Vielleicht irgendwann von Juju ================================================================================ 46. Kapitel, in dem Takeru das Polarmeer braucht ------------------------------------------------ „Fertig“, verkündete Takeru und wischte sich den Schweiß von der mit grüner Farbe besprenkelten Stirn. Grün in seinen Augen. Helles Seegrün in Hikaris Augen, die gerade ein paar Schritte zurücktrat und kritisch die Wand beäugte. „Das sieht irgendwie so fleckig aus“, mäkelte sie und legte den Kopf schief. „Das muss ja auch erstmal trocknen. Morgen sieht das gut aus“, erwiderte er überzeugt, war sich jedoch nicht sicher. Das würde er Hikari allerdings lieber verschweigen, sonst würden sie die Wand noch einmal streichen müssen. „Hoffentlich“, meinte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Bist du sicher, dass du in deinem Zimmer keine Farbe haben willst? Weiß ist doch so langweilig.“ „Nee, lass‘ mal. Außerdem hätten wir heute Nacht keinen Platz zum Schlafen, wenn ich mein Zimmer jetzt auch noch streichen würde, du Genie.“ Sie wuschen die Malerrollen aus und gingen den Gang des Wohnheims entlang zu Takerus Zimmer. Sie hatten es tatsächlich geschafft, jeder ein kleines Wohnheimzimmer im selben Gebäude zu ergattern und dann befanden sich ihre Zimmer auch noch zufällig auf der selben Etage. Sie wohnten also noch viel näher beieinander als vorher. Die Zimmer waren winzig und nur mit den nötigsten Möbeln bestückt: einem Bett, einem Schreibtisch mit Stuhl, einem engen Kleiderschrank und einem Regal. Platz zum Bewegen hatte man kaum noch. Heute war die erste Nacht, die sie im Wohnheim verbringen würden. Takeru schnappte sich zwei Flaschen von dem Bier, das er unter seinem Schreibtisch lagerte, und drückte eine davon Hikari in die Hand. Yamato hatte ihm das Bier besorgt, er selbst durfte erst in anderthalb Jahren Alkohol kaufen. „Also“, sagte Takeru und hob seine Flasche, um Hikari zuzuprosten, „auf das nächste Level. Auf uns, dass wir es bis hierher geschafft haben.“ „Und auf Matt, ohne den wir nur mit Wasser anstoßen könnten“, fügte Hikari grinsend hinzu. Sie ließen ihre Flaschen aneinander klirren und nippten am Bier. „Schade, dass er heute nicht hier ist. Er hätte mit uns feiern können.“ Auch Yamato hatte sich für die selbe Universität qualifiziert und würde nun ein Physikstudium beginnen. Mit seiner Wahl für Physik hatte er alle überrascht, doch er meinte, er interessierte sich dafür, vor allem für Astronomie, und wollte es einfach mal probieren. Heute arbeitete er allerdings in der Bar. Den Nebenjob wollte er nicht aufgeben. „Er wird schon irgendwann mal wieder Zeit haben“, meinte Takeru abwinkend. Sie hockten nebeneinander auf seinem Bett – woanders konnte man in dem kleinen Zimmer kaum sitzen – und tranken ihr Bier. Takeru musterte Hikari von der Seite, bis sie ihren Blick verwirrt erwiderte. „Was denn?“ „Du hast Farbe im Gesicht, wusstest du das?“ Ein breiter grüner Streifen zierte ihre linke Wange und auch ihr Haar hatte ein paar Spritzer abbekommen. „Du solltest dich mal sehen“, kicherte sie, streckte die Hand aus und wischte mit dem Daumen auf seiner Stirn herum. Die Stelle, die sie berührte, schien auf einmal ganz warm zu werden und Takeru spürte ein angenehm kribbelndes Gefühl in der Magengegend. „Das klebt voll.“ Sie setzte dazu an, ihren Daumen anzulecken, doch er hielt sie auf. „Denk‘ nicht mal dran, Spucke zu benutzen.“ „Wieso nicht? Dann geht’s bestimmt.