Corvus et Vulpes von Bei ================================================================================ Kapitel 27: Im Spannungsfeld der Kräfte --------------------------------------- Einen Tag nach dem offiziellen Ende der Totenwache flatterte Galatyn mit dem Tagespropheten im Schnabel durch das geöffnete Fenster und setzte sich auf Jiang Lis Bettrand. Sie war gerade damit beschäftigt, ihre Schwerter zu schärfen und zu polieren, nur für alle Fälle. Yue You hatte sie dazu aufgefordert, sich am Nachmittag zu einem Gespräch in Zhen Juans altem Büro einzufinden. Jiang Li fühlte wieder einen starken Druck im Magen und war sich nicht darüber im Klaren, ob sie nun Angst hatte oder erleichtert war, dass die ungelöste Situation endlich zu einem Abschluss kommen würde. Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht gleich das Schlimmste anzunehmen, sondern die Dinge auf sich zukommen zu lassen, obwohl ihr das mehr als schwerfiel. Abzuwarten war noch nie ihre Stärke gewesen. „Die Zeitung? Und dann noch ans Bett, so ein Service“, lächelte sie und strich ihrem Raben leicht über das Gefieder, bevor sie einen Blick auf die Titelseite warf und ihre Miene gefror.   ERNEUT TODESESSER AUS AZKABAN ENTKOMMEN   Jiang Li betrachtete mit steinerner Miene die sieben Schwarz-Weiß-Fotografien, die auf dem gesamten Titelblatt verteilt zu sehen waren. Vier Hexen und drei Zauberer starrten mit höhnischen oder verächtlichen Mienen aus den Bilderrahmen; eine Hexe mit hellem Haar kratzte unablässig über den linken Seitenrand und schnitt hässliche Grimassen. Unter ihrem Bild stand: Eadhild Armsted, überführt der brutalen Morde an Siward Winne und Niamh Abney. Flüchtig betrachtete sie die restlichen Fotografien. Esyllt Barnett, Adolphe Warner. Beide der Folter überführt. Mahaut Huntley, dreifacher Mord. Das schöne Gesicht über dem Namen lächelte hintergründig und zwinkerte Jiang Li verschwörerisch zu. Sie seufzte müde und legte die Zeitung mit dem Titelblatt nach unten zur Seite. Plötzlich hatte sie keine Lust mehr dazu, die Gesichter noch länger zu betrachten und den wenig erfreulichen Bericht zu lesen. Die Nachricht über den erneuten Ausbruch von Todesessern erleichterte ihr die Entscheidung, wie es für sie persönlich weitergehen sollte, nicht gerade. Es wurde immer gefährlicher, Voldemort scharte seine Verbündeten immer dichter um sich und es lag eigentlich auf der Hand, dass sie zurück nach Hogwarts musste – zurück zum Orden, um weiter gegen die Bedrohung anzukämpfen. Und trotzdem dachte sie immer wieder daran, wie es wäre, einfach hier zu bleiben und die Kampfschule zu leiten. Ich könnte eine Schülerin aufnehmen, dachte sie und war über sich selbst verwundert. Den Gedanken hatte sie bisher noch nie ernsthaft verfolgt, da sie stets mit ihrer eigenen Person genug zu tun gehabt hatte. Ein paar Sekunden lang stellte sie sich ernsthaft vor, wie ihr Leben auf dem Huashan aussehen könnte, wenn sie sich jetzt einfach dazu entschloss, nicht mehr nach Hogwarts zu gehen. Keine Schülerhorde mehr, sondern nur noch ein folgsames Mädchen, das allen ihren Befehlen Folge leisten würde, ein hoher gesellschaftlicher Status und – das war das Wichtigste – kein Snape mehr, über dessen vorhandene oder nicht vorhandene Zuneigung sie sich den Kopf zerbrechen musste. Es klopfte leise an der Tür und der Augenblick war vorüber. Jiang Li hob den Kopf. „Ja?“ Nach einigen Sekunden wurden zwei riesige, fledermausähnliche Ohren sichtbar, und der Hauself Liang schob vorsichtig seinen großen Kopf durch den Türspalt. Man konnte ihm deutlich ansehen, dass er lieber ganz weit entfernt irgendwo im Wald gewesen wäre, als vor Jiang Li zu stehen. „Herrin“, quäkte er furchtsam, „ich soll Euch daran erinnern, dass Euch Herrin Yue You sehen will …“ Als sich Jiang Li langsam erhob, zuckte er unwillkürlich heftig zusammen, als hätte sie einen Stein nach ihm geworfen. „Du magst mich nicht, Liang, nicht war?