Mesmerize Me! von Sky- (The Play of Snake and Lion) ================================================================================ Kapitel 30: Der Plan -------------------- „Und da sah er einen Schädel auf dem Wasser treiben, redete er ihn an und sprach: Weil du ertränkt hast, ertränke man dich, und die dich ertränkten, werden ertrinken.“ Talmud Sam befand sich wie in einer Art apathischen Zustand, in der die Geschehnisse einfach an ihm vorbeirauschten, ohne dass er sie wirklich direkt wahrnahm. Die Beerdigung war ihm so unwirklich vorgekommen, als wäre dies gar nicht real, sondern eine düstere Theateraufführung, in der er mittendrin war. Die Worte des Pfarrers, der ein paar tröstende Worte aus der Bibel zitierte, klangen wie aus einer weiten Ferne und die ganze Zeit starrte Sam auf die Grabsteine, auf denen die Namen der jüngst Verstorbenen standen. Asha Luan, Yin Wong, Christine Cunningham und Sergej Camorra. Es waren erstaunlich viele zur Beerdigung gekommen, wahrscheinlich aber deswegen, weil sie dem Patriarchen die Ehre erweisen wollten. Der Sohn war anwesend und nahm die Beileidsbekundungen mit einer erschreckenden Fassung entgegen, so als wäre er längst darauf vorbereitet gewesen, was geschehen würde. Die Verlobte des Patriarchen, die eine hübsche Frau mit roten Locken war, weinte schluchzend in ihr Taschentuch und litt wohl am meisten. Zumindest war es ihr am deutlichsten anzusehen, wie sehr dieser Verlust sie traf. Doch Sam wusste, dass Araphel, obwohl sein Gesicht unbewegt blieb, wohl am meisten von allen Anwesenden litt. Er hatte den wohl schlimmsten Verlust erlitten, nachdem er schon seine Adoptivfamilie und seine Schwester verlor. Sergej, der für ihn wie eine Art zweiter Vater war, starb durch dieselbe Hand, die jene Frau getötet hatte, die für ihn wie eine Schwester war. Seit er Christines Leichnam im Operationssaal gesehen hatte und weinend zusammengebrochen war, war er nicht mehr derselbe. Etwas in ihm war zerbrochen und er war kraftlos geworden. Seine Augen wirkten leer und hoffnungslos, er trank viel und weinte. Sam war der Einzige, der dann bei ihm war, denn sowohl Morphius als auch Dr. Heian respektierten Araphels Wunsch, dass niemand ihn so schwach erleben durfte. Das hätte es nur noch schlimmer gemacht. Sam selbst hatte nicht getrauert. Er hatte es sich nicht gestattet zu trauern, denn wenn er nicht stark für Araphel war, wer war es dann? Araphel war die ganze Zeit stark für sie alle gewesen, um gegen ein Monster anzukämpfen, das ihr aller Leben bedrohte. Er hatte zu viel erleiden müssen, als dass er noch länger kämpfen konnte. Nach Christines Tod war wirklich alles über ihn hereingebrochen und damit auch wieder der Schmerz, den er vor vier Jahren zuletzt empfunden hatte, als Ahava sich für den Selbstmord entschieden hatte. Sam dachte immer wieder daran zurück, dass Christine ihn gerettet hatte, als er fast an seinem Asthmaanfall gestorben wäre. Sie, die grausam zugerichtet worden war, hatte dennoch die Kraft aufgebracht, um ihn zu beschützen, weil sie wusste, dass es Araphel endgültig getötet hätte, wenn er den Menschen verloren hätte, den er noch mehr liebte als er seine Schwester geliebt hatte. Sie hatte den Tod in Kauf genommen, weil sie darin die einzige Möglichkeit sah, um Araphel vor den endgültigen Zusammenbruch zu bewahren. Als die Beerdigung vorbei war, kehrten sie schweigend wieder in die Villa zurück. Dr. Heian sah niedergeschlagen aus, Morphius hatte seinerseits den Hut so heruntergezogen, dass niemand sein Gesicht sah. Wahrscheinlich wollte er auch nicht, dass man ihm seine Trauer ansah. Als