgenommen hat, ohne dass ich mich von meiner Tochter verabschieden konnte. So bin ich hier gelandet.“ Betroffen ließ Echo den Kopf hängen und schwieg. Sein schlechtes Gewissen war ihm deutlich anzusehen, selbst mit den Bandagen. Er fühlte sich schuldig, dass er diese alten Wunden aufgerissen hatte, nur weil er nachfragen musste. Doch zu seiner Überraschung tätschelte Morph ihm den Kopf und meinte „Du musst kein schlechtes Gewissen haben, nur weil du neugierig warst. Was passiert ist, das ist passiert und ich bin froh, dass ich diesen Schritt gemacht und meine Entscheidung durchgezogen habe. Ich hätte mich schon viel früher durchsetzen müssen, anstatt mich all die Jahre nur unterbuttern zu lassen. Natürlich tut es mir weh, dass ich meine Tochter wahrscheinlich nie wieder sehe und nicht miterleben darf, wie sie aufwächst. Aber jede Entscheidung hat auch ihre Konsequenzen und ich stand vor der Wahl: mich outen und alles verlieren oder weiterhin nach der Pfeife anderer Leute zu tanzen und jemand zu sein, der ich gar nicht sein will. Und wenn ich diese Entscheidung nicht getroffen hätte, dann hätte ich dich niemals kennen gelernt, Echo. Außerdem hätte ich Christine und die anderen nie getroffen.“ „Aber es muss doch trotzdem hart für dich sein, oder?“ „Natürlich. Für niemanden ist dieses Leben hier leicht. Aber wenn man sich hier nicht anpassen und das Beste aus seiner Situation machen kann, geht man hier zugrunde. Und ich habe genug Gründe, um stark zu sein und durchzuhalten, bis wir hier rauskommen. Nicht zuletzt deswegen, weil ich dir ein Leben in Freiheit ermöglichen will, Echo.“ Damit beugte sich Morph zu ihm herüber, hob sein Kinn und küsste ihn. Es war ein vorsichtiger, aber dennoch sehr zärtlicher Kuss, den Echo erwiderte. Dann aber fragte der Junge aus purer Neugier „Wie kommt es eigentlich, dass du als Japaner so gut Englisch sprichst und als was hast du denn gearbeitet?“ „Ich war mal für ein Jahr Austauschschüler in Amerika und habe in Yale auch mein Studium absolviert, um von meinen Eltern Abstand zu gewinnen. Nach meinem Studium war ich Journalist und habe Zeitungsartikel geschrieben. Zuerst nur als einfacher Klatschreporter, dann hab ich mich mehr auf politische Themen spezialisiert.“ „Das stelle ich mir richtig cool vor“, rief Echo begeistert und grinste. „Das Leben als Journalist ist ziemlich aufregend. Da muss man doch viele Berühmtheiten getroffen haben, oder?“ „Ja. Ich hab hin und wieder mal einige von Kiras Ministern interviewt. Aber so Promis aus Hollywood hab ich nicht zu Gesicht bekommen, ist eh nicht meine Welt.“ „Und hast du schon Kira persönlich gesehen?“ „Nein. Kaum jemand hat ihn gesehen, aber ich habe mal ein Interview mit ihm über Computer gehalten. Dabei haben wir über Mikrofon gesprochen und er hat einen Stimmenverzerrer benutzt.“ „Dann hätte es doch jeder sein können, der sich als Kira ausgibt.“ Ja, das war Morph genauso durch den Kopf gegangen. Er war sowieso schon damals sicher gewesen, dass da irgendetwas faul war und seit er in Down Hill war und genug Informationen zusammengetragen hatte, wusste er inzwischen so einiges. Bestenfalls sogar mehr als jeder andere in diesem Gefängnis und sein Wissen würde genügen, um ein ganz neues Licht auf die ganze Situation zu werfen. Insbesondere wenn ans Licht kommen würde, wer wirklich hinter Kira steckte. Aber er schwieg. Ganz einfach aus dem Grund, weil es noch zu früh war und er das Leben seines Informanten nicht in Gefahr bringen wollte. Das war die Pflicht eines Journalisten: seine Quelle geheim zu halten und sie zu schützen. Er war schon immer jemand gewesen, der diesen Kodex unter allen Umständen einhielt und stets eine vernünftige Entscheidung traf, um möglichst wenige Leben in Gefahr zu bringen. Er lebte die Gerechtigkeit auf seine Art und Weise aus, so wie es sein großes Vorbild L immer getan hatte. Und er hatte die Aufgabe genommen, seinen letzten Willen auszuführen und zum siebten Requiem beizutragen, von dem Nine gesprochen hatte. „Also dann, Echo. Was soll ich dir gleich vorlesen?“ Hier dachte der 16-jährige kurz nach. Dann aber hatte er seine Entscheidung getroffen. „Kannst du mir vielleicht mal eine Geschichte aus deiner Heimat erzählen? Es muss doch sicherlich ein paar spannende Geschichten und Märchen geben, oder?“ „Klar“, sagte Morph und dachte kurz nach. „Wie wäre es, wenn ich dir die Geschichte der Mondprinzessin Kaguya erzähle? Sie war übrigens auch die Vorlage für den Namen meiner Tochter.“ „Deine Tochter ist nach einer Prinzessin benannt?“ „Klar. Und die Geschichte ist wirklich gut, ich hab sie als Kind gerne gehört. Die wunderschöne Prinzessin Kaguya, die von fünf Männern verehrt wurde, denen sie je eine unlösbare Aufgabe stellte, damit diese um ihre Gunst kämpfen konnten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)