Mistakes von Karma (Seto & ...) ================================================================================ Mistakes -------- "Seto?" Blinzelnd öffneten sich müde Augen und ihr Besitzer unterdrückte ein Gähnen, während die blauen Iriden suchend durch den Raum schweiften und schlussendlich am Wecker hängen blieben, dessen blinkende Ziffern im ersten Moment keinen rechten Sinn ergeben wollten. War es tatsächlich schon wieder Zeit zum Aufstehen? War er nicht erst vor etwas mehr als einer Stunde ins Bett gegangen? Der Bericht der Buchhaltung hatte ihn doch wesentlich länger aufgehalten als er erwartet gehabt hatte. Alles musste man selber machen … Unwillig diesen Gedankengang verscheuchend setzte Seto sich auf und warf einen etwas wacheren Blick auf den Wecker. 6:38 blinkte ihm entgegen und er verkniff sich ein Ächzen. Tatsächlich hatte er kaum weniger als vier Stunden geschlafen, aber es kam ihm deutlich kürzer vor. ›Vielleicht‹, wisperte eine Stimme in seinem Kopf, die so gar nicht nach seiner eigenen klang, sondern vielmehr nach der seines Bruders, ›vielleicht hat Mokuba Recht. Vielleicht brauche ich wirklich Urlaub.‹ Aber das war Wunschdenken. Er hatte viel zu viel zu tun, um seine kostbare Zeit mit so etwas Unsinnigem wie Urlaub zu verschwenden. "Ich bin schon wach", adressierte er daher an denjenigen, der noch immer in der halbgeöffneten Tür zu seinem Schlafzimmer stand. Auch ohne seinen jüngeren Bruder anzusehen wusste Seto, dass Mokubas graublaue Augen ihn voller Besorgnis musterten, aber er ignorierte diesen Blick, den er gerade in letzter Zeit ohnehin viel zu oft zu sehen bekam und daher viel zu gut kannte. Stattdessen schwang er sich aus dem Bett und machte sich auf den Weg zu seinem Kleiderschrank. Er hatte heute noch eine Menge Dinge zu erledigen. Und dann war da auch noch das Meeting mit Pegasus, an das er mit Grausen dachte. Mokuba folgte den Bewegungen seines älteren Bruders aufmerksam. "Du schläfst zu wenig", tadelte er leise, denn ihm entging keineswegs, dass Seto an diesem Morgen noch abgespannter und müder wirkte als sonst. Ebenso wenig entging ihm, dass sein Bruder nur mit Mühe ein Seufzen unterdrückte. Normalerweise, sinnierte der inzwischen neunzehnjährige Mokuba, hatte Seto sich wesentlich besser im Griff, selbst in seiner Gegenwart. Ein solcher Lapsus sah ihm ganz und gar nicht ähnlich. Nur zu gerne hätte Seto seinen Bruder des Zimmers verwiesen, aber das brachte er dann doch nicht über sich. Aber warum konnte der Junge einfach nicht aufhören, sich unnötige Sorgen seinetwegen zu machen? Es ging ihm gut. Ja, er war in den letzten Wochen etwas erschöpfter als sonst, aber im Angesicht der bevorstehenden Spielemesse, deren Mitorganisator die Kaiba Corporation war, und der in Bälde anstehenden Eröffnung der Duellakademie, an deren Verwirklichung er so lange und so hart gearbeitet hatte, war das wohl nicht weiter verwunderlich. Allerdings brachte Seto keines dieser Argumente zur Sprache, denn er wusste ganz genau, dass sie bei seinem Bruder auf taube Ohren stoßen würden. Wann genau hatte Mokuba eigentlich aufgehört, sein kleiner Bruder zu sein, und angefangen, sich wie seine Amme aufzuführen? ›Vier Jahre. Das ist jetzt vier Jahre her.‹ Wie immer, wenn seine Gedanken in diese Richtung drifteten, durchfuhr ihn die Erinnerung an das, was damals geschehen war, wie ein Stich. Für einen Sekundenbruchteil verharrten seine Hände, in denen er das für heute ausgewählte Hemd hielt, in der Schwebe zwischen seinem Kleiderschrank und dem Fußende seines Bettes, auf dem bereits sein Mantel und eine seiner obligatorischen schwarzen Hosen lagen. Seto schüttelte die Erstarrung jedoch schnell wieder ab. Es hatte keinen Sinn, sich in Erinnerungen zu verlieren. Was vergangen war, war vergangen. Sich immer wieder zu erinnern würde daran nichts ändern. Mit entschlossenen, zielstrebigen Bewegungen suchte Seto auch noch den Rest an Kleidung heraus, den er für den heutigen Tag brauchen würde. Erst dann wandte er sich wieder zu seinem Bruder um, aber an dem Ausdruck von Besorgnis in Mokubas graublauen Augen hatte sich nichts geändert. Allerdings wusste der Neunzehnjährige es besser, als jetzt zu versuchen, seinen älteren Bruder zur Vernunft bringen zu wollen. Stattdessen seufzte er nur innerlich. Er wollte eigentlich nicht aufgeben, aber ihm gingen langsam wirklich die Ideen aus. Er spürte, es gab etwas, das Seto ihm nicht erzählte, aber er hatte keine Ahnung, was genau das sein mochte. "Ich komme später auch noch ins Büro." Beinahe ein wenig geschockt von seinen eigenen Worten blickte Mokuba, der seine Augen kurz durch das Zimmer hatte schweifen lassen, wieder zu seinem Bruder. Für einen winzigen Moment schien dieser überrascht zu sein, nahm die Information aber dann doch nur mit einem knappen Nicken zur Kenntnis. "Wenn du willst." Eigentlich war die Kaiba Corporation ja doch noch immer mehr seine Domäne als Mokubas, der derzeit eigentlich vollauf mit seinem Studium beschäftigt war und sich bisher noch nicht entschieden hatte, ob er danach auch wirklich den ihm zustehenden Posten als Vizepräsident bekleiden wollte oder nicht. Aber auch wenn das plötzliche Interesse des Jüngeren seltsam war und sicher mehr ihm und seinem Verhalten in der letzten Zeit als der Firma selbst galt, kam Seto doch nicht umhin, sich zumindest ein wenig darüber zu freuen. Wann immer Mokuba ihn in seinem Büro besuchte, erinnerte er sich wieder daran, warum er all das, was er in seinem Leben bisher geleistet hatte, überhaupt alles auf sich genommen hatte. Mokuba erinnerte ihn jeden Tag aufs Neue daran, wofür er immer gekämpft hatte. ›Und auch daran, was ich verloren habe.‹ Der Gedanke stellte sich ungebeten ein und Seto versuchte gleich, ihn wieder abzuschütteln, aber wie so oft blieben die Worte und die Wahrheit dahinter hartnäckig am Rande seines Bewusstseins. So oft er sich auch schon bemüht hatte, Mokuba und das, was vier Jahre zuvor geschehen war, nicht miteinander in Verbindung zu bringen, sein Unterbewusstsein schien das anders zu sehen. Und auch wenn es Mokuba nicht wirklich für die Entscheidung verantwortlich machte, die er getroffen hatte – was auch unsinnig war, denn immerhin war es seine eigene Entscheidung gewesen; sein Bruder hatte nicht das Geringste damit zu tun gehabt –, so ließ es sich doch nie nehmen, Seto hämisch darauf hinzuweisen, dass er sich vielleicht anders entschieden hätte, wenn Mokuba damals zumindest schon ein klein wenig älter gewesen wäre. Mit aller Entschlossenheit, die er aufbringen konnte, drängte Seto diese Gedankengänge zurück in die dunkle Ecke seines Unterbewusstseins, in die er sie vor vier Jahren bereits gesperrt hatte und aus der sie in unregelmäßigen Abständen unglücklicherweise noch immer auszubrechen im Stande waren. Man sollte doch meinen, vier Jahre wären ausreichend, um die Torheiten der Jugend zu vergessen. Diese eine Torheit suchte ihn jedoch immer noch heim und peinigte ihn, auch wenn er das weder vor sich selbst noch vor irgendeinem anderen Menschen jemals freiwillig zugegeben hätte. Ein Seto Kaiba hatte keine Schwäche. ›Außerdem war es ja auch nicht allein meine Entscheidung.‹ Aber egal wie oft er sich das auch schon vor Augen geführt hatte, es änderte rein gar nichts. Das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, ließ sich auch nach vier Jahren nicht abschütteln. Um ein Haar hätte Seto laut aufgelacht. Ein Seto Kaiba machte keine Fehler. Genau dieses Bild zeigte er nach außen hin, aber in seinem Inneren sah es ganz anders aus. Seto wusste nur zu gut, dass er in seinem Leben einige Fehler gemacht hatte, aber er hatte gelernt, mit diesen Fehlern zu leben und sie trotz allem zu seinem Vorteil zu nutzen. Nur bei diesem einen Fehler wollte ihm das partout nicht gelingen. "Geh schon mal nach unten, Mokuba. Ich komme nach, sobald ich angezogen bin." Mit diesen Worten wandte Seto sich von dem Stapel Kleidung auf seinem Bett ab und ging hinüber in das an sein Schlafzimmer angrenzende Bad, ohne abzuwarten, ob sein Bruder seiner Aufforderung Folge leisten würde. Mokuba seufzte abgrundtief, sobald die Badezimmertür hinter Seto ins Schloss fiel, kam der Aufforderung des Älteren aber nichtsdestotrotz nach und ging vor in die Küche, um schon mal sein Frühstück und Setos obligatorischen schwarzen Kaffee zu ordern. Den Versuch, seinen Bruder von der Wichtigkeit einer richtigen, ausgewogenen Mahlzeit am Morgen überzeugen zu wollen, hatte er bereits vor mehr als zwei Jahren endgültig aufgegeben. Seto mochte ihm zuliebe eine Menge tun, aber in manchen Sachen war und blieb er sturer als der allseits bekannte sprichwörtliche Maulesel. Bei diesem Gedanken unwillkürlich ein wenig grinsend nahm Mokuba an dem eigentlich viel zu großen, viel zu protzigen Esstisch Platz und wartete darauf, dass sein Bruder auch endlich nach unten kam. An diesem Morgen ließ Seto sich allerdings für seine Verhältnisse geradezu erstaunlich viel Zeit. Sein Kaffee war nur noch lauwarm anstatt wirklich heiß, aber daran nahm er – ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit – keinen Anstoß. Er trank das Gebräu mit der gleichen stoischen Todesverachtung wie an jedem anderen Tag auch. Skepsis lag auf Mokubas Zügen, aber er hütete sich, etwas zu sagen oder eine Frage zu stellen. Er wusste genau, er würde sowieso keine Antwort bekommen. Schon seit geraumer Zeit war es, als gäbe es eine ganz bestimmte Sache, die Seto und ihn noch mehr voneinander entfernte als es die Kaiba Corporation und ihre unterschiedlichen Lebenswege ohnehin schon taten. Sie wohnten zwar noch immer zusammen in der Villa, in der sie nach ihrer Adoption durch Gozaburo Kaiba gemeinsam aufgewachsen waren, aber eigentlich führten sie schon seit ein paar Jahren vollkommen eigenständige Leben, die sich nur hin und wieder zufällig überlappten. So zumindest erschien es Mokuba. Erstaunt über, aber auch dankbar für das ungewohnte Schweigen seines Bruders beim Frühstück vertiefte Seto sich in den Wirtschaftsteil der Zeitung, den Roland – dienstbeflissen wie immer – längst für ihn bereitgelegt hatte. Der Börsenindex hatte ihm bisher noch jedes Mal dabei geholfen, sich voll und ganz auf den vor ihm liegenden Arbeitstag einzustimmen, aber heute wollte ihm das nicht so recht gelingen. Höchstwahrscheinlich, sinnierte Seto mit einem mühsam unterdrückten Seufzen, lag das an dem für den Nachmittag angesetzten Meeting mit Pegasus. Meetings mit ihm waren immer schon anstrengend und nervenaufreibend gewesen, aber in den letzten vier Jahren hatte sich zu alledem auch noch ein Seto nur allzu bekannter Schmerz gesellt, den er jedes Mal in Pegasus' Gegenwart spürte. Immerhin stand Pegasus dem Ursprung seiner schmerzlichen Erinnerungen ziemlich nahe und so war der Anblick des CEOs von Industrial Illusions immer mit einem deutlichen Anstieg ebendieser Erinnerungen verbunden. Wenn es ihm noch möglich gewesen wäre, hätte Seto das Meeting nur zu gerne abgesagt oder es zumindest um ein paar Tage nach hinten verschoben, aber dafür war es schon zu spät. Pegasus war, wie er wusste, bereits seit dem Vortag in Domino und er würde sich ganz sicher nicht mehr abwimmeln lassen. Dafür war er einfach zu penetrant. Mokuba, dem das uncharakteristische Beinahe-Seufzen seines Bruders keineswegs entgangen war, blickte von seiner Müslischüssel auf und versuchte, einen Blick auf Setos Gesicht zu erhaschen, doch die erhobene Zeitung war eine wirkungsvolle Barriere. ›Was ist bloß los mit dir, Seto?‹, fragte der Neunzehnjährige sich, fand jedoch wie sonst auch heute keine Antwort auf diese Frage. Die hätte ihm wohl nur sein großer Bruder geben können, aber dieser schien wie üblich keinesfalls geneigt zu sein, morgendliche Konversation zu betreiben. Und vor allem würde er wohl kaum jetzt plötzlich doch endlich mit der Sprache herausrücken, was ihn schon so lange zu bedrücken schien. Immerhin war heute bei weitem nicht das erste Mal, dass Seto so abwesend und gleichzeitig so seltsam … verletzt wirkte. Mokuba war keinesfalls dumm und so war ihm durchaus klar, dass Pegasus' Anwesenheit diese besondere Stimmung seines Bruders jedes Mal aufs Neue förderte, aber der Neunzehnjährige war sich auch absolut sicher, dass Pegasus selbst keinesfalls der Auslöser dafür war. Nein, da gab es noch etwas anderes – etwas, das er nicht wusste und, wenn es nach seinem Bruder ging, wohl auch nie erfahren würde. Seto konnte verschlossener sein als der beste Safe der Welt, wenn er etwas um keinen Preis verraten wollte. Eine ungemein frustrierende Eigenschaft, das konnte Mokuba nicht leugnen. "Master Mokuba, Ihre Vorlesungen fangen in Kürze an", drängte sich Rolands leise und doch aufgrund der im Esszimmer herrschenden Stille viel zu laut erscheinende Stimme in das Schweigen zwischen den Brüdern und Seto atmete unwillkürlich auf. Er musste die Blicke seines Bruders nicht sehen, um sie überdeutlich spüren zu können. Und er hasste es, das Objekt einer solch unnachgiebigen Musterung zu sein. Es war schon schwer genug, die Erinnerung an seinen Fehler mit sich herumzutragen, auch ohne dass Mokuba ihm mit seinen Blicken die Informationen förmlich aus seinem Gehirn zu ziehen versuchte. Mit einem Rascheln wurde die Zeitung gesenkt, als der Neunzehnjährige sich von seinem Stuhl erhob. Die blauen Augen seines großen Bruders beobachteten ihn, doch dieser sagte nichts, sondern nickte ihm zum Abschied nur knapp zu. "Bis nachher in der Firma, Seto", erinnerte Mokuba den Älteren an sein Versprechen. Er hatte sich fest vorgenommen, am Nachmittag auf jeden Fall pünktlich für das Meeting mit Pegasus da zu sein. Bisher war er dem Silberhaarigen immer in weitem Bogen aus dem Weg gegangen – schlechte Erfahrungen mit Kidnapping konnten schon mal dazu führen, dass man gewissen Personen gegenüber vielleicht eine Spur zu vorsichtig war –, aber heute würde er mit dieser Tradition brechen. Vielleicht, so hoffte Mokuba, würde die Fassade seines Bruders ja in Pegasus' Gegenwart einen Riss bekommen und es ihm erleichtern, den Grund für Setos seltsames Verhalten in Erfahrung zu bringen. So wirklich daran glauben konnte er zwar nicht, aber die Hoffnung starb ja bekanntermaßen immer zuletzt. Da sein Bruder sich schon lange nicht mehr ständig von Roland überallhin fahren ließ, sondern es stattdessen vorzog, selbst zu fahren oder sogar öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, beendete Seto nach Mokubas Aufbruch aus dem Esszimmer auch sein nur aus der obligatorischen Tasse schwarzen Kaffees bestehendes Frühstück, legte die inzwischen ausgelesene Zeitung beiseite und machte sich dann gemeinsam mit Roland auf den Weg zur wartenden Limousine. Hin und wieder fuhr er zwar auch selbst, aber in seiner derzeitigen Stimmung erschien ihm das ganz und gar nicht ratsam zu sein. Er konnte es sich im Moment definitiv nicht leisten, in einen Unfall verwickelt zu werden. Wenn er schon keine Zeit für einen Urlaub hatte, woher sollte er dann wohl die Zeit für einen Aufenthalt im Krankenhaus nehmen? Nein, so etwas war mit seinem aktuellen Terminplan definitiv nicht vereinbar. Die recht kurze Fahrt bis zur Kaiba Corporation verbrachte Seto im Fond der Limousine mit dem vergeblichen Versuch, sich wieder daran zu erinnern, was genau es eigentlich war, das Pegasus so unbedingt mit ihm hatte besprechen wollen. Allerdings wollte es ihm beim besten Willen nicht mehr einfallen. Und Roland, der diskret die Trennwand hochgefahren hatte, um die Grübeleien seines Arbeitgebers nicht zu stören, konnte er im Moment nicht danach fragen. Also, dachte Seto bei sich, blieb ihm wohl nichts anderes übrig als sich überraschen zu lassen – etwas, das ihm gerade in Kombination mit Maximilian Pegasus ganz und gar nicht gefallen wollte. Aber das Meeting mit Pegasus war nicht alles, was ihn heute an Terminen erwartete, also zwang er seine Gedanken mit etwas Mühe wieder von dem Silberhaarigen weg zu all den anderen unzähligen Kleinigkeiten, mit denen auch dieser Tag angefüllt sein würde. Tatsächlich gelang es Seto sogar, bis zum Nachmittag nicht weiter über das vor ihm liegende Treffen nachzudenken. Dazu trug unter anderem bei, dass es einige Verzögerungen beim Bau der von ihm höchstpersönlich geplanten Duellakademie gab und er den gesamten Vormittag über damit beschäftigt war, sich mit Architekten, Mitgliedern des Stadtrats und des Planungsausschusses sowie anderen derartigen Subjekten auseinanderzusetzen, die ihm den letzten Nerv zu rauben und seinen ohnehin schon sehr dünnen Geduldsfaden endgültig zu zerreißen drohten. Wie er solche Zeitverschwendung, verursacht durch pure, gebündelte Inkompetenz, doch hasste! So in seinen Ärger vertieft bekam Seto nicht einmal richtig mit, wie die Zeit verging. Erst als