sie wieder zurück in die Villa fuhren, saßen sie am Tisch und aßen schweigend zu Mittag. Es war zu ruhig. Es fehlte diese fröhliche und leichtherzige Unbeschwertheit, die lauten Stimmen, das Gelächter und der Humor. Diese Stille schnürte Sam die Brust zu. Sie war viel schlimmer als die bedrückten Gespräche und es war einfach unerträglich. Vor allem, weil diese Stille ihn unerbittlich in die harte und grausame Realität zurückwarf. Nach dem Essen verschwand Araphel in sein Büro, da er nachher geschäftliche Gespräche mit Victor Camorra hatte, der nun die Nachfolge des seligen Sergej Camorra übernommen hatte. Und da er niemanden sehen wollte, streifte Sam alleine durchs Haus und ging schließlich in die Werkstatt. Er schaltete das Licht an und sah die Autos da stehen. Der leuchtend rot lackierte 58er Plymouth Fury wie aus Stephen Kings Roman, der schwarze 54er Hudson Hornet und der Rolls Royce, der noch nicht fertig restauriert war. Für einen Moment war ihm, als würde er das Geräusch der Schraubenschlüssel hören, den Lärm der Maschinen Christines laute Stimme, die versuchte, den Lärm zu übertönen. Er war immer gerne in die Werkstatt gegangen, wenn Araphel keine Zeit hatte. Sie war der lebhafteste Ort in der gesamten Villa und er hatte nicht selten Spaß mit den anderen gehabt. Als er sich an das Steuer des Furys setzte, tauchten all die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Christine, Asha und Yin vor seinem geistigen Auge auf. Wie sie abends gepokert und gemeinsam Restaurationen durchgeführt hatten. Wie Asha in seiner ungeschickten Art und Weise immer irgendetwas fallen ließ und Christine ihn daraufhin neckte. Das Gelächter, die Witze… Christines Lächeln und ihre feuerroten Haare. Ihre lebhafte und direkte Art, ihre gelegentlichen Wutausbrüche, wo sie dann ihre Schraubenschlüssel durch die Gegend warf. Das alles würde er nie wieder miterleben. Stattdessen würde die Werkstatt leer bleiben, die drei Oldtimer verstauben und verrosten. Nie wieder würde er zusammen mit den dreien Poker spielen, mit ihnen lachen und von Christine erfahren, was für Tricks man anwenden konnte, wenn der Motor versagen sollte. Er würde nie wieder unter ihrer Anleitung Sachen ausbauen und nie wieder ihre Geschichten hören können. Als er tief einatmete und sogar noch Christines Parfüm wahrnehmen konnte, da schnürte sich seine Brust schmerzhaft zusammen und mit einem Mal überkam ihn tiefste Verzweiflung. Sein Körper zitterte und ungehindert flossen Tränen seine Wangen hinunter. Mit einem Mal brachen all die Gefühle, die er mit eiserner Willenskraft und Entschlossenheit zurückgehalten hatte, über ihn herein. Er konnte nicht aufhören, selbst wenn er gewollt hätte. Mit einem Mal war dieser gewaltige Damm gebrochen und wie eine gewaltige Flut war die Trauer über ihn hereingebrochen. Er hielt das Lenkrad fest, legte den Kopf darauf und schluchzte. Warum nur, fragte er sich in diesem Moment. Warum nur hatte er nichts tun können, um das zu verhindern? Wieso hatte er es nicht geschafft, sie zu retten? So ein Ende hatte sie einfach nicht verdient, Asha und Yin genauso wenig. Welcher Wahnsinn war nötig gewesen, um so viele Leben einzufordern? Hätte er rechtzeitig gemerkt, dass es eine Falle war. Es war so verdammt offensichtlich gewesen und trotzdem hatte er keinen Verdacht geschöpft, weil er sich zu sicher gefühlt hatte. Er war Detektiv, er hätte es merken müssen! Wenn er aufgepasst hätte, dann hätte es nicht passieren müssen und dann wären Christine und die anderen noch am Leben. Genauso wie sein Bruder noch am Leben wäre, wenn er ihn nicht zur Rede gestellt