Erwachen von BloodyRubin (Nichts ist, wie es scheint) ================================================================================ Kapitel 16: Das Haus der Hoffnung --------------------------------- „Alles hat angefangen, als du zehn Jahre alt warst. Bis zu diesem Zeitpunkt hattest du ein völlig normales Leben. Dein Vater hat gearbeitet und deine Mutter hat sich um dich gekümmert. Mit vier Jahren bist du in den Kindergarten gekommen, mit sieben in die Schule. Und dann kam der Tag, der alles verändert hat. Kurz nach deinem zehnten Geburtstag wurdest du krank. Keine Sache wie Schnupfen oder Halsschmerzen. Du bist einfach mitten im Unterricht zusammengebrochen. Im Krankenhaus wurde dann eine akute Blinddarmentzündung festgestellt. Glücklicherweise konntest du schnell behandelt werden und warst nach einigen Tagen wieder zurück in deiner Wohnung. Der Arzt riet deinen Eltern noch, dich für den Rest der Woche zu Hause zu lassen. Diese haben den Rat natürlich beherzigt, doch etwas hatte sich verändert. Deine Mutter hatte sich wirklich sehr rührend um dich gekümmert und dafür viel Bewunderung von allen Seiten erhalten. Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte deine Mutter wieder das Gefühl, dass ihre Hingabe wirklich gewürdigt wurde. Jedenfalls wollte sie nicht, dass diese Bewunderung aufhörte. Kurz bevor du wieder völlig gesund warst, hat sie daher angefangen, dich krank zu halten. Sie hat etwas entwickelt, was als Helfersyndrom bekannt ist.“ „Was bedeutet das? Und warum hat sie mich dann vergiftet?“ unterbrach Kenjiro den Klinikleiter. „Unter dem Helfersyndrom versteht man den krankhaften Wunsch einer Person, für jemand anderen da sein zu können. Dabei ist es unwichtig, ob die andere Person das will oder nicht. Da du noch so jung warst und deiner Mutter blind vertraut hast, ist es dir natürlich nie in den Sinn gekommen, dass sie dazu fähig wäre, dir etwas anzutun. Und da haben wir den Knackpunkt. Das bedeutet nämlich, sie hat dich vergiftet, um dich weiterhin ans Bett zu fesseln und sich weiter um dich kümmern zu können. Daraus ergab sich, dass alle Mitleid mit ihr hatten, was ihre Krankheit nur noch schlimmer gemacht hat. Dein Vater hat nicht gewusst, was los war. Mit der Zeit wurde er immer mürrischer, da seine Frau ihre ganze Aufmerksamkeit dir geschenkt hat. Irgendwann...hat er begonnen, dich zu hassen. Er dachte, du würdest dich absichtlich krank stellen.“ „Und deswegen hat er damit angefangen, mich zu schlagen.“ sagte der Braunhaarige tonlos. „Ja.“ „Aber warum hat meine Mutter ihn nicht aufgehalten?“ „Weil es ihr den Vorwand geliefert hat, sich noch mehr um dich zu kümmern. Verstehst du, indem dein Vater dich schlug, hat er deine Mutter immer tiefer in ihr Helfersyndrom getrieben. Das Ganze hat sich dann fünf Jahre lang hingezogen. In der Zeit hatte dein Vater seinen Job verloren und deine Mutter war nur noch ein Wrack. Sie hat sich so sehr in ihre Krankheit hineingesteigert, dass sie mehr einem abgezehrtem Gerippe als einer Frau glich. Schließlich beschloss dein Vater, dich loszuwerden. Als es dir wieder einmal besser ging, bestand er darauf, mit dir zum Angeln zu fahren. Das war natürlich gelogen. Trotzdem war deine Mutter eine zu gehorsame Frau, um ihrem Mann zu widersprechen. Also hat sie zugelassen, dass er mit dir in seinem Wagen losgefahren ist. Nachdem ihr eine Weile in der Stadt herumgefahren seid, hat er dich gezwungen, vor dem Waisenhaus auszusteigen. Natürlich hast du es getan. Obwohl du bereits fünfzehn Jahre alt warst, hattest du furchtbare Angst davor, was ansonsten passiert wäre. Schließlich wurde es dunkel und du hattest keine andere Wahl, als das Heim zu betreten. Dort wurdest du von den Mashi-Brüdern empfangen und in ein freies Zimmer gebracht. Anfangs war alles noch in Ordnung. Nach einer Weile hattest du dich eingelebt und deine Freunde kennengelernt. Und dann kam der Zeitpunkt, an dem sich alles verändert hat. Als der frühere Leiter des Waisenhauses verstarb, wurden die Brüder, die bisher nur Stellvertreter gewesen waren, zu den neuen Leitern. Nun konnten sie endlich tun, was sie wollten. Keiner der anderen Mitarbeiter hatte eine Ahnung davon, dass sie die Keller des Gemäuers nach und nach zu ihrer persönlichen Folterkammer umfunktionierten. Durch schallgeschützte Räume konnte niemand etwas hören und alle hatten gedacht, dass der Keller schon vor Jahren durch ein Erdbeben völlig eingestürzt war. Keiner wäre freiwillig dort hinunter gegangen.