Vielleicht irgendwann von Juju ================================================================================ 64. Kapitel, in dem Hikari keine Heilige ist -------------------------------------------- „Was? Ihr habt die Hochzeit abgesagt?“ Ungläubig starrte Taichi sie an. Die Familie Yagami saß gemeinsam im Wohnzimmer, weil Hikari um ein Treffen gebeten hatten. Auf dem Couchtisch stand ein Teller mit selbst gebackenen Karottenkeksen von Yuuko, die bisher niemand angerührt hatte. „Mhm“, machte Hikari und nickte beklommen. Sie und Willis hatten gestern, fünf Tage vor der Hochzeit, gemeinsam beschlossen, vorerst nicht zu heiraten. „Wieso denn das? Habt ihr euch getrennt?“, fragte Taichi weiter und machte große Augen. „Nein“, antwortete Hikari. „Das klingt aber nicht sehr überzeugt“, stellte er fest und musterte sie mit kritischem Blick. „Ich habe mir sowas schon gedacht“, sagte Yuuko und streichelte ihr den Arm. Sie wirkte in der Tat wenig überrascht. „Was echt?“, fragte Taichi verwirrt. „Tja, so eine Totgeburt ist eine schlimme Erfahrung“, erklärte sie mitfühlend. „Ich denke, das kann niemand nachempfinden, der das nicht erlebt hat. Ich kann Kari verstehen, dass ihr jetzt nicht nach einer Hochzeit zumute ist.“ „Oh Mann“, murmelte Taichi und kratzte sich am Kopf. „Wir kontaktieren heute noch die restlichen Gäste“, sagte Hikari betrübt. „Willis‘ Familie kommt natürlich trotzdem nach Tokio. Sie unternehmen dann etwas anderes.“ „Ja, sie werden sich ihre Zeit schon vertreiben können“, meinte Yuuko abwinkend. „Darüber würde ich mir keine Sorgen machen.“ „Wollt ihr die Hochzeit auf einen anderen Tag verschieben?“, fragte nun Susumu. „Erst mal nicht“, gab Hikari zu und senkte den Blick. „Vorerst haben wir sie einfach abgesagt.“ „Hm“, er verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust, „ehrlich gesagt fand ich diese Hochzeit sowieso ein bisschen überstürzt. Du bist immerhin erst einundzwanzig.“ Hikari entging der warnende Blick nicht, den Yuuko ihm zuwarf. „Ja, fand ich auch“, stimmte Taichi ihm jedoch zu. Hikari starrte nur auf ihre Hände, die auf ihren Knien lagen. Wenn sie ihre Familie so reden hörte, konnte sie nicht anders, als irgendwo in der hintersten Ecke ihres Herzens ein klein wenig Erleichterung zu empfinden. Nicht, weil sie ihr Kind verloren hatte, oh nein. Sondern eher, weil ihr Leben nun erst einmal doch so weiterlaufen würde wie bisher. Aber das schloss ja auch mit ein, dass sie ihr Kind verloren hatte! Sie kaute auf ihrer Unterlippe und fühlte sich auf einmal schrecklich. „Aber ihr zieht trotzdem noch zusammen, oder?“, riss Yuuko sie wieder aus ihren Gedanken. Der Umzug! Hikari neigte dazu, den Umzug ständig zu verdrängen. Im Moment standen einfach wichtigere Dinge im Vordergrund. Auch der Umzug in eine gemeinsame Wohnung hatte nur wegen des Babys stattfinden sollen. Aktuell fühlte sie sich nicht stark genug für einen Umzug. Sie wäre wesentlich weiter weg von der Uni als jetzt. Und von Takeru. Dafür natürlich jeden Tag mit Willis zusammen. „Ich… ja“, murmelte sie zögerlich. „Immerhin bleibt ihr ja auch trotzdem noch ein Paar. Da könnt ihr also auch zusammenziehen“, meinte Taichi nachdenklich. „Lang kannst du ja eh nicht mehr im Wohnheim bleiben.