Prelude of Shadows von yazumi-chan (Die Team Shadow Chroniken) ================================================================================ Ronya − Akt 1, Szene 1 ---------------------- 7 Jahre vor Team Shadows Gründung   „Was machst du da?“ Ronya sah von dem Buch auf, das aufgeschlagen in ihrem Schoß lag und fand sich Auge in Auge mit ihrer Schwester wieder, die vorgebeugt über ihre Schulter schielte. Als Thea den Blick ihres Zwillings bemerkte, streckte sie die Zunge heraus und ging neben Ronya in die Hocke. „Ein Buch über Pokémon“, erklärte Ronya und hob den Wälzer, um ihr den Buchtitel auf dem Einband zu zeigen. Grundlagen der Pokémonaufzucht, von Wyatt Thomsen. „Ich habe es mir in der Bibliothek ausgeliehen, als wir vorgestern da waren.“ „Ehh …“ Thea nahm ihr das Buch aus der Hand und ließ es beinahe fallen. „So schwer!“, rief sie entsetzt und drückte es zurück in Ronyas Arme. „Warum liest du sowas?“ „Ich will Trainer werden“, sagte Ronya leise und spürte eine unbekannte Hitze in ihren Wangen aufsteigen. Es war das erste Mal, dass sie ihren Wunsch laut äußerte. Ihr wurde schlagartig bewusst, wie nervös sie über Theas Reaktion war. Ihre Schwester mochte es nicht, wenn sie Geheimnisse voreinander hatten und konnte tagelang schmollen, bis Ronya es nicht mehr aushielt und sich entschuldigte. „Vielleicht sollte ich auch Trainer werden“, schlug Thea vor und grinste, als Ronya überrascht aufschaute. „Aber du magst Pokémon doch gar nicht!“, protestierte sie. Thea zog eine Grimasse. „Das habe ich nie gesagt“, entgegnete sie trotzig. „Und außerdem sind wir Zwillinge. Wir sollten alles zusammen machen, oder nicht?“ „Ich will nur nicht, dass du dich langweilst“, sagte Ronya und legte das Buch beiseite. Sie würde später weiterlesen, wenn ihre Schwester eingeschlafen war. Die wenigen nächtlichen Stunden waren die einzigen, die Ronya wirklich alleine verbrachte. Thea war nie weit von ihr entfernt. „Ach was.“ Thea wedelte ihren Einwand ungeduldig ab. „Das wird schon. Zusammen wird es auf jeden Fall Spaß machen. Oh, ich weiß! Wir können dasselbe Starterpokémon aussuchen, was meinst du?“ „Ich weiß nicht …“ Ronya zögerte. „Ich habe mir noch keins ausgesucht.“ „Das machen wir zusammen!“ Theas moosgrüne Augen glühten auf. „Wir werden zusammen nach Sandgemme gehen und dann bekommen wir ein Pokémon. Welches hättest du gerne? Ich bin für ein Plinfa, die sind so süß! Können wir bitte beide ein Plinfa haben? Bitte, bitte, bitte?“ Ronya zwang sich zu einem Lächeln. Sie wollte kein Plinfa. Aber mit Thea in diesem Zustand zu diskutieren, war zu anstrengend. Sie würde warten, bis ihr Interesse abgeklungen war. Ronya hatte in ihrem Buch gelesen, dass die Aufzucht von Pokémon sehr viel Geduld und Sorgfalt erforderte. Sicher würde ihre aufgeweckte Schwester von ihrem Plan ablassen, sobald ihr das klar wurde. Thea deutete das Lächeln ihrer Schwester als eindeutiges Ja, sprang auf und begann, in einem Freudentanz durch ihr gemeinsames Zimmer zu hopsen. Erst die Klingel im Untergeschoss riss sie aus ihrem Tanz. Sie packte Ronyas Handgelenk und zog ihre Schwester mit sich hinunter in den langen Flur, wo ihre Mutter bereits an der Tür stand und ihren Vater mit einem Kuss auf die Wange begrüßte. Jakob Olith war ein Mann von breitgebauter Statur, die ihm in seinem Job an Fleetburgs Werft zu Gute kam. Ronya liebte seinen Geruch nach Salzwasser und die rauen Hände, die abends ungeahnt sanft über ihre Wangen streichen konnten, bevor er Gute Nacht sagte. Wie jeden Abend war es Thea, die zuerst in seine Arme sprang und sich von ihm emporheben und in dem schmalen Flur umherwirbeln ließ. Sie lachte und kreischte begeistert. Ronya blieb einige Schritte zurück. Der amüsierte Blick ihrer Mutter traf auf den ihren und Darleen zuckte entschuldigend mit den Schultern. Erst als Thea abgesetzt wurde und an allen vorbei in die Küche lief, um das Abendessen zu probieren, war Ronya an der Reihe. „Hallo, Papa“, sagte sie und umarmte ihn, kürzer als sie gewollt hätte. Jakob strich über ihr rückenlanges, kastanienbraunes Haar und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. „Da ist ja mein Lesefratz“, sagte er und zwinkerte ihr zu. „Bist du mit dem Buch schon durch?