Too Strong To Fall von Votani (Levi x Sakura) ================================================================================ Kapitel 1: the dream in the dark. --------------------------------- Das Donnern der Kanonen ließ den Boden unter Sakuras Füßen vibrieren und die schmierigen Fensterscheiben klirren. Sie hatte noch nie die hohen Mauern erklommen, die ihre kleine Welt umzäunten, welche über die Jahrzehnte immer mehr zu schrumpfen schien. Trotzdem konnte sie sich gedanklich gut ein Bild davon malen, was dort oben vor sich ging. Allerdings saß ihr der Schreck nicht mehr in den Gliedern, denn der Mensch konnte sich an Alles gewöhnen, wenn er dem lange genug ausgesetzt war. Wall Maria war schon vor Jahren gefallen und von Titanen überrannt worden. Nur wenige hatten es durch das Tor von Wall Rose nach Trost geschafft, bevor es verbarrikadiert worden war. Aber all das wusste Sakura nur aus den Erzählungen, die man sich flüsternd auf den Straßen zwischen Stoßgebeten erzählt hatte. Damals hatte sie noch hinter Wall Sina gelebt. Dort war das Leben vorangeschritten, denn in Wall Sina hielt es für nichts und niemanden inne. Hinter der dritten Mauer war keiner besorgt, bevor Wall Rose nicht ebenfalls fiel. In pessimistischen Momenten bezweifelte Sakura, dass es noch allzu lange dauern würde, bis die Mauer Risse zog und sich ein Titan durch das Gestein quetschte, um Trost einen Besuch abzustatten. Die Alpträume gehörten jedoch nicht ihr, sondern den Soldaten auf den Mauern, die vor Erschöpfung und Angst zusammenbrachen und eingeliefert wurden. Sie gehörten den Bewohnern dieses Distrikts, die ihren Familien jeden Morgen auf Wiedersehen sagten, als erwarteten sie ihre Angehörigen nie wieder in die Arme schließen zu können. Hinter der Sina-Mauer gab es gepflegte Pflastersteine und schöne Architektur, während Trost langsam in sich zusammenfiel. Dachziegeln lagen wie zerbrochene Träume auf den verschlissenen Straßen und der Wind trieb Müll durch die einsamen Gassen, in denen hungrige Kinder zusammen mit streunenden Katzen und Hunden nach Essen in den Mülltonnen suchten. Sakura löste den Blick vom Fenster und fuhr sich mit einer Hand über das schwitzige Gesicht. Ihr rosafarbenes Haar war zu einem unordentlichen Zopf gebunden und ihre weiße Uniform wies Blutsprenkel auf, die am Trocknen waren. Mit zusammengebissenen Zähnen zog sie sich die Latexhandschuhe aus, die sie nun nicht mehr brauchte. Es war keiner mehr da, der ihre Hilfe benötigte. Aber was hatte sie auch erwartet? Niemand überlebte einen Sturz von einer Mauer, die fünfzig Meter hoch war. Eine Mauer, von der Sakura nicht wusste, ob sie nur die Titanen aussperrte oder nicht gleichzeitig auch einen Käfig für den kläglichen Rest der Menschheit darstellte, der ihnen noch nicht zum Opfer gefallen war. Jedenfalls wurde sie den Gedanken nie ganz los, dass sie langsam dahinvegetierten, während sie auf ein Wunder oder gar auf das Ende warteten. Sie waren es sich nur nicht bewusst, weil man gern das verdrängte, was man nicht ändern konnte. „Sakura“, holte sie Gloria aus ihren Gedanken. Die Krankenschwester mit dem feuerroten Haar steckte den Kopf durch den Spalt, den die angelehnte Tür kreierte. „Da ist jemand, der dich sehen möchte. Er sieht sehr offiziell aus, wenn du verstehst, was ich meine. Von den Scouts.“ Die letzten Worte waren geflüstert, als hätte sie Angst, dass ihr Besucher sie aufschnappen könnte. Sakura runzelte die Stirn. Was wollte denn jemand von dem Erkundungstrupp im Trost-Distrikt oder ausgerechnet hier im Krankenhaus? Was wollte jemand ausgerechnet von ihr? Doch sie würde keine Antwort auf ihre Frage bekommen, wenn sie nicht mit ihm sprach. „Ich bin gleich da, Gloria“, sagte Sakura und schenkte ihrer Arbeitskollegin ein schmales Lächeln. Erst nachdem Gloria verschwunden war, warf Sakura einen letzten Blick auf die beschmutzten Handschuhe, mit denen sie retten und nicht töten sollte, und schmiss sie