Corvus et Vulpes von Bei ================================================================================ Kapitel 33: Ein Köder wird ausgeworfen -------------------------------------- Fawkes, der bis zu diesem Augenblick ruhig auf seiner Stange geschlummert hatte, zog plötzlich seinen Kopf aus dem schimmernden Gefieder und stieß ein leises Schnarren aus. Dumbledore seufzte tief und sah dem Phönix kurz in die schönen, intelligenten Augen, bevor er sich gerade hinsetzte und die Tür mit einem Fingerschnippen öffnete. „Kommen Sie herein, Miss Lian.“ Jiang Li ließ nicht erkennen, ob sie überrascht war. Ihr Gesicht war blass und hart; sie trug ihren Zauberstab offen in der Rechten und umklammerte mit der linken Hand einen Stoß eng beschriebenes Pergament. „Setzen Sie sich doch.“ „Ich danke Ihnen.“ Sie behielt den Zauberstab in der Hand und warf die Bögen auf den Tisch. Dumbledore sah ihr in die Augen und nickte aufmunternd mit dem Kopf. „Nun?“ „Meine Schulzeit ist zwar schon länger vorbei“, sagte Jiang Li klar und emotionslos, „aber ich habe nicht vergessen, dass Hogwarts als einer der sichersten Orte der Welt gilt. Trotzdem haben es eine Fuchsdämonin und ihr Sklave geschafft, hier einzubrechen und in meine Wohnung vorzudringen. Ihre Pfotenabdrücke waren zuerst nur rings um den Kamin, dann schließlich im gesamten Raum verteilt. Der Bannkreis, den ich um mein Bett gezogen habe, scheint allerdings Wirkung gezeigt zu haben. Selbst, wenn ich mit einberechne, dass das ganze Fußspurenspielchen nur dazu gedient hat, mir Angst einzujagen, so muss ich mich dennoch wundern, wie so eine Sicherheitslücke zustande kommen kann.“ Sie fixierte Dumbledore kalt. „Die Fuchshure und ihr Handlanger wurden wissentlich in Hogwarts eingelassen und das schon vor längerer Zeit. Habe ich recht?“ Dumbledore schwieg für eine Weile und legte die Hände flach auf den Tisch. Dann seufzte er tief auf. „Sie haben recht.“ „Sie haben sie hereingelassen, nicht wahr?“, fragte Jiang Li mit harter Stimme weiter und umklammerte den Zauberstab fester. „Warum?“ Die leuchtend blauen Augen funkelten hinter der halbmondförmigen Brille, doch der weißhaarige Zauberer hielt seine Gemütsbewegungen, so es welche gab, gut verborgen. „Weil wir – die Mitglieder des Ordens und jeder Mensch, der für Frieden steht – einen Kampf gegen Voldemort und seine Anhänger führen, und uns dabei vor allem Xia gute Dienste leistet.“ Jiang Li wusste für einen Augenblick nicht, was sie sagen sollte. Dumbledores freimütiges Eingeständnis schockierte sie, obwohl sie nach dem vergangenen Tag, den sie in der Bibliothek vergraben verbracht hatte, so ziemlich alles über die Schutzzauber und -einrichtungen rings um, über, unter und in Hogwarts wusste. Sie hatte bis zuletzt gehofft, dass sie sich täuschte und es eine andere Erklärung gab … aber nach Dumbledores Worten hatte sich diese Hoffnung zerschlagen. „Die Meisterin hat Ihnen zumindest von Kuan-yin erzählt. Sie wussten, dass er mich bestohlen und Unheil über alle in und nahe der Kampfschule gebracht hat. Es dürfte Ihnen auch klar gewesen sein, dass die beiden mir nicht positiv gegenüberstehen würden. Doch das hat Sie nicht davon abgehalten, sie hier hereinzulassen. Ich will wissen, was dieses schmutzige Spiel soll.“ „Sie irren in einem Punkt, Miss Lian“, erwiderte Dumbledore ruhig. „Es handelt sich hier mitnichten um ein „schmutziges Spiel“, wie Sie es so schön genannt haben.