As we die von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ruhig und friedlich schlummerte der kleine Ort, als sie ihn verließen. Absolut friedlich. Ein leichter Nebel, gerade eben nur in der Dunkelheit erkennbar, hing über den Straßen wie ein gespenstischer Schleier, der sich langsam ausbreitete und geduldig darauf wartete, jeden, der sich in die düstere Nacht wagte, zu verschlingen, gnadenlos wie ein hungriges Raubtier. Diese Nacht war nicht wie andere Nächte. Er hatte nicht geschlafen. An und für sich war das nichts Besonderes. Viele Nächte hatte er bereits ohne Schlaf verbracht, hatte der Müdigkeit getrotzt und sich wachgehalten. In dieser Nacht jedoch war es anders. Er war nicht müde. Er hatte auch keine Angst, denn dazu gab es heute keinen Grund. Er wurde weder gejagt noch war er allein und musste fürchten, einem unangenehmen Gesellen zu begegnen, der ihm Schwierigkeiten machen würde. Nein. Diese Nacht war absolut friedlich. Friedlich wie der Tod. Während der Wagen, in dem sie saßen, stillstand, sah er zum Seitenfenster hinaus. Ein Mann lief über den Bürgersteig; gemächlich. Scheinbar hatte er keine Eile. Er trug einen großen Koffer mit sich, musste ungefähr so alt sein wie er selbst, und machte im Vorbeigehen einen eher abwesenden Eindruck. Schon immer hatte er es getan - fremde Menschen beobachtet. Ihnen zugesehen, wie sie ihres Weges gingen, und sich Geschichten zu ihnen ausgedacht. Er tat es gern. Niemand bemerkte es. Früher hatten sie sich manchmal zu ihm umgedreht und ihm Fragen gestellt. „Geht es dir gut?“ oder „Bist du ganz alleine?“. Anscheinend hatte er etwas an sich, das irgendwie besorgniserregend wirkte. Zumindest hatten all die fremden Menschen damals oft so getan, als machten sie sich Sorgen um ihn. Komischerweise hatten sie es aber dann doch stets vermieden, weiter nachzuhaken. Inzwischen machte sich niemand mehr Sorgen. Meistens wurde er nicht einmal gesehen. Das, was die Leute sahen, war nicht er. Niemand kannte ihn wirklich. Niemand, außer... Schüchtern blickte er neben sich zum Steuer, wo der Fahrer des Wagens damit beschäftigt war, die Ampel im Auge zu behalten, die in dem Moment auf Grün umsprang. Bevor er seinen Blick jedoch registrieren konnte, wandte er sich wieder dem Seitenfenster zu und schwelgte in dem Anblick der vorbeiziehenden Häuser und Straßenlaternen. Sie beide wurden niemals gesehen. Niemals, und das war gut so. Nicht gesehen zu werden bedeutete Einsamkeit, aber das war in Ordnung, solange sie sich hatten. Sie brauchten keinen anderen. Von ihr hatte er sich nun endlich verabschiedet. Sie war die Einzige, um die es ihm leid tat. Die Einzige, die wenigstens versucht hatte, ihn zu sehen. Doch die Umstände waren so unglücklich gewesen, dass sie es nicht überlebt hatte. Sie war ihm zum Opfer gefallen - dem schlafenden Ungeheuer, das in ihm ruhte und das sehr böse werden konnte, wenn man es weckte. Ob es ihm jemals etwas tun würde? Nein, unmöglich. Das würde er nicht über sich bringen. Weder er noch das Geschöpf, das in ihm schlief. Wieder dachte er an sie. An ihr schönes, trauriges Gesicht und an ihren kalten Körper, den er in seinen Armen gehalten hatte, während er sie verzweifelt um Vergebung gebeten hatte. „Sie kann dich nicht hören“, hatte sein Begleiter gesagt. „Aber Andere werden dich hören, wenn du nicht ganz leise bist...!“ Er hatte Recht. Und doch hatte es sein müssen. Mittlerweile war er des Öfteren mit ihm dort gewesen; immer nachts, wenn keiner es mitbekam. Das Haus, das er mit ihr bewohnt hatte, wirkte auf ihn wie ein verlassenes Geisterschloss, jetzt, wo er es nur noch im Dunkeln zu Gesicht bekam. Es ragte über dem Garten auf wie ein gigantischer Wachhund, der sein Revier vor Eindringlingen beschützte. Nur sie beide durften das Grundstück betreten. Nur sie beide wussten, was sich unter der Erde befand. Noch immer glaubte er, ihre kalte Haut zu spüren. Er sah sie deutlich vor sich, wie sie reglos dort in der Grube lag, bevor er das Loch schweren Herzens wieder zugeschaufelt und sie im Schatten des Hauses, das weiterhin über sie wachen würde, zurückgelassen hatte. Absolut friedlich. „Hast du was dagegen, wenn ich das Radio anmache?