Prelude of Shadows von yazumi-chan (Die Team Shadow Chroniken) ================================================================================ Ryan – Akt 1, Szene 5 --------------------- 9 Jahre vor Team Shadows Gründung Ryan erwachte mit dröhnendem Schädel und pelziger Zunge. Spitze Nadeln stachen unangenehm in seine Handflächen, aber seine Wange lag weich. Sein Kopf musste auf etwas abgelegt worden sein. Stöhnend drehte er sich zur Seite und blinzelte mehrmals, bis sich sein Sichtfeld fokussierte. Corinna saß an eine Tanne gelehnt da; ihr Kopf war auf ihre Schulter gesunken und getrocknete Tränenspuren verliefen über ihre Wangen. Sie schlief mit offenem Mund. Ryan schielte zur Seite und gab einen erstickten Schrei von sich, als er sich Auge in Auge mit ihrem Magnayen wiederfand, dessen dunkler Schädel auf den Oberschenkel seiner Trainerin gebettet war. Ryans eigener Kopf lag auf dem anderen. Er wollte sich vom Boden abdrücken und so schnell wie möglich von der Hyäne wegkommen, doch seine Arme knickten fast augenblicklich ein und ein stechender Schmerz durchfuhr seine Schulter und wanderte pochend heiß durch seinen Arm und seinen ganzen Körper. Corinna, aufgeschreckt durch seinen Schrei, packte ihn unter den Achseln und half ihm in eine aufrechte Sitzposition. Ryan betastete vorsichtig die Giftzahnwunde, die das Golbat ihm zugefügt hatte. Die Schwellung glühte förmlich. „Gut geschlafen?“, fragte Corinna vorsichtig. Die Erinnerungen an den gestrigen Abend hämmerten plötzlich von allen Seiten in seinen Kopf ein. „Ja, total gut“, fauchte er und wünschte, er wäre nicht zu schwach, um dramatisch davonzustürmen. „Sie haben meinen Rucksack mitgenommen, nehme ich an? Meinen gesamten Besitz, die Ergebnisse jahrelanger Arbeit?“ Corinna sah betreten zu Boden und strich durch Magnayens Fell, als ihr Pokémon bedrohlich den Kopf hob und die Lefzen zeigte. „Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht in meine Angelegenheiten mitreinziehen sollen.“ Ryans Wut ließ ihn taub und leer zurück. Alles weg. Sein Geld, seit Jahren angespart. Sein USB-Stick. Der Virus, an dem er seit Ewigkeiten arbeitete. Die PDF-Lehrbücher, die er sich von Schwester Joy mühsam erbettelt hatte. Alles weg. Und statt wie geplant auf dem Weg nach Seegrasulb City zu sein, wo ihn Technik und Computer mit Internet erwarteten, hockte er im tiefsten Wald, irgendwo im Norden von Route 120, zusammen mit einer Verbrecherin, die ihn mit einem Messer bedroht hatte und auf der Flucht vor Team Aqua war. „Was hast du wegen der Vergiftung gemacht?“, fragte er teilnahmslos. „Ich habe immer Gegengifte dabei, für solche Fälle“, sagte sie eifrig, offensichtlich froh, eine nützliche Antwort parat zu haben. „Nachdem du ohnmächtig geworden bist, habe ich dich hierher geschleift. Maggy hatte die anderen bis dahin von uns weggelockt. Ich hab dir das Gegengift verabreicht und gewartet, bis du nicht mehr in Lebensgefahr warst. Irgendwann morgens bin ich eingeschlafen.“ „Warum lag ich auf deinem Bein?“ „Oh, das.“ Sie lachte verlegen und kratzte sich an der Nase. „Ich habe früher bei Freya immer so geschlafen, wenn es mir schlecht ging. Außerdem wollte ich sichergehen, dass du nachts nicht an deinem Erbrochenen erstickst oder so.“ „Grandios“, murmelte Ryan, beließ es aber dabei. Unauffällig beobachtete er Corinna aus den Augenwinkeln. Ihr brauner Pagenschnitt war über Nacht getrocknet und kringelte sich nun ihren gesamten Kopf entlang. Die rot geränderten Augen kamen entweder von ihrer Heulerei oder dem Schlafentzug. „Freya“, sagte er dann. „Du hast sie schon zweimal erwähnt. Wer ist sie, deine Mutter?