Corvus et Vulpes von Bei ================================================================================ Kapitel 32: Das Vermächtnis der Großmeisterin --------------------------------------------- Dumbledore schob ihr ein Glas Wasser über den Tisch, während McGonagall aufgewühlt durch ihre spitze Nase schnaubte und Jiang Li, die mit unbewegtem Gesicht vor ihnen in einem Sessel zusammengesunken war, durchdringend musterte. Man sah ihr deutlich an, dass sie ihr am liebsten Tausende Fragen entgegengeschleudert hätte, doch sie beschränkte sich auf ein harsches: „Alles in Ordnung?“ „Mir geht’s gut“, antwortete Jiang Li knapp und benetzte ihre Lippen mit einem halbherzigen Schluck aus dem Wasserglas. „Minerva, würde es Ihnen vielleicht etwas ausmachen …“ „Kein Problem.“ McGonagall erhob sich und verließ mit schroffen Schritten den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen. Als sich die Tür leise hinter ihr schloss, seufzte Dumbledore tief auf und schob sich schweigend ein Bonbon in den Mund. „Ich verstehe es nicht“, brachte Jiang Li nach einiger Zeit tonlos hervor. „Ich habe die Amulette doch gar nicht.“ „Vielleicht sollten wir am Anfang beginnen“, sagte Dumbledore sanft. „Wissen Sie, wer Sie angegriffen hat?“ „Jemand … den ich mal kannte“, erwiderte sie zögernd. „Samt seiner Fuchshure.“ „Interessant.“ Der alte Zauberer verzog keine Miene. „Es war mein Exfreund. Wie Ihnen Meisterin Zhen Juan bei Ihrem Besuch im Badehaus erzählt hat, bin ich vor fast zwei Jahren von ihm bestohlen worden, oder eigentlich gar nicht ich allein, sondern die ganze Kampfschule.“ Ihr innerer Widerstand war deutlich zu sehen, während sie die Geschichte langsam erzählte. „Wie Sie ja bereits wissen, funktioniert Magie am Huashan nicht so wie hier. Wir benutzen eigentlich –“, sie unterbrach sich und verzog müde ihr Gesicht. „Also, Schutzamulette funktionieren im Gegensatz dazu relativ gut. Die Kampfschule hatte so eines – eine Jadekugel mit den fünf Elementen als Herzstück. Ich weiß nicht, was die Meisterin erzählt hat, vermutlich komme ich bei ihrer Version noch viel schlechter weg, aber wie auch immer – ich war unvorsichtig und Kuan-yin konnte eines der Elementamulette an sich bringen. Die Schutzfunktion des Amuletts wurde dadurch natürlich stark geschwächt, was der Grund dafür ist, warum es seither ständig zu Dämonenangriffen kommt. Mir war damals nicht klar, was ihn dazu motiviert hat, aber jetzt denke ich, dass eine Fuchsdämonin ihn dazu angestiftet hat. Wenn sie das vollständige Amulett in die Hände bekommt, vervielfacht sich ihre Kraft und keiner kann sich vorstellen, was sie dann alles anstellen kann. Kuan-yin ist ihr offensichtlich verfallen und sie benutzt ihn als Handlanger für ihre Pläne.“ „Ich kenne die Macht, die eine Hú li jīng besitzt“, sagte Dumbledore und sah sie aufmerksam an. „Die wichtigste Frage ist jetzt, weshalb sie der Ansicht ist, dass Sie die restlichen Elementamulette besitzen. Wenn Sie sie nicht mitgenommen haben, wie kommen sie dann in Ihren Besitz?“ „Ich weiß nicht. Ich habe sie wirklich nicht.“ Dumbledore lutschte gedankenverloren an seinem Bonbon. „Ist es möglich, dass Sie sie erhalten haben, ohne sich dessen bewusst zu sein? Denken Sie nach, Jiang Li. Die beiden werden mit Sicherheit nicht aufgeben, und ich mache mir Sorgen um Sie. Sind Sie sich überhaupt wirklich sicher, dass Sie nicht zu Madam Pomfrey gehen möchten?