“ „Ach ja? Sondern …“ „Sondern – um eine schlichte Notwendigkeit. Ich war mir Ihrer Schwierigkeiten bewusst und habe alle Eventualitäten gegeneinander abgewogen. Es blieb mir schlussendlich keine andere Wahl, als Xias Dienste in Anspruch zu nehmen und sie nach Kräften daran zu hindern, mit Ihnen in Kontakt zu treten.“ „Was ja ausgezeichnet funktioniert hat.“ „Ich entschuldige mich für meine Fehleinschätzung und aller daraus entstandenen Unannehmlichkeiten.“ „Ich kann es nicht glauben“, sagte Jiang Li mit eisiger Wut in der Stimme. „Sie haben zugelassen, dass mir die Schlinge um den Hals gelegt wurde, an einem Ort, der für mich ein sicheres Zuhause war. Schon seit Monaten schleichen die beiden im Schloss herum und versuchen, mich in Angst und Schrecken zu versetzen.“ Dumbledore hob die Hand und wartete, bis sie schwieg. „Warum haben Sie nie mit mir über die Fußspuren gesprochen? Vielleicht hätten wir –“ „– etwas dagegen tun können?“, beendete sie mit einem höhnischen Auflachen seinen Satz. „Hätten wir? Oder wäre es Ihnen einfach egal gewesen, wie schon zuvor? Es geht doch um die größere Sache, nicht wahr?“ Sie lachte wieder; hart, laut und ohne jeden Humor. „Miss Lian –“ „Egal“, schnitt sie ihm das Wort ab und kümmerte sich nicht um seine leicht geweiteten Nasenflügel. Es war Zeit, die Dinge zu klären, die ihr schon seit Monaten schwer im Magen lasteten. Sollte er ruhig indigniert sein – sie wünschte sich fast einen wütenden Ausbruch, der es ihr gestattet hätte, den Zauberstab zu ziehen und einen Angriff zu starten. Es bestand keine Chance auf einen zweiten Hieb, das war ihr völlig klar, doch zumindest einen Fluch würde sie in sein selbstgerechtes Gesicht schleudern. Ihr Bewusstsein war durch die durchwachte Nacht peinvoll geschärft worden, kristallklar bis hin zu den Rändern. Dumbledore tat ihr allerdings nicht den Gefallen, ihr einen Grund für ein Duell zu liefern. Er neigte lediglich den Kopf und bedeutete ihr, weiterzusprechen. „Wenn wir schon bei der größeren Sache sind“, sagte sie mit einem grimmigen Lächeln, „und auch gerade so schön ehrlich miteinander sprechen, dann möchte ich wissen, was Sie mit den Erdströmen vorhaben.“ Sie klopfte auf den Stapel Pergament, der vor ihr auf dem Tisch lag. „Ich habe die letzten Monate damit verbracht, mich durch die Bibliothek zu lesen. Es sind erstaunlich viele Bücher darüber vorhanden, viele davon wurden durch Sie in den letzten Jahren angefordert. Es ist mir fast peinlich, doch ich muss zugeben, dass ich bis dato nur Voldemort im Blick hatte, und seine Pläne. Jetzt allerdings frage ich mich, wie Ihre Ziele denn so aussehen.“ Dumbledore schmunzelte mit leichter Traurigkeit. „Sie sind so verbissen, Miss Lian. So verrannt in eine Sache, immer nur das Negative im Blick. Es ist nicht jeder Ihr Feind, und nicht alles, von dem Sie nicht gleich in Kenntnis gesetzt werden, wird dazu eingesetzt, um Ihnen in den Rücken zu fallen.