“, fragte sie langsam und sah ihn prüfend an. Er begann heftig zu zittern und packte sein rechtes Ohr. „Herrin, ich …“ „Es ist gut, Liang“, sagte sie leise und winkte ab. „Ich habe dir auch nie viel Gelegenheit gegeben, um dein Urteil zu ändern. Ich war nicht immer gerecht zu dir.“ Der Hauself stieß einen schrillen Kreischton aus und schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte. Er hielt sein Ohr immer noch fest, zog aber nicht daran. „Du musst dich nicht bestrafen, es ist alles gut. Geh jetzt.“ Liang warf ihr einen ungläubigen Blick zu, bevor er sich umdrehte, aus der Tür wankte und mit einem lauten Knall verschwand.   Yue You, Li Ming und Xiao Hong erwarteten sie bereits, als sie ein paar Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt im Büro eintraf. Alle drei saßen schweigend rings um den schweren Tisch verteilt, hinter dem sonst immer Zhen Juan gethront hatte. Lei saß auf einer Stange neben dem Fenster und ließ den Kopf hängen. Man sah dem Uhu an, wie sehr er seine Herrin vermisste und die Annahme lag nahe, dass er ihr wohl auch bald auf den letzten Weg folgen würde. Sein Gefieder wirkte glanzlos und struppig und er blickte nicht auf, als Jiang Li den Raum betrat. Sie blieb vor dem Tisch stehen und wappnete sich innerlich. „Du hast um Unterredung gebeten, Yue You?“ „Wir haben uns alle drei dazu entschlossen, dass es jetzt an der Zeit wird, uns über die Zukunft der Schule und des Badehauses zu unterhalten, Jiang Li“, antwortete die schöne Schwertmeisterin und schüttelte ihr langes schwarzes Haar mit einer eleganten Kopfbewegung in den Nacken. „Setz dich, es wird wohl länger dauern.“ Jiang Li kniff die Augen leicht zusammen und zögerte einen Augenblick. Dann gab sie sich einen Ruck und nahm Platz, wobei sie mit unangenehmer Deutlichkeit bemerkte, dass der ihr zugewiesene Stuhl ein wenig von den anderen abgerückt stand. Wie auf einer Anklagebank, dachte sie bitter. „Beginnen wir“, ergriff Yue You wieder das Wort und schürzte leicht die vollen Lippen. „Wir müssen nicht lange um den heißen Brei herumreden. Unsere geliebte Großmeisterin ist von uns gegangen und die Frage nach ihrer Nachfolge ist bis dato ungeklärt.“ „Keineswegs. Sie ist sogar schon seit langer Zeit entschieden“, erwiderte Jiang Li schärfer, als sie eigentlich beabsichtigt hatte, und biss sich sofort im Geiste auf die Zunge. Sie musste ruhig bleiben. „Die Gegebenheiten haben sich geändert, Jiang Li“, warf Li Ming mit ruhiger Stimme ein, bevor Yue You, der offensichtlich eine harsche Entgegnung auf der Zunge lag, etwas sagen konnte und beugte sich ein wenig nach vorne. „Als die Großmeisterin sich vor fünf Jahren dazu entschlossen hat, dich zur ersten Schwertmeisterin zu ernennen, war nicht abzusehen, dass du nach England gehen und auf deiner alten Schule unterrichten würdest. Natürlich“, fuhr sie mit leicht erhobener Stimme fort, als Jiang Li den Mund öffnete, „war nicht anzunehmen, dass sie – das geschehen würde, was nun geschehen ist. Wir hätten alle nie gedacht, dass unsere Meisterin ein solches Schicksal ereilen würde. Aber nun ist das Unglück eingetreten und wir müssen uns damit auseinandersetzen.“ „Es ist trotzdem alles klar. Ich setze eine Stellvertretung ein …“ „So einfach ist das nicht. Es ist hier oben nicht mehr so sicher wie früher. Wir brauchen jemanden, der immer vor Ort ist und die Zügel fest in der Hand hält“, schaltete sich Xiao Hong ein und lächelte für einen Augenblick außerordentlich niederträchtig. Jiang Li warf ihr einen vernichtenden Blick zu und senkte leicht den Kopf. Schon wieder wurde die alte Geschichte aufgewärmt. Tausendmal schon hatte sie sich für das gestohlene Feueramulett entschuldigt, aber bevor es ihr nicht gelang, Kuan-yin ausfindig zu machen und den alten Schutz rings um die Schule und das Badehaus wiederherzustellen, sprach dieser Umstand eindeutig gegen ihre Kompetenz. „Ich hatte vor, Yue You einstweilen einzusetzen. Sie wird alles während meiner Abwesenheit sicher verwalten und in einem Jahr …“ „Das ist zu wenig, Jiang Li“, fauchte Yue You dazwischen. „Wir können auf dich nicht mehr voll zählen. Wer garantiert uns, dass du nicht einfach noch ein Jahr in England anhängst – und dann noch eins und noch eins? Ich habe keine Lust, für dich die Drecksarbeit zu machen, nur damit du dann wiederkommen und dich gemütlich ins gemachte Nest setzen kannst. Ich will den Status, der mir zusteht.