hätte. Es war allein seine Schuld… Araphel hatte seine ganze Willenskraft zusammengenommen, um sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. Schwäche zu zeigen war in seinen Augen undenkbar. Niemand hätte ihn in einem trauernden Zustand sehen dürfen und dass Sam ihn so schwach erlebt hatte, blieb die einzige Ausnahme. Als Victor Camorra hereinkam, hatte dieser den ernsten und sachlichen Gesichtsausdruck eines Staatsanwalts, auch wenn er noch sehr jung war. Doch das täuschte, denn Araphel hatte erlebt, dass Victor trotz seines jungen Alters überaus intelligent war und mit Ernst die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte. Der Händedruck war fest und sogleich begaben sie sich in eines der Besprechungszimmer, wo sie Platz nahmen. Victor rückte seine Brille zurecht und als Araphel ihm sein Beileid ausdrückte, schüttelte dieser nur den Kopf und erklärte „Wir haben beide einen Vater verloren.“ Der 31-jährige nickte und für einen kurzen Augenblick wich sein düsterer Gesichtsausdruck einem traurigen Glanz, der Victor durchaus nicht verborgen blieb. Doch er sagte nichts und tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Er trank einen Schluck Kaffee, der serviert worden war und kam dann auf das Wesentliche zu sprechen. Anders als sein seliger Vater zählte er nicht sonderlich zu den redseligen Menschen, die sich durch eine außerordentliche Redegewandtheit und den verbundenen Charme eines erfahrenen und kulant wirkenden Geschäftsmannes auszeichnete. Nein, er war von einer wesentlich ernsteren Natur, wirkte entschlossener und strahlte Professionalität, fast schon verbissenen Ehrgeiz und die kalte Strenge eines Staatsanwalts aus. Er war vollkommen anders als sein Vater, was nicht unbedingt zum Nachteil war. „Wie du ja weißt, habe ich die Nachfolge als Boss der Camorra-Familie übernommen und ich bin deshalb zu dir gekommen, weil sich gewisse Dinge mit dem Tod meines Vaters geändert haben.“ „Soso“, murmelte Araphel. „Und welche Dinge wären das?“ „Der Tod meines Vaters war ein persönliches Motiv von Shen“, erklärte Victor und er sprach so kühl und sachlich darüber, als hätte diese Geschichte rein gar nichts mit ihm zu tun, was aber nichts heißen mochte. Denn Victor ähnelte Araphel genauso in der Ansicht, dass er sich seine persönlichen Gefühle nicht anmerken ließ. Doch er schaffte es wesentlich besser, weil er gewusst hatte, was passieren würde. „Mein Vater hatte Geschäfte mit ihm und die Tötung eines wichtigen Geschäftspartners fällt nicht in die geschäftlichen Begründungen. Er wusste, dass Shen die Mafia nur für sein persönliches Vergnügen benutzt, weil sie ein guter Deckmantel ist, um seinem Sadismus zu frönen. Es gibt genug Indizien und Beweise, die klar belegen, dass Shen ein berechnender Psychopath ist und als solcher eine ernsthafte Bedrohung für unser Geschäft darstellt. Mein Vater hat davon gewusst und er hat ebenso gewusst, dass die Mason-Familie alleine keine Chance gegen ihn hat. Aus diesem Grund hat er einen Plan geschmiedet, um beide großen Familien auf legitime Weise zu vereinen. Aus diesem Grund ist er alleine zu dem Treffen gegangen.“ Araphel zog die Augenbrauen zusammen, als er das hörte und ein schlimmer Verdacht überkam ihn. „Soll das etwa heißen…“ Victor nickte. „Er hat sich wissentlich töten lassen, weil dies der einzige Weg war, dass wir uns gegen Shen verbünden können. Denn die Gesetze der Vendetta sind eindeutig. Die Camorra-Familie wird an ihm Rache nehmen für den Mord an meinen Vater und du wirst Rache für den Mord an deiner Schwester nehmen.“ „Warum?