“, hörte er den Anderen vorsichtig fragen. „Bis wir da sind, ist es noch ein gutes Stück... und diese Stille bringt mich irgendwie ein wenig aus dem Konzept...“ „Ist schon okay, Spider. Überhaupt kein Problem.“ Unsicher lächelte sein Begleiter ihn an, bevor er leise das Autoradio einschaltete, aus dessen Lautsprechern kurz darauf der Rest irgendeines langsamen Liedes ertönte, das er im Augenblick nicht zuordnen konnte. Vielleicht würde die Musik ihn ja auf andere Gedanken bringen. Zwar war er inzwischen bereits erstaunlich ruhig geworden, im Vergleich dazu, welche Unruhe, welches Chaos ihn noch vor wenigen Minuten erfüllt hatte - er konnte nicht einmal sagen, wie lange es her war, dass er den Garten und mit ihm seine Vergangenheit wieder hinter sich gelassen hatte - , doch etwas Ablenkung konnte sicher nicht schaden. Vielleicht war auch Spider derjenige, dessen Anblick oder dessen bloße Präsenz ihn beruhigte. So problematisch und unglückverheißend das Zusammensein mit ihm auf engem Raum für manch anderen auch sein mochte, so normal, ja sogar notwendig, war es für ihn geworden. Bevor er ihn getroffen hatte, war er allein gewesen. Die letzten Jahre waren wie eine schwarze Kuppel gewesen, in der er eingesperrt war, verloren in der Dunkelheit und jenseits der Realität. Ein fürchterliches Gefängnis, aus dem er sich nicht zu befreien vermochte. Die Wände der Kuppel hatten eine Lücke besessen; zu klein, um dadurch zu entkommen, doch groß genug, um finstere Dämonen einzulassen, die sich zu ihm ins Dunkel gesellten, als hätte er sie absichtlich angelockt. Erst mit Spiders Erscheinen hatte sich die Lücke auf wundersame Weise geschlossen. Er hatte es irgendwie geschafft, zu ihm hereinzukommen und die Dämonen, so gut es einem Menschen nur möglich war, von ihm fernzuhalten. Wie ein echter Held war er aufgetaucht und hatte dafür gesorgt, dass er sich nicht mehr fürchten musste. „Warum nennst du mich immer noch Spider?“, hatte er ihn vor einigen Tagen gefragt. „Jetzt, wo du doch weißt, wer ich bin, meine ich.“ Einen Moment lang hatte er überlegen müssen, weil ihm nicht sofort eine Antwort darauf eingefallen war. „Spider... So habe ich mich genannt, weil es zu dem passt, was ich tue. Weil es gefährlich und abstoßend klingt, passend zu einem wie mir. Aber du kennst meinen richtigen Namen.“ „Ja, das stimmt“, hatte er zu ihm gesagt. „Ich kenne deinen richtigen Namen. Aber das war früher einmal. Ich habe dich als Spider kennengelernt und nenne dich gerne so. Ich finde nicht, dass es gefährlich und abstoßend klingt. Für mich gehört das zu unserem Neuanfang dazu.“ Zuerst hatte er etwas irritiert gewirkt über diese Erklärung. Doch er hatte es so hingenommen, und es schien ihm nichts weiter auszumachen, dass er von ihm so genannt wurde. Schließlich war es bloß ein Name. Er sagte nichts über ihn aus; machte ihn nicht zu einem besseren oder schlechteren Menschen. Nichts würde Spider für ihn zu einem schlechten Menschen machen, denn er wusste es besser. Besser als all die anderen. Das Lied, das bis eben im Radio gelaufen war, wurde Stück für Stück leiser, und das nächste wurde eingespielt. Er kannte es. Die sanften Gitarrenklänge hatten etwas sehr Melancholisches und die vertraute Frauenstimme, die kurz darauf zu vernehmen war, verstärkte diesen Eindruck. „You and me, we used to be together. Everyday together. Always“, sang sie so gefühlvoll, dass es ihn erschaudern ließ. Er schaute nach draußen. Der Nebel schien sich fast vollständig verzogen zu haben, und am Horizont konnte man erkennen, wie es langsam, ganz langsam schon anfing, hell zu werden. „I really feel that I'm losing my best friend“, sang die