“ „Spucketrauma“, murmelte er nur und dachte an seine Mutter, die zu Kindergartenzeiten gern mit einem Spuckefinger in seinem Gesicht herumgewischt hatte, um Dreck oder Essen zu entfernen. „Hab‘ dich nicht so“, erwiderte Hikari, gab jedoch auf. „Wir sollten mal duschen gehen.“ „Du meinst, wir sollten mal die Gemeinschaftsduschen testen?“ Er grinste schief. „Gern, bin dabei.“ Sie starrte ihn an und wurde rot um die Nase, sodass Takeru lachte. „War nur ein Witz.“ Zumindest teilweise… „Ich hab‘ doch schon mal gesagt, dass das keine Gemeinschaftsduschen sind, du Spinner“, grummelte Hikari. „Schade eigentlich.“ Ellbogenstoß von Hikari. „Nicht zu glauben. Kaum aus einer Beziehung raus, schon nur noch versaute Gedanken.“ „Ist doch nur Spaß. Sei nicht so spießig.“ „Hat sie dir eigentlich heute schon geschrieben?“, fragte sie und sah ihn neugierig an. Takeru warf einen Blick auf sein Handy und schüttelte den Kopf. „Bisher noch nicht.“ Schon am Tag nach dem Abschlussball war er zu Ami gefahren und hatte mit ihr Schluss gemacht. Begründet hatte er seine Entscheidung damit, dass das zwischen ihnen einfach nicht passte und nicht dauerhaft funktionieren würde, obwohl das nicht der einzige Grund war. Die Hälfte hatte er ihr verschwiegen, weil er es sich selbst kaum eingestehen konnte. Seither hatte sie ihm jeden Tag geschrieben oder versucht, ihn anzurufen. Sie wollte ihn umstimmen, ihn dazu bringen, seine Entscheidung zu überdenken, doch das würde nicht passieren. Daher ignorierte er ihre SMS und Anrufe. „Weißt du was? Du hättest es verdient, dass sie dich bis an dein Lebensende verfolgt und terrorisiert“, sagte Hikari mitleidlos. „Nicht jeder ist so ein krankhafter Stalker wie du“, entgegnete er trocken und kassierte einen weiteren Hieb mit dem Ellbogen, bevor sie sich gegen die Wand lehnte, die Beine anzog und an ihrem Bier nippte. „Sie wird schon irgendwann aufgeben“, meinte sie. „Ich hätte gern mal so viel Glück wie du. Alle Mädchen fliegen dir zu und du brauchst nur mit den Fingern schnippen“, sie schnippte demonstrativ mit den Fingern, „und schon sind sie unsterblich in dich verliebt.“ „Boah Kari“, stöhnte Takeru genervt. „Erstens fliegen mir nicht alle Mädchen zu und zweitens habe ich dir schon hundertmal erklärt, wie du auf Kerle wirkst. Du weist sie nur immer alle ab und irgendwann haben sie Angst vor dir.“ „Angst vor mir?“ Sie schnaubte verächtlich. „Naja, wenn du immer alle abblitzen lässt, traut sich irgendwann keiner mehr“, erklärte er schulterzuckend. „Vielleicht hast du ja auch Angst vor ihnen. Keine Ahnung, woran es liegt.“ Er sah, wie sich ihr Blick ein wenig verfinsterte und sie offenbar nachdenklich auf das Etikett ihrer Bierflasche starrte. Hatte er einen wunden Punkt getroffen? Etwa die Sache mit Makoto? Er lehnte sich neben ihr gegen die Wand. „Ich bin mir sicher, es gibt mindestens hundert, die alles dafür tun würden, dich glücklich zu machen. Für die du der Nabel der Welt bist. Die ohne dich nicht leben können. Die jeden Tag neben dir aufwachen und dir sagen wollen, dass sie dich lieben, obwohl du nach dem Schlafen aussiehst wie eine Vogelscheuche.“ „Du bist blöd“, tadelte sie ihn, grinste dabei jedoch. „Weißt du, wie du nach dem Schlafen aussiehst? Wie Gollum auf Drogen.“ „Frauen.“ Takeru seufzte theatralisch. „Man macht ihnen zwanzig Komplimente auf einmal und sie hören nur das Negative heraus.“ „Ich bin es eben nicht gewöhnt, dass was Nettes aus deinem Mund kommt“, stichelte Hikari. „Dabei bin ich die Freundlichkeit in Person.