“ Er lehnte sich zurück und faltete die Hände vor der Brust. Jiang Li wartete, ohne ein Wort zu sagen. „Sie haben einen guten Spürsinn. In der Rückschau tut es mir leid, dass Sie nicht die Möglichkeit hatten, frei über Ihre Zukunft zu entscheiden. Ich habe Sie in den letzten Monaten beobachtet und ich weiß, dass Sie verletzt und wütend sind, weil Ihnen eine richtige Perspektive und ein sicheres Umfeld fehlen. Nein – jetzt spreche ich“, wies er sie mit erhobener Stimme an, als sie den Mund öffnen wollte. „Sie hören zu. Als Sie zum ersten Mal nach Hogwarts kamen, waren Sie ein kleines, verstörtes Mädchen, das durch eine harte Ausbildung in einer Kampfschule gegangen war. Was mir sofort an Ihnen auffiel, war Ihre Fähigkeit, sich in die anderen hineinzuversetzen. Ihre Empathie und Ihre Beobachtungsgabe sind außerordentlich ausgeprägt, woraus sich eine Ihrer Stärken zusammensetzt, die aber gleichzeitig auch Ihre größte Fußangel bedeutet. Sie denken zu viel, und Sie fühlen zu viel. Sie verlieren sich in den vielen Perspektiven, die Sie zur gleichen Zeit einnehmen wollen, und das ist der Grund dafür, warum Ihr Selbstvertrauen oft erschüttert wird. Es wäre das Beste für Sie gewesen, in China zu bleiben und sich dort in Ihrem eigenen Tempo zu entwickeln. Das alles war mir bewusst, als ich letzten Sommer zu Ihnen reiste, um Sie dazu zu überreden, in Hogwarts zu unterrichten, und trotzdem – und hier kommen wir wieder zur größeren Sache zurück – habe ich Unrecht Ihnen gegenüber in Kauf genommen, da ich Ihre Fähigkeiten im Kampf gegen Voldemort brauche. Es ist nicht so, dass ich keinen anderen Lehrer für „Verteidigung gegen die dunklen Künste“ gefunden hätte, doch ich wollte Sie – um im Dienste des Ordens die Aufgaben durchzuführen, die mit Magie nicht zu lösen sind.“ „Schleichen, klettern, kriechen?“, warf Jiang Li trocken ein und kam sich mit einem Mal dumm und gedemütigt vor. Dumbledore verzog keine Miene, sondern sprach ruhig weiter. „Ganz genau. Es handelt sich hier um einen Kampf, eigentlich ist es bereits ein Krieg – da muss mit Kalkül taktiert werden, auch wenn es manchmal Unannehmlichkeiten oder gar Unrecht für Einzelpersonen bedeutet. Ich bin nicht stolz darauf, doch als mich Xia kurz nach Beginn des Schuljahres aufsuchte, um dem Orden ihre Dienste anzubieten, konnte ich sie nicht abweisen. Sie hat seither viele Menschenleben gerettet und ihre Aufgaben stets zur vollsten Zufriedenheit erfüllt. Natürlich war mir klar, dass sie eigentlich auf der Suche nach Ihnen war, weshalb ich sie unter strenge Beobachtung gestellt habe. Mir ist unklar, wie es ihr am Donnerstag gelungen ist, zu Ihnen zu gelangen.“ Er unterbrach sich kurz und goss sich aus einem Krug, der auf dem Schreibtisch stand, ein Glas Wasser ein. „Und nun zu Ihrer zweiten Frage. Die Erdströme. Ja, ich habe mich damit beschäftigt, ein wenig bereits vor Voldemorts Wiederkehr, und intensiver, als mir bewusst wurde, dass er gezielt nach Informationen darüber sucht. Wie Sie wissen, handelt es sich hier um ein faszinierendes Gebiet voller Möglichkeiten.“ „Beherrschung der Erde, sozusagen.“ „Völlig richtig. Beherrschung der Welt heißt Beherrschung dessen, was unten ist. Ich sehe es als Chance für einen Neubeginn – sowohl für Magier als auch für Muggel. Es wird Zeit, aus unserer verborgenen Existenz ans Licht zu treten und eine friedliche Koexistenz anzustreben. Wir könnten Kriege verhindern, Not lindern und die Welt endlich zu einem Ort des Friedens werden lassen.“ Jiang Li konnte im ersten Moment nicht glauben, was sie da hörte, und musste den Drang, grell aufzulachen, mit Gewalt unterdrücken. „Ist das Ihr Ernst?“ Dumbledore sah sie mit gemessener Miene an. „Es ist mein voller Ernst und meine tiefe Überzeugung.