“ Corinnas Blick wurde hart. „Nein. Sie hat mich vor zwei Jahren für Team Magma rekrutiert und mit ihrem Freund Arvid unter ihre Fittiche genommen.“ „Was ist mit deiner Familie?“ „Ich will nicht darüber reden.“ „Schlimme Kindheit also“, sinnierte Ryan. „Lass mich raten. Dein Vater war Alkoholiker, hat dich regelmäßig geschlagen, aber deine Mutter hat dich nie verteidigt, um ihre eigene Haut zu retten. Du bist abgehauen, wurdest von einer Verbrecherbande aufgegabelt und hast dich der nächstbesten Mutterfigur an den Hals —“ Corinnas Hand schoss so schnell vor, dass Ryan die Ohrfeige erst bemerkte, als der scharfe Schmerz seinen Kopf zur Seite riss und ihm das Blut in die Wange schoss. Ihre Stimme bebte. „Noch ein Wort, und ich schwöre, ich hetze dir Maggy auf den Hals.“ Ryan sah zur Seite, während er über die brennende Stellte in seinem Gesicht rieb. Kurz erwog er, sich zu entschuldigen, hielt schließlich jedoch den Mund. Er war sicher, dass er richtig gelegen hatte und Corinna war selbst schuld, dass er hier war. Überhaupt war sie an so ziemlich allem schuld, was seit Beginn seiner Reise schiefgegangen war. Corinna zog die Knie eng an ihre Brust und umarmte ihre Beine. Sie sah ihn nicht an, als sie weitersprach. „Mein Vater ist vor meiner Geburt abgehauen. Meine Mutter war die Alkoholikerin, nicht er. Als sie…“ Sie stockte, schüttelte den Kopf und stand auf. „Ich besorge uns was zu essen. Hier in der Nähe wachsen essbare Pilze. Maggy passt auf dich auf.“ „Und dann?“, rief Ryan ihr hinterher, als sie schon halb zwischen den Nadelbäumen verschwunden war. „Dann bringe ich dich zurück nach Hause. Baumhausen City, oder? Das ist nicht weit von hier.“ Noch bevor ihre Worte verhallt waren, schluckten sie die Schatten der Tannen.   Corinna blieb eine ganze Weile weg. Ryan nutzte die Zeit, um sich vorsichtig aus Regenjacke und T-Shirt zu schälen und seine Wunde genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie erwartet war die betreffende Stelle entzündet und als er mit den Fingern auf der Wölbung herumdrückte, sickerte dicker Eiter aus der Öffnung. Der Anblick ekelte ihn so sehr an, dass er würgen musste und zum ersten Mal an diesem Morgen froh über seinen leeren Magen war. So wurde der Geschmack in seinem Mund immerhin nicht schlimmer. Maggy hielt Abstand, Kopf auf die schwarzen Pfoten gebettet und beobachtete ihn aus wachen, rotglühenden Augen. Ryan hätte das Biest am liebsten davongejagt, aber ihm war auch bewusst, dass das Unlichtpokémon seine einzige Verteidigung darstellte, sollte Team Aqua sie doch noch ausfindig machen. Viel dringlicher war ihm, über Corinnas Worte nachzudenken. Es interessierte ihn wenig, was in ihrer Vergangenheit passiert war. Er wusste nur, dass sie den Verlust seines Rucksacks zu verschulden hatte und ihn nun nach Baumhausen abschieben wollte, so als wäre nichts geschehen. Als er gestern Abend von ihr mit einem Messer bedroht worden war, wäre ihm der Gedanke noch verlockend vorgekommen, aber jetzt konnte er unmöglich einfach zurückkehren. Nicht ohne seine Habseligkeiten. Das Geld war ihm noch annähernd egal, aber der USB-Stick … nein, darauf konnte er nicht verzichten. Er war losgezogen, um seine Computerleidenschaft wieder aufzunehmen, nicht, um das letzte bisschen seines alten Lebens zu verlieren, das ihm seit ihrem Umzug geblieben war und in dem verhassten Baumhaus seiner Eltern zu verrotten. Als Corinna mit einem Arm voller schrumpeliger Pilze zurückkehrte, hatte Ryan seinen Entschluss gefasst. „Ich gehe nicht nach Baumhausen City zurück“, sagte er zur Begrüßung. Corinna hob eine Augenbraue, ging neben ihm in die Hocke und schob ihm ein kleines Häufchen Pilze zu. „Sondern?