“ „Ja. Die Kratzer sind nicht der Rede wert.“ Er schwieg für eine Weile, dann faltete er die Hände und nickte. „Also gut. Ich fürchte, ich kann nicht mehr tun, als Ihnen zu raten, danach zu suchen. Nehmen Sie sich Zeit und versuchen Sie, sich zu erholen. Bezüglich des Gespräches, das wir das letzte Mal geführt haben, gibt es noch keine Neuigkeiten. Ich hoffe –“ „Sie können auf mich zählen“, sagte Jiang Li, straffte sich und sah ihn an. „Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Kuan-yin und die Füchsin sind mein Problem und ich löse es.“ „Das ist gut.“ Sie erhoben sich und Jiang Li war entlassen.   ***   Galatyn beäugte sie aus sicherer Entfernung, hoch oben auf einem Schrank sitzend. Sie hatte den halben Tag damit verbracht, sich den Kopf darüber zu zermartern, wo sich das Schutzamulett befinden könnte, und war schließlich aus purer Verzweiflung dazu übergegangen, alle Schränke und Kästen auszuräumen. Ceallach hatte irgendwann angeklopft und sich erboten, ihr zu helfen, nachdem ihr Jiang Li eine Kurzversion der Geschichte erzählt hatte. Die Ereignisse des Morgens hatten schnell die Runde gemacht und die gesamte Schule war alarmiert, obwohl die Examen ohne Unterbrechung durchgeführt wurden. Die Lehrkräfte waren im Groben über den Hintergrund des Angriffes auf ihre Kollegin informiert worden, doch Dumbledore hatte es für besser gehalten, auf Details zu verzichten. Jiang Li war ihm dafür dankbar. „Ich weiß nicht, wie ein Mensch so viel Zeug besitzen kann“, murmelte sie verzweifelt und grub sich durch eine Schublade voll Unterwäsche. „Ich hatte doch nicht mehr als zwei Koffer, als ich hier ankam, oder nicht?“ „Das denke ich mir jedes Mal aufs Neue, wenn ich meine jährliche Umräumaktion starte“, meinte Ceallach trocken. „Wir könnten übrigens auch zaubern, weißt du. Dafür sind wir schließlich Hexen.“ „Wenn du einen passenden Spruch weißt, Ceallach, gern“, schnaube Jiang Li mit rotem Kopf. „Die üblichen Findezauber funktionieren nicht. Ich habe schon vorher alles Mögliche ausprobiert.“ „Hmm.“ Ceallach runzelte die Stirn und klopfte Kleidertaschen ab, während sie angestrengt nachdachte. „Ich nehme an, das Teil, das du suchst, ist irgendwo versteckt. Sonst hättest du es schon längst irgendwo gefunden.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, stand auf nach einer kurzen Denkpause auf und schwang entschlossen den Zauberstab. „Expromo Amulett!“ Es klirrte leise am Kaminsims. Jiang Li ließ von ihrem Koffer ab und sprang auf. „Hast du das gehört?“ Mit einem großen Satz war sie quer durch das Zimmer gesprungen, die Schmerzen in ihren Rippen ignorierend. „Hm. Seltsam.“ Ceallach sah zweifelnd zu ihr hin. „Da ist doch nur dein Teeservice.“ Jiang Li unterzog zunächst jede einzelne Tasse einer genauen Untersuchung, dann berührte sie die Kanne und murmelte Ceallachs Spruch. Wieder klirrte es, diesmal lauter. Sie packte die Kanne, hob den Deckel herab und knurrte enttäuscht. „Das Teil ist leer. Da war auch nichts drin, als ich sie bekommen habe. Da hat keiner was versteckt. Außer …“ Sie wurde blass und sah Ceallach an, die große Augen machte und den gleichen Gedanken zu haben schien. „Meinst du? Ernsthaft?“ „Es funktioniert bei Koffern und allen möglichen Dingen, warum also nicht hier?“, meinte Ceallach nüchtern und trat neben Jiang Li vor den Kamin hin. „Also – gut, nehmen wir mal an, es handelt sich hier tatsächlich um einen Versteckzauber. Wo ist dann der Schlüssel dazu?