“ „Das – es kann nicht funktionieren“, brachte Jiang Li stockend hervor. „Das wissen Sie doch. Der Traum vom Frieden ist eine Utopie, weil die menschliche Psyche nicht dafür gemacht ist. Das hat uns die Vergangenheit doch wirklich zur Genüge gezeigt.“ „Ich war schon immer ein Verfechter der Zukunft“, gab Dumbledore leise zur Antwort. „Wer lenkt denn dann die tellurischen Kräfte? Sie?“ „Wir alle, gemeinsam“, sagte er mit Nachdruck und stand entschlossen auf. „Ist der Schlüssel erst gefunden, so mischen sich die Karten neu und wir werden andere, bis dato unbeschrittene Wege beschreiten können.“ „Was … was sagen die anderen dazu?“ Sie blieb auf ihrem Stuhl sitzen. Fawkes stieß einen gurrenden Laut aus und musterte sie aufmerksam aus seinen glänzenden Augen. „Ich habe meine Gedanken bislang noch nicht mit vielen geteilt. Es gibt dringendere Dinge, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen, und es wäre unklug, Diskussionen über etwas derzeit so Spekulatives zu führen.“ „Ach – also soll diskutiert werden, wenn entweder Sie oder Voldemort den Schlüssel gefunden haben? Was ist das denn für eine Idee?“ Jiang Li fühlte sich verzweifelt, schwach wie auch unglaublich hilflos und fragte sich mit steigender Besorgnis, ob Dumbledore verrückt geworden war. Wie konnte er ihr eine Nachricht von solcher Bedeutung mit dieser Beiläufigkeit hinwerfen? Vielleicht lag es aber auch an ihr selbst, hatte sie wirklich richtig gehört? Hatte ihre Paranoia überhandgenommen und war eigentlich sie die Wahnsinnige in diesem Raum? Ihre Nasenflügel begannen nervös zu flattern, während sie angestrengt nachdachte. Vielleicht machte doch alles Sinn – sollte sie das Ganze einfach vergessen und daran glauben, dass sie die Sache einfach nicht richtig durchschaute? Natürlich war der Gedanke daran, dass Dumbledore schon wissen würde, was er tat, und alles zu einem guten Ende führen würde, verlockend. Doch es konnte nicht richtig sein, dass ein Mensch – oder ein Wesen, wie auch immer – solche Macht in den Händen halten sollte. Selbst wenn Dumbledore an das Gute glaubte und sich der Weißen Magie verschrieben hatte, so ging ihr diese Vorstellung gegen den Strich. „Miss Lian, ich habe meine Vorkehrungen getroffen, das können Sie mir gerne glauben – und wenn nicht, dann ändert das leider auch nichts daran. Abgesehen davon bin ich der Ansicht, dass die Erdströme gar nicht von einem Individuum kontrolliert werden können, jedenfalls nicht auf Dauer. Vermutlich würde derjenige, der dies versucht, von der Größe der Macht ausradiert werden. Wie auch immer, bis jetzt ist dies alles noch nicht einmal spruchreif, geschweige denn greifbar.“ Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Ich werde Ihnen nicht untersagen, darüber zu sprechen. Erzählen Sie davon, wenn Sie möchten – aber geben Sie acht, dass Ihr Vertrauen nicht missbraucht wird.“ Er war den letzten Teil des Gesprächs über stehen geblieben und nun erhob sich auch Jiang Li langsam. Sie wusste nicht, was sie über das gerade Gehörte denken sollte. Natürlich würde sie mit niemandem darüber sprechen, das wusste er doch ganz genau. Wer würde ihr schon glauben? Snape etwa, der ohnehin zurzeit nicht im Schloss weilte? Sie wünschte sich für einen Augenblick brennend, das Bild der Meisterin nicht zerstört zu haben. Es gab keinen mehr, mit dem sie ihre Gedanken teilen konnte; sie war vollkommen allein. „Ich möchte Sie außerdem dringend darum ersuchen, Ihre Wohnung in den nächsten Tagen nicht zu verlassen. Es sind besondere Vorkehrungen getroffen worden, die Sie vor einem weiteren Angriff schützen werden.