“ fragte Araphel und verlor fast die Fassung als er hörte, was Sergej für ihn getan hatte. „Warum ist er so weit gegangen?“ „Er war schwer krank“, gestand Victor und senkte unmerklich ein wenig den Blick. „Krank? Was hatte er?“ „Er hatte Lungenkrebs im Endstadium“, erklärte der junge Anwalt. „Er hatte nur noch wenige Monate zum Leben. Darum ist er auch diesen Schritt gegangen. Hätte er sich schon viel früher mit der Mason-Familie gegen die Yanjingshe verbündet, dann wäre nicht nur sein Leben, sondern auch meines und das meiner Stiefschwester in Gefahr gewesen. Aus diesem Grund hat er arrangiert, dass sie im Ausland studiert, damit sie in Sicherheit ist. Er hat dich vorsorglich im Unwissen gelassen, weil er genau wusste, dass du ihn aufhalten würdest. Und er bat mich auch, die jegliche Hilfe an die Hand zu geben, die du brauchen wirst.“ Araphel schüttelte den Kopf und konnte es einfach nicht glauben, dass Sergej das alles getan hatte. Dieser verdammte Idiot, dachte er und biss sich auf die Unterlippe. Selbst nach seinem Tod muss er sich noch um mich kümmern, indem er Victor mit der Aufgabe betraut, mir zu helfen. Ein trauriges Lächeln zog sich über seine Lippen. „Das sieht ihm ähnlich, dass er sogar seinen eigenen Tod genauestens durchplant.“ „Und nicht nur das“, fuhr Victor fort. „Er gab mir genaue Anweisungen, wie wir gegen Shen vorgehen sollen und wie wir der Yanjingshe erheblichen Schaden zufügen können. Er nannte diese Operation das Corleone-Manöver. Allerdings lässt sich dies nur durchführen, wenn wir zusammenarbeiten und als ein Team agieren. Ich werde dir den Plan in aller Ruhe und Ausführlichkeit erläutern und dann schlage ich vor, dass wir uns eine Strategie zurechtlegen.“ „Corleone-Manöver“, murmelte Araphel und dachte nach. Der Begriff sagte ihm was. Es war eine Taktik, die auch schon sein Adoptivvater angewandt hatte. Sie war überaus effektiv, erforderte aber eine absolut minutiös genaue Planung. Namensgeber war die Figur des Michael Corleone aus dem Film „Der Pate“. Als dieser nach dem Tod seines Vaters zum Gegenschlag gegen seine Feinde ausholte, ließ er die Oberhäupter der anderen Familien zeitgleich hinrichten, während er selbst der Taufe seines Neffen beiwohnte. Das Corleone-Manöver bedeutete also: an mehreren Orten zur gleichen Zeit zuschlagen und den damit verbundenen Überraschungseffekt für sich nutzen. Diese Strategie hatte den Vorteil, dass sich die Erfolgsrate erhöhte, wenn an verschiedenen Orten gleichzeitig zugeschlagen wurde. Dem Feind blieben dann keine Möglichkeiten, Alarm zu geben. Voraussetzung war allerdings eine perfekte Planung und dass der Plan nicht aufflog. Denn dann war alles zum Scheitern verurteilt. Araphel ging alle Möglichkeiten durch und schöpfte neuen Mut. Allein der Gedanke daran, dass sie mithilfe des Corleone-Manövers tatsächlich eine Chance hatten, Shen einen erheblichen Schlag zu versetzen, ließ ihn wieder hoffen und ließ ihn seine Trauer für eine Weile vergessen. Er war wieder voller Tatendrang und wollte alles Menschenmögliche tun, um diesen Plan erfolgreich durchzuführen. Das Corleone-Manöver war natürlich sehr riskant, aber Shen würde garantiert nicht damit rechnen, dass sie so eine Strategie ausführten. Er konnte höchstens voraussehen, dass sich die Camorra-Familie und die Mason-Familie gegen ihn verbündeten, um gemeinsam eine Vendetta durchzuführen. „Also gut, dann brauchen wir die Namen aller wichtigen Mitglieder der Yanjingshe in Boston. Wenn wir uns mit den kleinen Fischen aufhalten, ist der Plan für die Katz. Wenn wir die führenden Unterbosse ausschalten, während wir selber Shen stellen, wird die Ordnung innerhalb der Triade zerfallen und wir haben den Überraschungseffekt auf unserer Seite.