“ Sie lachte und nippte an ihrem Bier. Dann lehnte sie den Kopf gegen seine Schulter. „Ach Keru. Obwohl du manchmal ein Assi bist, wünsche ich mir, dass ich mal einen Freund habe, der so ist wie du.“ Takeru schluckte. „Ähm… ich bin wie ich.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Jaja. Du bist sowas von tabu, das wäre ja, als hätte ich eine Beziehung mit Tai.“ Ein harter, kalter Klumpen schien sich in Takerus Magen zu bilden und er biss sich auf die Unterlippe. Käme jetzt ein wahnsinniger Axtmörder und würde auf Takeru einhacken, der Schmerz könnte nicht größer sein als der, den er gerade bei Hikaris Worten empfunden hatte. Sie verletzten ihn mehr, als sie sollten und ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Sie sollte doch für ihn genauso tabu sein. Er stand auf und stellte die Bierflasche auf dem Schreibtisch ab. „Ich geh‘ mal schnell duschen.“ Mit diesen Worten verschwand er aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal nach Hikari umzusehen.   Das heiße Wasser prasselte auf seine Schultern und ließ die Fensterscheiben im Duschraum der Männer beschlagen. Takeru hatte die Stirn gegen die Fliesen gelehnt und starrte die weiße Fläche vor sich an. Was war nur los mit ihm? Er hatte diese seltsamen Gefühle für seine beste Freundin doch schon einmal überwunden. Warum kamen sie jetzt wieder? Warum wollte er ihr näher sein, als es sich für Freunde gehörte? Er sah ihr Gesicht vor sich, ihre strahlenden Augen, ihr süßes Lächeln und konnte nur daran denken, wie gern er sie berühren, sie küssen würde. Er dachte an den fruchtigen Duft, der schon seit jeher von ihrer Haut auszugehen schien. Er kribbelte ihn in der Nase. Er dachte daran, wie sich ihre Finger auf seiner Haut anfühlten, wann immer sie ihn flüchtig berührte. Er dachte daran, wie es war, wenn sie ihn umarmte, ihren Körper an seinen presste, ihre Wärme auf ihn übertrug. Er dachte an ihren Körper, ihre schlanken Beine, ihre kleinen Brüste, die sich unter dem dünnen Stoff ihres Tops hervor wölbten… „Verdammt“, murmelte er mit finsterer Miene und drehte das Wasser mit einem Ruck auf kalt. Kalt wie Polarmeer. Minus einhundert Grad höchstens. Eher minus zweihundert. Sein ganzer Körper zog sich bei dem Schock zusammen, doch es wirkte. Er blieb so lang unter dem eisig kalten Wasserstrahl, bis er seine Haut nicht mehr spürte, dann stieg er aus der Dusche, trocknete sich ab und schlüpfte in frische Klamotten. Ein anderer Junge betrat den Duschraum, brummte einen Gruß und begann damit, sich zu entkleiden, als Takeru den Raum verließ. Mit dem Handtuch um den Schultern und seinen Waschutensilien in der Hand ging er langsam zurück in sein Zimmer. Mit feuchten Haaren und roten Spuren im Gesicht, die davon zeugten, dass sie Probleme beim Abwaschen der Farbe gehabt hatte, saß Hikari auf seinem Bett, tippte auf ihrem Handy herum und sah auf, als er eintrat. Ihr Blick war besorgt, eine senkrechte Falte hatte sich auf ihrer Stirn gebildet. „Da bist du ja wieder.“ Er setzte sich neben sie, sie musterte ihn fragend von der Seite. „Hab‘ ich vorhin irgendwas Falsches gesagt?“ Er musste seine Gefühle so schnell wie möglich loswerden. Er durfte das nicht fühlen. Und vor allem durfte sie nicht merken, was in seinem Kopf vorging. Nur wegen seines Abgangs vorhin war sie auf den Gedanken gekommen, dass etwas nicht stimmte. Er hatte sie ungerecht behandelt. Sie hatte es nicht verdient, dass er sie einfach so wortlos zurückließ und abhaute, weil seine Gefühle verletzt waren. Das durfte nicht noch einmal passieren. Lächelnd erwiderte er ihren Blick. „Nee, alles gut. Mir ist nur das bescheuerte Grün zu Kopf gestiegen.