“   Den Abend des nächsten Tages verbrachte Hikari bei Takeru. Sie sahen sich auf seinem Laptop irgendeine willkürliche Komödie an und aßen nebenbei Chips. Willis hatte sie davon nichts erzählt. Sie war sich sicher, dass er es nicht gern hören würde, dass sie schon wieder einen Abend mit Takeru verbrachte. Er schien noch immer ein wenig angefressen zu sein, weil Takeru bei ihr übernachtet hatte. Hikari befürchtete, dass er jetzt eine andauernde Eifersucht auf Takeru entwickeln könnte. Noch einmal hatte Hikari mit Takeru über ihren verlorenen Sohn geredet. Dann hatte sie von dem gestrigen Nachmittag bei ihrer Familie berichtet. „Ich vergesse ständig, dass ich bald umziehe“, murmelte Hikari ein wenig amüsiert. „Ganz schön dämlich, oder?“ „Hm… nein. Du hast eben gerade andere Dinge im Kopf und kannst dich nicht auf einen Umzug konzentrieren“, meinte er sachlich. „Ich schätze, das ist bei so einem Erlebnis normal.“ „Aber ich fühle mich ein bisschen schlecht deswegen“, nuschelte Hikari und schob sich eine weitere Handvoll Chips in den Mund. „Willst du denn… überhaupt noch umziehen?“ Sie saßen nebeneinander auf Takerus Bett, mit dem Rücken an der Wand lehnend, und er musterte sie von der Seite. Hikari starrte weiter auf den Laptop, der zwischen ihnen stand. „Ich… naja, es gibt ja eigentlich ohne Baby keinen Grund mehr zum Zusammenziehen“, stammelte sie. „Also ich meine… unsere Beziehung hat ja auch so gut funktioniert, ohne dass wir zusammenwohnen. Vielleicht tun sich ja auch neue Probleme auf, wenn wir jetzt zusammenziehen und dann gefährdet das unsere Beziehung. Es ist ja seit der Geburt und der Absage der Hochzeit sowieso schon schwierig.“ „Das klingt nicht, als würdest du es wollen“, stellte Takeru nüchtern fest. Hikari spielte nervös an ihren Fingern. „Ich weiß es nicht“, seufzte sie. „Du solltest es nicht überstürzen“, meinte er ernst. „Aber… wenn ich ihm jetzt sage, dass ich erst mal nicht mit ihm zusammenziehen will, denkt er vielleicht, irgendetwas würde mit uns nicht stimmen“, widersprach sie. „Bist du denn sicher, dass zwischen euch alles stimmt?“ „Jetzt frag‘ doch nicht so viel.“ Sie verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. „Mann Kari, du sollst es einfach nicht überstürzen. Wenn du dir nicht sicher bist, dass du das willst, solltest du es lassen.“ „Aber dann gibt es wieder Stress.“ „Du hast viel mehr Stress, wenn du etwas tust, was du nicht willst.“ „Keru“, seufzte sie schwer und lehnte den Kopf gegen die Wand. „Schon okay, ich sag‘ nichts mehr“, erwiderte er. Eine Weile verfolgten sie schweigend den Film, lachten jedoch an den witzigen Stellen nicht. Hikari war ohnehin so sehr in Gedanken an den Umzug versunken, dass sie kaum etwas von der Handlung mitbekam. „Würdest du denn beim Umzug helfen?“, fragte sie schließlich. „Klar“, antwortete er ohne zu zögern. „Und würdest du uns auch ab und an besuchen kommen?“ „Hm“, er schien einen Augenblick nachzudenken, „ich denke, das kann man arrangieren.“ „Oh Keru“, seufzte sie und drehte den Kopf zu ihm. „Ich weiß echt nicht, womit ich dich verdient habe. Und was ich ohne dich machen würde.“ Er erwiderte ihren Blick. „Ich schätze, du wärst total aufgeschmissen ohne mich. Wahrscheinlich wärst du nicht mal so alt geworden ohne mich.“ Sie lächelte leicht. „Jetzt übertreibst du aber.“ „Ach ja?“ Er hob spielerisch eine Augenbraue. „Und was ist mit dem Tag, an dem du zum ersten Mal deine Tage bekommen hast? Ohne mich wärst du doch auf dem Klo verblutet.“ Sie konnte nicht anders. Sie musste leise lachen. „Du bist echt dämlich. Wie kommst du denn jetzt darauf?