“ Jiang Li fühlte, wie Verzweiflung in ihr aufstieg. „Das kann doch einfach alles sein!“ „Bleib mal ganz ruhig.“ Ceallach bemerkte, dass Jiang Li die Nerven verlor. „Wer hat es dir geschickt – ich kann mich dunkel erinnern. War das nicht das Paket aus China, ganz zu Beginn des Schuljahres? Dann wird sich derjenige, der es dir geschickt hat, auch überlegt haben, dass du das Teil vielleicht herausbekommen musst.“ „Oder nicht“, meinte Jiang Li dumpf. „Vielleicht sollte es einfach hier drin bleiben.“ „Ich weiß nicht. Das wäre ein unkluger Plan.“ Jiang Li dachte über Ceallachs Einwand nach und nickte schließlich zögernd. Sie versuchte, sich den Text des Begleitbriefs wieder ins Gedächtnis zu rufen. Es war nicht viel darin gestanden; Zhen Juan hatte ihr Glück für ihre neue Aufgabe gewünscht und … und … Sie zog die Stirn kraus und versank ins Brüten. Nein, es war sinnlos, sie brachte den genauen Wortlaut nicht mehr zusammen, und die Schriftrolle hatte sie mit Sicherheit weggeworfen oder verschlampt. „Galatyn, komm her.“ Der Rabe sah sie kurz mit schief gelegtem Kopf an, dann schwebte er von seinem Ausguck nach unten und setzte sich auf das Fensterbrett, das keine Spuren des morgendlichen Angriffes mehr zeigte. „Kannst du dich noch daran erinnern, als du mir die Teekanne gebracht hast? Zusammen mit Lei?“ Galatyn quarrte zustimmend und hüpfte näher an den Kamin heran. Als sie den Arm ausstreckte, stieß er sich elegant ab und ließ sich auf ihrer Schulter nieder. „Du musst jetzt gut nachdenken“, sagte sie eindringlich und streichelte ihm sanft über das schimmernde Gefieder. „Wer hat das Paket geschickt – war es die Großmeisterin?“ Er zögerte keine Sekunde, sondern stieß ein zustimmendes Krächzen aus und zog bekräftigend an ihrem Ohrläppchen. Jiang Li liebkoste kurz seinen Kopf und wandte sich wieder der Kanne zu. Ceallach, die schweigend gewartet hatte, räusperte sich leise und kratzte sich an der Nase. „Also – ist jetzt wahrscheinlich irgendwie dumm, aber …“ Jiang Li sah sie aufmunternd an und Ceallach sprach zögernd weiter. „Naja, es ist doch eine Teekanne, oder nicht? Was macht man mit – oder in – Teekannen eigentlich?“ „Tee?“ Sie mussten beide trotz der angespannten Situation lachen. Plötzlich klopfte es energisch an der Tür und Minerva McGonagall streckte ihre spitze Nase ins Zimmer. Sie schnaubte kurz, als sie die Unordnung sah, machte ansonsten aber keine weitere Bemerkung dazu. „Geht es Ihnen wieder so einigermaßen, Jiang Li?“, fragte sie und wandte sich dann an Ceallach. „Ich störe ungern, aber die O.W.L.s warten nicht …“ „Ach, du liebe Güte“, rief die rothaarige Frau und wirbelte aus dem Zimmer. „Habe ich doch tatsächlich die Zeit übersehen. Tut mir leid, Jiang Li – ich komme später wieder, wenn ich kann!“ „Kein Problem“, meinte Jiang Li gedankenverloren zur bereits geschlossenen Tür. Galatyn quarrte und sie seufzte, während sie ihm über den Schnabel strich. „Du hast recht, wir müssen es versuchen. Großartig, dass ich keinen Tee trinke.