Vielleicht irgendwann von Juju ================================================================================ 54. Kapitel, in dem Takeru ein Poet wird ---------------------------------------- Liebe. Was bedeutet das eigentlich? Liebe ist, zu einem bestimmten Menschen eine Verbindung zu spüren, die man zu keinem anderen spürt. Liebe ist, in guten und in schlechten Zeiten füreinander da zu sein. Liebe ist, sich um den anderen mehr zu sorgen als um sich selbst. Liebe ist Vertrauen. Liebe ist Sehnsucht. Liebe ist Mut. Liebe ist Hoffnung. Liebe ist Verzweiflung. Liebe ist Angst. Liebe ist, sich gegenseitig vor den großen Kindern zu beschützen. Liebe ist, den anderen trotz Pickeln und Zahnspange schön zu finden. Liebe ist, für die beste Freundin da zu sein, während sie gerade zum ersten Mal ihre Periode bekommt. Liebe ist, die beste Freundin trotz ihrer Periode nicht eklig zu finden. Liebe ist, mit dem besten Freund Basketball zu spielen, obwohl man gar keine Lust hat. Liebe ist, jede freie Minute zusammen zu verbringen. Liebe ist, den anderen zu vermissen, wenn es einmal nicht so ist. Liebe ist, gemeinsam Erfahrungen zu machen. Liebe ist…   Nachdenklich kaute Takeru auf dem Ende seines Bleistifts herum und starrte auf seinen Notizblock. Der Baumstamm an seinem Rücken fühlte sich rau an und er rutschte ein wenig auf dem Gras herum, um seine Sitzposition zu ändern. Eine Fliege krabbelte über seinen Arm und er beobachtete geistesabwesend, wie sie immer wieder anhielt, ihre dünnen Beinchen aneinanderrieb, und sich schließlich weiter durch die feinen Härchen auf seinem Arm kämpfte. Durch seinen Kopf schwirrten weiterhin Worte, die er mit dem Thema Liebe verband. Freundschaft. Vertrauen. Hoffnung. Hoffnungslosigkeit. Er seufzte und lehnte den Kopf gegen den Baumstamm. Eine leichte Brise wehte ihm durch die Haare und ließ ihn ein wenig frösteln. Es war eben noch nicht Sommer. Wieder betrachtete er seine Notizen und kaute auf seiner Unterlippe herum. Seit der Nacht mit Hikari und dem nachfolgenden Morgen dachte er viel über die Bedeutung von Liebe nach, schrieb seine Gedanken auf, formulierte sie um und verwarf sie wieder. Schon seit drei Wochen herrschte zwischen ihnen Funkstille. Nicht einmal im Wohnheim waren sie sich über den Weg gelaufen. Takeru wollte sich nicht bei ihr melden, weil er sie nicht unter Druck setzen wollte. Ihm war deutlich bewusst, dass sie miteinander geschlafen hatten, weil es von ihm ausgegangen war. Er hatte sie praktisch verführt. Nun wollte er ihr genug Zeit geben, darüber nachzudenken, was es für sie bedeutete, auch, wenn er sie schrecklich vermisste und sich nach ihrer Nähe sehnte. Immer, wenn das Bedürfnis, zu ihr zu gehen und sie zur Rede zu stellen, besonders groß war, schnappte er sich Zettel und Stift und schrieb, fasste seine Gedanken in Worte, um sie irgendwie loszuwerden. Vier Kurzgeschichten über unerfüllte Liebe hatte er schon geschrieben und versucht, die Emotionen, die in ihm nur so überkochten, zum Ausdruck zu bringen. Es erleichterte ihn, doch es war nur ein schwacher Trost. Dennoch hielt es ihn davon ab, einfach zu ihr zu gehen. Erneut zückte er den Bleistift.   Liebe ist…   „Sag‘ mal, hast du nichts zu tun?“ Ruckartig hob Takeru den Kopf und klappte seinen Notizblock zu. Vor ihm, mit einer Tasche über der Schulter und einer Sonnenbrille auf der Nase, stand Yamato und grinste zu ihm herunter. „Gedichte schreiben unter einem Baum auf dem Campus? Ich dachte, du wirst Journalist und kein Poet.“ „Ich schreib‘ keine Gedichte“, murmelte Takeru und packte den Block in seine Tasche. „Nicht? Was denn dann? Liebesbriefe?“ Yamato warf seine Tasche auf den Boden und setzte sich neben ihn. „Hast du keine Uni?