sein Bruder nach einem knappen Klopfen unaufgefordert sein Büro betrat und ihn mit einem besorgten Stirnrunzeln musterte, ohne auch nur ein Wort zu verlieren, wurde ihm bewusst, wie spät es inzwischen sein musste. Ein kurzer Blick auf die Uhr machte deutlich, dass er nicht einmal mehr zehn Minuten Schonfrist hatte, bis er sich mit Pegasus würde herumschlagen müssen. Üblicherweise begrüßte Seto es, wenn Mokuba bei ihm war, aber heute war er eigentlich nur verwundert. Normalerweise ging Mokuba dem silberhaarigen CEO von Industrial Illusions nämlich so weit wie nur irgend möglich aus dem Weg, aber jetzt war er tatsächlich freiwillig hier – und das, obwohl er von dem bevorstehenden Termin wusste. Wie auch nicht? Immerhin hatte Seto es sich in den letzten Tagen nicht nehmen lassen, immer wieder mal seinem Ärger darüber, dass er in Bälde das zweifelhafte … Vergnügen haben würde, Pegasus' Gesellschaft genießen zu dürfen, Luft zu machen. "Ich dachte mir, du könntest vielleicht ein bisschen Rückendeckung gebrauchen, wenn dir schon ein Meeting mit Pegasus bevorsteht", beantwortete Mokuba die unausgesprochene Frage seines älteren Bruders, die er an dessen kaum vorhandener Mimik problemlos ablesen konnte. Er kannte Seto immerhin schon sein ganzes Leben lang und wusste, wie dieser tickte. Meistens war es kein Problem für ihn, das Pokerface seines Bruders zu durchschauen. Allerdings gelang ihm das leider nicht immer. Sonst müsste er sich wohl kaum immer noch fragen, was in aller Welt eigentlich genau mit Seto los war und warum er heute so besonders verbissen wirkte. Mokuba kam jedoch nicht mehr dazu, eine weitere Frage zu stellen. Ehe er auch nur den Mund öffnen konnte, klopfte es an der Tür und der Neunzehnjährige schluckte unwillkürlich. Jahrelang hatte er alles Mögliche und Unmögliche unternommen, um einen weiten Bogen um Pegasus zu machen, aber jetzt war er tatsächlich hier. Aber, ermahnte er sich und straffte sich unwillkürlich, als sein Bruder ein barsches "Herein" von sich gab, er war kein Kind mehr. Er war erwachsen. Und er würde nicht länger davonlaufen. Er war immerhin ein Kaiba und Flucht war eines Kaibas einfach nicht würdig. Hätte Mokuba gewusst, dass er nicht der einzige Kaiba in diesem Raum war, der sich in diesem Augenblick ans andere Ende der Welt wünschte, wäre er wohl zu gleichen Teilen erleichtert und besorgt gewesen. Seto hatte sich innerlich für das bevorstehende Grauen gewappnet, soweit es ihm möglich war. Sein übliches Pokerface war an seinem Platz – wie immer, wenn er es mit Maximilian Pegasus zu tun hatte –, aber als sich die Tür zu seinem Büro öffnete und die zweite Person offenbarte, die Pegasus begleitete, hätte ihn seine sonst so eiserne Selbstbeherrschung beinahe im Stich gelassen und um ein Haar wären ihm seine Gesichtszüge entgleist. Was in aller Welt ging hier vor? Sah er jetzt schon Gespenster oder Dinge, die gar nicht da waren? Oder war er wirklich hier? Aber warum in aller Welt? Und warum ausgerechnet heute? Seto war, ganz entgegen allem, wofür er sonst stand, so geschockt, dass es ihm nicht einmal gelang, seine Besucher zu begrüßen. Mokuba hingegen hatte weniger Probleme damit. Zwar war auch er mehr als nur etwas überrascht davon, dass Pegasus nicht alleine erschien, aber nach einer Schrecksekunde überwog doch die Freude darüber, jemanden, zu dem er schon seit Jahren kaum noch Kontakt gehabt hatte, endlich einmal wiederzusehen. "Duke! Was für eine Überraschung!", begrüßte er Pegasus' schwarzhaarigen Begleiter, trat zu diesem und schüttelte ihm mit einem strahlenden Lächeln die Hand. "Seto hat mir ja gar nicht gesagt, dass du heute auch mit zu dem Meeting kommst." "Davon wusste er auch nichts. Ich bin sozusagen ein Überraschungsgast." Die Stimme zu hören, die ihn seit über vier Jahren verfolgte und ihn einfach nicht zur Ruhe kommen ließ, zog Seto förmlich den Boden unter den Füßen weg. Noch immer brachte er keinen Ton heraus und als die grünen Augen des Schwarzhaarigen kurz zu ihm huschten, ehe er sich wieder auf Mokuba konzentrierte, war Seto ungemein froh, dass er noch immer neben seinem Schreibtisch stand. So konnte er sich an die schwere, kühle Marmorplatte lehnen, ohne dass es einem der Anwesenden auffiel. Nicht, dass überhaupt jemand auf ihn geachtet hätte, wie er ein wenig bitter feststellte. Duke lächelte seinen jüngeren Bruder an, Pegasus beobachtete die beiden ebenfalls und hielt sich ansonsten im Hintergrund. Genauso gut, grollte Seto innerlich, hätte er unsichtbar sein können. "Es hat sich ganz kurzfristig ergeben, dass ich im Moment auch in Domino bin. Die Spielemesse, du verstehst? Und Max war so nett, mich heute mit zu seinem Termin mit deinem Bruder nehmen, damit wir ihm nicht allzu viel von seiner kostbaren Zeit stehlen", fuhr Duke fort, seine Anwesenheit zu erklären. Mokuba strahlte ihn noch immer an und dieser Anblick versetzte Seto einen weiteren, schmerzhaften Stich. Sicher, sein Bruder konnte nicht wissen, was vor vier Jahren geschehen war – immerhin hatte er selbst peinlich genau darauf geachtet, dass der Junge nur ja nichts von der ganzen Sache mitbekam –, aber wie konnte er sich so geben, als wäre nicht das Geringste vorgefallen? Als hätte es zwischen ihnen niemals irgendetwas gegeben, das … Mit einem unwirschen Kopfschütteln schob Seto diesen Gedankengang beiseite. Das war doch einfach lächerlich. Seit wann benahm er sich denn wie ein Idiot, nur weil er plötzlich jemanden wiedersah, mit dessen Erscheinen er hier und heute absolut nicht gerechnet hatte? So unprofessionell zu sein passte ganz und gar nicht zu ihm. Unwillkürlich straffte Seto sich und verschränkte die Arme vor der Brust, ehe er sich räusperte und sich so in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit brachte. "Wo das Thema Zeit gerade zur Sprache gekommen ist …", begann er, wurde jedoch von seinem Bruder unterbrochen, noch ehe er seinen Satz beenden konnte. "Ach, komm schon, Seto. Du kannst doch jetzt nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen, wo ich Duke mindestens eine halbe Ewigkeit nicht gesehen habe!", protestierte Mokuba und klang damit nicht wie neunzehn, sondern eher wie ein schmollendes Kind, dem seine Lieblingssüßigkeiten vorenthalten wurden. Nicht zum ersten Mal kam Seto sich eher wie Mokubas Vater vor als wie sein älterer Bruder, aber jede Zurechtweisung, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, erstarb ungesagt, als der zweite Schwarzhaarige im Raum leise zu lachen begann. "Manche Dinge ändern sich scheinbar nie", neckte er Mokuba mit deutlich hörbarem Amüsement und der warme Unterton in seiner Stimme weckte eine ganze Flut von Erinnerungen, die zu verdrängen Seto eine gefühlte Ewigkeit gekostet hatte. Mit einem Mal jedoch war alles wieder so präsent, als hätte es die letzten vier Jahre nicht gegeben. "Aber dein Bruder hat Recht, Mokuba." Seto entging nicht, dass Duke es tunlichst vermied, seinen Namen auszusprechen – eine weitere Tatsache, die, obwohl sie ihm eigentlich absolut nichts ausmachen sollte, doch unsagbar schmerzhaft war. Machte es Duke denn wirklich gar nichts aus? Spürte er denn tatsächlich nichts, wo er nach all der Zeit das erste Mal wieder hier in seinem Büro stand? War ihm das, was früher einmal zwischen ihnen gewesen war, wirklich inzwischen so gleichgültig, dass es ihm so leicht fiel, sich zu verhalten wie immer – und das, wo er, Seto, so schwer mit sich selbst zu kämpfen hatte, um seine gleichgültige Fassade überhaupt aufrechterhalten zu können? Hatte Duke, fragte Seto sich unwillkürlich, überhaupt auch nur ein wenig unter der Entscheidung gelitten, die sie beide vor vier Jahren getroffen hatten? ›Es sieht jedenfalls nicht so aus.‹ War er wirklich der Einzige von ihnen beiden, den die Vergangenheit auch jetzt noch immer nicht losließ? "Was hältst du davon, wenn wir uns jetzt erst mal ums Geschäftliche kümmern, Mokuba? Ich hab heute Nachmittag sonst nichts weiter vor, also kannst du mir später gerne so viele Löcher in den Bauch fragen, wie du magst. Deal?" Die grünen Augen des älteren Schwarzhaarigen funkelten, als Mokuba auf dieses Angebot hin gleich enthusiastisch nickte. Wieder durchfuhr Seto ein Stich und so klang seine Stimme deutlich kälter als üblich, als er sich doch endlich wieder ins Gespräch einbrachte. "Das wäre dann also geklärt. Schön", sagte er knapp und bedachte seinen Bruder mit einem Blick, der ihm klarmachen sollte, dass er weitere Unterbrechungen ganz und gar nicht schätzte und schon gar nicht gutheißen würde. Mokuba zog den Kopf ein und sah seinen Bruder schuldbewusst an, doch dieser ging einfach darüber hinweg. "Dann können wir ja jetzt endlich zur Sache kommen", fuhr Seto fort, inzwischen wieder gefasst und ganz der kühle Geschäftsmann. Mit keinem Wort, keinem Blick und keiner Geste ließ er sich anmerken, dass dieses Gespräch für ihn die reinste Tortur war. Eine solche Blöße würde er sich ganz bestimmt nicht geben – und schon gleich gar nicht vor Pegasus. Trotzdem war Seto froh, als knapp zwei Stunden später endlich alles soweit erledigt war. Es war alles andere als leicht, nicht ständig seinen Blick zu Pegasus' Begleiter schweifen zu lassen. Er hatte so viele Fragen und konnte doch keine davon stellen, wenn er nicht wollte, dass Pegasus und vor allem Mokuba wesentlich mehr erfuhren als sie wissen mussten. Seto war hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung, Duke möge nach dem Gespräch einfach wieder sang- und klanglos aus seinem Leben verschwinden, und der Angst, dass er genau das auch tatsächlich tun könnte, ohne dass sie eine Möglichkeit bekamen, miteinander zu reden. Aber wie, fragte Seto sich, während er einen von Pegasus' Monologen über sich ergehen ließ, ohne auch nur ein einziges Wort wirklich wahrzunehmen, würde ein solches Gespräch wohl aussehen? Er selbst brachte es einfach nicht über sich, auch nur die kleinste Andeutung zu machen, dass er etwas mit Duke unter vier Augen zu besprechen wünschte. Und der Schwarzhaarige schien kein Interesse daran zu haben, mit ihm alleine zu sein, denn er machte keine Anstalten, über irgendetwas anderes zu sprechen als nur über die bevorstehende Spielemesse. Da war keine der unterschwelligen Botschaften, die zu vermitteln er früher wie kein Zweiter vermocht hatte. Da war einfach … nichts. Duke verhielt sich ganz so, als seien sie beide nichts anderes als zwei ehemalige Klassenkameraden, die sich jetzt nach mehreren Jahren wiederbegegneten, weil sie zufällig einen annähernd gleichen Lebensweg eingeschlagen hatten. Nichts in seiner Gestik, seiner Mimik oder seinen Worten deutete darauf hin, dass sie beide einmal so viel mehr als das gewesen waren. Scheinbar, dachte Seto bitter, war er wirklich der Einzige von ihnen beiden, der so etwas wie Reue empfand. Der Gedanke, dass er mit seinen Wünschen alleine dastand, war nicht leicht zu ertragen, aber Seto war mittlerweile geübt darin, sich von solchen Gedankengängen nicht behindern zu lassen. Wie es in seinem Inneren auch aussehen mochte, nach außen hin wirkte er genauso kühl und professionell wie immer. Die Idee, dass es vielleicht gerade seine nur mühsam aufrechterhaltene Fassade der Gleichgültigkeit gewesen sein könnte, die jeglichen Kommunikationsversuch Dukes im Keim erstickt hatte, kam Seto erst, als sowohl Pegasus und Duke als auch Mokuba sich bereits von ihm verabschiedet und sein Büro verlassen hatten. Mit einem abgrundtiefen Seufzen ließ Seto sich in seinen Stuhl fallen, schloss die Augen und massierte sich die Nasenwurzel, um die aufkommenden Kopfschmerzen zu vertreiben. Warum nur konnte er das, was geschehen war, nicht einfach als das betrachten, was es war – Vergangenheit? Den Rest seines Arbeitstages brachte Seto irgendwie hinter sich, ohne sich am Abend daran erinnern zu können, was genau er getan und mit wem er überhaupt noch gesprochen hatte. Er funktionierte einfach nur mechanisch, während sein Gehirn die ganze Zeit all die altbekannten Fragen wälzte, auf die es doch keine Antworten finden würde – ganz einfach deshalb, weil derjenige, der ihm diese Antworten hätte geben können, nicht mehr da war. Es war bereits deutlich nach neun Uhr, als Seto endlich Schluss machte, nachdem er sich dabei ertappt hatte, mehr als zwanzig Minuten lang einfach nur auf den Monitor zu starren, ohne einen Finger zu rühren. Er hatte, wie er sich zu seiner Schande eingestehen musste, nicht einmal gemerkt, wann genau der Bildschirmschoner angesprungen war. Abgrundtief seufzend, auch wenn das sonst gar nicht seine Art war, schloss Seto sämtliche Programme, fuhr seinen Rechner herunter und machte sich dann auf den Weg zur Garage, wo Roland schon mit der Limousine auf ihn wartete. Am liebsten hätte er sich in den bequemen Polstern zusammengerollt und dort geschlafen, aber diesen Impuls unterdrückte er. Er hatte sich an diesem Tag schon genug gehen lassen. Es wurde höchste Zeit, dass er sich endlich wieder zusammenriss. Dieser Vorsatz wurde jedoch bereits beim Abendessen auf eine harte Zerreißprobe gestellt, denn Mokuba, der tatsächlich wie angekündigt den gesamten Nachmittag mit Duke verbracht hatte, ließ es sich nicht nehmen, seinem älteren Bruder in allen Einzelheiten zu erzählen, wo sie beide gewesen waren, was sie getan und worüber sie sich unterhalten hatten. Und obwohl Seto einerseits nichts davon wissen wollte, ertappte er sich dennoch dabei, wie er jedes einzelne Wort seines Bruders abspeicherte, auch wenn selbst diese kleinen Informationshäppchen eigentlich nur dazu beitrugen, das, was er verloren hatte, noch mehr in den Fokus zu rücken und es noch schmerzhafter zu machen als es ohnehin schon war. "Ich find's klasse, dass Duke die nächsten zwei Wochen hierbleibt wegen der Spielemesse", verkündete Mokuba mit vollem Mund, ohne sich an dem tadelnden Blick seines Bruders zu stören. Der vergangene Nachmittag war wirklich toll gewesen und der Neunzehnjährige freute sich schon darauf, in den kommenden vierzehn Tagen vielleicht noch das eine oder andere Mal die Gelegenheit zu haben, sich mit Duke auszutauschen. Der ältere Schwarzhaarige war früher schon ein sehr interessanter Gesprächspartner gewesen und daran, das hatte Mokuba in den vergangenen Stunden vor seiner Heimkehr festgestellt, hatte sich in der Zeit, die sie sich nicht gesehen hatten, nichts geändert. Sie hatten eine Menge Spaß miteinander gehabt. Und auch wenn Duke gemeinsam mit Pegasus hergekommen war und sich hauptsächlich geschäftlich wegen der Spielemesse in Domino aufhielt, wäre er einer Fortsetzung des heutigen Nachmittags sicher nicht abgeneigt. Jedenfalls, sinnierte Mokuba, hatte er nicht den Eindruck gemacht. Seto, dem die Begeisterung seines Bruders einen weiteren schmerzhaften Stich versetzte – mit ihm hatte Duke nicht ein einziges überflüssiges Wort gesprochen, aber für Mokuba hatte er sich einen ganzen Nachmittag Zeit nehmen können? –, erhob sich vom Esstisch, ohne mehr als nur zwei oder drei Bissen seines Abendessens zu sich genommen zu haben. Der Appetit war ihm gründlich vergangen. "Ich gehe schlafen. Die nächsten Tage werden anstrengend. Gute Nacht, Mokuba", verabschiedete er sich knapp und fast schon ein wenig rüde von seinem Gegenüber und verließ das Esszimmer, ohne eine Erwiderung abzuwarten. Der nachdenkliche Blick, mit dem Mokuba ihm nachsah, entging ihm daher vollkommen. ›Okay, es ist offenbar noch ernster, als ich dachte.‹ Nachdenklich schob sich Mokuba einen weiteren Bissen in den Mund und kaute langsam und bedächtig. Diese ganze Seto-Pegasus-Sache war eindeutig komplizierter und undurchsichtiger, als er gedacht hatte. Ein wenig hatte der Neunzehnjährige gehofft, sein Bruder würde sich im Laufe des Nachmittags nach dem Meeting mit Pegasus wieder fangen, aber ganz offenbar war das nicht mehr als Wunschdenken gewesen. Genau betrachtet, sinnierte Mokuba, hatte Seto gerade sogar noch erschöpfter ausgesehen als am Morgen – absolut uncharakteristisch für ihn. ›Vielleicht weiß Duke ja, was genau zwischen Pegasus und Seto vorgefallen ist. Immerhin ist Seto immer nur so komisch, wenn er irgendwie mit Pegasus zu tun hat.‹ Wahrscheinlich war es das Beste, wenn er Duke in einer ruhigen Minute mal fragte, ob er etwas wusste. So, wie es im Moment mit seinem Bruder war, konnte es jedenfalls auf Dauer nicht weitergehen. Seto, der von den Sorgen und Gedankengängen seines Bruders nichts ahnte, fühlte sich tatsächlich vollkommen ausgelaugt. Normalerweise brachte nicht einmal ein mehrtägiger Sitzungsmarathon ihn so sehr an seine Grenzen wie es dieser eine Termin geschafft hatte. ›Und das alles nur, weil ich einfach nicht vergessen kann, was gewesen ist.