Prelude of Shadows von yazumi-chan (Die Team Shadow Chroniken) ================================================================================ Ryan – Akt 1, Szene 7 --------------------- 9 Jahre vor Team Shadows Gründung Sein erstes Gefühl war nicht Mitleid. Es war Verwirrung. Wie zur Hölle hatte Corinna es geschafft, gefangen genommen zu werden? Sie war diejenige mit der Erfahrung in der Wildnis, dem Pfadfinderinstinkt, dem Pokémon, mit dem sie sich zur Wehr setzen konnte. Ryan hatte nichts von alldem, und trotzdem war er heil durch den Wald gekommen. Das scharfe Klatschen einer weiteren Ohrfeige schallte durch die Nacht. Ryan sah zu dem Geistpokémon, das neben ihm schwebte, doch wenn es da war, hatte es sich erneut unsichtbar gemacht. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er allein war, schutzlos, nur wenige Meter von den Männern entfernt, die ihn allem Anschein nach suchten. Er sollte Corinna zurücklassen, so schnell wie möglich das Weite suchen und in das Aqua-HQ einbrechen, um seinen USB-Stick zurückholen, sobald er einen Plan mit hoher Erfolgschance entwickelt hatte. Aber sein Rucksack war genau da. Direkt vor ihm. Und wie wahrscheinlich war es, dass er einfach so in das Hauptquartier des mächtigsten Teams in ganz Hoenn spazieren und sich an zahllosen Wachen und Sicherheitsvorkehrungen vorbeischleichen konnte, wenn er nicht mal in der Lage war, drei Aquas auszutricksen? Ryan biss sich auf die Lippen. Am Lagerfeuer wiederholte der Aqua—Erwin, so hatten ihn die anderen genannt—seine Frage in bedrohlichem Ton. Corinna stritt alles ab. Warum sagte sie ihm nicht, wer er war? Sie kannte seinen Namen, wusste, wo er wohnte. Ryan lehnte sich etwas weiter hinter dem Felsen hervor, um das Geschehen besser beobachten zu können. Er war ein Arschloch zu ihr gewesen, auch wenn er im Recht gelegen hatte. Sie waren im Streit auseinandergegangen. Welche Motivation hatte sie, ihn— Corinna hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Eine kurze Sekunde schien sie überrascht. Ihr Mund öffnet sich einen Spalt, so als wolle sie ihm zurufen, oder ihn fragen, was er hier machte. Dann verschwand der Ausdruck von ihren Zügen und sie fixierte wieder den Anführer der kleinen Gruppe. „Ich weiß nicht, wen ihr meint.“ „Jetzt reicht’s mir langsam mit dieser Schlampe!“, fauchte Erwin und trat nach ihr. Corinna wurde von dem schweren Stiefel in die Seite getroffen und kippte stöhnend auf die Seite, ihre gefesselten Hände nicht in der Lage, den Fall abzufangen. Ryan wusste genau, was er zu tun hatte. Sein Rucksack lag keine fünf Meter entfernt. Alle hatten ihm den Rücken zugewandt. Er konnte hinschleichen, die Tasche packen und davonpreschen, bevor man ihn bemerkte. Er musste es wagen. Das war Ryans einziger Gedanke, bis sein Blick wieder auf Corinna fiel, die nun still weinend am Boden lag, während das Aquamitglied sie lautstark beschimpfte und schließlich sogar seinen schweren Stiefel auf ihrer Hand absetzte und die Finger darunter einquetschte. Corinna schrie. „Jetzt reicht es“, warf einer der Männer ein und zog Erwin am Handgelenk zurück. „Wenn Adrian davon erfährt, kriegen wir alle Ärger. Lass sie `ne Nacht drüber schlafen, dann wird sie schon zur Vernunft kommen.“ Erwin zögerte, nickte jedoch und setzte sich mit verschränkten Armen vor das Lagerfeuer. „Ich übernehme die erste Nachtwache“, verkündete er. „Roan, du nimmst die zweite Schicht, Mikael die dritte.“ „Aye.