“, fragte Takeru, etwas genervt von der Neugier seines Bruders. „Hab‘ noch ein paar Minuten und dann habe ich dich hier sitzen sehen. Da dachte ich, ich schau‘ mal vorbei“, antwortete er. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst nicht so glücklich aus.“ „Klar, alles bestens.“ „Super.“ Yamato beugte sich nach vorn, nahm seine Sonnenbrille ab und musterte ihn eindringlich. „Und jetzt die Wahrheit.“ „Das ist die Wahrheit“, beharrte Takeru. Es kostete ihn große Anstrengung, seinem Blick standzuhalten. „Verstehe.“ Yamato lehnte sich wieder ein wenig zurück und richtete den Blick auf die vorbeilaufenden Studenten. „Und das mit Kari macht dir gar nichts aus?“ Überrascht starrte Takeru ihn an. „Woher…“ Yamato zuckte mit den Schultern. „Der Buschfunk funktioniert, auch wenn ich es lieber von dir persönlich erfahren hätte.“ Takeru blieb der Mund offen stehen. In seinem Gehirn ratterte es. „Hat Kari dir etwa davon erzählt?“ Yamato schnaubte. „Nein. Aber Tai. Anscheinend hat sie mit Mimi gesprochen und Mimi… nun ja. Geheimnisse für sich zu behalten, fällt ihr offenbar schwer.“ „Sie hat mit Mimi gesprochen?“ Das Mädchen, in das er verliebt war, redete mit seiner Ex über ihn? War er im falschen Film gelandet? „T.K., was macht ihr nur?“ Verständnislos sah er ihn an. „Ihr verschwendet eure Zeit mit diesem Rumgeeier. Warum macht ihr nicht endlich klar Schiff und fangt eine richtige Beziehung für Erwachsene an?“ „Was willst du eigentlich?“, fuhr Takeru ihn an. „Ich will dir helfen“, antwortete Yamato sachlich. Er klemmte seine Sonnebrille am Ausschnitt seines dunklen T-Shirts fest. „Du liebst sie doch, oder?“ Takeru wandte den Blick ab und schwieg. Das schien Yamato Antwort genug zu sein. „Weiß sie es? Hast du ihr das mal gesagt?“ „Nein. Denke nicht, dass sie es weiß.“ Oder doch? Vielleicht rechnete sie ja damit, nachdem er sich aus ihrem Zimmer verkrümelt hatte. Oder aber sie dachte das genaue Gegenteil. „Dann sag’s ihr“, meinte Yamato und kramte in seiner Tasche herum. Er zog eine Schachtel Zigaretten hervor und steckte sich eine zwischen die Lippen, bevor er Takeru auch eine anbot. Dieser zögerte einen Moment, nahm dann aber auch eine. Yamato steckte erst Takerus und dann seine eigene Zigarette mit einem Feuerzeug an. Zögerlich zog Takeru an seiner Zigarette. Der Rauch kratzte ihn im Hals. Er rauchte nur sehr selten und war das Gefühl nicht gewohnt. „Soll ich es ihr sagen?“, griff Yamato das Thema wieder auf. Takeru warf ihm einen genervten Seitenblick zu, den er grinsend erwiderte. „Ich könnte es ja ganz unauffällig machen“, redete Yamato weiter. „Ich verpacke es in eine verschlüsselte Botschaft. Kari ist clever, die kriegt das raus und es würde so aussehen, als hätte ich mich aus Versehen verplappert. So behältst du deine Würde und kriegst das Mädchen. Win-win.“ „Sie will mich doch gar nicht“, widersprach Takeru mürrisch. „Ich bin der falsche Bruder, das weißt du auch.“ „Das ist doch Quatsch. Du bist…“ „Das ist kein Quatsch. Du weißt doch ganz genau, dass sie jahrelang in dich verliebt war“, unterbrach Takeru ihn. „Das ist doch schon längst vorbei. Und sie war nicht wirklich in mich verliebt. Eher fasziniert oder so, weil ich älter bin als sie, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es mit mir in einer Beziehung nie und nimmer ausgehalten hätte. Oh Gott, allein der Gedanke an eine Beziehung mit ihr fühlt sich so falsch an.“ Takeru schnaubte verächtlich. Was wusste Yamato denn schon? Er hatte Hikaris Achterbahnfahrt der Gefühle ja nicht miterlebt, hatte sie nicht getröstet, als sie einen Korb bekommen hatte. „Du hast ja keine Ahnung.“ Eine Weile rauchten sie schweigend ihre Zigaretten und starrten Löcher in die Luft, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. „Vielleicht wartet sie nur darauf, dass du endlich die Initiative ergreifst und ihr die Wahrheit sagst.