‹ Mit einem abgrundtiefen Seufzen schälte Seto sich aus seiner Kleidung, schlüpfte in seinen bereitliegenden Pyjama und kroch unter die Decke. Es wollte ihm jedoch einfach nicht gelingen, den dringend benötigten Schlaf zu finden, denn sobald er seine Augen schloss, schob sich wieder Dukes Gesicht vor sein inneres Auge und hinderte ihn am Einschlafen. Der Schwarzhaarige war noch genauso schön wie vor vier Jahren, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Aber das war nicht alles, was Seto beschäftigte. Nur zu gerne hätte er gewusst, ob diese zumindest für ihn überraschende Begegnung Duke wirklich so wenig ausgemacht hatte. Er hatte jedenfalls nicht den Anschein erweckt, als wäre es ihm schwer gefallen, in Setos Büro in der KC zu stehen – ein Büro, das er nur zu gut kannte; immerhin hatte er dort vor und auch nach seinem Abschluss bis zu ihrer Trennung vor vier Jahren eine Menge Zeit verbracht. Da war jedoch kein Hauch von Melancholie gewesen; ja, nicht einmal ein winzig kleiner Funken Traurigkeit. ›Bin ich wirklich der Einzige von uns beiden, der immer noch nicht aufhören kann, über etwas nachzudenken, das ich eigentlich schon lange ad acta hätte legen sollen?‹ Über diesen Gedanken driftete Seto schließlich doch noch ins Reich der Träume, aber sein Schlaf war unruhig und alles andere als erholsam – etwas, was sich auch in den nächsten Tagen nicht wirklich besserte. Das Wissen, dass Duke wieder in Domino war, war pure Folter. Und noch schlimmer war es, dass der Schwarzhaarige sich offenbar immer wieder zumindest ein wenig Zeit für Mokuba nahm, ihm selbst jedoch nicht noch einmal begegnete. Eine gute Woche lang nahm Seto diese Tatsache als gegeben hin, dann reichte es ihm. Er konnte sich kaum noch konzentrieren und so konnte es einfach nicht weitergehen. Er konnte einfach nicht länger zulassen, dass seine Arbeit darunter litt, dass er seine Gedanken einfach nicht im Zaum zu halten vermochte. Ohne so recht zu wissen, was genau er tun würde, verließ Seto sein Büro bereits gute zwei Stunden, nachdem er es betreten hatte. Er gab weder seiner Sekretärin noch Roland eine Erklärung für dieses Verhalten, sondern forderte letzteren nur auf, ihm schon mal den Schlüssel für den silbernen Porsche herauszusuchen, der für die seltenen Gelegenheiten, zu denen er selbst fuhr, auf seinem privaten Parkplatz in der Tiefgarage der Kaiba Corporation nur auf ihn wartete. Er wusste, Pegasus würde sich heute bereits in den für die Spielemesse vorgesehenen Räumlichkeiten aufhalten. Und ebenso wusste er, dass auch Duke und Mokuba dort sein würden. Sein Bruder hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Duke und, in geringerem Maße, auch Pegasus herumzuführen und die beiden mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen. Am nächsten Abend sollte immerhin die Eröffnung stattfinden und bis dahin sollte jeder der Aussteller schon wissen, wo genau sein Platz war. Seto selbst kannte den Lageplan des Gebäudes auswendig, daher benötigte er niemanden, der ihm den Weg wies. Aus diesem Grund gab er dem Wachmann am Eingang des Gebäudes nur mit einem knappen Kopfschütteln zu verstehen, dass er seinen Posten nicht verlassen musste. Der Mann beeilte sich, die Tür für ihn zu öffnen und ihm einen schönen Tag zu wünschen, aber auch darauf ging Seto nicht ein. Er nahm dieses Verhalten einfach nur mit einem minimalen Nicken zur Kenntnis und hatte das Gesicht des Mannes bereits vergessen, noch ehe die Tür hinter ihm wieder ins Schloss gefallen war. Im Inneren der Halle nahm er sich einen Moment Zeit, um sich zu orientieren. Die weitaus größte Ausstellungsfläche wurde – wie sollte es auch anders sein? – von der KC beansprucht. Setos Ziel lag jedoch nicht in diesem Teil der Halle. Er hatte bei der Planung, in die die KC als einer der weltweit größten Spielehersteller selbstverständlich involviert gewesen war, darauf bestanden, dass die Ausstellungsfläche für Industrial Illusions ganz am anderen Ende der Halle – und damit so weit weg von ihm selbst wie nur irgend möglich – bereitgestellt wurde. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, war diesem Wunsch seinerseits selbstverständlich entsprochen worden, und so musste der Brünette sich an einer Vielzahl von verschiedenen, meist in schreienden Farben dekorierten Ständen vorbei seinen Weg bahnen. Für die teils wirklich in den Augen schmerzenden Farbkombinationen hatte er jedoch ebenso wenig einen Blick übrig wie für das Gewusel, das um ihn herum herrschte. Überall wurde letzte Hand angelegt und es herrschte geradezu hektisches Treiben, aber Seto ignorierte das Chaos. Er wusste genau, wo sein Ziel lag, und er würde sich davon nicht abbringen lassen. Es wurde Zeit, dass er endgültig mit der Vergangenheit abschloss und das, was seine Konzentration störte, ein für alle Mal beseitigte, damit er endlich wieder ungestört arbeiten konnte. Seto war nur noch wenige Meter von der für Industrial Illusions reservierten Standfläche entfernt, als er den Grund für seine Konzentrationsprobleme erblickte. Duke war jedoch nicht alleine. Mokuba war bei ihm und die beiden waren offenbar gerade in ein sehr ernsthaftes Gespräch vertieft. Darauf deutete jedenfalls die ganze Haltung der beiden Schwarzhaarigen hin. Mokuba gestikulierte heftig auf Duke ein, aber er sprach nicht laut genug, dass sein Bruder auch nur ein Wort hätte verstehen können. Eigentlich war es ganz und gar nicht seine Art, seinen jüngeren Bruder zu belauschen, aber dieses eine Mal gab Seto diesem Impuls doch nach. Ungesehen näherte er sich Mokuba und Duke, die sich während ihres Gesprächs ein wenig von den noch immer schwer mit den Vorbereitungen für die Eröffnung beschäftigten Arbeitern entfernt hatten, wohl um ungestört und vor allem ungehört von zufälligen Lauschern miteinander reden zu können. "Ich weiß mir langsam wirklich keinen Rat mehr", hörte Seto seinen Bruder sagen, als er endlich nah genug herangekommen war, um die Ohren spitzen zu können, ohne sofort aufzufallen oder gar von denjenigen, die er zu belauschen beabsichtigte, gesehen zu werden. "Seto hat zwar schon immer viel gearbeitet, aber irgendwie ist er in der letzten Zeit völlig neben der Spur. So fertig habe ich ihn noch nie gesehen. Da ist irgendwas, das er mir nicht erzählt, aber ich weiß einfach nicht, was das sein könnte." Die Sorge in Mokubas Stimme tat dem Brünetten fast körperlich weh. Ihm war zwar durchaus bewusst gewesen, dass sein Bruder sich seinetwegen sorgte, aber dass er jetzt sogar tatsächlich einen eigentlich vollkommen Fremden in seine Sorgen einweihte, zeigte mehr als deutlich, dass er mit seinem Latein am Ende war. Allerdings, sinnierte Seto bei sich, war es ja schon reichlich ironisch, dass sein Bruder ausgerechnet denjenigen mit seinen Befürchtungen konsultierte, der eigentlich für diese ganze Misere verantwortlich war – zwar nicht alleine, aber dennoch zumindest zum Teil. Duke, bemerkte Seto, wich Mokubas Blick aus, als er antwortete. "Hast du deinen Bruder denn schon mal gefragt, was mit ihm los ist?", erkundigte er sich und Seto sah, wie er sich seufzend durch die Haare fuhr, als Mokuba eine Grimasse schnitt. "Was glaubst du denn? Natürlich hab ich Seto gefragt, aber er redet einfach nicht mit mir. Jedenfalls nicht über das, was ihm so an die Nieren geht. Langsam hab ich echt das Gefühl, dass ich gar nicht mehr an ihn rankomme. Sicher, er hat früher auch schon mal Sachen für sich behalten, aber damals war ich noch ein Kind. Inzwischen bin ich erwachsen. Er muss mich nicht mehr vor allem beschützen." "Dein Bruder hat sich doch schon immer schwer damit getan, von irgendjemandem Hilfe anzunehmen." Duke schenkte Mokuba ein aufbauendes Lächeln, das der Neunzehnjährige nach kurzem Zögern tatsächlich etwas kläglich erwiderte. "Ich bin aber nicht irgendjemand, Duke", murmelte er und seufzte ebenfalls. "Ich wünschte, er würde endlich mal merken, dass ich nicht mehr der kleine Junge von früher bin, auf den er aufpassen muss. Ich bin inzwischen alt genug, um ihm auch mal etwas abzunehmen", schob er noch hinterher, schloss das Thema dann jedoch mit einem unwilligen Kopfschütteln ab. "Aber darum, Seto das klarzumachen, kann ich mich auch später noch kümmern. Ist bei dir und Pegasus alles soweit okay? Oder braucht ihr noch was?", erinnerte er sich wieder an seine Gastgeberpflichten und nun war es an Duke, den Kopf zu schütteln. "Bei Max und mir ist alles fertig. Wir warten eigentlich nur noch darauf, dass es endlich richtig losgeht", erwiderte er und das Grinsen, das sich dabei auf seine Lippen legte, gab dem heimlichen Beobachter der beiden Schwarzhaarigen beinahe den Rest. Wie oft hatte ein solches Grinsen Dukes früher ihm gegolten? Seto wusste es nicht, aber er konnte nicht verhindern, dass in ihm – nicht zum ersten Mal, wenn er ehrlich zu sich selbst war – der Wunsch hochkochte, die letzten vier Jahre einfach auszuradieren. Er wusste, dass diese Gedanken Unsinn waren, aber ganz verhindern konnte er sie trotzdem nicht. "Okay, dann schaue ich besser mal nach, ob bei uns auch alles schon so ist, wie Seto es haben wollte", holte die Stimme seines Bruders den Brünetten wieder aus seinem Sinnieren. "Immerhin will ich nicht riskieren, dass er jemanden feuert, nur weil er nicht zufrieden ist. Sonst ist das zwar eigentlich nicht seine Art, aber so, wie er im Moment drauf ist, würde ich ihm das glatt zutrauen." Mokuba nickte Duke noch einmal kurz zu, dann verschwand er in der Menge. Beinahe zeitgleich mit Mokubas Abgang verschwand auch das Grinsen von Dukes Lippen und er strich sich mit einem weiteren Seufzen ein paar schwarze Strähnen, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten, aus dem Gesicht. "Willst du noch lange da rumstehen und lauschen?", fragte er, ohne sich umzudrehen, und Seto unterdrückte einen Fluch. Ganz offenbar war es um seine Fähigkeit zu schleichen nicht allzu gut bestellt. Allerdings, erinnerte er sich unwillkürlich, hatte Duke auch früher schon immer gewusst, wann er in seiner Nähe gewesen war, ohne ihn dafür sehen zu müssen. Gegen seinen Willen begann Setos verräterisches Herz, bei dieser Erinnerung schneller zu schlagen. Konnte es vielleicht sein, dass …? "Privatgespräche zu belauschen ist eigentlich nicht unbedingt die feine Art." Mit diesem Tadel auf den Lippen wandte Duke sich doch endlich dem heimlichen Lauscher zu und unterzog diese einer gründlichen Musterung. "Mokuba hat Recht. Du siehst wirklich zum Fürchten aus", konstatierte er und Seto schnaubte. "Ich habe nun mal sehr viel zu tun", gab er ungewohnt defensiv für seine Verhältnisse zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit keiner Silbe ging er darauf ein, dass er tatsächlich gelauscht und dadurch zwar vielleicht nicht das ganze, aber doch wenigstens einen Teil des Gesprächs, das Duke mit seinem Bruder geführt hatte, mitbekommen hatte. Es war immerhin mehr als offensichtlich, dass er gelauscht hatte, also leugnete er es nicht. Das war einfach unter seinem Niveau. "Du hast immer viel zu tun", konterte Duke ungerührt auf Setos Aussage und schüttelte dann mit einem Seufzen den Kopf. "Das war auch früher schon so. Das sollte dich aber nicht davon abhalten, mit Mokuba zu reden. Er macht sich Sorgen um dich, falls dir das bisher entgangen sein sollte. Große Sorgen sogar", fuhr er fort und Seto öffnete den Mund, schloss ihn aber unverrichteter Dinge wieder. Was hätte er auch sagen sollen? Er wusste ja selbst, dass sein Bruder sich seinetwegen Gedanken machte, aber wie sollte er dem Jungen erklären, was mit ihm los war? Was würde Mokuba von ihm denken, wenn er von seinen Gefühlen und von dem Geheimnis erführe, das er selbst schon so lange hütete? Duke, der das kaum vorhandene Mienenspiel seines Gegenübers genau beobachtet hatte, seufzte erneut. "Mokuba ist mittlerweile neunzehn", erinnerte er ihn. "Er ist kein Kind mehr. Und er ist nicht nur alt genug für die Wahrheit, er hat sie auch verdient", schob er noch hinterher und Seto hätte ihm gerne widersprochen, aber er brachte kein einziges Wort über die Lippen. Vier ewig lange Jahre hatte er nicht mehr mit dem Schwarzhaarigen, der ihm hier gegenüberstand, gesprochen. Und jetzt, wo sie endlich doch miteinander redeten, sprach keiner von ihnen über das, was wirklich wichtig war. Stattdessen unterhielten sie sich über Mokuba. Als wäre er das Thema, über das sie unbedingt sprechen sollten! Ja, sicher, er war damals der Auslöser gewesen, aber das bedeutete doch nicht, dass sich alles nur um ihn drehen musste! "Ich muss langsam auch wieder los. Max und ich haben noch eine Menge zu regeln für morgen. Wir sehen uns", holte die Stimme seines Gegenübers Seto wieder aus seinen Gedanken. Für einen endlos erscheinenden Augenblick sahen die grünen Augen des Schwarzhaarigen ihn direkt an – ein Blick, den Seto bis in sein Innerstes dringen fühlte –, dann wandte Duke sich ab, winkte ihm über die Schulter hinweg kurz zu und verschwand in der Menge, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen. ›Genau wie vor vier Jahren‹, ging es Seto durch den Kopf. Und genau wie vor vier Jahren tat es auch heute weh, den Schwarzhaarigen gehen zu sehen – vielleicht sogar noch etwas mehr als damals, denn immerhin wusste er inzwischen ganz genau, was er damals verloren hatte. Während Seto noch immer an Ort und Stelle verharrte und nicht in der Lage war, sich zu rühren, hatte Duke den Ausgang schon beinahe erreicht, als Pegasus ihm entgegenkam. Diesem genügte ein Blick in das Gesicht des Schwarzhaarigen, um zumindest erahnen zu können, was gerade geschehen sein musste. Dukes Lippen waren nur noch ein schmaler Strich und sein Blick wirkte so distanziert, wie er selbst es zuletzt vor ungefähr vier Jahren an ihm gesehen hatte gesehen hatte. Ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen lotste Pegasus ihn daher direkt auf den Parkplatz und dort in seinen Wagen, um ohne Umweg zurück zum Hotel zu fahren. Während der gesamten Fahrt sprach Duke nicht ein einziges Wort, aber der Silberhaarige nahm ihm das nicht übel. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie viel Anstrengung es seinen Begleiter kosten musste, zumindest nach außen hin so ruhig zu erscheinen. Er kannte Duke schon sehr lange und sehr gut und wusste daher, wie es in ihm aussehen musste. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob es vielleicht doch keine besonders gute Idee gewesen war, dem Schwarzhaarigen zu erlauben, ihn zur Spielemesse nach Domino zu begleiten. Aber das würde wohl nur die Zukunft zeigen können. Erst als er sich wieder in seinem eigenen Hotelzimmer befand – Max hatte ihn begleitet, seine Neugier aber dankenswerterweise bisher gezügelt –, erlaubte Duke sich ein abgrundtiefes Seufzen, ehe er sich in einen der bequemen schwarzen Sessel fallen ließ. "War es ein Fehler?", fragte er, seinen silberhaarigen Begleiter von unten herauf ansehend. "Hätte ich lieber doch nicht herkommen sollen?", schob er noch hinterher, bekam jedoch nicht sofort eine Antwort. Erst einmal trat Maximilian zur Bar, schenkte sich einen Cognac ein und schwenkte diesen einen Moment, seine Aufmerksamkeit nur auf die Flüssigkeit in seinem Glas konzentriert, ehe er sich wieder zu seinem Gesprächspartner umwandte und diesen nun seinerseits gründlich musterte. "Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, Duke. Das kann niemand außer dir selbst." Diese Worte entlockten dem Schwarzhaarigen ein kurzes Schmunzeln, das jedoch nicht lange auf seinen Lippen blieb. "Das ist so typisch du", gab er zurück, ließ sich gegen die Lehne des Sessels sinken und schloss seine Augen. Er hasste es, sich so schwach und verletzlich zu fühlen. Und er hasste es, in dieser Verfassung gesehen zu werden. Aber noch mehr hasste er es, in seiner momentanen Stimmung alleine zu sein. Aus diesem Grund schickte er seinen Gast nicht fort, sondern duldete nicht nur seine Anwesenheit, sondern auch die Hand, die sich in einer seltsam väterlich anmutenden, tröstenden Geste auf seine Schulter legte. "Ich kann dir in dieser Angelegenheit nicht helfen. Ich kann dir nicht einmal einen Rat geben." Was nicht bedeutete, dachte Maximilian bei sich, dass er sich keine Gedanken über die Misere seines Protegés machte. Aber dennoch konnte er nichts für ihn tun. Er konnte da sein, konnte sich zum Reden zur Verfügung stellen oder Trost bieten, aber mehr als das stand nicht in seiner Macht. Das, was Duke sich mehr als alles andere wünschte, konnte er dem Schwarzhaarigen nicht geben. Er hatte ihm geschworen, sich nicht in sein Leben einzumischen. Und an diesen Schwur würde er sich halten – ganz egal, wie schwer es ihm auch fallen mochte, seinen Protegé so unglücklich zu sehen. "Ich weiß." Duke erlaubte sich ein weiteres abgrundtiefes Seufzen, ehe er die Augen wieder öffnete und Pegasus von unten herauf ansah. Einen Moment lang schwieg er noch, dann trat ein entschlossener Ausdruck in seine Augen. "Bis zum Ende der Messe noch", sagte er und Maximilian nickte leicht, denn er hatte ganz genau verstanden, was sein Schützling ihm mit diesen Worten mitteilen wollte. Bis zum Ende der Spielemesse am Sonntag gab er sich selbst Zeit für das, was er sich wünschte. Und wenn er es bis dahin nicht bekommen würde, dann würde er jeden Gedanken daran endgültig aufgeben. Aber ob die nächsten sechs Tage wirklich ausreichten, um eine derartige Entscheidung zu treffen? Nun, dachte Maximilian bei sich, er konnte wohl nur abwarten und da sein – ganz egal, wie das Ergebnis ausfallen würde. "Seto? Was machst du denn hier?" Der so Angesprochene konnte nur mit Mühe ein Zusammenzucken unterdrücken, als plötzlich und ohne Vorwarnung sein jüngerer Bruder vor ihm auftauchte, als wäre er praktisch aus dem Boden gewachsen. "Ich …", setzte Seto an, beendete seinen Satz jedoch nicht. Wie genau hätte er Mokuba auch erklären sollen, was er hier tat? Wie sollte er dem Jungen begreiflich machen, dass er hergekommen war, um einen Fehler ungeschehen zu machen – und dass ihm das wieder einmal nicht gelungen war? Wie sollte er Mokuba erklären, was genau vor vier Jahren vorgefallen war? Seto wusste es einfach nicht. Er hatte so lange geschwiegen, dass ihn jetzt – wieder einmal – die Worte im Stich ließen. Mokuba beobachtete seinen Bruder einen Moment lang dabei, wie dieser mit sich selbst zu ringen schien und schlussendlich doch stumm blieb. Innerlich seufzte der Neunzehnjährige. Wie lange würde sein großer Bruder wohl noch brauchen, um endlich zu begreifen, dass er kein kleiner Junge mehr war, sondern ein erwachsener Mann? Er konnte Seto doch helfen, verdammt noch mal – vorausgesetzt, Seto ließ sich endlich helfen! Denn dass er Hilfe brauchte, das war für Mokuba nun wirklich nicht mehr zu übersehen. Sein Bruder sah vollkommen fertig aus, aber offenbar wollte er auch jetzt wieder nicht darüber reden, was ihn so beschäftigte. ›Oder vielleicht kann er einfach nicht darüber reden, wenn nicht jemand anderes den Anfang macht.