Erwachen von BloodyRubin (Nichts ist, wie es scheint) ================================================================================ Kapitel 10: Familie ------------------- Diesmal war er nicht voller Angst, als er in dem fensterlosen Raum erwachte. Im Gegenteil, kaum hatte er erkannt, wo er war, begann er, das Zimmer nach der silbernen Feder abzusuchen. Ihn störte es nicht einmal, dass Shin anwesend war und ihn ziemlich verwirrt beobachtete. Erst als er sich sicher war, dass die Feder nirgendwo zu sehen war, bemerkte Kenjiro den Schwarzhaarigen. „Darf ich fragen, was du da tust?“ meinte dieser, als Kenjiro sich entmutigt auf die Liege setzte. „Ich habe nur etwas nachgesehen.“ erwiderte der Braunhaarige knapp. Dann seufzte er auf. „Schön, wenn du es unbedingt wissen willst. Ich habe den Rat erhalten, das luzide Träumen auszuprobieren, damit das alles hier nicht mehr so schlimm für mich ist. Und eigentlich hatte ich gehofft, dass wenigstens das klappt, aber...“ Er sprach nicht weiter, sondern ließ sich nach hinten fallen und starrte an die Decke und überlegte. Warum hatte es nicht funktioniert? Er hatte sich so sehr gewünscht, diese blöde Feder zu sehen, aber anscheinend fehlte ihm die Übung, seine Träume bewusst zu kontrollieren. Ihm wurde eiskalt, als er sich der Bedeutung dieser fehlgeschlagenen Aufgabe bewusst wurde. „Was mache ich denn jetzt?“ murmelte er halblaut. „Ich will diese furchtbaren Dinge nicht mehr sehen. Ich schaffe es einfach nicht mehr. Warum musste ausgerechnet mir das passieren?“ „Fragt sich das nicht jeder, der schlimme Zeiten durchmacht?“ kam es leise von Shin. „Du verstehst das nicht.“ Ohne es zu wollen, war Kenjiros Stimme lauter und wütender geworden. Er richtete sich auf und blickte den anderen an. „Wenn das so weitergeht, verliere ich noch den Verstand. Wie würdest du es finden, wenn du siehst, wie deine Freunde verstümmelt und vergewaltigt werden? Wenn du nichts tun kannst, während du beobachten musst, wie deine Mutter dich immer wieder vergiftet und dein Vater auf dich einprügelt? Wenn sich deine Klassenkameraden in reißende Monster verwandeln und dich bei lebendigem Leib auffressen? Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie das ist. Also komm mir nicht mit irgendwelchen Ratschlägen.“ Shin hatte keinen Versuch unternommen, Kenjiros wütenden Redeschwall zu unterbrechen. Doch gerade als der Braunhaarige wieder loslegen wollte, bemerkte er etwas, dass ihn dazu brachte, leicht zusammenzuzucken. Shin weinte. Tränen rannen ihm über die Wangen und tropften von seinem Kinn auf den Boden. Etwas in Kenjiros Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als er dieses Bild sah. „Es tut mir leid.“ sagte er hastig. „Ich wollte nicht, dass du auch unter meiner Situation leidest. Shin, nicht...“ Er wollte noch mehr sagen, doch bevor er dazu kam, schloss sich die Dunkelheit wieder um ihn und er stürzte in die Leere, bis er sich genau dort wiederfand, wo er es befürchtet hatte. Dieses Mal waren sowohl der Stuhl wie auch die Liege zu erkennen. Auf der Liege lag, gefesselt, bewusstlos und nur in Unterwäsche, Ryo. Er war an eine Maschine angeschlossen, die ein leises Summen von sich gab. Ihm gegenüber saß Taku, ebenfalls gefesselt und versuchte, sich irgendwie zu befreien. Ohne Erfolg. Ryo regte sich schwach und öffnete die Augen. „W-was...? Taku, wo sind wir?“ „Ich weiß es nicht. Geht es dir gut?“ „Nein. Ich will nach Hause. Warum sind wir hier?“ „Damit wir uns ein wenig mit euch beiden amüsieren können.“ drang eine Stimme aus der Schwärze, bei der Kenjiro spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Die beiden Brüder traten in das Licht und grinsten diabolisch. „Was? Wer seid ihr? Was habt ihr mit uns vor?“ „Wenn wir das verraten würden, wäre es ja langweilig.“ antwortete der ältere der beiden und trat an Taku heran, während sein Bruder neben der Maschine stehenblieb, an die Ryo angeschlossen war. „Also, ich erkläre euch, wie unser Spiel funktioniert. Du, Taku, musst versuchen, ruhig zu bleiben, während ich mit dir spiele. Sollte dir das nicht gelingen, passiert deinem Bruder das hier.“ Er nickte dem jüngeren Mann zu, der an einem Knopf der Maschine drehte. Sofort begann Ryo, unkontrolliert zu zucken, was den beiden falschen Ärzten ein Kichern entlockte. „Aufhören!