weg. Sie kehrte dem kleinen Pausenraum den Rücken, der als Ort des Zurückziehens fungierte, als harmonischer Ruheort, an dem man seine Gedanken ordnen konnte, ganz egal, wie viel Trubel in den Behandlungszimmern herrschte. Sakura musste nicht lange nach ihrem Gast suchen, denn mit seiner strammen Haltung entdeckte sie ihn bereits aus der Ferne in der Menge an Patienten, die auf einen Arzt warteten. Auf den ersten Blick wusste Sakura bereits, dass sie heute wieder bis tief in die Nacht hinein arbeiten würde. Andererseits hatte sie das Wartezimmer noch nie auch nur halbleer erlebt, denn in Trost gab es zu viel Leid. „Ah, Sakura Haruno. Es freut mich Sie endlich zu treffen“, begrüßte sie der hochgewachsene Mann mit den blonden Haaren und der glatten Uniform. Obgleich des freundlichen Lächelns wurde Sakura sich sofort der Intensität bewusst, die in seinen blauen Augen versteckt lag und mit der er sie musterte. Zudem kannte er ihren Namen, während Sakura dem Mann vor ihr noch nie im Leben begegnet war. Er war informiert, was ihm einen Vorteil verschaffte. „Und mit wem habe ich die Ehre?“, fragte sie und betrachtete skeptisch die ausgestreckte Hand des Soldaten, anstatt sie zu schütteln. Ein Lachen drang aus seiner Kehle. „Wie unfreundlich von mir, mich nicht einmal vorzustellen“, antwortete er, doch Sakura war sich sicher, dass er genau wusste, was er tat oder was er nicht tat. Seine Hand schwebte weiter einladend vor ihr. „Mein Name ist Erwin Smith. Ich bin Kommandant des Aufklärungstrupps und hier, um Ihnen einen Job anzubieten.“ Sakura blinzelte, nicht ganz sicher, was sie mehr verwirrte: Dass ausgerechnet der berüchtigte Erwin Smith vor ihr stand oder dass der berüchtigte Erwin Smith ihr ein Jobangebot machte. Es war zu absurd. So etwas passierte in Büchern und in Abenteuergeschichten, die man als Kind von seinen Eltern erzählt bekam, aber nicht im realen Leben. Das wusste Sakura inzwischen. Sie hatte gelernt, dass es keine Ritter in strahlender Rüstung gab, die einen retteten, und auch dass es keine Helden gab, die jedem Drachen den Kopf abschlugen und ganze Königreiche vor dem Untergang bewahrten. Trotzdem – oder gerade deswegen – schüttelte Sakura die Hand des Kommandanten. „Ich habe bereits einen Job.“ Das Lächeln von Erwin Smith schwand nicht, während sein Blick durch den Raum und über die Menschen wanderte, die auf harten Plastikstühlen saßen und verschlissene Kleidung trugen. „Können wir unter vier Augen sprechen?“ Mit einer Handgeste bedeutete Sakura ihm, ihr zu folgen. Sie führte ihn weg von dem Stimmengewirr in der Luft und hinein in das Hinterzimmer, welches so einen Frieden für sie ausstrahlte. Erwin schloss die Tür hinter sich. „Ich bin mir durchaus bewusst, dass Sie bereits einen Job haben, Miss Haruno“, sagte er anschließend und seine Augen erfassten sie wieder, hielten sie an Ort und Stelle gefangen, ein wenig wie die Mauern, die sie vor den Titanen schützten. „Aber ich hatte gehofft, Sie überzeugen zu können, dass dort draußen wichtigere Arbeit auf Sie wartet.“ Für einen kurzen Moment wusste Sakura nicht, was er meinte. Dort draußen, die Worte waren fremd, denn es gab kein dort draußen. Draußen hörte an den Mauern auf, an denen sich die Titanen sammelten, als konnten sie spüren, was sich hinter ihnen verbarg. „Sie haben die Menschen im Wartezimmer gesehen. Glauben Sie da wirklich, dass es wichtigere Arbeit gibt? Ich habe sie bis jetzt jedenfalls noch nicht gesehen. Irgendjemand muss sich schließlich um diese Menschen kümmern, selbst wenn die Vorräte und das Geld immer knapper werden. Diese Leute haben niemand anderen.