“ „Der mir zusteht“, zischte Jiang Li erbost zurück und umklammerte mit einer Hand die Tischkante, um sich davon abzuhalten, aufzuspringen und ihre Schwester am Kragen zu packen. „Ich bin die rechtmäßige Nachfolgerin!“ „Wir sind da aber anderer Meinung, Jiang Li“, mischte sich Li Ming wieder ein und hob beruhigend die Hand. „Bitte, hör uns zuerst an, bevor du etwas sagst. Wir wollen keineswegs, dass du einen Nachteil davonträgst, aber trotzdem müssen wir rasch handeln. Nach eingehender Beratung haben wir uns alle drei dazu entschieden, dass es das Beste sein wird, Yue You als neue Großmeisterin einzusetzen und dich weiterhin auf deiner Position als erste Schwermeisterin zu belassen. Ich werde dann an zweite Stelle aufrücken und Xiao Hong an dritte. Du kannst wiederkommen, wann du möchtest und dir dann eine Schülerin nehmen, falls du das willst. Es ändert sich nichts für dich, Jiang Li“, sagte sie beschwörend und sah sie eindringlich an. „Das wäre ein guter Kompromiss für alle Seiten.“ Jiang Li schwieg und sah Li Ming mit gerunzelter Stirn an, während ihre Gedanken rasten. Es war tatsächlich eine vernünftige Lösung. Sie würde nicht viel verlieren und konnte ruhigen Gewissens wieder nach Hogwarts reisen. Und doch. Schon wieder geschah es. Immer stand sie an zweiter Stelle. In Anshan war ihr rechtmäßiger Platz Joogiya zugefallen und bei der Totenwache hatte sie nicht am Kang ihres Urgroßvaters stehen dürfen. Und jetzt war es Yue You, die sich vor sie drängen wollte. Im Lichte der Vernunft betrachtet wusste sie allerdings sehr wohl, dass begründete Vorfälle dazu beigetragen hatten, dass sich die Dinge auf die vorliegende Art und Weise entwickelt hatten. Kurz erschien das Bild ihrer Mutter vor ihrem inneren Auge und sie erinnerte sich an ihr Gespräch im August.   … auf dem Huashan, das wussten wir, da würde dich Voldemort nie finden. … Dir konnte nichts geschehen, wenigstens dir nicht …   Li Ming bemerkte, dass Jiang Li zögerte, interpretierte dies als Zustimmung und lächelte aufmunternd. „Siehst du, ich wusste ja, dass du es genauso siehst wie wir!“ Wie ein Feuersturm raste blinder Zorn in Jiang Li hoch und ließ jeden rationalen Gedanken in Sekundenbruchteilen verglühen. „NEIN!“ Sie sprang auf und trat den Stuhl mit einer heftigen Bewegung zur Seite. Yue You folgte ihrem Beispiel und schoss ebenfalls kerzengerade in die Höhe. Ihre Augen funkelten kalt und sie lächelte höhnisch. „Wenn du es nicht anders willst – dann werden wir eben den Rat damit bemühen müssen“, sagte sie spitz und mit einer eigentümlichen Ruhe. „Pah! Ich glaube es ja nicht! Du hinterhältiges Biest!“, fauchte Jiang Li und ballte die Fäuste. Sie fühlte sich in ihrem Verdacht voll und ganz bestätigt. Von Anfang an hatte es Yue You nur auf ihren Posten abgesehen und die ganzen schönen Worte ihrer hinterhältigen Schwestern sollten nur dazu dienen, um sie von dieser Tatsache abzulenken. Yue You senkte den Kopf wie ein wütender Stier und funkelte Jiang Li mit einem Blick an, der das Potenzial dazu besaß, alle fünf Gipfel des Huashan der Reihe nach zu spalten. „So. Und jetzt reicht es. Ich habe dich so satt, ich kann es gar nicht in Worte fassen. Dein ewiges Genörgel über alles und jeden kotzt mich an – immer bist du die Arme, die schlecht Behandelte, das bedauernswerte Opfer! Deine Familie war gemein zu dir, in Hogwarts wurdest du ungerecht behandelt, wir wollen dir auch nur schaden. Aber dass du selber genauso schuld daran bist, das siehst du nicht. Dir geht es nämlich nicht schlecht, Jiang Li. Es geht dir sogar sehr gut! Hast du einmal daran gedacht, dass jedem Menschen Gutes und Böses zustößt? Du bist kein Einzelfall!