Erwachen von BloodyRubin (Nichts ist, wie es scheint) ================================================================================ Kapitel 18: Die Gestalt im Spiegel ---------------------------------- Am nächsten Morgen wurde er früh geweckt. Noch etwas verschlafen, schlüpfte er in seine Kleidung und folgte der jungen Pflegerin, die ihn durch mehrere Flure zu einem Zimmer, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Auf einem schlichten Tisch stand ein Computer und an der Wand hing etwas, das von einem großen Tuch verhüllt war. Interessiert trat Kenjiro näher und streckte die Hand nach dem Tuch aus. „Nicht anfassen.“ erklang die Stimme des Klinikleiters hinter ihm und der Braunhaarige zuckte zusammen. Herr Tanaka betrat hinter ihm den Raum und musterte Kenjiro mit einem Blick, den dieser nicht richtig deuten konnte. „Was ist hinter dem Tuch?“ fragte der Braunhaarige, obwohl er die Antwort bereits erahnen konnte. „Ein Spiegel.“ bestätigte der Klinikleiter seine Befürchtung. „Den brauchen aber erst am Ende und selbst dann nur, wenn ich der Meinung bin, dass es angebracht ist.“ Irgendetwas an Herrn Tanakas Stimme störte Kenjiro. Wusste er etwa, was zwischen dem Braunhaarigen und Shin vorgefallen war? Bei diesem Gedanken wurde Kenjiro abwechselnd heiß und kalt. „Kenjiro? Hörst du mir zu?“ unterbrach der Mann seine Gedanken. „W-wie?“ Herr Tanaka seufzte. „Ich habe gesagt, dass Herr Namiyoka gestern bei mir war. Er hat darum gebeten, dass du bei ihm wohnen darfst, wenn du entlassen werden solltest. Entspricht das auch deinem Wunsch?“ „Ja.“ „Gut. Ich habe die entsprechenden Formulare bereits ausgefüllt und werde sie losschicken, falls deine Tests heute positiv ausfallen.“ „Was sind das überhaupt für Tests?“ „Nichts Schlimmes. Zunächst werden wir Dinge wie logisches Denken, Allgemeinwissen, Merkfähigkeit und Schnelligkeit überprüfen. Dann werden wir dich mehr und mehr unter Stress setzen, um zu sehen, wie du darauf reagierst. Schließlich werden wir dir einige Bilder zeigen. Alle werden von dem handeln, was du früher erlebt hast. Falls du abbrechen willst, kannst du jederzeit den roten Knopf neben dem Computer benutzen. Hast du alles verstanden?“ Kenjiro nickte. „Wenn du alle Tests bestanden hast, werde ich dir gestatten, das Tuch vom Spiegel zu entfernen.“ Der Klinikleiter drehte sich um und ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. „Und versuch, nicht zu schummeln. Dieser Raum wird videoüberwacht.“ Er lächelte und ging dann aus dem Zimmer. Kenjiro ließ sich vor dem Computer nieder und blickte auf den Bildschirm. Das Programm war sehr einfach gestaltet. In schwarzen Buchstaben stand dort der Text: > Zum Beginnen bitte Start drücken. < Als der Braunhaarige der Aufforderung nachkam, erschien die erste Frage. > Wie heißt die Hauptstadt von Frankreich? < Daneben war ein Feld, in das die Antwort eingegeben werden sollte und oben in der Ecke war eine Uhr abgebildet, die begann, von dreißig hinunter zu zählen. Kurz war Kenjiro verwirrt. Warum hatte er so viel Zeit, um so eine einfache Frage zu beantworten? Dann aber zuckte er die Achseln und tippte die Antwort ein. Nach einiger Zeit wurden die Aufgaben allerdings immer schwieriger und schon waren ihm die dreißig Sekunden zu wenig. „Der Test geht noch zwei Minuten.“ erklang da Herrn Tanakas Stimme aus einem Mikrofon an der Wand. Kenjiro bemühte sich, die letzten Aufgaben so gut wie möglich zu beantworten, bis wieder ein schwarzer Text auftauchte. >Test vorbei. Für den nächsten Test bitte auf Weiter klicken. < Mindestens zwei Stunden lang gingen die Tests weiter. Immer waren die Aufgaben zunächst einfach, wurden aber immer schwerer. Als der Klinikleiter verkündete, dass der Braunhaarige noch Zeit für eine Aufgabe hatte, tippte dieser einfach irgendetwas in das Textfeld ein und wartete. Diesmal lauteten die Buchstaben, die auf dem Bildschirm auftauchten, wie folgt: > Test beendet. Bitte warten Sie, bis Ihre Antworten ausgewertet sind. < Nur kurz danach betrat Herr Tanaka den Raum, ein Klemmbrett mit Notizen in der Hand haltend. „Sehr gut, Kenjiro.“ sagte er, während er leicht lächelte. „Du hast bei den Tests ganz gut abgeschnitten. Nun, jetzt kommen die Bilder. Denkst du, dass du das schaffst?“ „Ich werde es versuchen.