“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich habe schon über die Hälfte!“, fügte sie stolz hinzu. Er grinste schelmisch, tätschelte ihren Kopf und verschwand in die Küche. Ronya lächelte in sich hinein und tastete zum gefühlt hundertsten Mal nach dem Bibliothekausweis in ihrer Bauchtasche, den ihr Vater vorgestern heimlich für sie besorgt hatte. Ihre Wünsche nach neuen Büchern hatten ihn regelmäßig von der Arbeit abgehalten. Nun würde sie alles ausleihen können, was sie wollte, ohne von ihm abhängig zu sein. Noch besser war, dass Thea keinen Ausweis besaß. Es war ein Geheimnis, das Ronya mit aller Macht vor ihr hüten würde. Sie liebte ihre Schwester. Wirklich. Aber als sie den anderen in die Küche folgte und Theas Aussehen mit dem ihren verglich, fühlte sie sich… eingeengt. Theas Bestehen auf ständige Nähe, auf die gleichen Hobbys und den gleichen Freundeskreis war in den letzten Jahren immer schlimmer geworden, bis es einen Punkt erreicht hatte, an dem Ronya sich von ihrer Schwester aus ihrem eigenen Leben verdrängt fühlte. Sie brauchte Abstand. Ihr Ausweis für die Bibliothek war ein erster Start. Ihre Reise als Pokémontrainerin, entfernt von zu Hause, würde ihr endlich die Freiheit geben, sich ohne ihren Zwilling zu entfalten. „Ronya, starr nicht so in die Luft, das Essen wird kalt“, schalt ihre Mutter sie. Ronya schüttelte den Kopf und rutschte zu ihrer Schwester auf die Eckbank, wo sie bereits mit Messer und Gabel auf den Tisch hämmerte und Essen, Essen, Essen sang. Das Gespräch verlief in gewohnten Bahnen und erlaubte Ronya, still über ihr Buch nachzudenken, das oben in ihrem Zimmer auf sie wartete. Ihr Vater beschwerte sich mal wieder über den neuen Chef, der seiner Meinung nach zu jung für eine Führungsposition war und den Job nur bekommen hatte, weil er der älteste Sohn des alten Herrn Heeps war. Während er sich über dessen Überheblichkeit und die neuen Regeländerungen aufregte, wiederholte Ronya still die Gründe, warum Jungpokémon lernfähiger waren als ältere Pokémon des gleichen Levels. Es hatte etwas mit ihrem Gehirn zu tun, da war sie sicher, aber die Erklärung war so kompliziert gewesen, dass ihr die genauen Argumente— „Ronnyyy“, quengelte Thea und pikste sie mit verwundeter Miene in die Wange. „Ich habe dich was gefragt!“ „Tut mir leid“, murmelte Ronya und rieb sich die Wange. „Was hast du gesagt?“ „Ich meinte, dass wir den kleinen Bruder von Papas Chef getroffen haben. Erinnerst du dich nicht?“ Es dauerte einige Momente, bevor Ronya sich an den Ausflug in den lokalen Park erinnerte, auf den Thea sie letzte Woche mitgeschleift hatte. Thea wollte unbedingt, dass Ronya all ihre Freunde traf und sich ebenfalls mit ihnen anfreundete. Ronya hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht—Theas Freundeskreis bestand aus kichernden Mädchen, die mit Thea über ihre neuen Kleider und Schuhe redeten und hysterisch lachend ihre Schwärme verglichen. Ronya, wie so oft in ihrer zerrissenen Lieblingslatzhose gekleidet, hatte schnell genug gehabt und sich zu den beiden Jungen gesellt, die besprachen, wann man sich wieder mit den anderen Kindern zum Kicken treffen würde. Nikolas und Tommy, das waren ihre Namen gewesen. Sie hatte beide nicht gemocht. „Der Blonde?“, fragt sie, ohne sich etwas von ihrem Gedankengang anmerken zu lassen. Thea mochte Ronyas Zwillingsschwester sein, aber ihre Mimik verstand sie auch nach dreizehn Jahren nicht. „Ja, genau!