Stimme weiter, mit einer Verletzlichkeit, die für ihn aus irgendeinem Grund kaum zu ertragen war. Als würde diese Verletzlichkeit auf ihn überspringen, fühlte er sich plötzlich schwach. Hilflos wie ein kleiner Junge. Er wusste, woran es lag. Die Zeilen erinnerten ihn an damals; an die Zeit, die er so beharrlich zu vergessen versucht hatte. Beinahe wäre ihm das gelungen. Doch letztendlich war er froh, dass die Erinnerungen irgendwo in ihm noch existiert hatten - wären sie tatsächlich ausgelöscht worden, so wären auch die letzten Bilder von ihm, die er sich unterbewusst so hoffnungsvoll bewahrt hatte, für immer verloren gewesen. Er, der für ihn alles gewesen war - seine andere Hälfte, sein Seelenverwandter. Sein bester Freund? Ja, auch das. Außer ihm hatte er nie Freunde gehabt. Sie waren füreinander die Einzigen gewesen, alles. Alles, was sie besessen hatten. Und dann hatte er ihn verlassen. Quälend schlichen sich die Bilder erneut in seine Seele, als wollten sie ihn lahmlegen; mit jeder traurigen Zeile, die aus den Lautsprechern tönte, etwas mehr. Er wollte nicht mehr daran denken, wusste er doch, dass es keine Rolle mehr spielte, was damals geschehen war. Seine Erinnerungen waren ohnehin nicht verlässlich. Wer konnte schon sagen, wie viel von dem, was ihm aus dieser Zeit im Gedächtnis geblieben war, tatsächlich so vorgefallen war? Vielleicht war all das ja bloß ein langer Traum gewesen, aus dem er endlich erwacht war. Ein schlimmer Fiebertraum, der ihn in dem Glauben ließ, er sei verrückt, obwohl in Wirklichkeit alles in Ordnung war. Und das war es. Es war alles in bester Ordnung. „Don't speak! I know what you're thinking, and I don't need your reasons. Don't tell me, 'cause it hurts“, hallte es durch das Auto, und er beobachtete, wie Spider mit scheinbar verträumtem Blick im Takt auf das Lenkrad trommelte. Ganz leicht nur, aber es fiel ihm auf. Oft bemerkte er solch belanglose Kleinigkeiten und ertappte sich dabei, wie er still vor sich hin lächelte, glücklich darüber, ihn an seiner Seite zu haben. Er war so wahnsinnig glücklich darüber, dass es nicht einmal Worte gab, mit denen er es hätte ausdrücken können. Die düsteren Tage der Vergangenheit ein für allemal begraben zu können und mit demjenigen zusammen zu sein, den er sein ganzes Leben lang vermisst hatte, war eigentlich viel zu schön, um der Realität zu entsprechen. Die Realität war niemals so gnädig mit ihm gewesen und würde es auch niemals sein... oder doch? Was, wenn die Sache einen Haken hatte? Wenn seine so glückliche Zeit mit Spider schon bald ein Ende nähme? Wer konnte ihm schon garantieren, dass ihnen nicht wieder etwas in die Quere kommen würde, dass sie auseinanderreißen und sämtliche Hoffnungen auf eine harmonische Zukunft brutal zerstören würde? „As we die, both, you and I... With my head in my hands I sit and cry...“ Ein lächerlicher Gedanke kam ihm blitzartig in den Sinn, ebenso lächerlich wie er beängstigend war. Wenn er ihrem Leben hier und jetzt ein Ende setzte, brauchte er sich nie wieder Gedanken darüber zu machen, was wäre, wenn sie durch irgendetwas - was auch immer es sein mochte - getrennt werden würden. Dies war nur eine irdische Existenz. Ob eine lebendige Hülle oder zwei weniger unter dieser Sonne wandelten, was machte das für einen Unterschied? Früher oder später würde der Tod sie ohnehin holen, davor gab es kein Entrinnen. Und wenn er es tat, solange sie noch zusammen waren, konnte nichts in der Welt sie jemals auseinanderreißen. Sie würden miteinander die Ewigkeit verbringen, für immer zu zweit und nie, nie mehr alleine. Außerdem würde er seine Frau wiedersehen. Er würde sich angemessen bei ihr entschuldigen können, und vielleicht würde sie ihm verzeihen. Dann würde er in Frieden Abschied nehmen von dem grauenvollen Albtraum, der sein Leben gewesen war, und reinen Gewissens von vorn beginnen. Nur eine Haaresbreite trennte ihn von dieser perfekten Form der Vollkommenheit. Alles, was er tun musste, war, in das Steuer zu greifen und es herumzureißen, schnell genug, dass Spider nichts dagegen ausrichten konnte. Er würde es ihm danken, irgendwann. Ganz sicher würde er das. Wenn sie erst gemeinsam diese Welt verlassen hatten, konnte es nur besser werden, daran bestand kein Zweifel. Erneut riss die verzweifelte Stimme im Radio ihn aus seinen Gedanken und somit aus der Starre, in der er sich bis eben befunden hatte. „You and me... I can see us dying... Are we?