‹ Der Gedanke war neu, erschien Mokuba jedoch gleich darauf auch schon so logisch, dass er unwillkürlich nickte, ohne auf den irritierten Blick seines Bruders einzugehen. "Wir fahren jetzt nach Hause, Seto. Und da werden wir uns endlich mal unterhalten", beschloss Mokuba, schnappte sich den Arm des Älteren und zog diesen mit sich – unauffällig zwar, damit später keine Fotos von dieser Aktion in der Presse auftauchen würden; Seto würde es hassen, das wusste Mokuba. Dennoch blieb sein Griff fest und bestimmt. Und sehr zu seiner Verwunderung protestierte sein Bruder auch nicht gegen diese Behandlung. Ganz entgegen seiner sonstigen Natur ließ er sich geradezu widerstandslos mitziehen und auf den Beifahrersitz seines Wagens bugsieren. Den Schlüssel nahm Mokuba an sich, steckte ihn ins Schloss und trat aufs Gas. Er fuhr vielleicht ein wenig zu schnell, aber das war ihm egal. In seinem ganzen bisherigen Leben hatte er noch nie einen Strafzettel bekommen. Und wenn heute das erste Mal sein sollte, dann sollte es eben so sein. Sein Bruder war eindeutig wichtiger. Wie Duke nicht allzu lange vor ihm blieb auch Seto während der Heimfahrt stumm und hing seinen Gedanken nach. Er kam erst wieder in der Realität an, als Mokuba den Wagen in der Garage parkte, die Beifahrertür öffnete und ihn auffordernd ansah. Ungewöhnlich gehorsam stieg Seto aus und betrat gemeinsam mit seinem Bruder die Villa. Dort lotste Mokuba ihn jedoch nicht wie erwartet ins Wohnzimmer, sondern stattdessen in sein Arbeitszimmer im ersten Stock. In diesem Raum, so dachte der Neunzehnjährige bei sich, würde sein Bruder vielleicht ein Stück weit seine Kontrolle zurückerlangen. Und vielleicht würde er dann auch endlich mal mit der Sprache rausrücken. Mokuba wartete, aber auch nach mehreren Minuten geschah rein gar nichts. Seto sah ihn nicht einmal an, sondern hatte seinen Blick aus dem Fenster gerichtet, ohne wirklich wahrzunehmen, was draußen im Garten vor sich ging. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt und für einen Moment war Mokuba versucht, wieder einfach aufzugeben, doch dann schüttelte er den Kopf, fasste seinen Bruder an der Schulter und drehte ihn zu sich herum, so dass Seto ihm ins Gesicht sehen musste, ob er wollte oder nicht. "Was ist los mit dir, Seto? Du warst ja schon immer etwas seltsam, aber im Moment ist es richtig extrem. Und es wird immer schlimmer. Niemand in der Firma traut sich mehr, dich anzusprechen. Vorher hatten sie zwar Respekt, aber neuerdings haben alle regelrecht Angst vor dir. Selbst ich komme nicht mehr richtig an dich ran. Wann immer ich dich frage, was mit dir los ist, heißt es bloß: ›Nichts‹. Aber damit ist heute Schluss, Seto. Ich bin kein Kind mehr. Rede endlich mit mir, verdammt!" Auch nach seinem Ausbruch ließ Mokuba seinen Bruder nicht los. Die Finger des Jüngeren bohrten sich schmerzhaft in Setos Schulter und diesem entkam ein absolut uncharakteristisches Seufzen – etwas, das sein Bruder von ihm gar nicht kannte. Verdutzt sah er den Älteren an. Und als dieser leise "Ich denke, du hast Recht" murmelte, wandelte sich Mokubas Überraschung zu Fassungslosigkeit. Sein Bruder gab ihm Recht? Wirklich? Wollte er tatsächlich mit der Sprache herausrücken und endlich mal damit anfangen, ihn wie einen ebenbürtigen Erwachsenen zu behandeln? "Wird auch langsam Zeit." Sobald Mokuba seinen Griff doch endlich lockerte, schob Seto sich an ihm vorbei zu seinem Schreibtisch. Einen Moment lang war er versucht, dahinter Platz zu nehmen und so eine Barriere zwischen sich und seinem Bruder zu schaffen, doch schlussendlich entschied er sich dagegen und lehnte sich stattdessen rücklings an das Möbelstück. "Bitte setz dich, Mokuba", forderte er seinen Bruder auf und dieser warf ihm einen fragenden Blick zu, gehorchte jedoch dankenswerterweise ohne weitere Diskussion. "Also?", fiel er stattdessen mit der Tür ins Haus und Seto seufzte erneut. Dieses Gespräch hier hatte er eigentlich niemals führen wollen. Aber die Sorge, die, gemischt mit Entschlossenheit, aus Mokubas Augen sprach, sagte deutlicher als Worte, dass Duke Recht gehabt hatte. Mokuba hatte ein Anrecht auf die Wahrheit – ganz egal, wie unangenehm sie ihm, Seto, selbst auch sein mochte. Dennoch, auch das Wissen, dass er im Begriff war, das Richtige zu tun, machte diesen Schritt nicht einfacher. Seto hatte keine Ahnung, wie genau er seinem Bruder erklären sollte, was er so lange schon vor ihm geheim gehalten hatte. Wie würde Mokuba reagieren, wenn er die Wahrheit erfuhr? Was würde er denken? Würde er ihn von jetzt an mit anderen Augen sehen, weil sein älterer Bruder sich in keinster Weise zu Frauen hingezogen fühlte, sondern stattdessen zu Männern – oder vielmehr zu einem ganz bestimmten Mann, der ihm auch nach vier Jahren ohne jeglichen Kontakt immer noch nicht aus dem Kopf gehen wollte? "Seto?", zog Mokuba die Aufmerksamkeit seines Bruders auf sich, als dieser wieder in Schweigen verfiel, anstatt endlich wie versprochen mit ihm zu reden. "Ich bin bei weitem nicht dumm, aber deine Gedanken kann ich noch nicht lesen. Wenn ich das könnte, dann gäbe es dieses ganze Kommunikationsproblem zwischen uns schließlich überhaupt nicht. Ich wäre dir also sehr verbunden, wenn du endlich anfangen würdest zu reden, anstatt mich weiterhin einfach nur anzuschweigen." Wie konnte ein einzelner Mensch nur so verbohrt sein und ständig versuchen, alles mit sich selbst auszumachen? Konnte es wirklich so verdammt schwer sein, einfach den Mund aufzumachen und zu erzählen, wo genau das Problem lag? War es seinem Bruder wirklich so zuwider, seine Hilfe anzunehmen? Seto, dem weder Mokubas Ärger noch seine wachsende Verzweiflung entgingen, straffte sich und richtete sich ein wenig gerader auf. Sein Bruder hatte Recht, ob ihm das gefiel oder nicht. Er war es Mokuba wirklich schuldig, ihm die Wahrheit zu erzählen. Allerdings hatte Seto keine Ahnung, wie er diese Wahrheit am besten verpacken sollte. Auf keinen Fall wollte er Mokuba durch das verlieren, was er ihm so lange verschwiegen hatte. Aber, flüsterte eine kleine Stimme in seinem Inneren, die fast schon schmerzhaft nach Duke klang, war nicht gerade seine Geheimniskrämerei dabei, einen Keil zwischen sie beide zu treiben? "Ich war heute nicht auf dem Messegelände, um dort nach dem Rechten zu sehen", begann Seto dennoch mit einem etwas unverfänglicheren Thema. "Und ich wollte dich auch nicht kontrollieren. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann." Mehr vielleicht, als Mokuba sich in den letzten Jahren auf ihn hatte verlassen können. Ja, sicher, er hatte für die Grundbedürfnisse seines Bruders gesorgt, hatte ihm ein Dach über dem Kopf und genügend Nahrung und Geld geboten, aber war er wirklich für Mokuba da gewesen? Nein, musste Seto sich eingestehen, das war er nicht. Und ein Grund dafür war, dass zumindest ein Teil von ihm seinem Bruder anlastete, was vor vier Jahren geschehen war, obwohl das Ganze eigentlich wirklich nicht Mokubas Schuld gewesen war. Das stand augenblicklich jedoch nicht zur Debatte, also behielt Seto diese Gedanken für sich. Es machte keinen Sinn, seinen Bruder damit zu belasten. Die Trennung war seine Entscheidung gewesen, nicht Mokubas. "Ich … Nun, ich war da, um mit Duke zu sprechen. Privat", enthüllte Seto zumindest einen Teil dessen, was sein Bruder wissen musste, und dieser legte fragend den Kopf schief. "Privat?", echote Mokuba mit einer Spur Unglaube in der Stimme. Seto und private Gespräche mit jemandem außer ihm selbst? Das war … irgendwie surreal. "Und warum wolltest du privat mit Duke sprechen?", bohrte er weiter nach. Ihm entging nicht, dass seinem Bruder diese Unterredung nicht besonders angenehm war, aber dieses eine Mal nahm er keine Rücksicht darauf. Dafür war er einfach zu neugierig. Wenn sein Bruder schon endlich mit ihm redete, dann wollte er auch endlich wirklich alles wissen. "Es ging um eine Entscheidung, die ich vor vier Jahren getroffen habe. Nicht ganz alleine, aber …", begann Seto, brach dann jedoch ab und schüttelte den Kopf, als er Mokubas verständnislosen Blick sah. "Ich denke, ich sollte noch etwas weiter ausholen." Auch wenn das den schmerzhaften Erinnerungen erst recht Tür und Tor öffnen würde. "Duke und ich haben auch früher schon privat miteinander zu tun gehabt. Schon während unserer Schulzeit. Und ich meine damit tatsächlich privat, nicht geschäftlich." Gut, eine geschäftliche Beziehung hatten sie auch gehabt, aber das war bei weitem nicht alles gewesen. Oder vielmehr hatte so eigentlich erst alles angefangen. Seto hatte hart mit sich zu kämpfen, um die Erinnerungen nicht zu lebendig werden zu lassen – jetzt, wo er die sprichwörtliche Büchse der Pandora einmal geöffnet hatte. Mokuba war deutlich anzusehen, dass er sich einen Reim auf das Gesagte zu machen versuchte, aber noch nicht ganz verstand, worauf genau sein älterer Bruder hinauswollte. Höchste Zeit also, ermahnte Seto sich selbst, die Dinge endlich beim Namen zu nennen. "Ich bin homosexuell, Mokuba. Und bis vor vier Jahren hatten Duke und ich etwas, das man gemeinhin wohl als ›Beziehung‹ definieren würde." Nicht, dass er selbst oder auch Duke das, was zwischen ihnen gewesen war, jemals so bezeichnet hatten, aber es war wohl der allgemeingültige Terminus. Und jetzt war es endlich raus. Abwartend sah Seto seinen Bruder an, aber dieser brauchte einen Moment, um die erhaltenen Informationen zu verarbeiten. Dann jedoch blickte er den Älteren aus großen Augen an. "Du bist schwul?", rückversicherte er sich und als Seto, der diesen Ausdruck ganz und gar nicht schätzte – zu negativ behaftet war dieses Wort in seinen Augen –, genickt hatte, stieß er den Atem, den er während des Wartens auf die Bestätigung unbewusst angehalten hatte, geräuschvoll aus. "Und Duke auch? Und ihr wart mal zusammen?", hakte er weiter nach im Bemühen, das, was sein Bruder ihm an spärlichen Informationen mitgeteilt hatte, auch wirklich richtig zu verstehen. "Duke ist meines Wissens nach bisexuell", korrigierte Seto fast schon automatisch, nickte dann jedoch auf die zweite Frage seines Bruders. "Wenn du es so bezeichnen willst, dann ja." Er selbst brachte die Worte nicht über die Lippen, aber scheinbar war das auch gar nicht nötig. Mokuba hatte auch so verstanden, was er ihm hatte sagen wollen. Allerdings hatte Seto nicht den Hauch einer Ahnung, was genau sein Bruder jetzt von ihm dachte. Er schien jedoch nicht aufspringen und den Raum verlassen zu wollen, also beschloss Seto, das zumindest vorerst als gutes Zeichen zu werten. Immerhin stellte Mokuba zusammenhängende Fragen, also konnte er nicht so sehr unter Schock stehen, dass er unfähig wäre, die Tragweite des Gesagten zu begreifen. Zu sagen, er wäre von der Eröffnung seines Bruders schockiert, wäre Mokubas Gefühlen nicht ganz gerecht geworden. Ja, er war überrascht von dem, was Seto ihm erzählt hatte, aber ganz plötzlich begannen viele der Dinge, auf die er sich in den letzten Jahren keinen Reim hatte machen können, einen Sinn zu ergeben, der sich ihm vorher nie erschlossen hatte. Wie oft hatte er sich früher darüber gewundert, dass sein Bruder nicht zu Hause in der Villa übernachtet hatte, sondern – zumindest laut seiner eigenen Aussage – in der KC geblieben war, wenn es mal wieder später geworden war nach einem Tag voller Meetings? Wahrscheinlich, dachte Mokuba bei sich, hatte sein Bruder allerdings nicht wirklich im Büro übernachtet, sondern zumindest einen Teil dieser Nächte, wenn nicht sogar alle, bei und mit Duke verbracht. Aber, sinnierte Mokuba weiter, das war ja wohl inzwischen Vergangenheit. Mit etwas Mühe schob er den Großteil der Fragen, die nach Setos Eröffnung in seinem Kopf herumschwirrten, zumindest für den Moment in den hintersten Winkel seines Bewusstseins und bedachte seinen Bruder dann mit einem fragenden Blick. "Was genau war das für eine Entscheidung, über die du mit Duke sprechen wolltest?", wollte er wissen, denn irgendwie kam es ihm so vor, als wäre das der Knackpunkt der ganzen Geschichte. Und scheinbar hatte er mit dieser Vermutung ins Schwarze getroffen, denn Setos Gesicht verschloss sich augenblicklich, als er diese Frage hörte. Mokubas Blick machte seinem Bruder jedoch deutlich, dass er keinesfalls gewillt war, auf die Antwort auf diese Frage zu verzichten. Das war zu erwarten gewesen, aber dennoch gefiel es Seto nicht besonders, auch noch über dieses Kapitel seines Lebens sprechen zu müssen. Allerdings hatte er sich entschlossen, endlich ehrlich zu sein und reinen Tisch zu machen, also war es wohl nur recht und billig, das auch wirklich bis zum – im wahrsten Sinne des Wortes – bitteren Ende durchzustehen. "Eine Entscheidung, die ich bereue." Zu hören, dass sein großer Bruder etwas tatsächlich bereute – und das auch noch offen zugab – war für Mokuba weitaus schockierender als alles, was er bisher zu hören bekommen hatte. Sein Bruder, der immer nach dem Motto gelebt hatte, dass es keine wirklichen Fehler gab, sondern nur schlechte Entscheidungen – Entscheidungen, die man selbst durch harte Arbeit dennoch immer in etwas Positives verwandeln konnte, wenn man es denn wirklich wollte –, hatte also tatsächlich selbst einen Fehler gemacht, den er noch dazu wirklich bereute? Was für ein Fehler mochte das gewesen sein? Die Neugier war Mokuba förmlich an der Nasenspitze anzusehen, daher entschied Seto sich, allen weiteren Nachfragen zuvorzukommen und seinem Bruder gleich zu erklären, was geschehen war. Um diese Erklärung würde er so oder so nicht herumkommen, das war offensichtlich. "Erinnerst du dich noch, dass vor ungefähr vier Jahren wieder mal eine dieser Kampagnen gegen mich gab, im Zuge derer man mir nachweisen wollte, dass ich ein schlechter Einfluss für dich sei und nicht fähig wäre, mich angemessen um dich zu kümmern?", begann er also und als Mokuba langsam nickte, seufzte Seto leise. "Die Presse hatte es darauf abgesehen, einen Beweis für meine Unfähigkeit als dein Erziehungsberechtigter zu finden, also haben mich noch mehr Papparazzi verfolgt als ohnehin schon. Ich wusste, ich hatte mir nichts vorzuwerfen. Ich hatte damals nur eine einzige Schwachstelle, die ein wirkliches Risiko dargestellt hätte." "Duke", beendete Mokuba die Ausführungen seines Bruders und dieser nickte. Dabei lag auf seinen Lippen etwas, das bei jedem anderen wohl ein bitteres Lächeln gewesen wäre. "Wenn meine Homosexualität damals an die Öffentlichkeit gedrungen wäre, hätte man dich mir wegzunehmen versucht. Und das konnte ich nicht zulassen, also habe ich …" Seto schluckte und wandte den Blick ab, denn er wollte nicht, dass sein Bruder einen Vorwurf in seinen Augen sah. "Ich habe mit Duke gesprochen und wir sind übereingekommen, uns nicht mehr zu treffen – weder privat noch geschäftlich." Und nicht einmal zwei Wochen später hatte Duke alle Zelte in Japan abgebrochen und war nach Amerika gegangen. "Also habt ihr euch meinetwegen getrennt", legte Mokuba knallhart die Fakten dar und obwohl Seto ihm eigentlich widersprechen wollte, tat er es doch nicht. Er konnte einfach nicht, denn wenn er es recht betrachtete, dann war es eine Tatsache. Wäre Mokuba bereits älter gewesen, dann hätte er sich nicht so einschüchtern lassen. Aber er hatte die Wahl gehabt zwischen seinem Bruder und seinem … nun, was auch immer Duke für ihn gewesen war, und er hatte sich für seinen Bruder entschieden. "Na super." Ächzend ließ Mokuba sich nach hinten gegen die Lehne des bequemen Sessels kippen, in dem er saß. Seinen Blick richtete er gen Zimmerdecke, denn er konnte seinen Bruder jetzt nicht ansehen. Das, was er gerade erfahren hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Sein sonst immer so unnahbarer großer Bruder hatte also tatsächlich einen anderen Menschen in seinem Leben gehabt, der ihm, zumindest seinem Tonfall nach zu urteilen, eine Menge bedeutet hatte. Und er hatte seine Beziehung mit diesem Menschen geopfert, um ihn, seinen kleinen Bruder, nicht zu verlieren. ›So eine Scheiße!