“ Diese Antwort brachte den Klinikleiter dazu, Kenjiro ernst anzusehen. „Eine Sache noch, ehe es losgeht. Ich möchte nicht, dass du dich unnötig unter Druck setzt, verstanden? Wenn du merkst, dass es nicht mehr geht, dann sag Bescheid, in Ordnung?“ Der Braunhaarige nickte nur und Herr Tanaka verließ das Zimmer wieder. Dann tauchte ein neuer Text auf. >Bildergalerie. Zum Öffnen bitte Weiter drücken. < Die Bilder waren, wie der Klinikleiter gesagt hatte, allesamt mit seiner Vergangenheit verknüpft. Ein Bild aus einer alten Zeitung, dass das Waisenhaus zeigte. Eines, das zwei Jugendliche zeigte. Das mussten die beiden sein, die durch ihre Misshandlungen gestorben waren. Kenjiro schaffte es, das Meiste einigermaßen gut zu überstehen. Nur einmal war er kurz davor, den roten Knopf zu drücken und damit das Ganze abzubrechen. Wieder war ein Zeitungsartikel zu sehen, auf dem Kenjiro zwei Männer entgegenblickten. Auch ohne die Arztverkleidung erkannte er sie sofort. Das waren die Mashi-Brüder. Kenjiros Hände begannen zu zittern, als er dieses Bild sah. Seine Atmung wandelte sich ins Chaotische und kurz dachte er, er würde im nächsten Moment ohnmächtig werden. Einer der beiden hätte als gutaussehend gelten können, wäre da nicht der hochmütige Ausdruck in den kalten Augen gewesen. Der zweite Mann war jünger, hatte schmierige Haare, die ihm wirr ins Gesicht hingen und furchtbar fettige Haut. Darunter stand die Schlagzeile: >Leiter eines Waisenhauses bei Feuer umgekommen. < Der Braunhaarige fühlte, wie ihm kalter Schweiß ausbrach. Einige Sekunden war er wie paralysiert, ehe er sich langsam wieder beruhigte. Die beiden waren tot. Sie konnten ihm nichts mehr tun. Erst als er wieder normal atmen konnte, klickte er, um das nächste Bild zu sehen. Schließlich endete der Test und Herr Tanaka kam wieder rein. Er war nicht alleine. Shin begleitete ihn. „Ashiba-kun. Geht es dir gut? Wir haben gesehen, dass du für einige Sekunden kalkweiß geworden bist.“ „Shin. Warst du die ganze Zeit hier?“ Ja. Ich habe Herrn Tanaka darum gebeten.“ „Es war nur...Dieses Bild von den beiden...ich...“ „Du hast dich wirklich gut geschlagen.“ mischte sich der Klinikleiter ein. „Also werde ich mein Wort halten.“ Wie auf ein geheimes Zeichen drehten sich die drei zu dem verhangenen Spiegel. Herr Tanaka trat an die Seite des Tuches und wirkte nun sehr ernst. „Bist du bereit?“ fragte er. Ohne zu überlegen, nahm Kenjiro die Hand des Schwarzhaarigen und verschränkte seine Finger mit denen des anderen. Dann nickte er. Ganz kurz wanderte Herr Tanakas Blick zu den verschränkten Händen, dann packte er das Tuch und zog es schwungvoll hinunter. Der Braunhaarige erstarrte. Aus dem Spiegel sah ihn ein abgemagertes Schreckgespenst an. Der Kenjiro in dem Spiegel hatte tiefe Ringe unter den Augen, hohle Wangen und trug ein schlichtes Leinengewand. Doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Verätzungen, die überall auf seinem Körper verteilt waren. Auf seinem Hals, seinen Armen und auf dem Teil seiner Beine, die nicht von Stoff verdeckt waren. Völlig entgeistert streifte Kenjiro sein Oberteil ab und dort erwartete ihn das selbe Bild. Seine Brust war voller verheilter, aber gut sichtbarer Narben. Überfordert mit dem, was er sah, sackte der Braunhaarige auf die Knie, wobei er Shin wieder losließ. Von Schrecken überwältigt, begann er zu schluchzen. Shin hockte sich neben ihn und umarmte ihn sacht. „Das soll ich sein?“ brachte Kenjiro mühsam heraus. „Ich...ich sehe aus wie ein Monster.“ Shin hielt ihn nur noch fester. „Darum waren die Fenster in deinem Raum so weit oben angebracht. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie du auf deine Spiegelung im Fenster reagiert hättest.“ kam es von dem Klinikleiter. Seine Stimme schwankte zwischen Ernst und Bedauern. „Ich glaube, für heute sollte er zurück in sein Zimmer.“ „Richtig. Werden Sie noch eine Weile bei ihm bleiben?“ „Selbstverständlich.“ Kenjiro hörte das alles nur halbwegs. Immer noch herrschte die Panik in seinem Körper. Er bekam kaum mit, wie er von Shin und Herrn Tanaka zu seinem Zimmer gebracht wurde. Im Moment wünschte er sich nichts mehr, als das sich alles doch noch als böser Traum herausstellen würde. Gleichzeitig war er aber auch seltsamerweise froh, dass er nun wenigstens die Wahrheit über sich wusste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)