“ Jiang Li griff nach ihren Pergamentblättern und ging wortlos aus dem Raum. Erst als sie am Fuße der Wendeltreppe angekommen war, fiel ihr auf, dass sie ihm nichts von ihrem Fund in der Teekanne erzählt hatte.   ***   Ceallach beäugte die zwei grauen Katzen, die an diesem frühen Nachmittag durch die Gänge des Ravenclaw-Turmes hin und her schlichen, mit neugieriger Verwunderung. Die beiden reagierten auf Ansprache nur mit einem zarten Schnurren, kümmerten sich aber nicht weiter um die Lehrerin für Alte Runen. Als sie Jiang Lis Wohnungstür erreicht hatte, bemerkte sie erstaunt, dass einige Ritterrüstungen in unmittelbarer Nähe positioniert waren, ebenso ein Wasserspeier. „Was ist denn bei dir im Gang los?“, fragte sie, als Jiang Li auf ihr Klopfen hin vorsichtig die Tür öffnete. „Sicherheitsvorkehrungen“, meinte diese trocken und winkte sie rasch ins Zimmer. „Wegen dem Überfall vorgestern? Nicht schlecht.“ „Dumbledore tut sein Möglichstes“, gab Jiang Li mit einem rätselhaften Lächeln zurück. „Er möchte nicht, dass mir etwas zustößt.“ „Richtig so!“, sagte Ceallach, die den seltsamen Unterton, der Jiang Lis Worten mitschwang, nicht bemerkte. „Du bist in guten Händen. Ich habe nicht viel Zeit, wollte aber mal nachfragen, ob du noch etwas gefunden hast?“ „Nein, leider“, sagte Jiang Li ruhig. „Ich denke aber, dass ich auf einer guten Spur bin – brauche nur noch etwas Zeit. Ich lasse es dich wissen, wenn sich etwas tut.“ „Ausgezeichnet“, freute sich die Rothaarige und sah sich im Zimmer um. „Aufgeräumt auch? Bist du krank?“ „Ich bin tatsächlich ein bisschen müde“, stimmte Jiang Li in ihr gutherziges Lachen ein. „Nicht schlimm.“ „Dann solltest du dich hinlegen“, meinte Ceallach. „Ich möchte dich gar nicht lange aufhalten. Muss selber gleich weiter, Treffen mit Flitwick und Vector. Dann noch mit einigen von der Prüfungskommission. Sehen wir uns beim Abendessen? Du fehlst mir. Gibt wenig nette Unterhaltung zurzeit.“ „Vielleicht“, sagte Jiang Li, während sie zur Tür ging und sie langsam öffnete. „Aber ich weiß nicht. Ich werde mich ein wenig hinlegen und nachdenken, hoffentlich kann ich schlafen. Gestern Nacht war ich so aufgewühlt, habe kein Auge zugetan …“ „Ruh dich aus. Wir sehen uns entweder später oder morgen beim Frühstück. Kopf hoch. Es wird alles gut.“ Jiang Li lächelte ihr dankbar zu und Ceallach drückte sie kurz an sich. Nachdem sie ihr noch einmal aufmunternd zugewinkt hatte, drehte sich Jiang Li um und schloss die Tür hinter sich. Sie hatte nach ihrem Treffen mit Dumbledore einige Zeit damit verbracht, gegen die Wand zu starren und nachzudenken. Schließlich war sie zu einem Ergebnis gekommen und hatte beschlossen, die Dinge der Reihe nach anzupacken. Zuerst Kuan-yin und seine Fuchsdämonin. Danach Dumbledore und die Erdströme. Sie durfte sich nicht verzetteln, sonst brachte sie am Ende gar nichts zustande und saß in diesem Zimmer, bis das Schuljahr vorbei war. Sie hatte sich gut ausstaffiert. Ihre Kleider waren mit Waffen gespickt; Dolche mit feinen Klingen, sowie Wurfpfeile staken in ihren Ärmeln und dem Innenfutter im Brustbereich, an der rechten Hüftseite hing ein Shuāng jié gùn und links trug sie ihr Jadeschwert sowie den