‹ Eigentlich war er kein Typ für solche Flüche, aber im Augenblick war das das Einzige, was Mokuba in dieser Situation als angemessen empfand. Dennoch sprach er die Worte nicht laut aus, denn er wusste, dass sein Bruder solche ›Gossensprache‹, wie er sie nannte, ganz und gar nicht schätzte. Und mit allem, was er jetzt plötzlich über Seto wusste, wollte er ihm ganz sicher keinen Grund geben, die Entscheidung, die er vor vier Jahren zu seinen Gunsten getroffen hatte, noch mehr zu bereuen, als er es offenbar ohnehin schon tat. Um sich von seinem schlechten Gewissen abzulenken – auch wenn er selbst bis eben nichts davon gewusst hatte, trotzdem war es einzig und allein seine Schuld, dass sein Bruder heute einsam war –, richtete Mokuba sich wieder auf und sah seinen Bruder fragend an. "Und? Hast du mit Duke gesprochen? Was hat er gesagt?" Das interessierte ihn zugegebenermaßen schon sehr. Seto sah nämlich nicht aus, als hätten Duke und er sich versöhnt. Ob Duke die zweite Chance, um die Seto ihn gebeten hatte, abgelehnt hatte? Was war bloß passiert? Mehrere Minuten lang schwieg Seto auf die Fragen seines Bruders hin. Ihm entging nicht, dass Mokuba sich für diese ganze Geschichte verantwortlich fühlte, aber so gerne er es auch wollte, er wusste nicht, wie er ihn hätte trösten sollen. "Wir haben geredet – darüber, dass du alt genug bist, um die Wahrheit über mich zu hören", antwortete Seto mit etwas Verspätung und verkniff sich mühsam ein Seufzen. Es tat immer noch weh, dass Duke ihn einfach stehenlassen hatte, ohne ihm die Gelegenheit zu geben, das zu sagen, was ihm schon seit vier Jahren unter den Nägeln brannte. Aber damit würde er wohl oder übel ebenso zu leben lernen müssen wie mit der Tatsache, dass alles, was jemals zwischen Duke und ihm gewesen war, wohl inzwischen endgültig der Vergangenheit angehörte. Wie sonst sollte er Dukes Abgang deuten? Mokuba beobachtete seinen Bruder genau und so entging ihm nicht, dass dieser seine Frage nicht direkt beantwortete, sondern auswich – eine Taktik, die Mokuba nur zu genau kannte. Seto war Meister im Ausweichen, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen lief – zumindest dann, wenn es etwas Privates betraf. In geschäftlichen Belangen war Ausweichen etwas, was ein Seto Kaiba niemals tat – da ging er eigentlich eher auf Konfrontationskurs –, aber auf privater Ebene war Seto da ganz anders gestrickt. Und dieses Verhalten sagte Mokuba genug darüber, wie das Gespräch mit Duke für seinen Bruder verlaufen sein musste. Offenbar hatte er es nicht geschafft, über seinen Schatten zu springen und das zur Sprache zu bringen, was ihm auf dem Herzen lag. Aber, dachte Mokuba bei sich, das war ja nun nichts, was man nicht ändern konnte. Es musste doch eine Möglichkeit geben, dass die beiden miteinander reden konnten, am besten ungestört. Aber wie sollte man die beiden zeitgleich an denselben Ort bekommen – und das auch noch ganz alleine? Eigentlich, sinnierte Mokuba, gab es da nur eine einzige logische Wahl: die Spielemesse. Immerhin würden sowohl Seto als auch Duke da sein, und das sogar zum gleichen Zeitpunkt. Auch wenn Seto solche Veranstaltungen hasste, gerade am Eröffnungstag konnte er sich nicht davor drücken. Sein Erscheinen war absolut notwendig, also würde er auch dort sein. Und Duke, das wusste Mokuba, würde auch auf jeden Fall da sein. Das hatte der Schwarzhaarige ihm schließlich am Vormittag selbst noch erzählt. Blieb nur noch eine Frage: Wie genau konnte er es anstellen, dass sein Bruder und dessen Exfreund – das war Duke ja schließlich, wenn man nach Setos Erzählungen ging – ungestört miteinander reden und sich vielleicht sogar wieder versöhnen konnten? ›Da fällt mir schon was ein.‹ Nur mit Mühe konnte Mokuba ein entschlossenes Nicken unterdrücken, das ihn vor Seto arg in Erklärungsnot gebracht hätte. Er wollte nicht, dass sein Bruder merkte, dass er plante, sich einzumischen. So etwas schätzte Seto schließlich ganz und gar nicht. Aber so, dachte Mokuba bei sich, konnte er vielleicht zumindest ein bisschen Wiedergutmachung leisten dafür, dass sein Bruder und Duke sich seinetwegen überhaupt erst getrennt hatten. Auch wenn Seto ihm das sicher nie offen zum Vorwurf machen würde, Mokuba spürte ganz genau, dass sein Bruder ihm zumindest eine Teilschuld an der Trennung gab. Und er konnte es nur zu gut verstehen. Da entwickelte Seto zum ersten Mal in seinem Leben echte und tiefe Gefühle für einen anderen Menschen – dass es sich dabei um einen Mann handelte, sei mal dahingestellt; dass Duke für Seto wichtig gewesen war, sagte sein ganzes Verhalten deutlicher als alle Worte der Welt es vermocht hätten – und dann musste er diese Gefühle verleugnen und die erste und, soweit Mokuba das beurteilen konnte, bisher auch einzige Beziehung seines Lebens beenden, um seinen kleinen Bruder nicht zu verlieren. Das, fand der Neunzehnjährige, war eindeutig nicht fair. Seto, der von den Gedankengängen seines Bruders nichts ahnte, unterdrückte mit Mühe ein abgrundtiefes Seufzen. Jetzt hatte er Mokuba also doch noch all die Dinge über sich selbst erzählt, die der Junge nie hatte erfahren sollen. Aber es schien so, als störte dieser sich tatsächlich nicht daran, dass sein älterer Bruder sich nicht für Frauen interessierte. Nun, eine Sorge weniger – auch wenn Seto nie auch nur vor sich selbst eingestanden hätte, dass ihn die Angst vor Mokubas Reaktion bisher immer daran gehindert hatte, seinem Bruder die Wahrheit zu sagen. Ein Kaiba hatte keine Angst, das hatte ihr Adoptivvater ihm ausgesprochen effektiv eingebläut. Angst bedeutete Schwäche und auch das war etwas, das ein Kaiba nicht kannte. Gut, inzwischen wusste Seto es besser, aber bisher war es ihm noch immer gelungen, zumindest nach außen den Schein zu wahren. "Ich muss jetzt zurück ins Büro, Mokuba." Der so Angesprochene unterzog seinen Bruder einer ausgiebigen Musterung und hob dabei in einer beinahe perfekten Imitation ebenjenes Bruders eine Augenbraue fast bis an den Haaransatz. "So, wie du jetzt aussiehst? Besser nicht. Sonst erschreckst du deine Sekretärin noch zu Tode", widersprach er und schüttelte den Kopf. "Wenn du unbedingt noch arbeiten musst, mach das von hier aus. Und sieh zu, dass du dieses Mal etwas früher ins Bett kommst. Immerhin kannst du morgen bei der Eröffnung der Spielemesse nicht aussehen wie ein Zombie. Wäre doch sehr kontraproduktiv, wenn unsere Zielgruppe vor dir Reißaus nehmen würde, oder?", schob er noch hinterher und nun entschlüpfte Seto doch noch das eben unterdrückte Seufzen. "Meinetwegen", gab er sich ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit geschlagen. Ihm lag die Frage auf der Zunge, ob sein Bruder denn nichts zu all dem sagen wollte, was er heute erfahren hatte, aber er sprach diese Worte nicht laut aus. Augenblicklich, das war ihm selbst klar, war er definitiv nicht in der Verfassung für eine ausführliche Diskussion über seine sexuelle Orientierung und alles, was damit in Zusammenhang stand. Aus diesem Grund atmete Seto unwillkürlich auf, als sein Bruder nach einer letzten Ermahnung, dass er nicht zu lange arbeiten sollte, das Arbeitszimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog. Um nicht weiter über Dinge nachzugrübeln, die zu ändern ja doch nicht in seiner Macht stand, umrundete Seto seinen Schreibtisch, nahm Platz und fuhr seinen Rechner hoch, um sich in seinem neuesten Projekt vergraben zu können. Diese Art der Ablenkung hatte schon immer funktioniert und tat auch dieses Mal ihren Dienst – so gut sogar, dass Mokuba schließlich gegen elf Uhr ohne anzuklopfen das Arbeitszimmer betrat, um seinen Bruder ins Bett zu scheuchen. Manchmal, dachte der Neunzehnjährige dabei, war er sich nicht sicher, wer von ihnen beiden der Jüngere und wer der Ältere war. So unvernünftig, wie Seto hin und wieder sein konnte, wirkte er keineswegs wie dreiundzwanzig, sondern manchmal wie ein bockiger Zwölfjähriger. "Ich bin hier noch nicht fertig", versuchte Seto zu protestieren, als sein Bruder ihn so überfiel und ihn ins Bett schicken wollte wie ein unmündiges Kind. Auf diese Äußerung nahm Mokuba jedoch keine Rücksicht. Stattdessen schaltete er nur kommentarlos den Rechner aus und maß seinen älteren Bruder mit einem Blick, den dieser von Roland nur zu gut kannte – eine Mischung aus Unnachgiebigkeit und Besorgnis, die es immer wieder schaffte, in Seto das Gefühl zu wecken, er wäre kein erwachsener Mann, sondern wieder ein Junge von zehn Jahren, auf den es aufzupassen galt. Da ihm bewusst war, dass er eine Diskussion aktuell ohnehin nicht gewinnen konnte, versuchte Seto es gar nicht erst, sondern stand gehorsam auf und machte sich auf den Weg zu seinem Schlafzimmer. Viel Hoffnung, wirklich Schlaf zu finden, hatte er zwar nicht, aber er war es seinem Bruder schuldig, es wenigstens zu versuchen. Und vielleicht, so hoffte ein Teil von ihm, fiel ihm ja doch endlich eine Lösung für sein Problem ein, wenn er erst einmal ausgeschlafen war. Allzu viel Hoffnung hatte er diesbezüglich zwar nicht, aber einen Versuch war es wert. "Gute Nacht, Mokuba", verabschiedete Seto sich vor seiner Schlafzimmertür von seinem Bruder und dieser blickte ihm nach, bis er im Schlafzimmer verschwunden war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Erst dann machte er sich selbst auch auf den Weg in sein eigenes Schlafzimmer. In den letzten Stunden hatte er einen groben Plan gefasst, wie er seinem Bruder helfen wollte, aber ein paar Einzelheiten gab es noch auszufeilen. Allerdings konnte er sich darum erst am nächsten Tag kümmern, denn es mussten noch einige Kleinigkeiten überprüft und berücksichtigt werden. Aber, nahm Mokuba sich fest vor, während er sich für die Nacht umzog und in sein eigenes Bett schlüpfte, er würde einen Weg finden, seinem Bruder zu helfen – komme, was wolle. Am nächsten Morgen fiel es Seto ungewohnt schwer, pünktlich aus dem Bett zu kommen. Er war müde, vollkommen ausgelaugt, aber er konnte es sich nicht leisten, an diesem so wichtigen Tag zu verschlafen und damit zu riskieren, die Eröffnung der Spielemesse zu verpassen. Dafür war dieses Ereignis zu wichtig. Potentielle Geschäftspartner, potentielle Kunden – alle versammelt unter einem Dach. Die Kaiba Corporation musste vor Ort sein. Und da er nun mal noch immer das Gesicht der Firma war, bedeutete das im Klartext, dass er diesen Pflichttermin keineswegs ausfallen lassen konnte. Und ein Teil von ihm wollte das auch gar nicht, bedeutete diese so lästige Pflicht doch auch ein weiteres Wiedersehen mit dem Menschen, der ihn immer noch in seinem Bann hatte, auch wenn er selbst das offenbar nicht zu bemerken schien. Das Gespräch, das er am Vorabend mit seinem Bruder geführt hatte, verdrängte Seto, so gut es ging. Erst als er das Esszimmer betrat, wo Mokuba ihn bereits erwartete und ihn wie jeden Morgen mit einem Lächeln begrüßte, ehe er sich weiter seinem Frühstück widmete, löste sich der Knoten in Setos Magen. Wie an jedem anderen Morgen begnügte er sich auch jetzt wieder nur mit Kaffee, aber dennoch herrschte eine andere Atmosphäre als sonst. Er hatte, sinnierte Seto, am vergangenen Abend alle Karten auf den Tisch gelegt und seinem Bruder endlich die Ehrlichkeit zuteilwerden lassen, die Mokuba eigentlich schon vor Jahren verdient gehabt hätte. Noch hatten sie zwar nicht ausführlich darüber gesprochen, was diese Eröffnung im Einzelnen für sie beide bedeutete, aber dennoch konnte Seto sich des Gefühls nicht erwehren, dass sein Bruder froh darüber war, dass dieses Geheimnis jetzt endlich nicht mehr zwischen ihnen stand. Wie er damit umgehen würde, würde wohl die Zukunft zeigen müssen. "Wir sollten langsam aufbrechen." Mokuba nickte nur auf die Worte seines älteren Bruders. Für seinen Kennerblick sah dieser immer noch reichlich abgespannt und erschöpft aus, aber nach allem, was in den letzten Tagen geschehen war, war das wohl auch nur allzu verständlich. Aber obwohl er offenbar ziemlich müde war, kam Seto ihm auch ein klein wenig erleichtert vor – wohl weil er jetzt einen Teil seiner selbst, den er lange verleugnet hatte, nicht mehr vor seinem kleinen Bruder verstecken musste. Unwillkürlich legte sich ein leichtes Lächeln auf Mokubas Lippen. Es tat gut, jetzt endlich die Wahrheit zu wissen, auch wenn diese Wahrheit für seinen Bruder schmerzhaft war und ihm selbst ein schlechtes Gewissen bescherte. Er hatte in der vergangenen Nacht lange keinen Schlaf gefunden, sondern viel gegrübelt. Noch immer fühlte er sich schuldig wegen dem, was er am Vorabend erfahren hatte, aber dieses Schuldgefühl hatte seinen Entschluss, sich zum Besten seines Bruders einzumischen, nur noch gestärkt. Seto hatte es verdient, glücklich zu werden. Er hatte so lange so viel für ihn, Mokuba, geopfert. Es wurde höchste Zeit, dass er seinerseits Seto half. Und er hatte auch schon einen Plan. Aber diesen Plan konnte er zu Hause nicht umsetzen. "Dann lass uns gehen", erwiderte er daher auf die Aufforderung seines Bruders, stand auf und griff nach dem Jackett, das auf dem Stuhl neben seinem lag, um es auf dem Weg zur Limousine überzuziehen. So sehr ihm das Protzen mit dem kaibaschen Reichtum oft auch gegen den Strich ging, heute ging es um Repräsentation der Firma und da war ein entsprechender Auftritt unerlässlich. Diese Notwendigkeit hatte Mokuba schon früh zu verstehen gelernt. Und ebenso hatte er sich im Laufe der Jahre einige der Tricks seines Bruders abgeschaut. Sicher, sein Pokerface war bei weitem nicht so ausgereift wie Setos, aber offenbar saß es gut genug, dass sein Bruder keinen Verdacht schöpfte, dass er etwas im Schilde führen könnte. ›Perfekt!‹ Der Gedanke, dass sein Bruder irgendwelche Pläne haben könnte, die nichts mit der heutigen Eröffnung der Spielemesse zu tun hatten, kam Seto gar nicht. Zu sehr war er damit beschäftigt, sich auf die bevorstehende Eröffnungsrede vorzubereiten. Alle Gedanken daran, dass Duke auch unter den Anwesenden sein und ihn beobachten würde, schob er in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. Am vergangenen Abend hatte er fürs Erste genug Schwäche gezeigt. Darüber, wie es jetzt weitergehen sollte, konnte er sich auch später noch Gedanken machen. Immerhin hatte er noch fünf Tage Zeit bis zum Ende der Messe, nach dem, wie er durch Mokuba wusste, Duke gemeinsam mit Pegasus wieder in die Staaten zurückzufliegen plante. Fünf Tage sollten doch wohl reichen, um eine Lösung für das Dilemma zu finden, das er selbst vor vier Jahren verursacht hatte. Gemeinsam stiegen Seto und Mokuba in die Limousine und ließen sich von Roland zum Messegelände bringen. Und erst dort trennten sich die Wege der beiden Brüder wieder. Während Seto sich nach der Eröffnungsrede und dem üblichen Händeschütteln, das er eigentlich unsagbar hasste, das aber nun mal leider doch unumgänglich war, wie jedes Mal zu einer solchen Gelegenheit der Presse und ihren unzähligen Fragen stellte, machte Mokuba sich auf die Suche nach Duke und Pegasus. Es dauerte nicht lange, bis er fündig wurde. Gemeinsam standen die beiden ganz in der Nähe des Standes, der für Industrial Illusions vorbereitet worden war. Unwillkürlich verlangsamte Mokuba seine Schritte. Noch, das war offensichtlich, hatten ihn weder Duke noch Pegasus gesehen. Und wenn das nicht die ideale Gelegenheit war, mal ein bisschen auszuloten, wie Setos Chancen standen, was war es dann? Mokuba blieb neben einem der anderen Stände stehen, so dass er die beiden beobachten konnte. Und der seltsam ernste Gesichtsausdruck Dukes, der so gar nicht zu dem fröhlichen Schwarzhaarigen passen wollte, den er kannte und mit dem er auch in den letzten Tagen immer wieder zu tun gehabt hatte, sagte ihm eigentlich genug. ›Scheint, als sähe es doch gar nicht so schlecht für Seto aus, wie er selbst denkt.