“ Thea nickte energisch. „Tommy Heep. Er hat mit seinem Bruder geprahlt, weil der befördert wurde.“ Sie zwinkerte Ronya zu, bevor ihr Mund sich zu einem stummen Oh öffnete und sie sich aufgeregt ihren Eltern zuwandte. „Mama, Papa, Ronya und ich wollen Pokémontrainer werden! Können wir nach Sandgemme, um uns dort bei dem Professor ein Plinfa zu holen? Bitte, bitte?“ „Ist das so?“, fragte ihre Mutter und hob interessiert eine Augenbraue. „Habt ihr euch das auch gut überlegt? Ihr müsst die Verantwortung für eure Pokémon und euch selbst tragen, das ist nicht leicht. Gerade du stürzt gerne unüberlegt in neue Hobbys, Thea.“ Ihre Schwester schüttelte vehement den Kopf. „Nein, ich will Trainerin werden, so wie Ronya! Ich lasse mich nicht umstimmen.“ Beleidigt verschränkte sie die Arme und sah zur Seite. Ronya unterdrückte ein Seufzen. „Nun, ihr seid alt genug, um ein Pokémon zu besitzen“, gab Darleen zu. „Ich werde euch natürlich nach Sandgemme begleiten müssen. Der Weg ist nicht ungefährlich. Was meinst du, Jakob?“ „Ich werde Professor Eibe anrufen, damit er euch bei der nächsten Vergabe ein Pokémon reserviert“, sagte ihr Vater stirnrunzelnd. „An Arenakämpfen dürft ihr nach der neuen Regelung erst teilnehmen, wenn ihr vierzehn seid“, fügte er hinzu. „Und bis nach Erzelingen ist es ein gutes Stück Weg. Wenn ihr euch gut vorbereitet und zusammenbleibt, werdet ihr das aber meistern, da bin ich mir sicher.“ Ronya presste ihre Lippen aufeinander, bis sie weiß wurden. „Aber warum fangt ihr euch nicht ein lokales Pokémon?“, schlug Mama nach einigen Momenten vor. „Ihr müsst nicht bis Sandgemme gehen, auf Route 218 gibt es viele Pokémon, die für Anfänger geeignet sind.“ „Wir wollen aber ein Plinfa!“, protestierte Thea augenblicklich und umschlang Ronya in einer festen Umarmung. „Ein Plinfa, nichts anderes.“ „Ich will kein Plinfa“, flüsterte Ronya. Sie hatte es nicht laut aussprechen wollen, aber der Esstisch war klein und ihre Stimme trug. Ihr Vater warf ihr einen fragenden Blick zu, ihre Mutter faltete diplomatisch die Hände auf dem Tisch. Thea riss sich los und schaute sie entgeistert an. „Aber du hast doch gesagt, dass du Trainer werden willst“, sagte sie. „Wir sind doch Schwestern!“ „Ich will kein Plinfa“, wiederholte Ronya nur. „Du kannst dir gerne eines in Sandgemme in abholen. Ich will ein anderes.“ „Welches denn?“, fragte Thea frustriert. „Ich möchte ein Plinfa, aber du gehst vor! Wenn du ein anderen Pokémon haben willst, dann nehme ich—“ Etwas in Ronya explodierte. Bevor sie es verhindern konnte, war sie aufgesprungen. „Ich will nicht dasselbe Pokémon, dass du hast, warum kapierst du das nicht?!“, schrie sie. Ihre Stimme hallte in dem kleinen Esszimmer nach. Entsetzte Blicke trafen sie von allen Seiten. Sie wollte sich wieder hinsetzen, so tun, als wäre nichts geschehen, aber das plötzliche Aufschluchzen ihrer Schwester und der entsetzte Blick ihrer Mutter nagelten sie förmlich fest. Sie konnte keinen Finger rühren. „Du ha-hasst mich …“, heulte Thea auf. „Dein Ton ist sehr unangebracht, Ronya“, sagte ihre Mutter. „Wenn du etwas sagen möchtest, dann sag es bitte in normaler Lautstärke. Entschuldige dich.“ „Es tut mir leid“, sagte Ronya und ließ sich mit hängenden Schultern zurück auf die Bank sinken. Bei dem Anblick ihrer Schwester, der Rotz und Tränen über das Gesicht strömten, zog sich alles in ihr zusammen, so als hätte jemand in ihre Brust gefasst und eine Faust um ihr Herz geschlossen. Schon jetzt bereute sie ihren Wutausbruch. Thea würde ihr nicht so schnell vergeben. Still aß sie zu Ende, verließ das Esszimmer und stieg allein die Treppen hinauf. Die Aussicht auf ihr Buch war nicht mehr so verlockend, wie noch vor dem Abendessen. Sie hätte Thea nichts sagen dürfen. Sie hatte alles ruiniert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)