“ Während sie die kostbare Kanne vorsichtig vom Kaminsims hob und auf den Tisch stellte, schwirrte Galatyn von ihrer Schulter wieder zum Fenster, begehrte mit lautem Krächzen, nach draußen gelassen zu werden, und flog mit kräftigen Flügelschlägen davon. Nach wenigen Augenblicken kehrte er wieder mit einem kleinen Beutel voller Teeblätter im Schnabel zurück, die er stolz in ihre Hand legte. Jiang Li bildete sich ein, ein leichtes Sherryaroma zu vernehmen, verzichtete aber auf jegliche Fragen und lobte ihn stattdessen überschwänglich. In einem kleinen Krug holte sie Wasser aus dem Badezimmer, tippte mit dem Zauberstab kurz dagegen und holte tief Luft, bevor sie die kochende Flüssigkeit in die Kanne goss. Noch ein paar Teeblätter dazu und dann … passierte gar nichts. Enttäuscht sah Jiang Li den auf der Oberfläche dahintreibenden Blättern zu. Es wäre auch zu schön gewesen. „Verdammter Mist“, sagte sie in den Raum hinein. Galatyn, der auf einem Stuhl gewartet hatte, sprang auf den Tisch, trippelte zur Kanne und sah ebenfalls hinein. Er blieb für eine Weile still, dann schlug er mehrmals heftig mit den Flügeln und sah sie an. „Was?“, fragte Jiang Li missmutig und war gerade im Begriff, die Teekanne zu packen, um den Inhalt auszugießen, als er ihr mit einer blitzschnellen Kopfbewegung leicht in den Daumen pickte. „Au, verflucht! Was soll denn das? Ist denn jeder hier verrückt geworden?“ Der Rabe fuhr zurück und flatterte davon. Sie überlegte aufgebracht, ob sie ihm eine kleine Lehre erteilen sollte, als eine Erinnerung an die Oberfläche ihres Bewusstseins stieg. Faules Stück! Wie oft habe ich dir gesagt, dass die Kanne vor der Zeremonie ordentlich ausgewaschen werden muss? Aus dir wird nie was, wenn du so ein gedankenloses, verschlamptes Etwas bleibst! ertönte die Stimme der Großmeisterin in ihrem Kopf und Jiang Li fühlte den Widerhall der Ohrfeige auf ihrer Wange, die ihr jüngeres Ich bei dieser Gelegenheit eingefangen hatte. „Scheiße.“ Das sah der Alten ähnlich. War aber auch keine schlechte Idee, das musste man ihr lassen. Wenn es denn funktionierte. Aber dann brauchte sie auch schwarzen Tee und musste alles richtig machen. Sie atmete tief durch, sah zu Galatyn, der sich wieder auf seinen sicheren Posten hoch oben am Schrank begeben hatte, und schnaubte. „Danke.“   ***   Im Korridor vor der Küche war alles ruhig und Jiang Li war dankbar dafür, niemandem zu begegnen und keine Erklärungen abgeben zu müssen. Auf dem Weg nach unten hatte sie eine fieberhafte Aufregung gepackt; vielleicht war eine Teezeremonie tatsächlich der Schlüssel? Typisch von der Alten, ihr auf diese Weise noch eine letzte Lektion, sozusagen direkt aus dem Grab, zu verpassen. Vor dem Gemälde mit der Obstschale blieb sie stehen, dachte kurz nach und kitzelte dann die Birne, bis diese zu lachen begann und sich in einen großen grünen Türgriff verwandelte. Als sie die Tür öffnete, stolperte sie direkt in straff organisierte Geschäftigkeit. Die Hauselfen bereiteten offensichtlich das Abendessen vor und schossen in ihren Geschirrtüchern, die mit dem Hogwarts-Wappen bedruckt waren, zwischen Herd und Tischen hin und her. „Miss?“, quiekte es plötzlich neben ihr und eine kleine Elfe strahlte sie an. Jiang Li fühlte einen warmen Stich im Herzen und beugte sich nach unten. „Hepsy! Wie schön! Geht es dir gut?“ „Oh ja! Miss sieht gut aus. Hepsy ist froh“, plapperte die Elfe und griff scheu nach ihrer Hand. „Miss hat sich gut erholt.“ „Schokolade hilft“, lächelte Jiang Li und drückte Hepsys Hand fest. „Ich danke dir. Du machst jeden Morgen zu etwas Schönem.“ „Aber ja, aber natürlich“, wehrte die Hauselfe verlegen ab und scharrte mit den Füßen. „Kann ich etwas für Miss tun?