“, sang sie, und er spürte, wie sich mit einem Mal alles in ihm zusammenzog. Hatte er gerade wirklich darüber nachgedacht, sich und Spider... ? „Steven...! Was ist los?“ Besorgt hatte der Andere sich zu ihm umgedreht, nachdem er an einer Kreuzung gehalten hatte, und sah ihn fragend an, nicht ahnend, zu was er in seiner Vorstellung - und beinahe nicht nur in seiner Vorstellung - fähig gewesen war. „Nichts... Was soll schon sein?“, gab er schwach zurück und bemerkte das Zittern in seiner Stimme, das seine Antwort vermutlich nicht sehr überzeugend wirken ließ. „Erzähl mir nicht, dass nichts los ist. Du weinst ja!“, sagte Spider, immer wieder einen kurzen Blick auf die Straße werfend. Tat er das denn? Wenn ja, dann war es ihm entgangen. „Ich hab' was im Auge“, murmelte er, womit sich Spider jedoch offenbar nicht zufriedengeben wollte. „Nein, hast du nicht. Ich kenne dich, Steven“, sagte er leise, so weit zu ihm vorgebeugt, wie der Gurt es erlaubte. „Ich sollte mich eigentlich langsam wieder auf die Ampel konzentrieren, aber so kann ich dich nicht hier sitzen lassen. Sieh mich an!“ Zögerlich wandte er sich ihm zu und zuckte leicht zurück, als der Stoff von Spiders Handschuhen seine Wangen streifte, während er ihm die Tränen aus dem Gesicht wischte. „Du warst wirklich oft genug traurig. Dabei mag ich es so, dich lächeln zu sehen“, sagte er, bevor er sich wieder ganz dem kaum vorhandenen Straßenverkehr widmete. Steven antwortete nicht. Er schwieg die restliche Fahrt über, versunken in einer Art eigenen Sphäre, irgendwo zwischen dem Surren des Motors, der Musik und dem Echo dessen, was Spider eben zu ihm gesagt hatte. Wahrscheinlich hatte er Recht. Es gab keinen Grund zu trauern. Und es gab auch keinen Grund, über ein Ende nachzudenken. Wahrscheinlich gab es für nichts einen wirklichen Grund. Die Dinge geschahen und nahmen ihren Lauf, ohne dass einer von ihnen es vorherbestimmen konnte. Warum sollte er etwas daran ändern, wie es jetzt war? Es war richtig so. Alles war so, wie es sein sollte. Er musste nur daran glauben. Langsam kam der Wagen im Halbdunkel des frühen Morgengrauens zum Stehen. Noch immer verspürte er keine Spur von Müdigkeit, trotz der langen und aufwühlenden Nacht, die er hinter sich hatte. Möglicherweise auch gerade deshalb. Auch jetzt noch drängten sich Fragen in seinen Kopf, die ihm keine Ruhe ließen und nach einer schnellstmöglichen Antwort verlangten. Er musste es wissen. Spider stieg aus dem Auto, er tat es ihm gleich, folgte ihm das kurze Stück bis zum Hauseingang und blieb dann stehen, nervös dabei zusehend, wie der Andere den Schlüssel aus seiner Jackentasche hervorkramte. „Spider? Darf ich dir mal eine Frage stellen...?“ „Was immer du willst.“ „Sind wir eigentlich... Freunde?“ Unsicher sah er zur Seite. „Ich meine, richtige Freunde? Wie man so sagt... Beste Freunde?“ Einen Augenblick lang wirkte Spider sichtlich überrascht, dann lachte er. „Was ist denn das für eine Frage?“ „Tut mir leid. Vergiss es einfach-“ „Natürlich sind wir Freunde!“, sagte er mit einer Selbstverständlichkeit, die kurzzeitig seinen Atem zum Stocken brachte. „Was hast du denn gedacht?“ „Ich weiß nicht... aber...“ Selbst wenn sie es waren - machte es das nicht bloß noch unerträglicher, ihn wieder zu verlieren? Nein, er durfte diesen Gedanken nicht erlauben. Er würde ihn nicht mehr verlieren und er sollte verdammt nochmal damit aufhören, ständig diese zwanghafte Angst vor etwas zu haben, das absolut unbegründet war. „Hör mir mal zu, Steven...