Zauberstab. Das Schwert hatte den Kampf gegen Yue You relativ unbeschadet überstanden und sie war froh, dass man es ihr in China mitsamt ihren anderen Sachen eingepackt hatte. Es ging ihr auch gar nicht so sehr darum, dass sie es heute benutzen wollte, sondern vor allem war es doch ein Geschenk von Urgroßväterchen. Die Jadekugel hing in einem gut verschlossenen Beutelchen um ihren Hals, sorgfältig unter ihrer Robe verborgen. Es erschien ihr nahezu lachhaft einfach, aus ihrem gut bewachten Zimmer zu entkommen. Für den Fall, dass Katzen oder Wasserspeier lauschten, legte sie einen modifizierten Muffliato-Zauber über ihre Wohnung, der in den Ohren Vorbeikommender leise Atem- und gelegentliche Schnarchgeräusche erzeugen sollte. Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen und sicher in ihrem Gürtel verstaut hatte, murmelte sie rasch einen Desillusionierungszauber, öffnete das Fenster und schlüpfte leise nach draußen. Sie mochte zwar auf dem Besen eine erbärmliche Figur machen, doch Klettern in gefährlicher Höhe hatte sie am Huashan so oft praktiziert, dass es nicht einmal mehr ihren Puls sonderlich in die Höhe trieb. In ihrem derzeitigen Zustand war sie ohnehin furchtloser denn je. „Adhaereo!“ Unzählige feine Härchen wuchsen auf ihren Finger- und Zehenspitzen. Wie ein Gecko haftete sie an der Wand und kroch von ihrem Fenster bis zu der Seite des Turms, die an den Krankenflügel anschloss. Sie ließ sich fallen, federte den Aufprall durch einen punktgenau platzierten Zauber ab, der sie wie auf einer riesigen Luftblase sanft auf dem Dach landen ließ, und schlich auf Zehenspitzen zu einem Gangfenster. In der Ferne hörte sie leise Stimmen aus dem Bereich, in dem die Kranken untergebracht waren, doch in ihrer unmittelbaren Nähe war alles ruhig. Sie ließ die Härchen wieder verschwinden, schlüpfte lautlos in ihre Schuhe und erreichte in wenigen Minuten den siebenten Stock. Vor dem Wandteppich von Barnabas dem Bekloppten blieb sie schließlich stehen und lauschte angestrengt. Ein leises Scharren ertönte irgendwo im Gang und sie huschte hinter die mannshohe Vase am Ende des glatten Wandstückes, hinter dem sich der Raum der Erfordernis verbarg. Der Desillusionierungszauber ließ sie auch hier mit ihrer Umgebung verschmelzen und sie hatte sich keine Sekunde zu früh versteckt, denn eine Tür tat sich in der Wand auf und Draco Malfoy schlüpfte mit angespannter Miene heraus. Er sah sich kurz um, wartete, bis die Tür wieder verschwand, und rannte in Richtung des Slytherin-Gemeinschaftsraumes davon. Jiang Li blieb in ihrem Versteck, bis sie sich sicher war, dass niemand in Richtung des Ganges unterwegs war. Ihre hochgradig geschärften Sinne erfassten die Energie der Schüler, Lehrer und Wesen in Hogwarts wie feine Nadelstiche in ihrem Nacken, und ganz am Rande ihres Bewusstseins – dicht an den hellen, ausgefransten Rändern – fühlte sie einen dunklen Ball voll schwarzer, bedrohlicher Kraft, der schmerzhaft gegen ihre Kehle drückte. Sicherheitshalber ließ sie den Desillusionierungszauber noch eine Weile wirken, trat wieder in den Gang hinaus und schritt dreimal gegenüber dem Wandteppich auf und ab. Zeig mir einen Weg in den Verbotenen Wald. Zeig ihn mir. Den schnellsten Weg. Eine glänzende Tür, die von einem großen Messingknopf geschmückt wurde, erschien in der Wand. „Danke“, hauchte Jiang Li, packte den Knopf und drückte sich