“ „Ich brauche schwarze Teeblätter, Hepsy. Die beste Qualität, die du auftreiben kannst …“ Hepsy war schon davongeschwirrt und kehrte Sekunden später mit einem großen Beutel Tee zurück. „Ich danke dir“, hauchte Jiang Li und drückte die Elfe voller Dankbarkeit an sich. Sie wehrte die freundlichen Gaben ab, die ihr von allen Seiten angeboten wurden, und rannte in ihre Wohnung zurück. Nachdem sie die Teekanne mit heißem Wasser gereinigt hatte, zögerte sie kurz, sah sich um und räumte das Zimmer mit raschen Zauberstabschwüngen auf. Sie sah unschlüssig an sich herunter und entschloss sich dazu, andere Kleider anzuziehen. Wenn schon, denn schon – sie konnte es gleich richtig machen. Während sie vor dem Spiegel stand, ertappte sie sich dabei, wie sie immer wieder nervös über die Schulter sah und bei jedem ungewöhnlichen Geräusch zusammenzuckte. Die Ereignisse des Morgens steckten ihr tief in den Knochen und sie hoffte inständig, dass die beiden nicht gerade jetzt wiederkommen würden. Sie trat wieder vor den Tisch, nun in die lange, rote Robe mit dem Symbol des Drachen und Phönix gekleidet, die sie bereits in Anshan zu ihrem Besuch bei Chu Yangdai getragen hatte. Das Haarband mit der großen roten Chrysantheme stach grell von ihrem schwarzen Haar ab. Teekanne und Tassen wurden unter den prüfenden Augen von Galatyn elegant auf dem Tisch angeordnet und Jiang Li reinigte alles noch einmal. Sie atmete tief durch, setzte sich gerade hin und gab die Teeblätter in die Kanne. Nach dem ersten Aufguss mit heißem Wasser tat sich nichts, doch sie gab nicht auf, bis sie den fünfzehnten Aufguss erreicht hatte – und plötzlich schimmerte etwas am Grunde der Kanne, wurde größer und stieg so weit an die Oberfläche, dass sie vorsichtig danach greifen konnte. Mit einem tiefen Aufseufzen lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Unbewusst tastete sie über längliche, wulstförmige Narbe auf ihrem rechten Handrücken und ließ zu, dass ein paar Tränen aus ihren Augen quollen. „Blöde, alte Hexe“, sagte sie laut. „Teezeremonie. Natürlich. Was auch sonst? Ich konnte den Dreck doch noch nie leiden.“ Sie schniefte noch einmal und wischte die Tränen mit einer zornigen Bewegung weg. Dann betrachtete sie das Amulett und öffnete es langsam. Die vier verbliebenen Talismane glimmerten im Inneren der Kugel, gemeinsam mit einem kleinen runden Bild. Jiang Li pickte das Gemälde mit spitzen Fingern heraus und blickte in das gemalte Gesicht der Großmeisterin. „Na endlich“, ließ sich Zhen Juans trockene Stimme vernehmen. „Ich habe mich schon gewundert, wann du endlich die Güte haben würdest, mich aus der Kugel herauszuholen.“ „Immer für einen Scherz gut“, antwortete Jiang Li tonlos. „Was sollte das Ganze? Wozu hat mir die Meisterin das Amulett geschickt? Die Kampfschule ist jetzt doch noch ungeschützter als früher.“ „Ohne das Feueramulett sind die vier anderen fast nutzlos“, gab das Abbild der Großmeisterin ruhig zurück. „Ich wollte dir eine Chance geben, deine Schuld wiedergutzumachen. Ich wusste, dass Kuan-yin danach suchen würde, und daher entschloss ich mich dazu, die Kugel zu dir zu schicken. Da du den Versteckzauber entdeckt hast, nehme ich an, dass er dich gefunden hat.“ „Eine Fuchsdämonin hat ihn in ihren Bann geschlagen“, erklärte Jiang Li. „Sie hat ihn offensichtlich zu der Tat damals angestiftet und jetzt ist er nur noch ein Schatten seiner selbst.