“ „Das hat mich eben traumatisiert. Oder erinnerst du dich an Makoto und dein erstes Mal mit ihm? Ohne mich wärst du jetzt wahrscheinlich immer noch bei ihm.“ „Ja, klar. Ich wäre natürlich bei ihm eingezogen vor lauter Verzweiflung“, murmelte Hikari sarkastisch, konnte sich jedoch ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. „Und ohne mich hättest du auch gar nicht gewusst, was du bei deinem ersten Mal machen musst“, redete er weiter. Er machte ein gespielt selbstüberzeugtes Gesicht. „Ich bin schon ziemlich toll für dich.“ „Und ohne dich hätte ich wohl immer noch Angst vor Sex“, fügte Hikari flüsternd hinzu. Er presste die Lippen aufeinander und gleichzeitig verwünschte Hikari sich selbst, dass sie dieses Thema wieder angesprochen hatte. Das war doch inzwischen ewig her und sie hatten nicht mehr darüber geredet. „Ähm… ich sag‘ ja. Aufgeschmissen“, nuschelte er. Langsam näherten sich ihre Gesichter einander an. Hikaris Blick wanderte von seinen tiefblauen Augen zu seinen Lippen, die leicht geöffnet waren. Sie erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, ihn zu küssen. „Vielleicht ein bisschen“, hauchte sie. Noch näher kamen sie sich. Sie konnte ein paar einzelne Sommersprossen auf seiner Nase erkennen. Sie spürte bereits seinen warmen Atem auf ihren Lippen. Seine Hand berührte ihre Wange und strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. Von dort wanderte sie in ihren Nacken und zog sie sanft an sich. Er legte den Kopf ein klein wenig schief, bevor sich seine Lippen auf ihre legten. Ein Kribbeln breitete sich in Hikaris Magengegend aus und sie schloss genüsslich die Augen. Auf einen kurzen Kuss folgte ein zweiter, ohne dass ihre Lippen sich zwischendurch voneinander trennten. Beim dritten Kuss öffnete Hikari ihre Lippen ein wenig und er tat es ihr gleich. Sanft vertieften sie den Kuss und Hikari vergaß alles um sich herum. Es gab nur noch sie und ihn hier auf seinem Bett. Alles andere war komplett ausgeblendet. Für einen kleinen Augenblick befanden sie sich in einer völlig anderen Welt und alle Sorgen und Ängste waren vergessen. Doch dann lösten sie den Kuss und Hikari sah ihn erschrocken an. „Wir dürfen das nicht!“, keuchte sie. „Ich bin vergeben. Hätte fast geheiratet! Das geht nicht!“ „Scheiße, tut mir leid“, erwiderte Takeru stirnrunzelnd und wandte den Blick ab. Sie biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe und starrte wieder den Bildschirm des Laptops an.   Zwei Tage später hatte Hikari beschlossen, Willis von dem Kuss mit Takeru zu erzählen. Vor lauter schlechtem Gewissen hatte sie in den letzten zwei Nächten kaum schlafen können. Der Kuss mit Takeru hätte nicht passieren dürfen, doch sie hatte sich einfach hinreißen lassen. Es hatte sich einerseits so falsch und andererseits wie das einzig Richtige angefühlt. Willis würde sauer auf sie sein, dessen war sie sich sicher. Vor allem, da er ohnehin schon eifersüchtig auf Takeru war. Streng genommen hatte sie ihn nun mit ihrem besten Freund betrogen. Mit dieser Last auf ihrem Gewissen würde sie keine Beziehung weiterführen können. Schon gar nicht, wenn sie irgendwann heiraten wollten. „Worüber wolltest du mit mir reden?“, fragte er, während sie auf seinem Bett saßen, und musterte sie mit seinen hellblauen Augen. „Ich muss dir was erzählen“, begann sie kleinlaut. „Das klingt nicht gut“, stellte er trocken fest. „Ist es auch nicht.