vorsichtig in den Raum der Erfordernis hinein. Als sie noch Schülerin in Hogwarts gewesen war, hatte sie ihn in ihrem vierten Schuljahr durch Zufall gefunden und sporadisch als Versteck oder Trainingsraum genutzt. Einige ihrer Mitschüler hatten darin auch Wege gefunden, die aus Hogwarts hinausführten, weshalb sie überhaupt erst auf den Gedanken gekommen war, statt der üblichen Geheimgänge (von denen die meisten ohnehin verschlossen worden waren, wie sie bereits zu Beginn des Schuljahres von ihren Kollegen erfahren hatte) den verborgenen Raum zu benutzen. Sie stolperte über Stapel von Pergament, Büchern und Kissen, die wild am Boden verstreut lagen. In einer Ecke des höhlenartigen Zimmers befanden sich mehrere Strohpuppen, die sie mit einem weichen Gefühl in der Magengrube als ehemaliges Trainingsgerät wiedererkannte; eine der Figuren, die mottenzerfressen und stark mitgenommen aussah, schien mit einem Arm auf einen kleinen Schrank neben sich zu zeigen. Ein dunkler Mantel, der voller Haare der verschiedensten Tiere zu sein schien, war achtlos darüber geworfen. Jiang Li bahnte sich tänzelnd einen Weg zu dem Schrank und öffnete vorsichtig die Tür. Eine kleine durchsichtige Flasche, an deren Rändern eine dicke blaue Flüssigkeit zu erkennen war, kullerte ihr vor die Füße und rollte seitlich in den Staub davon. Im Inneren des Kästchens, das gerade groß genug war, um sich hineinzuzwängen, öffnete sich ein schmaler Tunnel mit rauen, grob behauenen Steinwänden. Sie drehte sich kurz um, lauschte konzentriert und schlüpfte dann, als sie niemanden hörte oder fühlte, ohne weitere Umschweife in den engen Gang. Er war gerade hoch und breit genug, um sich kriechend fortzubewegen; die Luft war stickig und legte sich beengend auf ihre Brust. In der nahezu substanziellen Dunkelheit war es alles andere als beruhigend und Jiang Li bildete sich ein, flüsternde Stimmen zu hören – einmal näher, einmal weiter entfernt – doch sie konnte nie genau verstehen, was sie sagten. Nach endlosen Minuten schimmerte vor ihr ein kleiner, viereckiger Rahmen aus Licht, der langsam größer wurde und sich schließlich als das Innere eines überdimensionalen Schranks entpuppte. Jiang Li schob sich aus dem Tunnel auf ein grob geglättetes Regalbrett und rückte vorsichtig einige eimergroße Krüge aus dem Weg. Dann tippte sie die Tür mit ihrem Zauberstab an und lugte durch den Spalt nach draußen. Der Raum der Erfordernis hatte sie durch den Tunnel direkt in Hagrids Hütte geführt; glücklicherweise war ihr riesenhafter Bewohner offensichtlich nicht zu Hause, ebenso wenig wie seine Respekt einflößenden Tiere. Sie öffnete die Schranktür etwas weiter, huschte in den Wohnraum und sah sich kurz um. Soweit sie sich erinnern konnte, war sie noch nie in Hagrids Hütte gewesen; die riesenhafte Ausstattung hätte sie zu einem anderen Zeitpunkt mit Sicherheit fasziniert, doch heute hatte sie keine Zeit, um sich eingehender damit zu befassen. Sie fühlte, wie der dunkle Ball näher kam, und verzog das Gesicht zu einem starren, grimmigen Lächeln. Der Köder zeigte bereits seine Wirkung; schneller sogar, als sie erhofft hatte. Mit den Fingerspitzen strich sie sanft über das Beutelchen um ihren Hals und kicherte leise, während sie durch die Hintertür schlüpfte und durch den Garten in Richtung des Verbotenen Waldes rannte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)