“ „Also haben die beiden den Keller wieder freigeräumt?“ „Ja. Dafür haben sie Jahre gebraucht. Kaum waren sie fertig damit, bauten sie noch mehrere Zellen. Dich und deine Freunde haben sie nachts heimlich hinunter geschafft. Da sie die Kinder, die sie aufgenommen haben, nicht dem früheren Leiter gemeldet haben, wusste niemand, dass ihr überhaupt da wart. Natürlich wart ihr völlig verängstigt, als ihr wieder wach geworden seid. Ihr habt versucht, euch irgendwie bemerkbar zu machen, aber umsonst. Kurz darauf haben die beiden angefangen, euch zu misshandeln. Und...sie haben zwei deiner Freunde getötet.“ „Welche Freunde? Getötet?“ „Ja. Matsuko Fujika war der Erste, der gestorben ist. Die Brüder haben ihm Zimmermannsnägel durch den Rücken getrieben und ihn damit gelähmt. Noch in derselben Nacht hat er sich mit einer herumliegenden Scherbe die Pulsadern aufgeschnitten. Die zweite war Narika Kamaka. Ihr wurde bei lebendigem Leib der Brustkorb aufgeschnitten. Sie ist noch während der Tortur gestorben. Beide Leichen wurden in aller Stille verbrannt.“ „Wie haben wir es geschafft, von dort wegzukommen?“ Kenjiro überraschte es, wie ruhig seine Stimme klang. Von diesen beiden anderen Personen, die ebenfalls gefoltert worden waren, hatte er nicht geträumt. Warum, konnte er nicht sagen. Vielleicht, weil sie gestorben waren und das zu einem Schock bei ihm geführt hatte. Vielleicht auch, weil er sich überhaupt nicht an sie erinnern konnte. Die Stimme des Klinikleiters unterbrach seine Gedanken. „Nun, die Mashi-Zwillinge haben mit der Zeit in ihrer Vorsicht nachgelassen. Eines Tages kam es zu einem Feuer, das fast das gesamte Waisenhaus vernichtet hat. Glücklicherweise sind durch das Feuer nur die Brüder selbst umgekommen. Der Rest konnte gerettet werden. Zu der Zeit wart ihr schon weg und seid durch den Wald geflohen, der neben dem Heim lag. Nach ein oder zwei Tagen habt ihr dann wieder die Straße erreicht und wurdet dort von einem Spaziergänger gefunden, der euch dann hierher gebracht hat. Und das war es dann. Als ihr hier angekommen seid, wart ihr völlig verdreckt, abgemagert und eigentlich kaum noch als menschliche Wesen erkennbar. Ich werde niemals den Blick in euren Augen vergessen. Es war furchtbar.“ „Und was ist passiert, während ich hier war? Ich meine, ich weiß immer noch nicht, was die beiden mit mir gemacht haben oder warum mich Shin immer wieder besuchen kommt oder wie ich mich anfangs verhalten habe...“ „Das ist auch gut so. Vorerst werden dich einigen Tests unterziehen müssen, um zu prüfen, ob und wie gut es dir wirklich geht. Erst dann werde ich erlauben, dass man dir mehr erzählt.“ „Aber…“ „Kein Aber. Es ist spät, Kenjiro. Du musst dich erst einmal ausruhen.“ Der Braunhaarige verstand, dass es keinen Sinn machte, weiter zu diskutieren. „Okay. Aber wenn ich diese >Tests< bestehe, werden Sie meine Fragen beantworten, abgemacht?“ „Abgemacht. Schlaf gut.“ Damit wollte Herr Tanaka gehen. Er war bereits an der Tür, als Kenjiro noch etwas einfiel. „Eine Frage habe ich noch.“ Der Klinikleiter drehte sich um. „Ja?“ „Wie hieß das Waisenhaus?“ Der Mann lachte bitter auf. „Das Haus der Hoffnung.“ Kenjiro blieb noch lange wach. Wieder einmal drehten sich seine Gedanken. Alles kam ihm so surreal vor. So gerne hätte er alles einfach verdrängt, aber das war unmöglich. Die beiden Freunde, die er nicht kannte und die nun tot waren...die traurigen Schatten, zu denen seine verbliebenen Freunde geworden waren...und Shin, der ihn immer so traurig ansah und der wahrscheinlich nie mehr zurückkehren würde. Bei diesem Gedanken fühlte sich der Braunhaarige noch elender. Irgendwann übermannte ihn die Dunkelheit und er schlief doch ein. Als er aufwachte, saß Shin neben ihm auf dem Stuhl. Er lächelte Kenjiro sanft zu und dieser umarmte den Schwarzhaarigen, ohne lange darüber nachzudenken. „Ich bin so froh, dass du da bist.“ brachte er schließlich heraus und löste die Umarmung. „Hallo, Ashiba-kun. Ich glaube, wir sollten uns unterhalten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)