“ „Ich habe schon vorgesorgt“, erklärte Victor und holte eine Liste mit Namen heraus. „Das sind die Namen der wichtigsten Mitglieder der Triade hier in Boston, deren Tod uns einen strategischen Vorteil verschaffen könnte. Darunter sind Shens Berater, die Unterbosse sowie Stellvertreter, die einen großen Einfluss haben. Was wir auch tun könnten, wäre, diese „Warenhäuser“ zu finden, wo der Slave Shipping Service die Sexsklaven hält. Das wird ihm einen zusätzlichen Schlag versetzen und die Triade wird einen beträchtlichen Teil ihres Einflusses einbüßen.“ Araphel nickte und dachte darüber nach. „Ich glaube, es ist besser, wenn wir diesen Teil Sam überlassen.“ „Sam?“ „Der Detektiv Sam Leens, den ich entführt hatte. Inzwischen konnte ich ihn überzeugen, uns gegen Shen zu helfen und er hat momentan wichtige Kontakte zu den besten Informanten. Ich denke, dass es vorteilhafter wäre, wenn sich die Cops um diese Warenhäuser kümmert. Auf diese Weise konzentrieren sich die nämlich verstärkt auf die Triade. Ja ich weiß, es gehört zu unseren Gesetzen, keine gemeinsame Sache mit Cops zu machen. Aber wir könnten sie zumindest nutzen, um der Yanjingshe nachhaltig das Leben in Boston schwer zu machen. Denn wenn sich die Polizei und vielleicht auch noch das FBI auf diesen Fall einschießen, dann wird die Triade kaum noch eine ruhige Minute haben.“ Doch Victor schien immer noch ein wenig skeptisch, was aber an etwas anderem lag. „Du willst also einen Schnüffler in unsere Pläne einweihen?“ „Nein, er wird von unserem Plan nicht das Geringste erfahren. Glaub mir, ich krieg ihn schon rum, dass er sich um diese Sache kümmert, ohne großartig Fragen zu stellen. Inzwischen habe ich ihn ziemlich gut im Griff, dass er bei sämtlichen Kommandos gleich kuscht. Er vertraut mir und da er selbst in den Fängen der Triade war, wird er ebenfalls großes Interesse daran haben, bei der Zerschlagung der Bostoner Yanjingshe zu helfen. Glaub mir ruhig, mir wird er blind vertrauen. Ich brauche ihn nur in dem Glauben zu lassen, dass ich ihm ohne Hintergedanken helfe, dann wird er es tun ohne Fragen zu stellen.“ „Du bist ganz schön abgebrüht“, bemerkte Victor mit einem etwas ironisch andeutenden Lächeln. „Du benutzt seine Gefühle zu deinen Vorteilen.“ „Es ist besser für alle Beteiligten. Ich habe schon genug Verluste gemacht, als dass ich noch in irgendeiner Art und Weise Rücksicht walten lassen könnte. Sam kann eine nützliche Schachfigur in unserem Spiel sein, wenn er nur den richtigen Ansprechpartner bekommt. Fakt ist, dass er die Mafia hasst und sowohl sein Vater als auch sein Bruder wurden von Shens Leuten getötet. Sein naiver Sinn für Gerechtigkeit ist genau das, was wir brauchen, um die Warenhäuser ein für alle Male dichtzumachen.“ Damit schien Victor nun überzeugt zu sein. Er war einverstanden mit diesem Plan und begann sich sogleich Notizen zu machen. Auf Araphels Frage hin, was er sich da notiere, antwortete der Jung-Anwalt „Ich mache mir Notizen zu unserem Vorgehen. Keine Sorge, der Text codiert. Weißt du, mein Vater hat mir viel über die Gesetze der Mafia beigebracht, die Vorangehensweise der Familien und auch was die Vendetta betrifft. Eine Vendetta ist nicht nur ein Racheakt, sie dient auch der Wiederherstellung der Ehre einer Familie, die sich behaupten muss. Die Tötung eines Oberhauptes bedeutet immer eine Schmach für die jeweilige Familie und um ihr Ansehen wiederherzustellen, begeht sie Rache in Form einer Vendetta. Allerdings ist das Fatale daran, dass es in einen Teufelskreis hineinsteuert. Denn wer eine Vendetta begeht, wird daraufhin selbst zum Opfer einer Vendetta. Mein Vater wusste das und hat mir alles erzählt, was er wusste oder zumindest geahnt hat, was Shens Pläne betrifft.