“ „Ja, klar“, murrte Takeru sarkastisch. „Takeru, sie hat mit dir geschlafen. Reicht dir das nicht als Zeichen dafür, dass sie was für dich empfindet?“ „Sie hat nur mit mir geschlafen, weil ich… sie verführt habe.“ Yamato lachte leise und drückte seine Zigarette auf dem Boden aus. „Das sind die Gene. Liegt in der Familie.“ „Nicht witzig.“ „Du hast sie ja wohl nicht vergewaltigt und ich bin mir sicher, wenn sie gewollt hätte, hätte sie sich gewehrt und du hättest aufgehört. Und bestimmt hätte sie nicht mit dir geschlafen, wenn sie nicht irgendetwas für dich empfinden würde. Wahrscheinlich ist sie einfach nur durcheinander.“ Takeru seufzte und drückte dann ebenfalls seine Zigarette aus. Er war nicht überzeugt von dem, was Yamato sagte. Für ihn sah es eher so aus, dass Hikari ihre gemeinsame Nacht als einmaligen Ausrutscher betrachtete. Zumindest hatte er so ihr Verhalten am nächsten Morgen interpretiert. „Willst du mal was sehen?“, fragte Yamato dann plötzlich mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen. „Was denn?“ Takeru war nur halb interessiert. Yamato griff in seine Tasche und zog einen braunen Umschlag aus einem Schreibblock hervor. Dann fischte er eine verschwommene schwarz-weiße Aufnahme aus dem Umschlag und drückte sie Takeru in die Hand. Dieser nahm das Bild und betrachtete es mit gerunzelter Stirn. Es sah aus wie eine Blase mit einem unförmigen Etwas darin. Seine Augen weiteten sich. „Matt… ist das…“ „Du wirst Onkel“, antwortete Yamato grinsend. Fassungslos und mit offenem Mund starrte Takeru ihn an. „Was… wie… seit wann…“ „Es war nicht geplant“, gab Yamato zu und zuckte mit den Schultern. „Wir waren gerade bei ihrer Ärztin. Ich weiß es selbst erst seit einer halben Stunde.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er selbst nicht glauben, was passiert war. „Aber wir sind beide verdammt glücklich.“ Ein warmes Lächeln umspielte seine Lippen. Takerus Kehle war ganz trocken geworden. Er konnte es nicht glauben. Sein Bruder wurde Vater! Und die Mutter seines Kindes war die Frau, die er nun schon seit einer Ewigkeit liebte und um die er ein paar Jahre hatte kämpfen müssen. Dieser verdammte Glückspilz. „Krass“, brachte er hervor und gab ihm das Bild zurück. „Krass? Ist das alles, was dir dazu einfällt?“ Yamato hob eine Augenbraue. „Ich weiß nicht. Ich bin gerade sprachlos.“ Yamato lachte. „Waren wir auch im ersten Moment. Sie ist schon in der zehnten Woche, aber hat bis vor ein paar Tagen nichts gemerkt.“ Takeru atmete tief durch und kratzte sich am Kopf. Mit solchen Neuigkeiten hatte er definitiv nicht gerechnet. Wie seine Eltern wohl reagieren würden? „Wann wirst du es Mama und Papa sagen?“ „Keine Ahnung. Möglichst bald. Immerhin ist Ende Oktober Geburtstermin.“ „Krass“, wiederholte Takeru nur kopfschüttelnd. Yamato sah ihn schief an. „Schreibst du so auch deine Liebesgedichte? ‚Ich liebe dich voll krass‘?“ „Ich schreib‘ keine Liebesgedichte“, grummelte Takeru. „Wie auch immer.“ Yamato packte das Bild wieder ein und stand auf. „Ich muss dann mal. Bis später. Und lass‘ dir nicht mehr so lange Zeit.“ Er schlenderte über den Rasen hinweg und Takeru sah ihm hinterher. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in seinem Magen breit und schien durch seinen ganzen Körper zu strömen. Yamato studierte gerade einmal seit zwei Jahren und hatte unbeabsichtigt seine Freundin geschwängert, die ebenfalls mit ihrem Studium noch nicht fertig war. Beide hatten eigentlich weder Zeit noch Geld, sich um ein Kind zu kümmern. Und Takeru? Er verspürte einen unerträglichen Neid. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)