“ Die beiden Aquas breiteten ihre Schlafsäcke aus und krabbelten hinein. Es dauerte nur wenige Minuten, bis leises Schnarchen die Luft erfüllte. Einzig Erwin blieb wach und starrte abwechselnd hinaus in die Nacht und zu Corinna, die sich aufgesetzt hatte und stur in die andere Richtung starrte. Ryan wartete sicherheitshalber eine weitere Viertelstunde—zumindest glaubte er, dass es so lange war—bevor er mit seinem Plan fortfuhr. „Pokémon?“, flüsterte er in die Dunkelheit. Er spürte ein kaltes Kribbeln, aber als sich kein blaues Augenpaar materialisierte und keine kleine Flamme die Nacht erhellte, fragte er sich, ob es nicht vielleicht schon weggeflogen war. Trotzdem sprach er weiter. „Falls du Hypnose kannst, wäre jetzt der ideale Zeitpunkt.“ Er wartete. Zehn Sekunden. Zwanzig. Nichts geschah. Auf sich allein gestellt, blieb Ryan nur, keine Aufmerksamkeit zu erregen. In Zeitlupe setzte er einen Fuß vor den anderen, umging kleine Stöckchen und Steine und arbeitete sich still und heimlich, Meter für Meter, an das Lager heran. Er hatte seinen Rucksack schon fast erreicht, da erhob sich Erwin plötzlich und streckte gähnend seine Arme. Ryan verharrte in Schockstarre, Augen geweitet, den Fuß schon zum Schritt erhoben. Er atmete nicht, wartete nur darauf, dass der Aqua die Drehung beendete und geradewegs in seine Richtung schaute. Ein blaues Flämmchen flackerte am Waldrand auf. Erwin drehte den Kopf, weg von Ryan, der zittrig ausatmete. „Was’n das?“, fragte er und machte einen vorsichtigen Schritt auf das Irrlicht zu. Ryan sah seine Chance gekommen. So leise wie möglich preschte er vor, schnappte seinen Rucksack und wollte gerade kehrtmachen, da traf sein Blick auf Corinnas. Er sah schnell weg, doch stattdessen entdeckte er ihre geschwollene Hand. Später wusste er nicht mehr, was ihn in diesem Moment geritten hatte. Vielleicht war es die Erinnerung daran, dass sie ihn in der Nacht seiner Vergiftung gesund gepflegt hatte. Oder dass er hoffte, mit ihrer Hilfe schneller nach Seegrasulb City zu kommen. Aber wenn er genau in sich hineinhorchte, wusste er, dass er sie nicht in Erwins Gewalt lassen wollte. Er lief vor, packte sie unter den Armen und zog sie hoch. Hinter ihnen stieß Erwin einen Fluch aus. Vermutlich war er so dumm gewesen, das Irrlicht anzufassen. Dann, lauter, „Was macht ihr da? Hey!“ „RENN!“, schrie Ryan und riss Corinna mit sich, die hinter ihm herstolperte und fast stürzte; erst jetzt bemerkte Ryan, dass auch ihre Fußgelenke durch einen kurzen Strick gefesselt waren. Sie war größer und schwerer als er, aber er schlang einen Arm um ihre Taille und trug sie halb mit sich, während Erwin tobte und nach seinen Pokébällen griff. Corinna versuchte unterdessen, sich loszumachen. „Ich kann nicht weg!“, fauchte sie und schaffte es beinah, Ryan mit sich zu Boden zu reißen. „Sie haben Maggy! Wir müssen zurück!“ „Was wir müssen, ist weg hier“, konterte Ryan und steuerte geradewegs auf den Wald zu. Wenn sie irgendwie von Team Aqua fliehen wollten, waren sie unweigerlich auf den Schutz der Bäume angewiesen. „Nein, lass mich— Maggy! MAGGY!“ „Halt den Mund verdammt!“ Ryans Worte waren ein atemloses Zischen. Der Wald war noch gute hundert Meter entfernt, weil sie erst den Hang umrunden mussten und er war jetzt schon außer Atem. Er wagte kaum, hinter sich zu schauen, aus Angst, sich Auge in Auge mit Erwins Golbat wiederzufinden, doch als er flüchtig zurück zum Lager sah, entdeckte er ein anderes Pokémon. Ein dunkelgraues, fast formloses Etwas, das sanft auf- und ab schwebte. Gleich neben dem Feuer saß Erwin, gefangen in einer düsteren Kuppel, an deren Oberfläche sich Schatten wanden und den Aqua zu einem zitternden Häufchen Elend reduzierten. Ryan kannte den Namen der Attacke nicht, aber allein der kurze Blick