“ „Du meinst wohl das helle Seegrün“, berichtigte sie ihn. „Kotzgrün.“ „Wenn so deine Kotze aussieht, solltest du mal zum Arzt gehen.“   Sie verbrachten den Rest des Abends damit, gemeinsam Takerus Sachen aus den Kartons zu räumen und sahen sich anschließend noch einen Film auf dem Laptop an. Dann gingen sie schlafen. Takeru hatte Hikari sein Bett überlassen und übernachtete selbst auf einem Futon auf dem Boden. Damit hatte man in dem Zimmer keinen Platz mehr zum Gehen. Hikari war schnell eingeschlafen, doch Takeru bekam kein Auge zu. Eine gefühlte Ewigkeit starrte er die Zimmerdecke an und wusste nicht, ob seine Ruhelosigkeit daran lag, dass er gerade die erste Nacht in seinem neuen Zuhause auf Zeit verbrachte, oder daran, dass er direkt neben dem Mädchen schlief, für das er unangemessene Gefühle hatte. Während er wach lag, dachte er darüber nach, wie es wohl war, zu studieren. Von nun an stand er nicht mehr unter mütterlicher Beobachtung. Sie hatte ihn zwar nie zu sehr unter Druck gesetzt, doch sie hatte es sich bis zum zweiten Jahr der Mittelschule nicht nehmen lassen, seine Hausaufgaben zu kontrollieren. Außerdem hatte sie regelmäßig lange Gespräche über seine Schulleistungen führen wollen und wie er mal enden konnte, wenn er sich verschlechtern sollte. Takeru war nie ein schlechter Schüler gewesen, jedoch gelegentlich faul und schlechter, als er hätte sein können. Nun würde er nicht mehr das Gefühl haben, beobachtet zu werden und konnte tun und lassen, was er wollte. Er hatte einen eigenen kleinen Haushalt und Hikari wohnte nur einen Katzensprung entfernt. Er würde viele neue Leute kennenlernen, Vorlesungen und Seminare besuchen, mit Hikari in der Mensa essen gehen, Hausarbeiten schreiben und versuchen, einen möglichst guten Abschluss zu machen. Und vielleicht würde er nebenbei die Liebe seines Lebens finden. Er setzte sich auf und warf einen Blick auf sein Handy. Zwei Uhr nachts. Irgendwo, vielleicht zwei Zimmer weiter, war dumpfes Gerede und Gelächter zu hören. Draußen liefen schnatternde Mädchen vorbei, die vielleicht gerade von einer Studentenparty kamen. Würde er auch viele Partys miterleben? Mädchen kennenlernen und eine Nacht mit ihnen verbringen? Er wandte den Blick zu Hikari, die auf der Seite lag, ihm zugewandt, und friedlich schlief. Die Decke bedeckte nur ihre Beine, ihr Oberkörper lag frei. Ihre Schulter hob und senkte sich ganz leicht beim Atmen. Eine Haarsträhne hing ihr quer über das Gesicht. Takeru schob sie mit den Fingern vorsichtig zurück, sodass sie sie nicht stören konnte. Dabei strichen seine Finger über ihre Wange. Ihre Haut fühlte sich glatt und weich an. Alles an ihr war so unglaublich schön, irgendwie weich, strahlend, duftend, lieblich. Sie war wie eine Blume, wie ein Vogel, ein Schmetterling. Wie eine warme Brise im Sommer, wie der Duft nach frisch gemähtem Gras, wie ein funkelnder Stern mitten in der Nacht. Takeru seufzte, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und ließ sich nach hinten auf seinen Futon fallen. Jetzt brachte sie ihn schon dazu, in kitschigen Vergleichen zu denken. Wenn das so weiterging, würde er irgendwann Liebesgedichte schreiben. Dann konnte er sich auch gleich lebendig begraben lassen. Er brauchte ganz dringend eine Ablenkung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)