‹ Mokuba konnte nichts gegen die Erleichterung tun, die ihn bei dieser Erkenntnis überflutete. Nach allem, was er jetzt wusste, hätte er es mehr als nur unfair gefunden, wenn sein Bruder der Einzige gewesen wäre, der unter der Trennung litt. Aber allein die Art, wie Pegasus Duke tröstend über den Arm strich, während er ihm gleichzeitig aufmunternd zulächelte, sprach eigentlich schon Bände. ›Jetzt muss ich es nur noch irgendwie schaffen, dass Duke und Seto sich unter vier Augen unterhalten können‹, sinnierte Mokuba. Aber wie schwer konnte das schon sein? Schwerer als erwartet, musste Mokuba vier Tage später frustriert feststellen. Irgendwie schafften Duke und Seto es einfach immer wieder, sich zu verpassen. Zwar verbrachte sein großer Bruder für seine Verhältnisse geradezu ungewöhnlich viel Zeit auf dem Messegelände, aber irgendetwas kam immer dazwischen. Mal waren es irgendwelche von Dukes Fans, die den Schwarzhaarigen so lange mit Beschlag belegten, bis Seto bereits wieder weg war, und mal war es ein Notfall in der Firma, der Setos volle Aufmerksamkeit verlangte. Fast war Mokuba versucht, daran zu glauben, dass irgendeine höhere Macht seine Pläne, seinem Bruder zu helfen, zu durchkreuzen versuchte, aber diese Gedanken schüttelte er schnell wieder ab. Das war doch auch einfach nur lächerlich. Das hier war einfach nur ganz, ganz mieses Timing, sonst nichts. Gerade, als er wieder einmal grübelnd an der Hallenwand lehnte, gesellte sich eine weitere Person zu ihm. Mokuba hoffte, dass seine Nichtachtung ausreichen würde, um denjenigen zu vertreiben, aber das schien nicht der Fall zu sein. Auch nach mehreren Minuten war er immer noch nicht wieder alleine, so dass er sich schlussendlich doch dem Störenfried zuwandte mit dem festen Vorsatz, die Person wegzuschicken. Die Aufforderung, ihn alleine zu lassen, weil er beschäftigt war, blieb ihm jedoch förmlich im Halse stecken, als er sah, wer da neben ihm stand. Für einen kurzen Augenblick fühlte Mokuba tatsächlich absolut unangebrachte Panik in sich aufsteigen, als er Pegasus erkannte, aber er kämpfte das Gefühl entschlossen nieder. Er war doch schon lange kein kleines Kind mehr, verdammt! Er war neunzehn. Er musste sich nicht mehr vor jemandem fürchten, der ihm hier, in einer Halle voller Menschen und ganz in der Nähe seines großen Bruders, der auch irgendwo hier unterwegs war, definitiv nichts würde antun können. "Gehe ich Recht in der Annahme, dass du inzwischen über diese ganze … Sache im Bilde bist?", riss Pegasus' Stimme Mokuba aus seinen Gedanken. Für einen Sekundenbruchteil stockte er – bedeutete das, was er dachte, was es bedeutete? –, dann nickte er langsam und bedächtig. Noch immer brachte er kein Wort heraus, aber das schien sein Gesprächspartner auch nicht zu erwarten. "Nun, besser spät als nie", fuhr er fort und bedachte den jüngeren der beiden Kaiba-Brüder mit einem kurzen Blick aus seinem verbliebenen Auge. "Es wirkt auf mich ganz so aus, als hättest du gewisse … Pläne diesbezüglich", vermutete er ganz richtig und auf seinen Lippen erschien gleich darauf der Hauch eines triumphierenden Lächelns, denn das Zusammenzucken des Schwarzhaarigen war ihm Antwort genug. Mokuba war sich nicht sicher, was er von dieser Situation halten sollte. So ganz hatte sich sein Herzschlag noch nicht wieder beruhigt, aber die Tatsache, dass Pegasus ihn offenbar nur angesprochen hatte, weil er selbst auch über das Bescheid wusste, was zwischen Seto und Duke gewesen war, half ihm dabei, seine Fassung langsam wiederzugewinnen. So nickte er nach kurzem Zögern schließlich auf die Vermutung seines Gegenübers und seufzte leise. "Wirkliche Pläne nicht, eher … Ideen", gab er zu und zog eine unwillige Grimasse. Dass es ihm bisher immer noch nicht gelungen war, auch nur eine einzige davon erfolgreich umzusetzen, nagte ganz schön an ihm. Er hatte nur noch einen einzigen Tag Zeit, also sollte er sich langsam beeilen. Aber wie, fragte er sich, sollte er das hinkriegen, wenn ihm ständig irgendwelche Knüppel zwischen die Beine geworfen wurden? Das war wesentlich schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. Pegasus nickte nur auf die Erklärung. Ihm war während der letzten Tage nicht entgangen, dass der jüngere Kaiba immer mal wieder versucht hatte, eine Situation zu schaffen, in der sein Bruder und Duke möglichst ungestört sein würden, damit sie endlich miteinander reden konnten. Nicht, dass einer der beiden auch nur etwas davon gemerkt hatte – was, sinnierte Pegasus, vielleicht auch besser so war. Aber irgendwie war keiner der Versuche des jungen Kaiba bisher wirklich erfolgreich gewesen. Es war dem jungen Mann deutlich anzusehen, wie sehr ihn all das frustrierte. Und auch wenn er selbst einen Schwur geleistet hatte, sich nicht in die Angelegenheiten seines eigenen Protegés einzumischen, so hieß das ja noch lange nicht, dass er gänzlich untätig bleiben musste. "Ich habe Duke bereits vor Jahren versprechen müssen, dass ich mich in keinster Weise in sein Leben einmischen würde." Warum Pegasus ihm das erzählte, verstand Mokuba im ersten Moment nicht so ganz. "Ich habe allerdings niemals auch nur mit einer einzigen Silbe erwähnt, dass ich dir bei deinem Vorhaben nicht unter die Arme greifen würde", fügte der Silberhaarige erklärend hinzu und das Schmunzeln, das sich bei diesen Worten auf seine Lippen legte, hatte etwas Hintergründiges, das Mokuba in durchaus unangenehmer Erinnerung war. Aber dieses eine Mal kümmerte es ihn nicht, denn seine Gedanken kreisten um die Andeutungen, die hier gemacht wurden. Pegasus wollte ihm helfen? "Wirklich?", versicherte der Neunzehnjährige dessen, was er aus den Worten seines Gesprächspartners herauszuhören geglaubt hatte, und wieder nickte Pegasus. Dabei schweifte sein Blick kurz zu seinem Protegé, der im Augenblick allerdings vollauf damit beschäftigt war, ein paar jungen Mädchen einige seiner berühmten Würfeltricks vorzuführen. Erst als er sich sicher war, dass Duke nichts von dem mitbekam, was hier passierte, wandte der Silberhaarige sich wieder dem jüngeren Schwarzhaarigen zu. Er wusste, dass Mokuba Kaiba keine allzu angenehmen Erinnerungen mit ihm verband, daher rechnete er es ihm hoch an, dass er noch nicht gegangen war. Offenbar war der Drang, seinem großen Bruder zu helfen, weitaus größer als die Vorsicht, die er in all den Jahren, in denen er selbst den älteren Kaiba hin und wieder geschäftlich getroffen hatte, nie hatte ablegen können. "Ich habe heute Abend noch einen anderen Termin", begann Pegasus daher in leichtem Plauderton und ohne seinen Gesprächspartner anzusehen. "Deshalb habe ich Duke gebeten, nachher hier für mich die Stellung zu halten bis zum Schluss. Er wird also ziemlich lange hier sein. Und wenn du es irgendwie einrichten könntest, dass dein Bruder auch erst später geht als üblich … Nun, ich denke, das dürfte doch die Gelegenheit sein, wenn du verstehst, was ich meine." Und ob Mokuba verstand! Zwar sträubte sich ein Teil von ihm immer noch dagegen, Pegasus auch nur minimal zu vertrauen, aber diesen Teil brachte der Neunzehnjährige energisch zum Schweigen. Hier ging es nicht um ihn und seine dummen, kindischen Ängste, sondern um das Glück seines großen Bruders. "Das kriege ich hin", versicherte er daher im Brustton der Überzeugung und Pegasus Schmunzeln vertiefte sich noch etwas. "Gut. Ich habe eine Kleinigkeit vorbereitet, die sehr hilfreich sein wird. Die Details musst du nicht wissen", das wäre immerhin höchst kontraproduktiv, "aber du kannst mir glauben, wenn ich dir versichere, dass das sehr effektiv sein wird." Bei diesen Worten wurde Mokubas Blick skeptisch, aber da er ahnte, dass Pegasus wohl kaum mit der Sprache herausrücken würde, was genau diese ›Kleinigkeit‹ war, die er erwähnt hatte, fragte er gar nicht erst danach. Irgendwie konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es vielleicht wirklich besser war, wenn er nicht genau wusste, was Pegasus plante. "Solange Seto nichts passiert", schränkte er dennoch ein. "Und auch sonst niemandem", schob er noch hinterher. Immerhin kannte er Pegasus' Methoden schließlich. Und allzu zimperlich war dieser früher ja schon nicht gewesen, wenn er etwas unbedingt gewollt hatte. "Was wäre das Leben ohne ein bisschen Risiko?" Pegasus lachte leise, brachte sein Amüsement aber gleich wieder unter Kontrolle. Immerhin wollte er seinen ›Mitverschwörer‹ ja nicht verschrecken. "Aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich habe nicht vor, irgendjemandem Schaden zuzufügen. Ich möchte nur dabei behilflich sein, etwas zu korrigieren, was schon viel, viel zu lange im Argen liegt", beruhigte er ihn daher und der aufrichtige Unterton, der bei dieser Aussage in seiner Stimme mitschwang, ließ Mokuba nicken. Offenbar lag Pegasus wirklich etwas daran, diese ganze Sache zwischen Seto und Duke wieder einzurenken. "Gut, dann kümmere ich mich darum, dass Seto nachher auf jeden Fall auch noch da ist, wenn der Rest der Besucher so langsam geht." Denn darauf würde es ja wohl hinauslaufen, nicht wahr? Pegasus wollte ganz offensichtlich aus irgendeinem Grund, dass Seto und Duke sich hier in der Halle aussprachen. Sozusagen auf neutralem Boden, wenn man das denn so sehen wollte. So ganz gefiel es Mokuba zwar nicht, dass er nicht genau wusste, was der Silberhaarige plante, aber vielleicht war es wirklich besser so. Solange es auch wirklich dabei half, dass Seto endlich die Gelegenheit zu einem klärenden Gespräch bekam, würde er selbst tun, was nötig war. "Es ist sehr wichtig, dass dein Bruder gegen zehn Uhr noch da ist." Mit diesem reichlich kryptischen Hinweis ließ Pegasus ihn einfach stehen. Mokuba blickte ihm einen Moment lang nach, dann schüttelte er den Kopf, stieß sich von der Wand ab und machte sich auf die Suche nach seinem Bruder. Zeit, Seto zu finden und ihn auch wirklich hier zu halten bis zum vereinbarten Zeitpunkt. Mokuba wusste noch nicht genau, wie er es anstellen sollte, dass Seto nicht doch irgendwann in die Firma fuhr, aber, nahm er sich fest vor, er würde schon einen Weg finden. Als Mokuba seinen Bruder endlich entdeckte, schmunzelte er unwillkürlich. Seto hatte sein Handy am Ohr und auch ohne seine Stimme zu hören, wusste der Neunzehnjährige, dass sein Bruder gerade mal wieder jemandem ordentlich den Marsch blies. Allerdings konnte er es absolut nicht zulassen, dass Seto, aus welchem Grund auch immer, das Messegelände verließ, also schlenderte Mokuba zu ihm hinüber und sah ihn fragend an, sobald sein Bruder das Gespräch beendet und mit einem abfälligen Schnauben sein Handy wieder in seine Manteltasche geschoben hatte. "Was ist jetzt schon wieder schiefgegangen, Seto?" Die Frage entlockte dem Angesprochenen ein weiteres Schnauben. "Was ist nicht schiefgegangen?", schoss er zurück, milderte seinen harschen Tonfall jedoch mit einem knappen Lächeln, ehe sich sein Blick wieder umwölkte. "Es fehlen angeblich noch irgendwelche Papiere, die ich eigentlich schon vor Wochen eingereicht habe. Vielleicht sollte ich …", fing er an, aber Mokuba unterbrach ihn, ehe er aussprechen konnte. "Vielleicht solltest du hier bleiben und es einfach Roland überlassen, sich darum zu kümmern. Er wird die Papiere schon finden und sicher auch nachweisen können, wann genau sie übermittelt worden sind. Roland schafft das. Und die Firma wird auch mal einen Tag lang ohne dich auskommen.", erinnerte er seinen Bruder und deutete auf das Gewusel um sie herum. "Das hier ist der Grund, warum wir heute hier sind, Seto. Und es ist wichtig. Deine Worte, großer Bruder." ›Nun ja, zumindest einer der Gründe.‹ Aber den zweiten Grund erwähnte Mokuba mit Absicht nicht. Es würde auch so ein hartes Stück Arbeit werden, seinen Bruder vom Gehen abzuhalten. Aus diesem Grund griff Mokuba irgendwann im Laufe des Nachmittags, als er sich unbeobachtet fühlte, in Setos Manteltasche, zog sein Handy heraus und schaltete es aus, nachdem er Roland noch knapp instruiert hatte, sich heute alleine um alles Weitere zu kümmern. Für einen Tag würde Roland das schon schaffen. Seto, der gegen die Argumente seines kleinen Bruders nicht wirklich etwas vorzubringen wusste, ließ sich von diesem tatsächlich davon überzeugen, dass seine Anwesenheit erforderlich war. Und auch wenn er es ungern zugab, Mokuba hatte Recht. Es war wirklich wichtig für die Firma, dass er sich ab und zu auch mal außerhalb seines Büros zeigte. Zwar gefiel ihm der Wirbel, den die Presse üblicherweise um seine Person machte, immer noch nicht, aber er hatte Jahre Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen und einen Weg zu finden, damit klarzukommen. Und die Tatsache, dass irgendwo am anderen Ende der Halle derjenige sein musste, um den sich seine Gedanken ungebeten immer wieder drehten, wenn er es nicht rigoros verhinderte, trug ihr Übriges dazu bei, dass Seto nicht ging. Er nahm sich sogar tatsächlich die Zeit, sich mit einigen der Zulieferer, die es ebenfalls auf die Messe verschlagen hatte zu unterhalten. Kurzum, er tat alles, um sich von dem abzulenken, was er eigentlich am liebsten tun wollte. Aber jetzt, wo so viele neugierige Augen und Ohren anwesend waren, konnte er so oder so nichts unternehmen. Damit würde er wohl oder übel warten müssen. Allerdings lief ihm die Zeit davon, das war ihm nur allzu bewusst. ›Morgen ist schon der letzte Tag der Messe.‹ Ein Gedanke, der sich immer wieder ungebeten einstellte und Seto jedes Mal kurzzeitig den Atem zu nehmen drohte. Er hatte nicht viel mehr als vierundzwanzig Stunden Zeit, aber bisher hatte er es in der ganzen vergangenen Woche noch nicht geschafft, mehr als einen kurzen Blick auf Duke zu erhaschen. Irgendetwas war immer dazwischengekommen, wenn er mit ihm hatte reden wollen. Und auch wenn er es eigentlich nicht wollte, so begann Seto langsam doch, darüber nachzudenken, ob es nicht besser wäre, Duke einfach wieder ebenso ziehen zu lassen wie vor vier Jahren. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, alle seine Wunschträume endgültig ad acta zu legen. Mokuba, der deutlich sehen konnte, dass seinen Bruder etwas beschäftigte, kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Langsam begann sich das Messegelände zu leeren, aber bis zu dem mit Pegasus vereinbarten Zeitpunkt hatte er noch über eine halbe Stunde Zeit. Allerdings sah Seto nicht so aus, als hätte er große Lust, noch viel länger zu bleiben. Sein Blick wanderte immer wieder zum Ende der Halle, in dem er den Stand von Industrial Illusions wusste, und dann gleich in Richtung Ausgang. Es war offensichtlich, dass er sich dem allgemeinen Aufbruch anzuschließen gedachte, sobald der erste Ansturm auf die Türen endlich nachließ. ›Verdammt!‹, fluchte Mokuba innerlich. Wie in aller Welt sollte er verhindern, dass Seto einfach ging? Ihm fiel einfach kein Vorwand ein, um seinen Bruder noch länger hier zu halten. Aber Seto musste bleiben, denn sonst wäre alles umsonst! ›Und wenn ich ihm einfach die Wahrheit sage?‹, sinnierte Mokuba, schüttelte jedoch gleich den Kopf. Nein, das war eine ganz, ganz blöde Idee. Seto mochte es ganz und gar nicht, wenn sich jemand in sein Leben einmischte – ganz egal, wie gut dieser jemand es auch meinen mochte. Es musste einfach einen anderen Weg geben! Aber welchen? Gerade als Mokuba kurz davor war zu verzweifeln, kam ihm der Zufall in Form eines langjährigen Geschäftspartners seines Bruders zur Hilfe. Dieser hatte bisher offenbar noch keine Gelegenheit gehabt, sich mit Seto zu unterhalten, und verwickelte ihn binnen kurzem in ein Gespräch, das dieser nicht einfach so abbrechen konnte, wenn er seinen Gesprächspartner nicht vor den Kopf stoßen wollte. Und während sein Bruder sich notgedrungen auf Smalltalk einließ, den er eigentlich gar nicht führen wollte, atmete Mokuba innerlich auf. Um ein Haar hätte er Seto doch noch erklärt, warum er noch nicht gehen konnte, aber das war jetzt ja nicht mehr nötig. ›Zum Glück!