nach hinten trieb ihm kalten Angstschweiß auf die Stirn und er war sich sicher, dass es die gleiche Attacke war, mit der das Geistpokémon ihn auf dem Hang angegriffen hatte, wenn auch viel stärker. Corinnas Ellenbogen in seinen Rippen riss ihn aus der Erinnerung. Der Schmerz reichte aus, seinen Griff unwillkürlich zu lockern und sie nutzte die Gelegenheit, sich seinem Arm zu entreißen und zurückzurennen. Sie fiel nach den ersten zwei Metern, als der Strick um ihre Knöchel sich zu stark straffte, landete der Länge nach auf dem Boden und heulte auf, als ihre Unterarme über Steine schrammten. Ryan war drauf und dran, sie liegen zu lassen, aber wenn Erwin sie zuvor schon so behandelt hatte, wollte er nicht wissen, wie es ihr nach einem misslungenen Fluchtversuch ergehen würde. Er machte kehrt, zerrte sie hoch und entdeckte beim Lagerfeuer nun auch Roan und Mikael, die von dem Tumult erwacht waren und besorgt um Erwin herumstanden. Das Pokémon war verschwunden. „Fühlt sich gut an, oder?“, fragte Ryan bissig und zog Corinna mit sich. „Gegen deinen Willen … mitgezogen zu werden, … wenn dein wichtigster Besitz … hinter dir zurückbleibt.“ Er war außer Atem. Sie weinte und lehnte sich halb an ihn. Gemeinsam humpelten sie Richtung Wald.   Den Rest der Nacht und den halben Morgen verbrachten Ryan und Corinna damit, im Wald von einem Versteck zum nächsten zu fliehen. Die Bäume standen in diesem Gebiet sehr dicht, sodass die Golbat suchende Kreise über den Tannenspitzen zogen und versuchten, mit ihrem Superschall Anomalien im Wald zu entdecken, während die Magnayen durchs Unterholz trotteten und schnüffelnd die Verfolgung aufnahmen. Ryan hatte seit über vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen und fühlte sich so elend wie noch nie in seinem Leben, was nach seinem dreitägigen Trip durch tiefsten Wald keine leichtfertige Feststellung war. Sie hatten gerade lange genug Pause gemacht, damit Corinna mit einem scharfkantigen Stein ihre Fesseln durchsägen konnte. Zuerst befürchtete Ryan, sie würde abhauen, sobald sie die Gelegenheit bekam und nahm sich fest vor, sie dieses Mal in ihr Verderben rennen zu lassen, doch mit der Distanz zu Maggy schien Corinnas gesunder Menschenverstand zurückgekehrt zu sein und obwohl sie kein Wort mit ihm sprach, blieb sie ihm dicht auf den Fersen. Ohne das geheimnisvolle Pokémon wären sie jedoch verloren gewesen. Es dauerte einige Zeit, bis Ryan das System hinter den Irrlichtern verstand, die mal auf und ab hüpften, blinkten oder urplötzlich anwuchsen, nur um im nächsten Moment in sich zusammenzufallen. Aber nach einer Weile verstand er die Botschaften und dank dem Geist konnte er schon bald die Bewegungsmuster der Magnayen nachvollziehen und wusste, wann er und Corinna unter einem dichten Strauch oder in einem hohlen Baumstamm Schutz vor dem Superschall suchen mussten. Als schließlich die Mittagssonne durch das tiefgrüne Nadeldach des Waldes brach, leuchtete vor ihnen ein blaues Augenpaar auf. Obwohl sie diesen Code noch nie benutzt hatten, verstand Ryan die Botschaft intuitiv. Sie haben die Verfolgung aufgegeben. Ryan sackte erleichtert in sich zusammen und Corinna fiel auf die Knie. Einige Minuten verharrten sie einfach nur in dieser Position, um zu Atem zu kommen, dann schaute Ryan zu ihr. Sie schaute zurück. Ryan fühlte sich, als hätte ihn jemand ausgewrungen und gegen eine Wand geschmettert, aber die Erleichterung überwog, und er erwiderte ihr mattes Grinsen mit einem flüchtigen Lächeln. Egal, was jetzt noch kam, schlimmer konnte es nicht werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)