“ Jiang Li öffnete den Mund und wollte Yue You ins Wort fallen, doch es war zwecklos. Ihre Schwester hatte sich in Rage geredet und sie jetzt aufhalten zu wollen, war ähnlich sinnlos, wie einem herabfallenden Felsen zu befehlen, in der Luft stehen zu bleiben. „Seit ich dich kenne, ist es immer das Gleiche. Du suchst ja direkt nach jedem Fehler, damit du wieder bemitleidenswert sein kannst. Und wenn du etwas falsch gemacht hast, dann sind natürlich die anderen schuld. Ich will ja gar nicht wissen, wie die Sache zwischen Kuan-yin und dir tatsächlich abgelaufen ist. Vermutlich hast du ihn der anderen direkt in die Arme getrieben, weil du –“ „REDE DU NICHT VON KUAN-YIN!“, schrie Jiang Li auf und schlug mit der Handfläche so heftig auf die Tischplatte, dass selbst Lei trotz seiner Apathie vor Schreck heftig zusammenzuckte. „Und du SCHREI MICH NICHT AN!“, brüllte Yue You zurück. Sie trat mit ein paar schnellen Schritten hinter dem Tisch hervor und stellte sich dicht vor Jiang Li hin. „Der Rat wird schon wissen, wie er zu entscheiden hat. Deine Launen sind ja allgemein bekannt.“ „Morgen um zwölf Uhr“, warf Xiao Hong mit süffisanter Stimme ein, „treffen wir uns in Jinduizhen zur Ratssitzung. Vielleicht bist du ja so freundlich und versuchst, einmal pünktlich zu sein?“ „Du Miststück“, flüsterte Jiang Li bedrohlich und zitterte vor Wut. Ihr Gesicht war totenblass geworden. „Ihr seid wirklich alle drei nichts anderes als hinterhältige, verlogene Biester!“ „Halt den Mund, sonst vergesse ich mich“, gab Xiao Hong leise zurück. Li Ming seufzte tief und trat energisch zwischen die Fronten. „Das reicht jetzt. Du hast es gehört, Jiang Li, morgen um Zwölf im Versammlungshaus. Vielleicht überlegst du dir das Ganze noch einmal in Ruhe.“ Jiang Li ignorierte den eindringlichen, fast bittenden Blick, den ihr die dritte Schwertmeisterin zuwarf, drehte sich um und stürmte aus dem Büro, wobei sie die Türe so fest hinter sich zuschlug, dass Lei zum zweiten Mal beinahe von seiner Stange fiel.   Als sie in ihrem Zimmer angekommen war, warf sie sich auf das Bett und schloss die Augen. In ihrem Hals würgte es und sie fühlte einen starken Druck im Kopf. Was sie von der ganzen Sache halten sollte, wusste sie nicht, der Schock saß noch zu tief. Jiang Li öffnete die Augen und starrte ins Leere. Was hatte sie getan? War es richtig gewesen, das Angebot auszuschlagen? Was hatte sie da nur getan? Die Geschehnisse kamen ihr mit einem Mal unwirklich vor. Hatten ihre Schwestern wirklich vor, die Frage der Nachfolge vor dem Rat klären zu lassen? Die Wahl der Mittel zeigte, wie entschlossen sie sein mussten, Jiang Li als neue Großmeisterin zu verhindern. Sie drehte sich auf den Rücken und sah, dass Galatyn auf dem Kleiderschrank hockte und zu ihr hinunterspähte. Seine gesamte Körperhaltung wirkte wie ein einziger Vorwurf. „Du auch?“, fragte sie bitter und fühlte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Die ganze Welt schien sich gegen sie verschworen zu haben und Intrigen zu schmieden. Sogar ihr Rabe fiel ihr in den Rücken. Sie ließ sich wieder auf den Bauch fallen, vergrub den Kopf in den Armen und begann leise zu weinen. Plötzlich durchfuhr sie ein scharfer Schmerz. „AU!“ Galatyn war unbemerkt vom Schrank heruntergeflattert und hatte seine Klauen tief in ihre linke Schulter gegraben. Sie versuchte ihn abzuschütteln, doch er krallte sich nur noch stärker fest. „Hör auf! Das tut weh!