‹ Je näher der mit Pegasus verabredete Zeitpunkt rückte, desto unruhiger wurde Mokuba. Er hatte immer noch nicht den Hauch einer Ahnung, wie genau er seinen Bruder und Duke zum Reden zusammenbringen sollte. Die Halle war immerhin nicht gerade klein, also war die Chance, dass die beiden sich wieder verpassten, leider ziemlich groß. Aber vielleicht, grübelte Mokuba, konnte er Seto ja auch einfach nur einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben und den Rest dann einfach ihm überlassen? Immerhin wusste er selbst ja ganz genau, wo Duke jetzt gerade war und auch noch eine Weile bleiben würde, wenn er sich wirklich an das hielt, was er offenbar mit Pegasus ausgemacht hatte. Nun, einen Versuch war es wert, fand Mokuba. Daher mischte er sich mit einem geschäftsmäßig-charmanten Lächeln in das Gespräch ein, das sein Bruder gerade führte, und ließ höflich, aber unmissverständlich durchblicken, dass es langsam wirklich Zeit war zu gehen. Wie er nicht anders erwartet hatte, verstand Setos Gesprächspartner den unausgesprochenen Wink auch tatsächlich, verabschiedete sich und über Mokubas Lippen huschte ein kurzes Grinsen, als sein Bruder minimal aufatmete, kaum dass sie beide wieder unter sich waren. Um Seto allerdings nicht allzu viel Gelegenheit zu geben, sich wieder zu sammeln und vielleicht doch noch den Heimweg anzutreten, nickte Mokuba in Richtung des Industrial Illusions-Standes. "So langsam sind fast alle schon weg, aber ist Duke auf jeden Fall noch da", ließ er seinen Bruder beiläufig wissen. "Vielleicht solltest du noch mal versuchen, mit ihm reden, Seto", schlug er dann sanft vor, legte Seto kurz eine Hand auf den Arm und bedachte ihn mit einem aufmunternden Lächeln. "Was hast du noch zu verlieren?" ›Alles. Alles und noch viel, viel mehr‹, ging es Seto bei dieser Frage seines jüngeren Bruders unwillkürlich durch den Kopf, aber er schüttelte den Gedanken schnell wieder ab, auch wenn er durchaus nicht falsch war. Allerdings hatte Mokuba Recht mit seiner Frage. Was hatte er schon zu verlieren, was er nicht ohnehin bereits vor vier Jahren verloren hatte? Eigentlich nichts. Und wenn Duke wirklich nichts mehr für ihn empfand, dann hatte er wenigstens endlich Gewissheit und konnte aufhören, sich immer und immer wieder selbst mit ›Was wäre, wenn …?‹ zu foltern. "Ich fahre schon mal nach Hause." Auf die Verabschiedung seines Bruders nickte Seto nur. Jetzt, wo er sich entschieden hatte, was er tun würde, konnte er keine Ablenkung mehr gebrauchen – etwas, was Mokuba nicht entging. Mit einem Schmunzeln machte er sich auf den Weg nach draußen, wo Roland mit der Limousine bereits auf ihn wartete. "Seto kommt später nach. Er hat noch was Wichtiges zu erledigen", teilte er Roland mit, stieg in den Wagen und ließ sich nach Hause fahren, dabei innerlich die Daumen für die Aussprache drücken, die seinem Bruder jetzt bevorstand. Nach Mokubas Weggang gönnte Seto sich noch ein paar Sekunden, um sein hämmerndes Herz zu beruhigen, ehe er sich auf den Weg zu Pegasus' Stand machte. Es war wirklich allerhöchste Zeit, endlich für Klarheit zu sorgen. Er musste einfach wissen, wie Duke nach all den Jahren zu ihm stand. Die wenigen Leute, die seinen Weg noch kreuzten, beachtete Seto nicht. Sein Blick war fest auf sein Ziel gerichtet. Der Weg erschien ihm gleichzeitig endlos lang und viel zu kurz. Er konnte nicht leugnen, dass er für seine Verhältnisse geradezu hochgradig nervös war. Aber, das war ihm nur allzu bewusst, es hatte auch noch nie so unsagbar viel von dem abgehangen, was als nächstes passieren würde – nicht für seine Firma, sondern für ihn selbst, ganz privat. Als er schließlich am letzten Stand, der ihn noch von seinem Ziel trennte, um die Ecke bog und denjenigen sah, wegen dem er überhaupt hergekommen war, musste Seto sich förmlich zwingen, weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen. Duke war augenscheinlich gerade mit ein paar letzten Aufräumarbeiten beschäftigt, aber irgendwann hielt er plötzlich mitten in der Bewegung inne und Seto spürte, wie sein Herzschlag sich direkt wieder beschleunigte. So, ganz genau so hatte Duke früher schon immer auf ihn reagiert. Der Schwarzhaarige hatte immer gewusst, wann er in der Nähe gewesen war. Dass sich das auch nach vier Jahren der Trennung offensichtlich nicht geändert hatte, musste doch einfach etwas zu bedeuten haben, oder nicht? Seto konnte förmlich dabei zusehen, wie Duke sich selbst einen Ruck gab und erst noch die letzten Kartenpacks wegräumte, ehe er sich doch endlich zu ihm umdrehte. "Du bist noch da? Um diese Zeit?", fragte der Schwarzhaarige dann und Seto schluckte ob des plötzlichen Blickkontakts. Sein Herz schlug unregelmäßig und viel zu schnell – etwas, was bisher nur ein einziger Mensch in ihm auszulösen vermocht hatte. Vier Jahre hatten offenbar nicht ausgereicht, um etwas daran zu ändern. Seto war sich nicht sicher, ob das gut oder eher schlecht war. Aber das, ging es ihm durch den Kopf, hing wohl hauptsächlich davon ab, wie sich das Gespräch zwischen ihnen entwickeln würde. Allerdings war es für ein vernünftiges Gespräch wohl unabdingbar, dass er selbst auch etwas dazu beitrug. Vielleicht, sinnierte Seto, wäre es ein guter Anfang, erst mal die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten. Warum war das nur so schwer? Er hatte so viel zu sagen und doch wusste er einfach nicht, wo er anfangen und wie er die Worte über die Lippen bringen sollte. Und selbst wenn er sie aussprach, würde Duke sie überhaupt noch hören wollen? War es dafür nicht schon längst zu spät? "Ich habe …", setzte Seto an, aber ehe er seinen Satz beenden konnte, erlosch in der gesamten Halle ohne Vorwarnung das Licht. Panische Rufe von den wenigen noch verbliebenen Leuten, die ebenso wie Duke mit Aufräumarbeiten beschäftigt gewesen waren, wurden laut, aber das Rauschen von Wasser aus der Sprinkleranlage übertönte sie gleich darauf auch schon wieder. Binnen Sekunden war Seto von Kopf bis Fuß vollkommen durchnässt. "Was …?", hörte er Dukes Stimme nur ein kurzes Stück von sich entfernt. In der plötzlichen Dunkelheit war der Schwarzhaarige nicht mehr als ein vager Schemen, aber er war zumindest gut genug zu erkennen, dass Seto ihn am Handgelenk packen und entschlossen mit sich ziehen konnte. "Offenbar hat irgendetwas den Brandschutz der Halle aktiviert", erklärte er über seine Schulter hinweg, ohne sich umzusehen. Im Dunkeln und mit all dem noch immer von oben niederprasselnden Wasser war es nicht gerade einfach, den ganzen mehr oder weniger überall verteilten Ständen auszuweichen, aber dennoch zog Seto seinen Begleiter zielsicher in Richtung eines der Korridore, die zu den Ausgängen der Halle führten. Dabei versuchte er zu ignorieren, dass seine Finger da, wo sie Dukes feuchte Haut berührten, ebenso kribbelten wie sie es zuletzt vor vier Jahren getan hatten, als er den Schwarzhaarigen das letzte Mal so berührt hatte. ›So viel dazu, dass das alles schon längst Vergangenheit ist.‹ Hätte er dazu geneigt, hätte er über sich selbst gelacht. Er hatte sich vier Jahre lang etwas vorgemacht. Diesen Gedanken, der ihm in den letzten Tagen immer und immer wieder gekommen war, schüttelte Seto jedoch schnell wieder ab. Jetzt war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um schon wieder über die Vergangenheit nachzudenken. Außerdem hatte er das in den letzten Tagen ohnehin schon viel zu oft und viel zu lange getan. Einen kurzen Hindernislauf um die in diesem Teil der Halle errichteten Stände später leuchtete vor Seto und seinem erstaunlich schweigsamen Begleiter das Notausgangsschild im Dunkeln auf. Ohne Duke loszulassen drückte Seto die schwere Brandschutztür auf, aber anstatt direkt auf dem kürzesten Weg die Halle zu verlassen, zog er den Schwarzhaarigen mit sich in einen der für die Verwaltung reservierten Räume, wo die Sprinkleranlage offenbar nicht in Betrieb war. Erst dort löste er seine Finger von Dukes Arm, schloss die Tür hinter ihnen beiden und tastete nach dem Lichtschalter. Ehe er diesen jedoch betätigen konnte, legte sich eine Hand auf seine und zog sie von dem Schalter weg. "Warum sind wir hier?", erkundigte Duke sich, die Stimme zu einem Flüstern gesenkt, das eigentlich gar nicht notwendig gewesen wäre. Immerhin waren sie beide hier ganz alleine. Seto kannte die Pläne der Halle gut genug um zu wissen, auf welchem Weg die restlichen Anwesenden evakuiert werden würden. Und wenn er ehrlich war, dann wusste er die Antwort auf die Frage, die Duke ihm gestellt hatte, selbst nicht so genau. Er hatte einfach aus einem Impuls heraus gehandelt, aber eine wirkliche Erklärung für sein Verhalten hatte er nicht. "Ich weiß es nicht." Wahrscheinlich lag es an der noch immer herrschenden Dunkelheit, die es einfacher machte, diese Worte auszusprechen. Seto war sich nicht wirklich sicher. Und eigentlich war es ihm auch egal. "Augenblicklich gibt es vieles, was ich nicht weiß. Zum Beispiel wie ich die Entscheidung, die ich vor vier Jahren getroffen habe, jemals für eine gute Idee halten konnte", ließ er Duke leise wissen. Dadurch, dass er den Schwarzhaarigen bei diesem Geständnis aufgrund des fehlenden Lichts nicht sehen konnte, fiel es ihm seltsamerweise tatsächlich leichter, die Worte überhaupt über die Lippen zu bringen – ein wenig zumindest. Wenn er jedoch erwartet hatte, dass Duke auf sein Geständnis reagieren würde, so wurde er enttäuscht. Der Schwarzhaarige schwieg und Seto verfluchte sich innerlich dafür, seinem Impuls nachgegeben zu haben und hergekommen zu sein. Ganz offensichtlich stand er tatsächlich alleine da mit seiner Reue, seiner Sehnsucht und dem Gefühl, einen Fehler begangen zu haben. Offensichtlich war es inzwischen schon längst zu spät, um diesen Fehler rückgängig zu machen. Wahrscheinlich hatte er einfach zu lange gewartet. "Diese Entscheidung hast du damals nicht alleine getroffen", erinnerte Duke ihn schließlich nach minutenlangem Schweigen, doch Seto schnaubte nur. "Das ist mir durchaus bewusst." Und ebenso bewusst war es ihm, dass es trotzdem seine Schuld war. Er hatte das Wohl seines Bruders über das gestellt, was zwischen Duke und ihm gewesen war. Es war seine Idee gewesen, diese Sache zu beenden. Duke hatte ihm damals einfach nur nicht widersprochen. Das ›Warum‹ war es, das Seto auch heute noch zu schaffen machte. Warum hatte Duke ihm einfach zugestimmt? Warum hatte er diese Entscheidung nicht infrage gestellt? Hatte ihm das alles wirklich so wenig ausgemacht? Einen Moment lang haderte Seto noch mit sich selbst, doch dann brachen sich die Fragen Bahn. "Warum hast du mir damals nicht widersprochen? Warum warst du damit einverstanden?", wollte er leise wissen, ohne einen Hauch Vorwurf ganz aus seiner Stimme halten zu können. Warum hatte Duke seine Entscheidung einfach so akzeptiert? Warum hatte er nicht versucht, um das zu kämpfen, was sie miteinander gehabt hatten? War es ihm dafür etwa wirklich nicht genug wert gewesen? "Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen?" Duke seufzte abgrundtief und Seto hörte an den Geräuschen, die der Andere machte, dass er sich durch seine nassen Haare fuhr. "Mir war damals gleich klar, dass es nichts bringen würde, wenn ich dir sage, dass ich nicht will, dass es aus ist zwischen uns. Du hattest dich doch schon entschieden. Warum hätte ich mich also auf einen aussichtslosen Kampf einlassen sollen, den ich sowieso nur verlieren konnte? Warum hätte ich riskieren sollen, dass du mich dafür hasst, dass ich dein Leben mit deinem Bruder in Gefahr bringe? Ich wusste von Anfang an, dass du, wenn du dich jemals zwischen uns entscheiden müsstest, immer Mokuba den Vorzug geben würdest. Und das war auch okay für mich. Ich hätte nie von dir verlangt, meinetwegen Mokubas Sicherheit zu gefährden. Ich weiß doch, wie sehr du deinen Bruder liebst. Das weiß jeder, der Augen im Kopf hat. Ich bin nicht dumm genug, mich zwischen euch drängen zu wollen." "Mokuba ist kein Kind mehr." Etwas, dachte Seto bei sich, das er selbst mit schöner Regelmäßigkeit auch heute noch immer wieder zu vergessen neigte, sehr zum Leidwesen seines Bruders. Allerdings hatte Mokuba ihm ja bei ihrem Gespräch am Abend vor der Eröffnung der Spielemesse mehr als deutlich klargemacht, dass er inzwischen erwachsen war. Und immerhin war es auch Mokuba gewesen, der ihm selbst vorhin erst den letzten Anstoß für dieses Gespräch hier gegeben hatte. "Das ist mir nicht entgangen." Immerhin, sinnierte Duke, hatte er in den letzten zwei Wochen eine Menge Zeit mit Mokuba verbracht. Und wie ein Kind war ihm der Neunzehnjährige nun wirklich nicht mehr vorgekommen. Eher wie ein junger Mann, der ganz genau wusste, was er wollte, und der, ebenso wie sein großer Bruder, alles für die Menschen tun würde, die ihm am Herzen lagen. "Du kannst stolz auf dich sein. Du hast deine Sache mit ihm wirklich gut gemacht." Obwohl er das leichte Lächeln in der Stimme des Schwarzhaarigen bei diesen Worten förmlich hören konnte, ging Seto nicht weiter auf das Kompliment ein. Sein Bruder war nun wirklich nicht das Thema, um das es hier gehen sollte. Ganz und gar nicht. "Eigentlich wollte ich mit dir nicht über Mokuba reden, sondern über uns", stellte er daher klar und Duke zog scharf die Luft ein. "Was genau meinst du damit?", wollte er leise wissen und Seto kämpfte einen Moment lang mit sich. Er wusste ganz genau, was er wollte. Aber was sollte er tun, wenn der Schwarzhaarige nicht dasselbe wollte? ›Was habe ich zu verlieren?‹, stellte er sich die gleiche Frage, die ihm auch sein jüngerer Bruder gestellt hatte, und beantwortete sie sich ebenso, wie er für sich selbst auch Mokubas Frage beantwortet hatte. Er konnte alles verlieren, wenn er jetzt und hier seine Karten auf den Tisch legte. ›Aber‹, wisperte eine leise Stimme in seinem Kopf, die stark nach seinem jüngeren Bruder klang, ›du kannst auch alles und noch mehr gewinnen.‹ Und seit wann lief er denn vor einer solchen Herausforderung davon? Er war immer noch Seto Kaiba, und ein Kaiba gab sich nicht so leicht geschlagen. "Ich möchte, dass du zurück nach Japan kommst." ›Zurück zu mir.‹ Das, was Seto ungesagt ließ, stand für Duke so deutlich im Raum, als hätte er die Worte tatsächlich laut ausgesprochen. "Warum?", fragte er dennoch, denn er musste einfach wissen, was genau es war, das der Brünette von ihm wollte. Erst dann würde er eine Entscheidung treffen, nicht vorher. Das war er sich selbst einfach schuldig. Seto spürte überdeutlich, dass alles und noch mehr von dem abhing, was er jetzt sagen würde. Einen Moment lang schwieg er, wog sorgfältig ab, was er sagen konnte, wollte, durfte, und entschied sich schlussendlich doch für die schlichte Wahrheit. "Weil ich dich bei mir haben will. Weil ich dich nicht mehr vermissen will. Ich will, dass du an meiner Seite bist." Und das nicht nur heimlich, so wie es früher zwischen ihnen gewesen war. Sicher, es würde hart werden, aber hatte er nicht schon ganz andere Dinge überstanden? Und wenn er die Wahl hatte zwischen ganz oder gar nicht, dann wollte er Duke ganz. Er hatte immerhin vier Jahre ›gar nicht‹ hinter sich. "Mit allen Konsequenzen?", versicherte Duke sich dessen, was er gehört hatte, und schmunzelte minimal, als er auf seine Frage im ersten Moment keine verbale Antwort bekam. Er war sich ziemlich sicher, dass Seto erst mal einfach nur genickt hatte, die immer noch um sie herum herrschende Dunkelheit vollkommen vergessend. Und tatsächlich bestätigte sich sein Verdacht, als ein paar Augenblicke später doch noch Worte aus dem Dunkel an seine Ohren drangen. "Mit allen Konsequenzen", bestätigte Seto und Duke konnte nichts dagegen tun, dass sein Herzschlag sich beschleunigte. Das, ganz genau das hatte er sich gewünscht! Und zwar, wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, dann schon deutlich länger als bloß seit vier Jahren. Eigentlich hatte er diese Worte schon von Anfang an hören wollen. "Ich denke, das lässt sich einrichten." Dukes Erwiderung auf seine Worte brachten die feinen Härchen auf Setos Armen dazu, sich aufzurichten. Das lag jedoch, wie ihm durchaus bewusst war, nicht an der Nässe seiner Kleidung oder an der relativen Kühle des Raumes, sondern einzig und allein an dem Tonfall, den der Schwarzhaarige angeschlagen hatte. Er hatte es schon früher absolut meisterhaft verstanden, so viel mehr als nur die Worte, die er sagte, mit seiner Stimme zum Ausdruck bringen. Und, dachte Seto benebelt, als er spürte, wie Duke sich ihm näherte, bis er so vor ihm stand, dass Seto die Körperwärme des Schwarzhaarigen spüren konnte, er hatte offenbar nichts davon verlernt. "Ich werde zwar auf jeden Fall noch mal mit Max zurückfliegen müssen, um ein paar Dinge zu regeln, aber ich …" Weiter kam Duke nicht mehr. Noch ehe er so recht wusste, wie ihm geschah, fand er sich auch schon gegen die Tür des Büroraums gepresst, Setos Hände in seinen nassen Haaren vergraben und spürte endlich, endlich, endlich wieder die langvermissten und doch noch immer so vertrauten Lippen auf seinen eigenen. Seto fühlte sich schwindelig, trunken beinahe. Er hatte das hier so lange vermisst, hatte sich jeden Gedanken daran verboten und sich doch gleichzeitig mit jeder Faser seines