Kleine Augenblicke von Goetterspeise (Eine Geschichte über Aufzüge) ================================================================================ Kapitel 3: Eine Geschichte über Ino ----------------------------------- 06. September Was definiert eine beste Freundin? Sind es die langen Gespräche, die so tiefsinnig wie der Pazifik oder so oberflächlich wie der Asphalt sein können? Das gemeinsame Lachen und Weinen? Die peinlichen, lustigen und tragischen Momente? Wahrscheinlich von allem ein bisschen; das eine mehr – wie die Peinlichkeiten – das andere weniger – besonders tiefsinnig war Ino nämlich noch nie. Dafür aber umso direkter und zickiger. Ich liebe sie, wirklich! Aber es gibt Tage, an denen ich das dringende Bedürfnis verspüre, sie zu erwürgen. Was wahrscheinlich ebenfalls unter die Kategorie beste Freundin fällt. Ein weiterer Bestandteil ist es wohl auch, sich bei seltsamen Verhaltensmustern nicht zu wundern, sondern sie einfach zu akzeptieren. So zum Beispiel ihre Leidenschaft, in jedem Aufzug, der auch nur ansatzweise etwas Spiegelähnliches besitzt, ihren Lippenstift heraus zu kramen und sich nachzuschminken. Ino macht dazu immer diesen Kussmund, den ich persönlich als recht unpraktisch beim Nachziehen empfinde. Wahrscheinlich tut sie es nur, um danach so laut wie möglich, der Luft einen Schmatzer zu geben. Heute macht sie aber etwas Ungewöhnliches. Sie schnalzt einmal mit der Zunge, begutachtet sich von allen Seiten (nein, das ist nicht das untypische) und fährt dann erneut mit dem dunklen Rotton über ihre Lippen. Diesen Vorgang wiederholt sie die ganzen acht Stockwerke über und langsam beginne ich mir doch Sorgen zu machen. Es gibt einfach gewisse Verhaltensweisen von Ino, die darauf hindeuten, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Beispielsweise zieht sie nur dann lange Hosen an, wenn ihr jemand erklärt, ihre Beine seien hell – dauert eine Woche, geht mit sehr vielen bösen Wörtern einher und kann mitunter zu einer 'Wein trink Orgie' führen. Außerdem ergibt es null Sinn. Sobald jemand Ino darauf hinweist, ihre Haare wären schon sehr lang (irrelevant, ob es sich dabei um ein Kompliment handelt oder nicht), sitzt sie am nächsten Tag beim Frisör und lässt sich eine so unglaublich komplizierte Hochsteckfrisur machen, dass man danach nicht mehr sagen kann, wo welche Haarsträhne herkommt und wie sie weiterläuft. Und das alles nur, um zu zeigen, was man mit sehr langen Haaren noch alles anstellen kann. Wenn Ino sich also in einem Aufzug den Lippenstift so oft nachzieht, dass dieser am Ende der Fahrt schon fast leer ist, kann es nur eines bedeuten: jemand hat ihren Körper beleidigt. Und das ist ein absolutes No Go. »Ino, was ist los?«, frage ich pflichtbewusst als wir aus dem Aufzug treten und in Richtung Wohnung laufen. Deren Eingangstür befindet sich am Ende des langen, schmalen Gangs auf der rechten Seite. »Ich hab‘ dir doch von diesem Typen erzählt, der mich gefragt hat, ob ich für ihn Modell stehen will?« Ich nicke und füge hinzu: »Den Kerl, den du so heiß gefunden hast, richtig?« »So heiß fand ich ihn nun auch wieder nicht«, antwortet sie stur, schaut mich aber nicht direkt an. Das ist typisch Ino. Sobald sie feststellt, dass sie mit einer Sache falsch lag, schraubt sie es im Nachhinein soweit zurück wie es geht, ohne sich komplett zu widersprechen. Ich könnte sie auf ihre ursprüngliche Begeisterung hinweisen, als sie von ihm und seinem Angebot berichtet hat. Aber in Anbetracht ihrer schlechten Laune, schlucke ich den besserwisserischen Impuls hinunter und warte geduldig auf die Erklärung für ihren Sinneswandel. Ino räuspert sich kurz und umfasst mit festem Griff den Saum ihres Oberteils. »Dieser dreiste Mistkerl wollte mich gar nicht als Modell. Zumindest nicht so, wie es üblich ist. Stattdessen sollte ich ihm nur meine Daumen zeigen, weil er sie als Referenz für ein abstraktes Bild braucht. Er meinte noch, er wolle ungewöhnlich aussehende Teile von verschiedenen Körpern malen, mein Gesicht sei ihm daher aber zu normal.« Ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um nicht loszulachen, was sich als schweres Unterfangen herausstellt. Ino schnaubt abfällig, während sie ihren Wohnungstürschlüssel aus ihrer blauen Chanel Tasche kramt. »Nicht nur, dass er der Meinung ist, meine Daumen wären ungewöhnlich, nein, er deutet sogar eine Beleidigung meines Gesichts an. Es ist ganz sicher nicht zu normal!« Wütend gibt sie der sich öffnenden Tür einen starken Schubs nach innen, wodurch sie mit einem lauten Knall gegen die Wand donnert. Erschrocken zucke ich zusammen, doch bevor ich ihr das an den Kopf werfen kann, spricht sie einfach weiter: »Vor allem, ist er nicht einmal besonders gut, weißt du? Er benutzt viel zu viel schwarz, zu wenig Schattierungen und malt alles so rund. Abstrakt ist ja schön und gut, aber es sieht einfach grausam aus.« »Natürlich tut es das«, pflichte ich ihr bei, den sarkastischen Unterton kann ich leider nicht abstellen. Sie bemerkt ihn allerdings nicht. »Und stell dir mal vor, er macht sich wirklich Hoffnungen darauf, mit diesem Gemälde in die nächste Kunstausstellung der Uni zu kommen. Nur, weil eine ältere Dame einmal Interesse an einem Werk von ihm gezeigt hat. Einmal!« »Dafür, dass du so wütend auf ihn bist, konnte er dir aber recht viele Informationen geben.« Ino wirft mir einen bösen Blick zu und zieht sich ihre Schuhe aus. Ich schließe die Tür, tue es ihr gleich und laufe hinter ihr in die kleine Küche. Ino hat ein wahres Händchen für Innenausstattungen und hat es dadurch sogar geschafft, einen schmalen Raum wie diesen in etwas Gemütliches zu verwandeln. Es passen zwar nur ein kleiner, quadratischer Tisch mit zwei Stühlen neben der Küchenzeile und dem Kühlschrank hinein, aber die ganzen liebevollen Details und die farblichen Kombinationen schaffen es, dass der Raum einem dennoch eine gewisse Größe vorspielen kann. »Willst du wissen, warum ich das weiß?«, fragt Ino schließlich, nachdem sie sich ihren Wasserkocher geschnappt hat und ihn unter den Hahn des Spülbeckens hält. Sie dreht mit einer solchen Intensität an dem Rädchen für das Wasser, dass ich schon Angst habe, sie schraubt es komplett heraus. Weshalb ich mich erst setzte, als sie davon ablässt. »Als wir mit dem alten Schrottteil von Lastenaufzug in sein Atelier gefahren sind und ich noch nicht wusste, dass er mich für ein hässliches Entchen mit krummen Daumen hält, habe ich ihn eben ausgefragt. Schrecklichste Fahrt meines Lebens. Das ist ein Teil, in dem ich sicher niemals Sex haben werde.« Ich schüttle bei Inos Anspielung auf ihre liebste perverse Fantasie nur den Kopf. »Ich meine das ernst«, erklärt sie und fixiert mich mit ihren großen, blauen Augen. »Es hat so schrecklich gerattert, dass ich die ganze Zeit über Angst hatte, er würde gleich abstürzen.« Sie stellt den Wasserkocher wieder in seine Vorrichtung und drückt einen Knopf nach unten, wodurch das Lämpchen an der Seite beginnt, rot zu leuchten. Ino setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber. Ihre langen, blonden Haare fallen links über ihre Schulter und sie wirft die Strähnen mit einer Grazilität nach hinten, die ihres gleichen sucht. An dieser Stelle muss ich ehrlich einwerfen, dass ich nicht genau weiß, was dieser komische Typ mit gewöhnlichem Gesicht meint. Direkt würde ich es Ino nie sagen, aber mit ihren langen Wimpern, der schmalen, geraden Nase und ihren – zugegeben momentan zu stark geschminkten – vollen, schön geschwungenen Lippen ist sie einer der hübschesten Menschen, die mir je über den Weg gelaufen sind. »Auf jeden Fall war die Aufzugfahrt ja nur der Anfang. Es ging nicht nur darum, was er über mich gesagt hat. Ich glaube ernsthaft, dass der Kerl einen Dachschaden hat.« »Aha?«, antworte ich, um ihr mein Interesse vorzugaukeln. Allerdings ist das in diesem Stadium von Inos Wut gar nicht mehr nötig. Denn nun kommt der längste und für mich anstrengendste Teil dieses Treffens: ihr Monolog. Es gibt viele Komponenten, die Teil der besten Freundin Definition sind. Vor allem aber, dass du ihr in Krisenzeiten auf jeden Fall, und ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, beistehst. Auch, wenn du dir dafür einen dreistündigen Monolog über selbstverliebte Kunststudenten anhören musst. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)