“, zischte sie und schlug leicht mit der rechten Hand nach ihm. Der Rabe kreischte schrill auf und hackte ihr mit dem Schnabel kräftig in den Zeigefinger. Jiang Li wurde ernsthaft wütend, richtete sich mit einem Ruck halb auf und packte Galatyn am Genick. Er stieß wieder einen durchdringenden Schrei aus, ließ sich aber ohne große Gegenwehr auf das Bett ziehen und starrte sie von dort mit schwarzen, wütend funkelnden Augen an. Sie wusste zwar nicht, wie es ihm gelungen war, aber er schien definitiv Bescheid über den Verlauf des Gespräches zwischen ihr und den anderen drei Frauen zu wissen. „Was soll das, Galatyn?“, fragte sie tonlos, obwohl sie die Antwort bereits wusste. Der Rabe bohrte seine Augen weiterhin in die ihren und schob den Schnabel in einer leichten Drohgebärde nach vorne. „Ich konnte nicht anders, das musst du verstehen“, erklärte sie mit fester Stimme, obwohl sie im Inneren nicht so sicher war, wie sie sich gab. „Die Schmach tue ich mir nicht an. Sicher nicht. Der Platz steht mir zu und ich poche auf mein Recht.“ Galatyn stieß einen schnarrenden Ton aus und drehte den Kopf leicht zur Seite. Er schien mit ihrer Entscheidung absolut nicht einverstanden zu sein, gab es jedoch auf, noch weiter protestierend nach ihr zu hacken und stolzierte statt dessen langsam an die Bettkante. Mit einem kräftigen Schlag seiner Flügel erhob er sich in die Luft und schoss aus dem halb geöffneten Fenster hinaus ins Freie, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.   ***   Jiang Li machte sich kurz nach Anbruch des Morgengrauens in Richtung Jinduizhen auf den Weg. Die Stadt lag zwar nicht weit vom Fuße des Huashan entfernt, doch sie wollte nicht das Risiko eingehen, aufgrund eines Dämonenangriffes zu spät zur Ratssitzung zu kommen. Die Schwertkämpfer standen zwar nicht außerhalb des Gesetzes, lebten aber größtenteils nach ihren eigenen Regeln. Sie richteten sich nach den Entscheidungen des Rates, der zu einem Teil aus den ältesten und weisesten Kämpfern der Gemeinschaft bestand und zum anderen Teil aus den erfolgreichsten Großmeistern, die durchaus auch recht jung sein konnten. Obwohl der Umgangston sehr rau war und mit den Verhaltensnormen, die sowohl unter der magischen als auch der nichtmagischen Bevölkerung herrschten, kaum in Einklang stand, wurde auf Gerechtigkeit besonderen Wert gelegt. Zweimal ritt sie mit ihrem Hengst durch einen Schwarm grell pfeifender Hsigo, die sie mit ein paar gezielten Schwerthieben vertrieb, und einmal sah sie von Weitem einen Yü Kuang. Der kopflose Dämon schien ihre Anwesenheit durchaus wahrzunehmen, griff sie jedoch wider Erwarten nicht an.   Kurz vor zehn Uhr kam sie in Jinduizhen an und stellte das Pferd in einem kleinen Gasthaus unter. Hunger hatte sie keinen, obwohl sie am Morgen noch nichts gegessen hatte; die bevorstehende Verhandlung schlug ihr auf den Magen. Da sie noch ausreichend Zeit hatte, schlenderte sie langsam durch den Teil der Stadt, der von Magiern bevölkert wurde, und betrachtete lange die Auslagen der kleinen Geschäfte. In einem davon, das offensichtlich eher schwarzmagische Waren führte, stand neben einem Sammelsurium aus kleinen, zu Figuren geschnitzten Knochen, verschiedenartig schillernden Perlen, Objekten aus Federn, Leder und anderen Stoffen, die Jiang Li lieber nicht so genau betrachtete, ein verwittertes Laufrad mit einem struppigen Streifenhamster. Das Tier wirkte nicht sehr gesund; sein Fell wies zahlreiche kahle Stellen auf und es war ausgesprochen dünn. Obwohl es erschöpft wirkte, bewegte es sich unablässig in seinem quietschenden Rad, dem mehrere Speichen fehlten. Hinter Jiang Li hustete jemand geräuschvoll und sie drehte sich unwillkürlich um. Eine zahnlose alte Hexe grinste sie verschmitzt an. „Na, Liebchen?“ „Na, Tantchen?“, fragte Jiang Li lässig zurück und wollte dem Schaufenster gerade den Rücken zukehren und gehen, als sie die Alte am Kleidersaum packte und weitersprach. „Gefällt dir der Hamster?“ „Gibt schönere Exemplare.“ „Aber kaum welche, an denen man das Schicksal eines Menschen besser erkennt.“ „Ach ja?