“ „Ich werde meinen Rucksack zurückbekommen“, verkündete Ryan großspurig und nahm die Pilze in Empfang. „Und als Wiedergutmachung für, sagen wir, alles, wirst du mir dabei helfen.“ Corinna runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, sagte sie und machte sich daran, ein kleines Feuer zu entfachen. „Wenn sie den Rucksack haben, dann bringen sie ihn bestimmt zu Adrian. Was sagtest du ist da drin, das so wichtig ist?“ „Mein USB-Stick.“ „Hm …“ Ryan trommelte mit den Fingern über seine Beine, während Corinna scheinbar gedankenverloren ins Nichts starrte. „Was, hm?“, fragte er schließlich. „Wenn es um Daten geht, werden sie die vermutlich so schnell wie möglich auswerten wollen“, sagte Corinna nachdenklich. „Baumhausen City hat das nächste Pokécenter, aber —“ „Baumhausen City ist technisch so unterentwickelt, dass sie genauso gut versuchen könnten, die Speicherstände mit einer Gießkanne abzurufen.“ „Ja, so ungefähr.“ Das Feuer erwachte unter Corinnas sorgsamer Pflege rauchend zum Leben. Sie blies vorsichtig in den Zunder, bis Flammen emporleckten und platzierte diesen dann unter einem kleinen Häufchen Stöcke. „Da wir Seegrasulb City so nah sind, werden sie vermutlich in ihr Hauptquartier gehen. Wie du da reinkommen willst, ist mir schleierhaft.“ „Also nach Seegrasulb City“, murmelte Ryan abwesend. Sein Gehirn durchlief bereits alle möglichen Pläne. Er hatte sich bisher nur oberflächlich mit dem Thema Hacking befasst, aber sobald er wieder Internet hatte, konnte er dem sicher auf die Sprünge helfen. Was etwaige andere Mechanismen anging, würde er ein bisschen stöbern müssen oder auf Corinnas Kenntnisse vertrauen. Sicher gab es Mittel und Wege, in das Hauptquartier einzubrechen. „Ich werde jedenfalls nicht mitkommen“, fuhr Corinna fort. Es dauerte einige Sekunden, bis ihre Worte durch Ryans Gedankengänge drangen. „Was?!“ Seine Stimme brach und er musste husten, fing sich jedoch genauso schnell wieder. „Was soll das heißen? Es ist deine Schuld, dass ich in dieser Misere sitze. Wahrscheinlich kann ich nicht mal mehr unbehelligt die Stadt betreten, weil Team Aqua mich jetzt verfolgt.“ „So schlimm ist es sicher nicht“, entgegnete Corinna hastig. „Es war dunkel, sie konnten dein Gesicht unmöglich gut genug sehen, um dich wiederzuerkennen oder jemandem zu beschreiben. Und außerdem finde ich, ist meine Schuld langsam mal abgetragen. Ich habe dir gestern Nacht zweimal das Leben gerettet, nur falls du es vergessen hast.“ Sie warf ihm einen düsteren Blick zu. „Und nur so nebenbei, wirklich beliebt hast du dich nicht bei mir gemacht. Du bist unsensibel und ein richtiger Arsch.“ „Wenigstens bin ich intelligent genug, nicht auf leere Versprechen von Pseudowissenschaftlern hereinzufallen“, fauchte Ryan. „Was hat euer geliebter Boss nochmal vorgehabt? Alle Ozeane austrocknen lassen, um der Menschheit mehr Lebensraum zu schenken? Wie dumm muss man denn sein, um das zu schlucken?“ Corinna hielt in dem Bespicken ihrer Pilzspieße inne. „Was meinst du?“ „Das euer toller Plan von Anfang an zum Scheitern verurteilt war“, sagte Ryan, dem dieses Thema schon seit gestern Abend auf der Zunge brannte. Zwischen der Bedrohung durch ein Taschenmesser und der anschließenden Flucht vor einer gigantischen Fledermaus hatte er nicht die Gelegenheit gehabt, sich auszusprechen. „Meine Mutter ist Meteorologin. Sie erforscht das Wetter und die Einflüsse von Temperatur, Luftströmen und dergleichen, ich kenne mich also ein bisschen mit der Thematik aus. Die Dürre, die ihr durch Groudon verursacht habt, hätte das gesamte Ökosystem ruinieren können. Aquatische Pokémon sterben massenhaft aus, mit ihnen die Pokémon, deren Beute sie sind. Die Agrarwirtschaft geht den Bach runter, Bestäubung von Pflanzen durch Insektenpokémon kommt zum Erliegen, die Erdtemperatur steigt an, die Meerestemperatur sinkt, Meeresströme werden umgelenkt, Salzkonzentrationen verändern sich, das Wetter spielt verrückt, Naturkatastrophen suchen uns heim und das alles für ein bisschen mehr Erdboden?