“ Sanft vernahm er die Stimme seines Gegenübers, ehe er in dessen Gesicht sah, als Spider einen Schritt auf ihn zugemacht hatte. Er wagte es nicht, sich zu bewegen. Es kam ihm beinahe so vor wie in der Nacht, in der er ihm das erste Mal hier draußen begegnet war. Als er ihn mitgenommen hatte zu sich und seinem - ihrem - Zuhause. „Ich weiß zwar nicht, wie du darüber denkst... Aber wenn du mich fragst, waren wir schon immer Freunde. Und nicht nur 'beste Freunde', so wie es manche von sich behaupten, sondern... weit darüber hinaus.“ „Dann... Dann darf ich bei dir bleiben?“, fragte er leise, den Blick auf den Boden gerichtet. „Ich weiß, dass ich manchmal schwierig bin und dass du es... bestimmt nicht immer leicht mit mir hast... Und ich wünschte, ich könnte mich richtig dafür bedanken, was du jeden Tag für mich tust. Aber ich weiß einfach nicht, wie... Ich habe solche Angst davor, irgendwann nicht mehr bei dir sein zu können, dass ich mich frage, ob es noch normal ist... Warum bin ich nur so ein... so ein...“ „Shh. Sprich nicht weiter.“ Eben noch von seinen eigenen völlig absurden Gefühlen überfordert, spürte er in der nächsten Sekunde weichen Stoff auf seiner Haut, als Spider ihn zu sich gezogen und einen Arm um ihn gelegt hatte; so wie es seine Mutter früher immer bei ihm getan hatte, wenn er von etwas bedrückt gewesen war. Er hielt ihn fest, seine Jacke fühlte sich warm an. Samtig. Es hätte ihn beschämt, sich wie ein Kind auf diese Art von jemandem beruhigen lassen zu müssen, wäre es nicht so angenehm gewesen. „Ich habe nach dir gesucht und dich zu mir geholt, weil ich wollte, dass du bei mir bleibst. Du machst mir keine Schwierigkeiten, das musst du mir glauben. Und bedanken musst du dich nicht bei mir. Wenn du mir so etwas sagst... Wenn du sagst, dass du gern bei mir bist, dann ist das mehr als genug.“ Schweigend nahm Steven die Worte zur Kenntnis. Wie unendlich froh er doch in diesem Moment darüber war, seine Vorstellungen auf der Rückfahrt nicht in die Tat umgesetzt zu haben. Wie hatte er an etwas Derartiges auch nur denken können? Er war sich nicht einmal sicher, ob er selbst oder der Andere in ihm es gewesen war, der derlei abgründige Fantasien gehegt hatte. Letztendlich war es jedoch nicht mehr von Belang. Spider war der Einzige, der ihm das Gefühl geben konnte, kein widerlicher Verrückter zu sein, vor dem niemand - ihn selbst eingeschlossen - sicher war. Es hatte lange gedauert. Aber er brachte es tatsächlich fertig, dass er sich glücklich fühlte. „... Du erinnerst dich doch an das Versprechen, das wir uns vor Jahren gegeben haben... Das tust du doch, oder?“ „Ich glaube, das tue ich, ja.“ „Wir wollten zusammen abhauen. Damals waren wir noch Kinder. Es war mehr wie ein unschuldiger Traum, den wir beide uns geteilt haben. Ich hatte immer Zweifel daran, diesen Traum irgendwann verwirklichen zu können, genauso wie ich es mir vorgestellt habe. Aber schau uns an! Wir sind erwachsen und jetzt sind wir hier, nur du und ich. Wer kann schon von sich sagen, dass sein Kindheitstraum sich später wirklich erfüllt hat?“ Er lächelte. „Das stimmt. Andere können neidisch auf uns sein.“ „Und wie. Aber jetzt lass uns reingehen. Ich glaube, ein bisschen Schlaf könnte langsam nicht schaden.“ „Ja...“ Müde und frei von jeglichen Sorgen ging er mit ihm ins Haus, einen letzten Blick auf den in der frühen Morgendämmerung ruhenden Platz werfend - absolut friedlich sah es aus - , dann schloss er die Tür hinter sich. Und an diesem Morgen traf er die Entscheidung, nie mehr traurig zu sein. Denn er wollte seinen unschuldigsten und ehrlichsten Traum bis zum Ende leben, ohne auch nur eine einzige Minute davon zu verschwenden. ****************************************** Song: 'Don't speak' by No Doubt Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)