Herzens danach gesehnt. Das Gefühl von Dukes Körper an seinem, die hingerissenen Geräusche, die der Schwarzhaarige von sich gab – all das war Seto so vertraut und fühlte sich doch gleichzeitig so aufregend neu an. Wahrscheinlich, dachte Seto benebelt, weil er sich selbst dieses Mal endgültig für Duke entschieden hatte. Mit allen Konsequenzen, wie er es ihm versprochen hatte. Und er würde zu seinem Versprechen stehen. Er würde nicht mehr verstecken, wie er fühlte. Nie wieder. Er würde nicht mehr verbergen, wem er sein Herz geschenkt hatte. "Duke, ich …", setzte Seto an, nachdem er den Kuss gelöst hatte. Noch immer konnte er den Schwarzhaarigen nicht wirklich erkennen, aber den Zeigefinger, der auf seine Lippen gelegt wurde, spürte er überdeutlich. "Shh", brachte Duke ihn zum Schweigen und streifte mit seinen Lippen noch mal kurz die des Brünetten, zog sich jedoch zurück, ehe dieser den Kuss wieder vertiefen konnte. "Ich weiß, Seto. Schon lange", murmelte er dann und Seto war sich absolut sicher, dass der Schwarzhaarige das, was er selbst auch jetzt nicht so recht auszusprechen wagte, wirklich ganz genau wusste. Immerhin hatte Duke ihn schon früher zu durchschauen vermocht wie kein anderer. Wie hätte er da nicht wissen können, wie es um seine Gefühle bestellt war? Und obwohl er selbst eigentlich nicht unbedingt Experte darin war, die feinen Zwischentöne zu lesen, fiel es Seto dieses Mal doch nicht schwer zu verstehen, welches Geständnis noch in Dukes wenigen Worten mitschwang – das Geständnis, dass er selbst ebenso fühlte; dass er damals schon ebenso gefühlt hatte und es immer noch tat. "Ich hätte nicht so viel Zeit verschwenden sollen." Eigentlich waren Entschuldigungen nichts, was Seto leicht über die Lippen kam, aber dieses eine Mal war es anders. Es war fast eine Erleichterung, die Worte auszusprechen. Er hatte schon in dem Moment, in dem er Duke vor vier Jahren seine Entscheidung mitgeteilt hatte, gewusst, dass er dabei gewesen war, einen großen Fehler zu machen – vielleicht den größten Fehler, den er jemals gemacht hatte. Dass er diesen Fehler jetzt endlich hatte korrigieren können, war ein berauschendes Gefühl. Und zu wissen, dass Duke wirklich wieder zurückkommen wollte, war sogar noch besser. "Manche Dinge sind jedes Warten und jede Mühe wert." Duke lächelte ganz leicht, auch wenn sein Gesprächspartner das aktuell noch immer nicht sehen konnte. Er war unheimlich froh darüber, dass sich seine Befürchtungen vom Beginn seines Trips nicht bewahrheitet hatten. Er hatte beinahe schon damit gerechnet gehabt, dass er nach der Messe einfach nur mit Maximilian zurückfliegen und einen endgültigen Schlussstrich unter seine Zeit in Japan ziehen würde. Auf einen richtigen Neuanfang hatte er nicht zu hoffen gewagt, auch wenn er sich genau das mehr als alles andere gewünscht hatte. Ihm war durchaus bewusst, dass eine harte Zeit vor ihnen beiden lag, aber es war, wie er es gesagt hatte: Manche Dinge waren eindeutig jedes Warten und jede Mühe wert. Und das hier war eins dieser Dinge, dessen war er sich absolut sicher. "Aber vielleicht sollten wir langsam gehen. Nicht, dass gleich tatsächlich noch die Feuerwehr auftaucht und uns hier so findet." Der eindeutig amüsierte Unterton in der Stimme des Schwarzhaarigen entlockte auch Seto ein Schmunzeln. "Du hast Recht", stimmte er zu, zog Duke von der Tür weg und öffnete diese, um die Halle endlich zu verlassen. So langsam wurde es doch ziemlich kühl in den klatschnassen Sachen. Höchste Zeit, für sie beide etwas Trockenes zum Wechseln zu organisieren. Allerdings hatte Seto ganz und gar nicht vor, Duke jetzt, wo alles zwischen ihnen geklärt war, wieder aus den Augen zu lassen, denn er hatte schon viel zu viel Zeit ohne ihn verbracht. Aus diesem Grund griff er auf dem Flur nach der Hand des Schwarzhaarigen, verschränkte seine Finger mit den seinen und zog dann, das Kribbeln, das seinen Körper erfasste, ignorierend, sein Handy aus seiner Manteltasche. Etwas verwundert registrierte er, dass das Gerät ausgeschaltet war, aber bei der unfreiwilligen Dusche, die ihnen in der Halle zuteil geworden war, war das wohl auch besser so. Seto sah den Schwarzhaarigen nicht an, während er das Handy einschaltete und, sobald das Gerät bereit war, Roland anrief und ihn instruierte, sie beide vom Messegelände abzuholen. Duke, der im ersten Moment etwas überrumpelt gewesen war davon, dass Seto einfach so seine Hand nahm und ihn daran mit sich zog, schmunzelte, als er das Gespräch mitanhörte. Eigentlich, sinnierte er, hätte er es ja wissen müssen. Wenn Seto Kaiba sich einmal für etwas entschied, dann stand er auch dazu. Und da Seto sich vorhin zu ihm und dem, was zwischen ihnen war, bekannt hatte – ›Mit allen Konsequenzen‹, erinnerte der Schwarzhaarige sich mit flatterndem Herzen –, war es eigentlich ganz und gar nicht verwunderlich, dass er sich jetzt auch keinerlei Zurückhaltung mehr auferlegte. Aber da es das war, was er selbst gewollt hatte, unternahm Duke nichts gegen die Hand, die seine hielt. Warum hätte er das auch tun sollen? Er trat einfach nur gemeinsam mit Seto auf den vor der Messehalle gelegenen Platz, auf dem es mittlerweile tatsächlich von Einsatzkräften der Feuerwehr nur so wimmelte. Allerdings schienen sie keinen wirklichen Brandherd gefunden zu haben. Also wohl nur ein falscher Alarm. Dass dieser von einer ganz bestimmten, ihm selbst nur zu bekannten Person remote verursacht worden war, konnte Duke zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. Wie nicht anders erwartet, benötigte Roland nach dem Anruf kaum zehn Minuten, um das Messegelände zu erreichen. Glücklicherweise herrschte bei seiner Ankunft noch immer genug Chaos, so dass weder Seto noch Duke großartig auffielen. Niemand bemerkte, dass die beiden vielleicht ein bisschen zu nah beieinander standen und dass sich nicht nur ihre Hände noch immer berührten, sondern inzwischen auch ihre Schultern. Es war zum Glück nicht wirklich kalt hier draußen vor der Halle, so dass keiner der beiden fror – trotz der noch immer nassen Kleidung, die sie trugen. Wie er es schon sein ganzes Leben lang gewohnt war, verzog Roland bei dem Anblick, der sich ihm beim Erreichen des Messegeländes bot, weder eine Miene noch gab er einen Kommentar ab. Er stieg einfach nur aus, öffnete die hintere Tür des Bentleys, den er auf Anraten Master Mokubas statt der üblichen und doch sehr auffälligen kaibaschen Limousine gewählt hatte – offenbar hatte Master Mokuba zumindest geahnt, was hier geschehen war –, für seinen Arbeitgeber und dessen Gast. Sobald die beiden im Fond des Wagens Platz genommen hatten, nahm Roland den Fahrersitz wieder ein. Ein kurzer, durch seine Sonnenbrille versteckter Blick zeigte ihm deutlich, dass Master Kaiba und Master Devlin beide nicht nur vollkommen durchnässt waren, sondern auch dass sie noch immer ihre Finger miteinander verschränkt hatten. Aber, dachte Roland bei sich, während er ohne ein Wort zu verlieren den Wagen startete, das ging ihn ja eigentlich ganz und gar nichts an. Die Fahrt zur Villa verlief schweigend, aber es war kein unangenehmes Schweigen. Fürs Erste war alles gesagt, was es zu sagen gab. Es bestand also keine Notwendigkeit, jetzt noch irgendetwas zu zerreden. Und die Tatsache, dass er beständig den Druck von Dukes Fingern an seinen spürte, zeigte Seto deutlicher als alle Worte der Welt, dass er das Richtige getan hatte. ›So hätte es eigentlich von Anfang an sein sollen‹, sinnierte er, schob diesen Gedanken jedoch gleich beiseite. Er konnte die Vergangenheit nicht mehr ändern. Aber, das zeigte ihm ein kurzer Seitenblick, das musste er auch nicht. Die Zukunft – seine Zukunft – war schließlich jetzt und hier bei ihm. Was wollte er mehr? Seto schreckte erst wieder aus seinen – für seine Verhältnisse zugegebenermaßen ungewohnt kitschigen – Gedanken auf, als Roland den Wagen zum Stehen brachte und die hintere Tür für Duke und ihn öffnete. "Ich denke, wir sollten erst mal …", begann der Brünette, sobald er die Tür der Villa geöffnet und seinen Begleiter ins Innere gezogen hatte. Bevor er jedoch dazu kam, seinen Satz zu beenden, erschien Mokuba im Flur und Seto stoppte mitten in der Bewegung. Mit seinem Bruder hatte er nicht gerechnet. Wenn er ganz ehrlich war, hatte er gerade, wohl zum allerersten Mal in seinem Leben, keinen einzigen Gedanken an ihn verschwendet. "Also habt ihr euch ausgesprochen?", brach Mokuba mit seiner Frage in Setos Gefühlschaos ein. Der Brünette räusperte sich, aber ehe er zu einer Antwort ansetzen konnte, kam Duke ihm zuvor. "So könnte man das nennen, ja", erwiderte er auf Mokubas Frage und in dessen graublauen Augen blitzte eine Spur Triumph auf – eine Reaktion, die Seto stutzig machte. Ja, sicher, Mokuba hatte ihn förmlich zu dieser Aussprache angestiftet, aber er sah doch ein bisschen zu zufrieden von dem Ergebnis aus. Ob, fragte Seto sich unwillkürlich, sein Bruder vielleicht etwas mit dieser unfreiwilligen Dusche zu tun hatte, die Duke, er und auch der Rest der Anwesenden abbekommen hatten? Hätte sein großer Bruder diese Frage tatsächlich laut ausgesprochen, hätte Mokuba ihm problemlos erklären können, dass er zwar nicht derjenige gewesen war, der den Brandschutz getriggert hatte, dass er aber sehr wohl darüber im Bilde war, wer das getan hatte. Immerhin hatte Pegasus ihn kurz nach seiner Heimkehr telefonisch über das informiert, was er geplant hatte. Und, stellte Mokuba zufrieden fest, ganz offensichtlich war der Plan des Silberhaarigen ja ein voller Erfolg gewesen. Und er hatte nicht einmal gelogen. Es war bei dieser Aktion definitiv niemand zu Schaden gekommen, das hatte Mokuba mit einem knappen Anruf beim Veranstalter in Erfahrung gebracht. Es waren ohnehin nur noch wenige Personen anwesend gewesen und sie waren zwar alle nass und etwas erschrocken, aber dennoch unverletzt evakuiert worden. Allerdings war aufgrund des Wasserschadens und der notwendigen Aufräumarbeiten der letzte Tag der Messe ersatzlos gestrichen worden – etwas, was sein großer Bruder noch gar nicht wissen konnte. Aber, beschloss Mokuba mit einem Blick auf die klatschnasse Kleidung der beiden vor ihm, diese Information konnte er ihnen auch später noch zukommen lassen. "Ich glaube, ihr solltet erst mal duschen und euch aufwärmen gehen." Mokubas Vorschlag war durchaus vernünftig, daher beschloss Seto, sämtliche Fragen, die er selbst bezüglich der Möglichkeit hatte, dass sein Bruder bei dem Feueralarm die Finger im Spiel gehabt haben mochte, auf später zu verschieben. Trockene Kleidung klang in seinen Ohren ungemein verlockend, denn so langsam wurde es in den nassen Sachen doch etwas unangenehm. "Ihr könnt ja schon mal raufgehen, Seto. Ich bring für Duke gleich was zum Anziehen von mir rüber. Deine Sachen sind ihm definitiv zu groß." Mit diesen Worten scheuchte Mokuba seinen Bruder und dessen nicht-mehr-Exfreund die Treppe nach oben in Richtung von Setos Schlafzimmer. Er selbst machte sich auf den Weg in sein eigenes Zimmer, suchte kurz in seinem Kleiderschrank und ging dann zum Zimmer seines Bruders. Dort klopfte er an, bekam aber, wie er beinahe schon erwartet hatte, keine Antwort. Vorsichtig steckte Mokuba seinen Kopf in den Raum, aber dieser war komplett leer. Einzig die Spur aus nasser Kleidung, die von Setos Zimmertür bis zu seinem Badezimmer führte, dokumentierte, dass dem wohl erst seit kurzem so war. Das Chaos kommentierte der Neunzehnjährige nur mit einem Kopfschütteln, das auch dazu dienen sollte, die Gedanken an das, was da im Bad wohl gerade passierte, zu verdrängen. Das waren Dinge, über die er definitiv nicht nachdenken wollte, also deponierte er einfach nur die Kleidung für Duke am Fußende von Setos Bett und zog dann ungehört die Zimmertür seines Bruders wieder hinter sich zu. Miteinander darüber reden, was für Konsequenzen die Aussprache, die sein großer Bruder offenbar mehr als erfolgreich hinter sich gebracht hatte, für sie alle haben würde, konnten sie auch später noch. Seto und Duke hatten vier Jahre aufeinander gewartet. Da konnte er selbst sich ja wohl problemlos ein paar Stunden gedulden, bis sein Bruder und dessen Freund sich irgendwann zu ihm gesellen würden. Daran, dass sie später vielleicht noch mit Mokuba reden sollten, verschwendete Seto im Augenblick nicht einen Gedanken. Er hatte kurzzeitig darüber nachgedacht, ob es nicht besser wäre, Duke lieber ins Gästebad zu schicken, aber das ihm nur allzu bekannte Funkeln in den grünen Augen des Schwarzhaarigen hatte diesen Plan sehr effektiv vereitelt. Ohne ein Wort zu verlieren, hatte Seto ihn daher einfach nur in sein Schlafzimmer geschoben. Und kaum dass die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, waren Worte endgültig nicht mehr nötig gewesen. Vier endlos lange Jahre des Wartens fanden endlich ein Ende. Mit fliegenden Fingern befreiten sie sich gegenseitig von ihrer nassen Kleidung, ließen diese einfach an Ort und Stelle fallen und verschwanden dann unter atemlosen Küssen gemeinsam in Setos Badezimmer. Vergessen waren die nassen Sachen auf dem Boden oder das, was, aller Voraussicht nach, auf sie zukommen würde, wenn erst einmal bekannt wurde, was sie miteinander verband. Jetzt gerade zählte für Seto nichts außer sich jeden Millimeter des Körpers, den er so gut kannte und den er so lange hatte vermissen müssen, wieder in Erinnerung zu rufen und die letzten vier Jahre einfach auszulöschen. Alles andere – seine Firma, sein Bruder, die Spielemesse, Pegasus – konnte warten. Wie viel Zeit letztendlich wirklich vergangen war, bis sie, noch immer atemlos und berauscht, das Bad wieder verließen und ins Schlafzimmer zurückkehrten, hätte Seto nicht sagen können. Ihre nasse Kleidung lag noch immer dort, wo sie sie ›verloren‹ hatten, und Duke lachte leise, ehe er sich, nachdem er die von Mokuba bereitgelegte Kleidung übergezogen hatte, daran machte, die Sachen aufzuheben, damit sie sie endlich aufhängen konnten. Seto beobachtete ihn dabei und die Selbstverständlichkeit, mit der Duke sich in seinem Schlafzimmer bewegte, obwohl er heute zum allerersten Mal hier war, entlockte ihm ein Lächeln. Ganz genau das hatte er sich auch früher schon ausgemalt, aber er hatte nie daran zu glauben gewagt, dass es einmal Wirklichkeit werden würde. "Meinst du, wir sollten jetzt noch mit Mokuba sprechen?", riss Duke ihn aus seinen Gedanken und Seto warf einen kurzen Blick auf seinen Wecker, ehe er den Kopf schüttelte. "Ich denke, dafür ist es zu spät. Er schläft sicher schon", vermutete er, denn es war inzwischen bereits deutlich nach zwei Uhr morgens. War es wirklich schon mehr als drei Stunden her, seit sie beide gemeinsam hergekommen und unter der Dusche verschwunden waren? So lange war es ihm gar nicht erschienen. Aber, fragte Seto sich, als sein Blick wieder auf Duke fiel, spielte die Zeit wirklich eine Rolle? "Dann sollten wir vielleicht auch schlafen", schlug Duke leise vor. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, dass die Spielemesse nach allem, was passiert war, planmäßig weitergehen würde, aber man konnte ja nie wissen. Außerdem würde zumindest Seto doch sicher in ein paar Stunden wieder aufstehen und zur Firma fahren müssen. Er selbst hatte zwar noch etwas Schonfrist – immerhin ging sein Rückflug erst in zwei Tagen –, aber trotzdem würden ein paar Stunden Schlaf auch ihm sicher nicht schaden. "Sollten wir wohl", stimmte Seto zu, trat zu dem Schwarzhaarigen und nahm ihm erst mal die nassen Sachen ab, die er immer noch in der Hand hielt. Er brachte diese eben ins Bad, hängte sie auf und als er in sein Schlafzimmer zurückkehrte, fand er Duke auf der Bettkante sitzend vor. Seine langen schwarzen Haare fielen ihm wie bereits im Bad immer noch offen über die Schultern – ein Anblick, an dem Seto sich schon früher kaum hatte sattsehen können. Und, stellte er fest, daran hatte sich nicht das Geringste geändert. "Bleib heute Nacht bei mir", bat er daher leise, denn genau das war es, was er sich mehr als alles andere wünschte: neben Duke einzuschlafen und auch wieder neben ihm aufzuwachen. Die grünen Augen, die ihn mit einer Mischung aus Amüsement und der gleichen Zärtlichkeit, die schon früher in solchen Situationen immer in ihnen zu erkennen gewesen war, beobachteten, bestätigten für Seto nur noch einmal, dass das hier einfach richtig war – vollkommen egal, was der Rest der Welt auch dazu sagen mochte. Und als Duke anstelle einer verbalen Antwort einfach nur die Hand nach ihm ausstreckte, ihn zu sich und in einen weiteren sanften, verspielten Kuss zog, erlosch endgültig auch noch der letzte Zweifel, den er gefühlt haben mochte. Nein, etwas, was sich so richtig anfühlte, konnte definitiv nicht falsch sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)