“ „Was für Pläne?“ „Es geht ihm nicht darum, seine Macht in Boston zu festigen, sondern sich persönlich einen Namen zu machen. Shen ist nicht nur ein sadistischer Psychopath, sondern auch extrem narzisstisch. Er hält sich für unantastbar und allen anderen überlegen. Psychopathen wie er suchen die Aufmerksamkeit und wollen in die Geschichte eingehen, weil sie sich für mächtiger halten als andere. Sie wollen unsterblich werden und darum suchen sie für gewöhnlich Kontakt zur Polizei, um das Gefühl der Macht auszukosten und sich überlegen zu fühlen. Shen hingegen nutzt dafür die Mafia. Er kennt die Gesetze der Vendetta bestens und er weiß, dass im Falle seines Todes der Krieg zwischen den Familien endgültig eskalieren wird.“ Araphel starrte Victor mit seinen dunklen Augen an und für einen Moment war etwas wie Schrecken in seinen Augen abzulesen. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. „Dann heißt das also“, murmelte der 31-jährige „Wenn wir Shen töten, wird die Triade in Shanghai auf Rache sinnen und unsere Familien ebenfalls vernichten, um Rache zu nehmen.“ Victor nickte. „Ja, das würde einen internationalen Mafiakrieg bedeuten, der das reinste Blutbad nach sich ziehen wird. Kurzum wird Boston in absehbarer Zeit ein genauso heißes Pflaster werden wie beispielsweise Kolumbien und El Salvador.“ „Das heißt also, wenn wir Shen töten, werden unsere Familien vernichtet werden.“ Araphels Magen drehte sich um, als er daran dachte. Wenn es wirklich so weit kommen sollte, würde nicht nur er sterben, auch Sam, Dr. Heian und Morphius mussten dann daran glauben. Dieser elende Mistkerl Shen nutzte diese Umstände schamlos aus, um sich zu schützen. Mit anderen Worten also: wenn sie Shen töteten, wäre dies auch gleichzeitig ihr eigener Tod und der ihrer Familien. Araphels Hirn begann nun auf Hochtouren zu arbeiten und er durchdachte alles genauestens. Es musste doch einen Weg geben, um eine Vendetta seitens der Yanjingshe zu verhindern. Irgendein toter Winkel in diesem teuflischen Plan. Dass Shen sterben musste, stand ganz außer Frage. Er war viel zu gefährlich, um am Leben zu bleiben. Solange er nicht tot war, würde der Terror sicher nicht aufhören. Nein, er würde nur schlimmer werden und mit jedem Tag wuchsen seine Macht und sein Einfluss. Doch egal wie er es auch drehte und wendete, es gab nur zwei Möglichkeiten, einer Vendetta seitens der Yanjingshe zu entgehen. Erstens: Shen starb eines natürlichen Todes, zweitens: er starb so, dass weder eine Verbindung zu der Mason-Familie oder zur Camorra-Familie hergestellt werden konnte. Nummer eins war ausgeschlossen. Es war höchst unwahrscheinlich, dass Shen so leicht starb und dann noch eines natürlichen Todes. Nein, darauf konnten sie noch lange warten. Und ebenso unwahrscheinlich war es auch, dass die Triade keine Zusammenhänge erkannte. Immerhin hatten sowohl die Camorras als auch die Masons Motive, die nur allzu offensichtlich waren. Und dann gab es noch eine dritte Option: wessen Familie Shen tötete, dessen Oberhaupt musste ebenfalls getötet werden. Denn nur so war ein Ausgleich gewährleistet, der die Gesetze der Vendetta aufhob, weil beide Seiten gleichermaßen Verluste gemacht hatten. Hieß also im Klartext: entweder Victor oder Araphel würden bei der Ausführung der Vendetta mit dem Leben bezahlen müssen. Schlimmstenfalls sogar beide. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)