“ Er seufzte und hob eine Augenbraue. „Schieß‘ los.“ „Ich habe… T.K. und ich haben… naja…“ Hikari zögerte, weil sie nicht wusste, wie sie sich ausdrücken sollte. Gab es eine Formulierung, die das, was sie getan hatte, weniger furchtbar klingen ließ? Willis schloss die Augen und schüttelte ganz leicht den Kopf. „Oh Kari. Bitte nicht.“ Hikari biss sich betreten auf die Unterlippe. „Bitte sag‘ mir nicht, dass du mit ihm geschlafen hast“, fuhr Willis fort und sah sie wieder an. Auf seiner Stirn hatte sich eine senkrechte Falte gebildet. Sein Blick sprach nur so von Schmerz. Wie relativ oft in letzter Zeit, wenn sie sich sahen. „Ich habe nicht mit ihm geschlafen!“, widersprach sie heftig. Er öffnete die Augen wieder und sah sie an. „Sondern?“ Sie holte tief Luft. „Wir haben uns nur geküsst.“ Er stöhnte, stand auf und raufte sich das Haar, bevor er sich zu ihr umdrehte und sie fassungslos anstarrte. „Nur?! Nur geküsst?“ „Es ist einfach so passiert“, erwiderte Hikari. „Wie kann ein Kuss bitte einfach so passieren? Seid ihr gestolpert und zufällig mit den Mündern aufeinander gefallen?“, fragte er wütend. Sie schwieg und presste die Lippen aufeinander. „Kari, ernsthaft. Ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll. Erst diese Nacht, jetzt das…“ Er ging zum Fenster und starrte nach draußen. „Willis“, murmelte sie, stand nun ebenfalls auf und ging langsam auf ihn zu. „Es tut mir leid. Das war nicht geplant.“ „Ja, das hast du auch letztes Mal schon gesagt. Es war nicht geplant“, knirschte er, ohne sie zu beachten. Sie legte eine Hand auf seinen Arm. „Ich weiß, dass das furchtbar von mir war.“ „Ganz ehrlich“, sagte er, schüttelte ihre Hand ab und starrte sie an, „was lief zwischen euch, als er in deinem Bett geschlafen hat?“ „Nichts!“, rief Hikari schrill. „Wie soll ich dir das glauben, nachdem du mir jetzt von diesem… Kuss erzählt hast?“, fuhr er sie an. „Eben weil ich es dir erzählt habe, solltest du mir glauben!“, rief sie. „Oh wow. Möchtest du eine Urkunde dafür haben, dass du mir deinen Betrug gestanden hast?“ Seine Stimme triefte nur so vor Hohn. „Oh heilige Hikari, womit habe ich so eine ehrliche, vertrauenswürdige Person wie dich verdient?“ Erschrocken starrte sie ihn an. Seine Worte trafen sie tief. Natürlich hatte sie einen Fehler gemacht, aber was er ihr da an den Kopf warf, war einfach nicht fair. „Wen liebst du mehr? Mich oder ihn?“ „Ich… das kann man überhaupt nicht vergleichen“, antwortete sie abweisend. „Ach nein?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich denke, das kann man sehr gut vergleichen und ich glaube, du hast eine Wahl getroffen.“ „Ich habe die Wahl getroffen, es dir zu erzählen, weil ich nicht will, dass irgendetwas zwischen uns steht!“, verteidigte Hikari sich verzweifelt. Sie spürte bereits Tränen in ihren Augen brennen. „Zwischen uns steht nicht irgendetwas, sondern jemand“, zischte Willis, wurde dann jedoch ruhiger. „Du solltest jetzt gehen.“ „Aber Willis, wir müssen doch…“ „Wir müssen gar nichts“, unterbrach er sie. „Geh‘ jetzt einfach.“ „Es sollte doch aber niemand zwischen uns stehen“, murmelte Hikari aufgelöst. „Dann hättest du es verhindern sollen.“ „Willis…“ „Bitte geh‘.“ Er wandte ihr nun den Rücken zu. Das Gespräch war damit für ihn beendet und Hikari hatte keine andere Wahl, als sein Zimmer zu verlassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)