“ Immerhin war es kein Geheimnis, dass die Menschen, welche die nötigen Beziehungen und finanziellen Mittel hatten, Trost verließen, um sich stattdessen auf einem weniger bevölkerten Fleckchen Erde innerhalb der Mauern niederzulassen. Einem Örtchen, an dem es keine Krankheiten aufgrund schlechter Sanitäreinrichtungen gab oder ständige Titanenangriffe. Übrig blieben die Mittellosen und Kranken, die Alten und Jungen. Erwin schwieg, als könnte er ihre Gedanken mühelos verfolgen, als würde er jede kleine Reaktion, die sich auf ihrem Gesicht widerspiegelte, aufsaugen und kategorisieren. Er blinzelte kein einziges Mal. „Ich bestreite nicht, dass die Arbeit hier von äußerster Wichtigkeit ist, Sakura“, sagte er und wechselte zu einer Vertrautheit, welche ihn in ihren Augen wohl sympathischer wirken lassen sollte. „Aber wollen wir alle nicht viel eher in einer Welt leben, in der es Möglichkeiten auf ein besseres Leben gibt? In dem man nicht von Alpträumen geplagt wird, in dem Titanen an unseren Kindern speisen. In dem niemand von hohen Mauern fällt... oder gar springt.“ Ein Schauer fuhr Sakuras Wirbelsäule hinab. Sie senkte den Blick auf ihre Hände, die mindestens genauso viel Blut an ihnen kleben hatten, wie Erwin Smith an seinen. Jeder Soldat, genauso wie jeder Zivilist, kannte die Geschichten über Erwin Smith und seine unzähligen Missionen außerhalb der Mauern, die mehr Tote anstatt Erfolge erbracht hatten. Andererseits konnte Sakura ihm nicht widersprechen. Sie hatte keine Argumente, die seine widerlegen konnten. „Und warum kommen Sie dann ausgerechnet zu mir? Ich bin Ärztin, keine Soldatin.“ „Ich bin mir völlig darüber im Klaren, was du bist und was du nicht bist.“ Das Lächeln war zurück, welches für einen winzigen Augenblick einer Ernsthaftigkeit gewichen war. „Ich höre mich regelmäßig nach vielversprechenden Kandidaten für den Aufklärungstrupp um. Deiner Akte nach zu urteilen bist du sogar die perfekte Kandidatin. Und ich irre mich selten.“ Sakura unterdrückte ein Schnauben. Bei jedem anderen hätte diese Aussage arrogant geklungen, aber aus dem Mund von Erwin Smith klang sie viel eher nach einer simplen Feststellung. Nach einer Gewissheit. „Du warst auf Platz fünf deiner damaligen Trainingseinheit, zu der auch Anwärter wie Sasuke Uchiha von der berühmten Militärpolizeieinheit der Uchihas und Shikamaru Nara, einer der besten Strategen, gehörten. Es bedarf einer Menge, um mit diesen Leuten mitzuhalten.“ Sakura zuckte mit den Schultern. „Das ist schon eine Weile her.“ Und eigentlich hatte sie auch keine große Lust, daran erinnert zu werden. Jeder Gedanke an Sasuke verursachte auch heute noch ein Stich in ihrem Herzen und eine gewisse Bitterkeit ihrer eigenen Naivität gegenüber. „Das ändert nichts daran, dass dein Werdegang herausragend ist und wir herausragende Leute bei den Scouts brauchen“, erzählte Erwin weiter und machte eine Handbewegung zu der geschlossenen Tür hinüber. „Das hier ist nur ein Zwischenstopp. Eine Pause von dem Kampf für die Menschheit. Ein Moment, in dem man das Gefühl hat, dass die Chancen gegen einen stehen, bevor man sich wieder aufrafft. Und wenn du bereit bist, den Kampf wieder aufzunehmen, habe ich eine Position als Ärztin bei den Scouts für dich, Sakura.“ Damit war offensichtlich alles gesagt, was Erwin Smith im Sinn gehabt hatte, denn er salutierte ihr und verließ das Hinterzimmer, in dem Sakura einmal mehr mit ihren Gedanken allein war. Mit ihren Gedanken und all den Worten, die der Kommandant ihr dagelassen hatte. Kapitel 2: a step forward. -------------------------- Levi gähnte. Sein trüber Blick wanderte zu seiner Teetasse hinab, die noch immer halbvoll war. Doch der Inhalt war längst kalt geworden, wie er mit einem weiteren Schluck bemerkte. Das war ein sicheres Zeichen dafür, dass diese Besprechung bereits zu lange andauerte. Als wäre sein Gähnen irgendein geheimes Kennwort gewesen, räusperte sich Erwin und entließ die hier versammelten Soldaten für den heutigen Abend. Wie spät es eigentlich war, konnte Levi nicht sagen, aber die Dunkelheit hatte sich bereits über das alte Schloss gelegt, welches als ihre Hauptzentrale fungierte. Nur ein paar Öllampen erleuchteten das Konferenzzimmer mit seinen vergilbten Vorhängen. Staubpartikel waren in ihrem Schein erkennbar, als sie ungestört durch die Luft segelten. Hier drinnen musste eindeutig mal wieder geputzt werden, ging es Levi durch den Kopf, als das rhythmische Schaben von Stuhlbeinen auf dem Holzboden erklang. Nach und nach leerte sich der Raum, doch Levi blieb sitzen. Es war eine unausgesprochene Angewohnheit zwischen Erwin und ihm, die keinerlei Worte bedurfte. „Du bist optimistischer als gewöhnlich“, entrann es Levi, eine Feststellung, die er bereits zu Beginn dieser Besprechung gemacht hatte. „Ist das so offensichtlich?