“ rief Taku und riss so heftig an seinen Fesseln, dass die Seile Scheuermarken hinterließen. Kenjiro hatte ihn noch nie so aufgelöst erlebt. Wieder nickte der ältere der Brüder und der andere drehte den Knopf zurück. „Gefällt euch unsere Maschine? Sie gibt Elektrostöße ab, die wir nach Belieben höher oder niedriger einstellen können.“ Ryo wimmerte leise, während Taku sich an seinen Peiniger wandte. „Lasst ihn gehen. Er hat euch doch nichts getan. Tut mit mir, was ihr wollt. Aber bitte, lasst meinen Bruder in Ruhe.“ „Dann würde uns unser Druckmittel fehlen. Und das wollen wir doch nicht.“ Der ältere der Männer beugte sich etwas vor. „Weißt du, Taku, jeder Mensch hat einen Preis. Ich bin wirklich gespannt, wie hoch deiner ist.“ Er richtete sich wieder auf und griff nach dem silbernem Koffer. Kenjiro spürte, wie er langsam in Panik verfiel. Warum konnte er die silberne Feder nicht sehen? Er wollte nicht wissen, was mit Taku passierte, wollte nur noch, dass alles aufhörte. Doch die Bilder vor ihm liefen unerbittlich weiter. Ein Schrei wie von einem verwundeten Tier zerriss die Luft und der Braunhaarige sah, wie Blut aus Takus Mund lief und Ryo erneut zu zucken anfing. Der ältere der falschen Ärzte hatte eine Zange aus dem Koffer genommen und Taku damit einen Zahn herausgerissen. Gleichzeitig hatte der andere wieder den Knopf gedreht. Kenjiro wurde schwindelig vor Übelkeit und Entsetzen. „Du solltest aufhören zu brüllen. Denk immer daran, dass dein Bruder nur deinetwegen die Stromstöße bekommt. Und je lauter du schreist, desto höher wird die Intensität.“ Taku schien das auch bemerkt zu haben, denn sein Schrei wurde leiser und ebbte schließlich ab. Keuchend saß er auf dem Stuhl und blickte zu seinem Bruder, der nicht mehr zuckte, aber begonnen hatte, zu weinen. „Na also, du hast die Regeln verstanden. Wollen wir dann weitermachen?“ Ein zweiter Schrei, noch mehr Blut und Ryo, dessen Körper sich aufbäumte, als die Elektrizität durch seinen Körper fuhr. Mit einem leisen Klackern ließ der ältere der Männer den Zahn in eine kleine Schale fallen, die genau die gleiche silberne Farbe hatte wie der Koffer. Taku war wieder ruhig geworden, doch nun drang Ryos Stimme durch die Schwärze. „Taku...“ Obwohl ihm anzusehen war, dass auch er große Schmerzen hatte, wirkte er entschlossen. „Es ist mir egal, was mit mir passiert. Wenn es die Möglichkeit gibt, dass einer von uns hier rauskommt, dann...“ Ryo stockte kurz. „Dann sollst du derjenige sein, der...“ „NEIN!“ Auch Taku liefen die Tränen über das Gesicht. „Sag so etwas nicht. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir.“ „Du aber auch.“ „Was für eine rührende Szene.“ spottete der jüngere der Brüder. „Nicht wahr, Bruder?“ „Herzerweichend. Aber umsonst. Unser Spiel ist noch nicht vorbei und so lange uns der Spaß nicht ausgeht, wird es auch nicht enden.“ Kenjiro, der sich weder bewegen noch etwas sagen konnte, spürte, wie sich sein Hass auf die beiden falschen Ärzte mit dem Mitleid gegenüber Taku und Ryo vermischte. Den beiden nicht helfen zu können, war schlimmer als alles andere. Doch eigentlich, dachte er dumpf, während die Schreie der beiden Opfer durch das Dunkel hallten, hätte er es besser wissen müssen. Schließlich hatte Izuyas Mutter selber gesagt, dass es normalerweise Jahre brauchte, bis das luzide Träumen Wirkung zeigte. Wie hatte er nur glauben können, dass er es schon in der ersten Nacht funktionierte? Nun, spätestens jetzt rächte sich dieser Glaube. Und so musste er zusehen, wie Taku langsam, aber sicher immer mehr Zähne verlor und wie sein Bruder irgendwann völlig bewegungslos dalag. Ob er ohnmächtig war oder tot, konnte er nicht erkennen, denn die Finsternis kehrte zurück und verschluckte die Szene vor ihm. Und noch während er fiel, fasste er einen Entschluss. Er würde versuchen, seine Träume zu beeinflussen. Egal, wie lange er brauchte, um das Klarträumen zu lernen, er würde erst ruhen, wenn es klappte und er nicht mehr dabei zusehen musste, wie seine Freunde durch die Hölle gingen. Denn sonst, das ahnte er, würde es wohl nie mehr aufhören. 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