“ Das Porträt nickte und schniefte kurz. „Keine große Überraschung. Die beiden werden nichts unversucht lassen, um an die Amulette zu gelangen. Ich nehme auch an, dass sie für meinen Tod verantwortlich sind.“ Jiang Li senkte den Kopf und atmete tief ein. „Die rätselhafte Krankheit.“ „Vermutlich Gift.“ Zhen Juan sagte es mit unbewegter Miene. „Ich vermisse dich“, sagte Jiang Li und biss sich auf die Lippen. „Es ist in diesen Tagen schwer, mit jemandem zu reden, dem ich wirklich vertraue.“ Das Gemälde lachte auf. „Es liegt in der Natur des Menschen, die Dinge erst dann zu schätzen, wenn sie nicht mehr da sind. Sei nicht traurig. Es kommen bessere Tage.“ „Vielleicht. Momentan ist alles so verwickelt und aussichtslos. Ich dachte immer, es wäre großartig, für etwas zu kämpfen, für die richtige Sache. Und jetzt …“ „Jetzt merkst du, dass das alles nicht so einfach ist. Ist die richtige Sache denn richtig? Wenn man zu zweifeln beginnt …“ „Es ist nicht die Sache, an der ich zweifle“, stellte Jiang Li klar. „Es sind die Menschen.“ „Die Frage ist, was ist am Ende entscheidend“, meinte die Großmeisterin. „Wenn das Ergebnis stimmt, ist es doch gut?“ Jiang Li schwieg für einen Augenblick. „Ist das so? Heiligt der Zweck immer alle Mittel?“ „Das musst du für dich herausfinden. Meist sind uns alle Mittel recht, solange es nicht uns selbst betrifft. Dann hört der Spaß auf und wir werden zu Moralisten.“ „Was soll ich jetzt tun?“ „Ganz einfach. Sieh zu, dass du das Feueramulett wiederbekommst. Denk an die größere Sache. Die Kampfschule muss ihren Schutz wiederbekommen.“ „Und wenn ich dabei auf der Strecke bleibe – das ist dir egal? Es ist immer das Gleiche!“, fuhr Jiang Li auf und funkelte das Porträt wutentbrannt an. „Du bleibst wohl immer das kleine Mädchen. Wie oft habe ich dir gesagt, dass es im Leben nicht immer um Einzelpersonen, sondern um das Wohl aller Menschen geht? Reiß dich zusammen und tu deine Pflicht!“, warf ihr die Meisterin gebieterisch entgegen. „Ich weiß, es ist nicht leicht“, fuhr sie besänftigend fort, „aber ich habe dich gut genug ausgebildet, um mir sicher zu sein, dass du Erfolg haben wirst. Tilge den Makel aus deinem Gewissen und sorge dafür, dass Kuan-yin für seinen Verrat bezahlt.“ Jiang Li fühlte, wie ihr Zorn verebbte. Sie hob das Bildnis hoch und drückte es kurz an ihr Herz. „Ich bin so weich geworden in der letzten Zeit. Es scheint mir, als ob mich jeder Lufthauch umwerfen könnte.“ Sie sah der Meisterin wieder in die Augen. „Ich sollte – nein, ich bin dankbar für die Gelegenheit. Die Kampfschule wird ihren Schutz zurückerhalten.“ „Das wollte ich hören“, ließ sich Zhen Juan zufrieden vernehmen. „Stell dich dem Kampf. Und nun will ich, dass du das Bild verbrennst.“ „Was? Aber –“ „Sei vernünftig, Mädchen. Es gibt nichts mehr, das ich dir zu sagen hätte. Ich will nichts riskieren. Lebewohl, alle guten Wünsche und meinen Segen für dich.“ Die Meisterin schloss die Augen und machte unmissverständlich klar, dass sie das Gespräch für beendet hielt. Selbst als Gemälde strahlte sie Macht und Weisheit aus, weshalb es Jiang Li tatsächlich für angeraten hielt, ihrem Wunsch Folge zu leisten. Sie legte das winzige Bild in eine der Teeschalen und sah zu, wie es langsam Feuer fing. Dann straffte sie sich, sah zu Galatyn hinauf, der die Szene vom Kleiderschrank aus verfolgt hatte, und nickte ihm entschlossen zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)