“, fragte Erwin und er nahm den Blick von der geschlossenen Tür. Er wandte sich stattdessen dem Fenster zu, in dem sich das schattige Abbild seiner Person und das des restlichen Raums mitsamt Levi widerspiegelte. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und obwohl Levi bis eben noch die Müdigkeit von seinem Gesicht ablesen konnte, stand er stramm und voller Tatendrang. „Ich würde es nicht sagen, wenn es nicht offensichtlich wäre.“ Nein, dann würde sich Levi seine Spucke sparen und sich stattdessen neuen – vor allem jedoch warmen – Tee holen. „Du hast natürlich recht, Levi“, erwiderte Erwin. „In letzter Zeit scheint der Erkundungstrupp unter einem guten Stern zu stehen. Und wenn ich mich nicht irre, dann wird das auch weiterhin so bleiben.“ Levi hob die Augenbrauen in stummer Manier, als Erwin sich wieder zu ihm umdrehte und ihn fixierte. „Also hat sich dein Ausflug nach Wall Sina und nach Trost gelohnt“, fasste Levi zusammen. Immerhin war Erwin gestern erst zurückgekehrt und schon da hatte er eine Art Veränderung in seiner Laune festgestellt. „Manchmal vergesse ich, dass du gut in diesen politischen Manövern bist, auch wenn sie dir zuwider sind.“ Mit wenigen Schritten erreichte Erwin den Tisch und blieb auf der gegenüberliegenden Seite von Levi stehen. Er zog die Karte heran, die ausgebreitet auf dem Tisch lag und bisher unbenutzt war. „Ich war in der Lage uns finanzielle Unterstützung zu sichern. Es gibt durchaus noch Leute, die in unsere fundamentale Mission glauben. Sie müssen nur daran erinnert werden.“ „Und du hast sie daran erinnert“, sagte Levi. Erwin holte einen Stift aus der Tasche seiner Uniform und markierte verschiedene Stellen auf der Karte mit einem X. Sie allesamt lagen fernab der Mauern in Titanen-verseuchten Gebieten, in denen der Erkundungstrupp nur mit hohen Verlusten vorgedrungen war. „Das sind unsere Ziele für die nächste Expedition“, erklärte Erwin und drehte die Karte in seine Richtung, obwohl Levi selbst kopfüber ganz genau wusste, wie eben jene Vorhaben aussahen. Sie alle lagen strategisch weit auseinander, aber waren gleichweit von den Mauern entfernt. Hierbei handelte es sich um keine generellen Projekte, sondern die Vorboten von zukünftigen Zielen. Levi erkannte einen Plan, wenn er einen sah und wusste, dass er einen von Erwin erwarten konnte. „Wir werden verschiedene Teams losschicken, um diese Orte zu erreichen und sie in Nachfüllstationen umzuwandeln. Diese können wir für zukünftige Expeditionen verwenden, um weitere Gebiete zu erreichen.“ Levi nahm einen Schluck Tee. Erst als der kalte Inhalt seine Zunge berührte, erinnerte er sich daran, warum er ihn bisher stehen gelassen hatte. Sein Gesicht verzog sich, doch sein Blick blieb auf die Karte geheftet. „Und warum bist du dir so sicher, dass es diesmal klappen wird? Immerhin kennen wir beide den Grund, warum die bisherigen Expeditionen ziemlich erfolglos geblieben sind, um das Kind beim Namen zu nennen.“ Erwin stemmte die Hände auf die Tischplatte. „Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Anzahl der Soldaten, welche die einzelnen Teams bilden. Bisher haben wir uns darauf verlassen, dass es uns einen Vorteil verschafft, wenn wir alle verfügbaren Soldaten mobilisieren, aber... dieses Mal gehen wir vom Gegenteil aus.“ „Du willst kleinere Teams losschicken, die... was? Sich vor den Titanen verstecken und warten, bis sie vorbeigezogen sind?