“ Die alte Frau hustete wieder und deutete auf das Laufrad. „Schau dir an, wie der kleine Kerl läuft und läuft. Aber weil ein paar Speichen fehlen, kommt er immer wieder aus dem Tritt. Und so geht es im Leben auch. Manche haben ein ordentliches Laufrad, in dem sie nie stolpern und ungehemmt rennen können, und andere haben eins, das so voll Lücken ist, dass sie immer wieder hinfallen und im Rad hin und her geschleudert werden.“ Jiang Li starrte den Hamster an und sah sich plötzlich selbst, wie sie sich hilflos in einem riesigen Rad immer wieder überschlug, da zu viele Speichen fehlten. Wortlos drehte sie sich um, schüttelte die Hand der Hexe ab und presste sich im Davoneilen kurz die Hand auf die Stirn. Sie wollte die skurrile Philosophie der Alten so schnell wie möglich vergessen und das Bild des Laufrades, das an Bedrohlichkeit immer mehr gewann, aus ihrem Kopf drängen.   Das einstöckige Versammlungshaus der Schwertkämpfer lag am Stadtrand hinter einer hohen Mauer inmitten eines verwilderten Gartens. Für die nichtmagische Bevölkerung sah es wie ein verfallenes Fabrikgebäude aus, an dem überall Schilder angebracht waren, die vor der Einsturzgefahr warnten. Am Ende der steinernen Eingangstreppe befand sich ein großes Gefäß aus Gusseisen, in dem Räucherstäbchen angezündet wurden; Jiang Li steckte ebenfalls eines an und blieb für einen Moment mit geschlossenen Augen stehen, um sich ein wenig zu sammeln. Die wöchentlich stattfindende öffentliche Ratssitzung begann für gewöhnlich recht pünktlich, und sie hatte nur noch ein paar Minuten Zeit. Jemand klopfte ihr auf die Schulter. „Chen!“ Das gutmütige Gesicht des vierschrötigen Schwertkämpfers grinste sie an. „Ein seltener Gast im Rat, Fräulein Lian“, dröhnte er gut gelaunt und wurde dann schlagartig ernst, als sein Blick auf die schwarze Schleife fiel, die an ihrem Ärmel befestigt war. „War eine ehrenwerte Frau, die Großmeisterin Zhen Juan …“ Jiang Li sagte nichts, sondern sah kurz zur Seite. „Wir vermissen sie alle sehr!“, fügte Chen noch hinzu und warf dann einen Blick auf den Eingang des Gebäudes. „Die Sitzung fängt gleich an, wir sollten hineingehen.“ Während sie gemeinsam das Versammlungshaus betraten, sah Jiang Li aus dem Augenwinkel, dass ihre Schwestern bereits Platz genommen hatten. Yue You und Xiao Hong trugen entschlossene, kühle Mienen zur Schau, während Li Ming bedrückt wirkte. Bevor sich ihre Blicke treffen konnten, schlug Jiang Li die Augen nieder und tat, als hätte sie die drei Frauen nicht bemerkt, während sie neben Chen Platz nahm. Zum Glück gab es keine feste Sitzordnung; da ohnehin nur Meisterinnen und Meister teilnahmen, die auf dem Huashan oder in nächster Nähe des Berges wohnten, waren die Bänke meist nur spärlich besetzt. Die Ratssitzung wurde eröffnet, indem eine große Bronzeglocke, die in einem hölzernen Rahmen hing, mit einem Schlägel sechsmal angeschlagen wurde. Nachdem es langsam ruhig geworden war, ergriff das älteste Mitglied das Wort und richtete ein paar formelle Grußworte an die Anwesenden. Danach begannen die Teilnehmer, der Reihe nach ihre Anliegen vorzutragen und die Entscheidung der Ratsvorsitzenden abzuwarten. Jiang Li lehnte sich zurück und verfolgte das Geschehen mit halb geöffneten Augen. Ein Streit um eine angebliche ehrenrührige Beleidigung musste geschlichtet, einem Betrugsfall nachgegangen und die Frage nach dem Besitzer eines angeblich herrenlosen Pferdes geklärt werden. Chen gähnte herzhaft neben ihr, während der Ratsvorsitzende ein Machtwort sprach und das Tier der Obhut aller beider Parteien entzog, wodurch es als Gemeinschaftsbesitz galt und zur Versteigerung frei stand. Plötzlich entstand Unruhe in einer der Bänke hinter ihr und Jiang Li wandte den Kopf. Yue You war aufgestanden und drängte sich an ihren Sitznachbarn vorbei, bis sie schließlich den Gang erreichte und nach vorne in Richtung der Vorsitzenden stolzierte. Die vor ihr Wartenden ignorierte sie dabei einfach. „Ich bitte darum, mein Anliegen jetzt gleich vortragen zu dürfen“, sagte sie mit klarer, lauter Stimme. „Wenn es nicht so dringend wäre, würde ich mich selbstverständlich gedulden, bis ich an der Reihe bin“, bei diesen Worten drehte sie sich zu den hinter ihr stehenden Ratsuchenden um, die leise murrten, „und ich entschuldige mich vielmals für meine Rücksichtslosigkeit. Allerdings handelt es sich um die Frage, wer in Zukunft die Leitung sowohl der Kampfschule als auch des Badehauses Lian übernehmen soll und es dürfte wohl klar auf der Hand liegen, dass aufgrund der verstärkten Dämonenaktivität so rasch wie möglich eine Entscheidung getroffen werden muss.