“ „Sei still.“ Corinna war aufgesprungen. Ihre Stimme bebte und Magnayen beobachtete das Geschehen mit gefletschten Zähnen. Ryan dachte nicht mal daran. „Der Gewinn ist im Vergleich zum Verlust so minimal, dass es lächerlich ist“, fuhr er gnadenlos fort. Er konnte Ignoranz nicht ertragen. „Wüsste ich nicht, wie nah wir damals an einer globalen Katastrophe vorbeigeschrammt sind, würde mich so viel Dummheit fast wieder beeindrucken. Deine Magmafamilie oder was auch immer die Leute dort für dich waren, hat nichts anderes verdient, als weggesperrt zu werden.“ „HALT DEN MUND!“ Corinna holte zum Schlag aus, doch inzwischen kannte Ryan ihre aggressiven Anwandlungen gut genug, um rechtzeitig auszuweichen und mit der rechten Hand ihren Arm zu packen. Frustriert heulte sie auf und trat nach ihm, doch Ryan drehte sich, sodass sie nur seine Seite schrammte. Als sie zu einem erneuten Schlag ansetzte, trat Ryan ihr seinerseits gezielt gegen den Fußknöchel. Strauchelnd ging sie zu Boden und blieb mit hängendem Kopf sitzen. Tränen liefen hemmungslos ihre Wangen hinunter. Ryan hielt immer noch ihren Arm umklammert. „Du weißt, dass ich Recht habe“, sagte er. „Nein“, flüsterte sie. „Das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein.“ Ryan massierte sich die Nasenwurzel. Seine Tirade hatte ihn beruhigt, aber nun fühlte er sich noch ausgelaugter als bei seinem Erwachen. Ihm wurde schwindelig und er schloss die Augen. Er war zu erschöpft, um sie anzuschreien. „Doch.“ „Marc hätte nie … er muss doch gewusst haben, dass …“ „Dass er euch alle ins Verderben führt?“ Ryan seufzte. „Anführer von solchen Gruppen wissen meist ganz genau, wie viel Schaden sie ihrer Umwelt zufügen. Ist ihnen aber egal, solange sie andere Menschen mit ihren Worten und Taten kontrollieren können. Tut mir leid, dir deine Illusion zu nehmen, aber Team Magma ist keine missverstandene Weltretterbande. Wir hatten Glück, dass Maike und Team Aqua rechtzeitig eingeschritten sind.“ Corinna schniefte. „Du kannst jetzt loslassen“, murmelte sie und sah weg. „Ich werde dich nicht mehr angreifen.“ Misstrauisch ließ Ryan ihren Arm los. Sie rieb sich mit den Handballen über die Augen, erhob sich und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Das ist dann wohl Lebewohl“, sagte sie mit rauer Stimme. „Leg dich meinetwegen mit der ganzen Welt an, ist mir egal. Du findest den Weg nach Seegrasulb City schon selbst. Team Aquas Quartier ist in der Meereshöhle nordöstlich vom Strand. Tob dich aus.“ Zum Abschied stampfte sie das Feuerchen nieder und wandte sich ohne einen weiteren Blick ab. Magnayen schüttelte das zottige Fell und folgte seiner Trainerin in das Dickicht aus Tannen. Wenige Minuten später war nicht mal mehr das leise Rascheln der Nadeln unter ihren Füßen zu hören. Es dauerte eine Weile, bis Ryan bewusst wurde, dass er weder wusste, wo er sich befand, noch wie man ein Lagerfeuer machte oder alleine in der Wildnis überlebte. Die Wut kochte wieder in ihm auf, als er den halbfertigen Plizspieß sah. Wenn Corinna ihn nur nicht angesprochen hätte. Wenn seine Mutter ihm nur einen Computer gekauft hätte. Wenn sie nur nie aus Laubwechselfeld weggezogen wären. In stillem Protest aß er die Pilze roh. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)