“ Die Ratsvorsitzenden schwiegen nach der kurzen Rede für einen Augenblick und berieten sich dann murmelnd. Schließlich nickte eine drahtige Frau, in der Jiang Li die Großmeisterin der Kampfschule Mingzhu, die mitten in Jinduizhen lag, erkannte. „Nun gut. Die Notwendigkeit, diesen Antrag vorzuziehen, wird vom Rat bestätigt. Allerdings wundern wir uns, dass Großmeisterin Lian diese Angelegenheit nicht bereits zu Lebzeiten angemessen geregelt hat.“ Die Ratsvorsitzenden blickten Yue You, die zufrieden lächelte, erwartungsvoll an. Jiang Li sah, dass Li Ming und Xiao Hong ebenfalls aufgestanden waren und in Richtung ihrer Schwester schritten. Jetzt war es soweit. Sie erhob sich und drückte sich an Chen vorbei, der sie erstaunt ansah und gerade den Mund öffnete, um etwas zu sagen. „Die Regelung, die derzeit besteht, ist nicht mehr den Anforderungen gemäß“, ergriff Li Ming das Wort. „Dem Wunsch der Großmeisterin nach sollte die erste Schwertmeisterin im Bedarfsfall die Leitung der Kampfschule und des Badehauses übernehmen. Nun ist es aber so, dass diese die Nachfolge nicht antreten kann, da sie …“ Jiang Li fühlte, wie ihr am ganzen Körper kalt wurde. „Das ist nicht richtig“, warf sie mit schneidender Stimme ein, bevor Li Ming den Satz vollenden konnte. „Tatsächlich bin ich sehr wohl dazu in der Lage, die mir zugedachten Aufgaben zu vollster Zufriedenheit zu erfüllen. Ich …“ „Unsinn“, schnappte Yue You dazwischen. „Die erste Schwertmeisterin befindet sich – bis auf wenige Ausnahmen – den Großteil des Jahres über in Europa und unterrichtet dort an einer Schule. Sie ist keineswegs hier, um sich um die hiesigen Angelegenheiten ausreichend zu kümmern.“ „ICH …“, brauste Jiang Li hitzig auf, brach aber abrupt ab, als eines der Ratsmitglieder, ein alter, gebückter Mann, die Hand hob und den Streitenden schweigend Einhalt gebot. „Danke“, sagte er, nachdem Stille in den Raum eingezogen war. „Offensichtlich gestaltet sich die Lösung dieses Problems als schwierig. Wir möchten alle Fakten wissen, damit wir gerecht entscheiden können.“ Yue You warf ihr Haar zurück. „Ich bin die zweite Schwertmeisterin der Kampfschule und spreche im Sinne der dritten und vierten Schwertmeisterin. Wie inzwischen wohl allgemein bekannt, gestaltet sich unser Leben auf dem Huashan als ausgesprochen schwierig, seit die erste Schwertmeisterin durch ihre Unachtsamkeit eines unserer Schutzamulette verloren hat.“ Jiang Li biss die Zähne zusammen und musste sich heftig zusammennehmen, um nicht laut zu protestieren, während Yue You mit einem leichten, hämischen Lächeln auf den Lippen fortfuhr. „Nun, da die Großmeisterin von uns gegangen ist, muss ihr Platz rasch nachbesetzt werden – mit einer starken Persönlichkeit. Und die erste Schwertmeisterin, die dafür vorgesehen war, hat es vorgezogen, sich nach England abzusetzen, statt aktiv an einer Lösung aller Probleme mitzuarbeiten …“ „Nun“, unterbrach der Alte wieder und runzelte die Stirn. „Nun gut. Ich möchte hören, was die erste Schwertmeisterin dazu zu sagen hat.“ „Zuerst einmal, ich habe mich nicht abgesetzt“, stieß Jiang Li hastig und mit gepresster Stimme hervor. „Ich bin der Bitte meiner alten Schule gefolgt und habe dort einen Lehrauftrag übernommen, da die Bedrohung durch Voldemort immer größer wird. Hinsichtlich des Amulettes gebe ich zu, einen folgenschweren Fehler gemacht zu haben, gebe aber zu bedenken, dass ich mich unablässig bemühe, diesen wieder auszugleichen. Die Nachfolge steht mir nicht nur aufgrund der Verfügung der Großmeisterin zu, sondern vor allem, da ich die beste Kämpferin der Schule bin!“ „Du bist nicht hier, wenn wir dich brauchen, Jiang Li“, warf Li Ming ruhig ein und wandte sich dann an den Rat. „Wir haben ihr ein Angebot gemacht, das in unseren Augen durchaus akzeptabel ist. Jiang Li könnte die erste Schwertmeisterin bleiben, während Ýue You an ihrer Stelle die Leitung der Schule und des Badehauses übernimmt. Viel würde sich nicht ändern, außer dass …“ „Außer dass ich durch einen miesen Trick ausgebootet werde!“, zischte Jiang Li und wollte zu einer wütenden Litanei ansetzen, doch die Großmeisterin der Mingzhu-Schule winkte ab. „Das genügt. Ein schwieriger Fall, der in ausreichendem Maße besprochen werden muss. Es kommt selten vor, dass die erste Meisterin zugunsten der zweiten zurücksteckt. Tatsache ist ja, dass die erste Meisterin stets die Beste von allen ist und es daher – auch im Lichte der derzeitigen Situation auf dem Huashan – wohl unklug wäre, die Zweitbeste an ihrer Stelle einzusetzen …“ „Ich bitte um Verzeihung“, sagte Yue You, brach ab und holte tief Atem. Als die Großmeisterin aufmunternd nickte, fuhr sie fort. „Zunächst einmal hätte für die Dauer der Abwesenheit der ersten Schwertmeisterin ohnehin ich – die Zweitbeste – als Stellvertreterin fungiert. Soviel dazu. Davon abgesehen bezweifle ich jedoch, dass Jiang Li tatsächlich noch als beste Kämpferin der Schule bezeichnet werden kann. Ich denke nicht, dass sie während ihrer Lehrtätigkeit ausreichend trainiert hat.“ Jiang Li fühlte, wie ihr das Herz sank, als zögerlich ein zustimmendes Raunen aus den Bankreihen ertönte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und ihr fiel auf die Schnelle keine passende Entgegnung ein, denn irgendwie hatte Yue You gar nicht so unrecht. Trotzdem gab es ihr einen unerwarteten Stich ins Herz, als sie sah, dass auch Chen beipflichtend nickte. „Ein guter Einwand“, sagte ein jüngerer Großmeister, den Jiang Li nur vom Sehen kannte. „Wirklich nicht unberechtigt.“ „Ich schlage daher folgende Lösung vor, sofern dies dem Rat recht ist“, sprach Yue You mit unverkennbarer Siegesgewissheit weiter und sah Jiang Li mit einem Lächeln direkt in die Augen. „Ich fordere die erste Schwertmeisterin zu einem Entscheidungskampf heraus. Die Siegerin nimmt den Platz der Großmeisterin Lian ein, und die Verliererin …“, sie zögerte ganz kurz und lächelte noch strahlender, „muss gehen. Sie verliert ihre Stellung innerhalb der Kampfschule und die Berechtigung, sich dort aufzuhalten oder überhaupt noch „Meisterin“ nennen zu dürfen.“ Das beifällige Murmeln wurde lauter und der alte Großmeister schlug mit der flachen Hand leicht auf den Tisch. „Ich bitte um Ruhe. Der Vorschlag erscheint mir angemessen.“ Die anderen Ratsmitglieder nickten zustimmend. „Da die Zeit drängt, findet der Kampf in exakt einer Woche statt. Als Austragungsort schlage ich den Taiyi-Teich vor.“ Yue You verneigte sich gemeinsam mit Li Ming und Xiao Hong zustimmend, während Jiang Li einige Augenblicke benötigte, um den Ratsbeschluss zu begreifen. Schlimm genug war ja bereits, dass sie ihre Fähigkeiten überhaupt unter Beweis stellen musste. Und nun sollte der Kampf auch noch am höchsten Punkt des Südgipfels stattfinden, auf dem sich der besagte Taiyi Teich – auch bekannt als Teich, der in den Himmel sieht – befand. Sie mochte den Gipfel nicht, der höher als die anderen vier war und von dem eine seltsame, beunruhigende Energie auszustrahlen schien. „Einverstanden?“, fragte der Alte schließlich, als sie immer noch schwieg. Jiang Li zuckte zusammen und verzog wenig begeistert die Lippen, nickte dann aber. Es blieb ihr ja doch nichts anderes übrig, als den Beschluss des Rates anzunehmen, auch wenn er ihr gewaltige Magenschmerzen bereitete. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)