“ Levis Stimme war monoton, aber anhand von Erwins starrem Blick war ablesbar, dass er dennoch den leisen Hohn heraushörte. Es sagte Levi zusätzlich, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. „So etwas in der Art, ja“, antwortete Erwin, so ernst und sachlich, wie er Levi stets dazu brachte, ihn auch in den sicheren Tod zu folgen, nur um es irgendwie angeschlagen zu überleben. „Im Moment schwanke ich zwischen fünf oder sechs Personen pro Team. Es wird sieben Teams geben, die mit einem gewissen Zeitabstand zueinander aufbrechen, um sich zu den hier markierten Punkten zu begeben. Jedem Team wird ein Sanitätsoffizier zugeteilt, denn der Sinn dieser Mission liegt nicht im Angriff, sondern im Ausweichen. Das Absicht ist das Ziel ungesehen zu erreichen, die Vorräte dort zu verstauen und sich auf den Rückweg zu machen.“ Levi schwieg. Seine Finger tanzten über den Tassenhenkel, während Erwins Blick Säure auf seiner Haut war. „Was denkst du, Levi?“, fragte Erwin. Sein Ton war gerade angespannt genug, um eine Ungeduld in ihm zu erahnen. „Als Stärkster der Menschheit, ist es machbar?“ „Nenn mich nicht auch noch so...“, murmelte Levi. Dieser Spitzname war albern und billige Propaganda für den Erkundungstrupp, wenn es nach ihm ging. Doch Erwin... Dieser Mann war so verrückt, wie er brillant war, so dass es ihnen glatt gelingen könnte. Levi erhob sich lautlos und senkte den Blick auf die Tasse, die er aufnahm. „Ich schätze, dass wir das nicht herausbekommen, bevor wir es nicht probiert haben. Weniger Leute loszuschicken bedeutet auf jeden Fall weniger Verluste.“ Er begab sich zur Tür und Erwins Augen folgten ihm dorthin. Doch erst als Levis Finger die Türklinke berührten, hielt Erwin ihn zurück. „Levi...“ Er warf einen Blick zu seinem Vorgesetzten zurück. Dieser nahm eine der Akten vom Tisch und hielt sie in Levis Richtung. „Ich habe einen Sanitätsoffizier für deinen Squad gefunden. Ich muss dir wohl nicht sagen, dass dein Team sich an der Expedition beteiligen wird, oder?“ Erwins Mundwinkel hoben sich ein Stückchen. „Die endgültige Entscheidung liegt natürlich bei dir, aber ich habe heute Morgen ihre Zusage erhalten. Sie wird in den nächsten Tagen hier eintreffen.“ Levi kehrte zu Erwin zurück, nahm die Akte entgegen und verließ wortlos das Konferenzzimmer, welches in einem fast komplett verlassenen Gang des Schlosses lag. Der Weg in die Küche war lang genug, um einen Blick in die besagte Akte zu werfen. Erwin hatte recht. Am Ende war es seine Entscheidung, denn er nahm nicht jeden neuen Rekruten in seine Einheit auf. Auch Petra, Oluo, Eld und Gunther hatte er sich nach und nach unter unzähligen Soldaten herausgesucht und bisher hatten sie ihn nicht enttäuscht. Genervt, aber nicht enttäuscht. „Sakura Haruno“, entrann es Levi und sein Blick überflog desinteressiert ihren Lebenslauf, der tatsächlich für sich sprach. Doch sie war noch nie außerhalb der Mauern gewesen, hatte noch nie einem Titanen ins Auge geblickt, geschweige denn seinen stinkenden Atem gerochen. Und so jemand wollte Erwin sofort auf eine solche Mission schicken, von deren Wichtigkeit er überzeugt war? Seine Augen blieben an ihrem Ausbilder hängen. „Sie hat also die Grundausbildung unter Kakashi Hatake absolviert, interessant.“ War das der Grund, warum Erwin sie in den Scouts wollte? Oder dass sie trotz einer Menge bekannter Konkurrenten ihre Ausbildungsklasse in den Top fünf abgeschlossen hatte? Die letzten Jahre wirkten dagegen eher wie ein Absturz, denn aus einer vielversprechenden, jungen Soldatin war stattdessen eine Ärztin im ärmlichen Trost-Distrikt geworden. Levi besaß gerade genug Menschenkenntnis, um mehr hinter dieser Karriereentscheidung zu vermuten, irgendeine mehr oder weniger tragische Hintergrundgeschichte, die sie entweder gestärkt oder gebrochen hatte. Eine, von der Levi ganz sicher nichts wissen wollte. Kapitel 3: saying goodbye. -------------------------- Sakuras Füße trugen sie durch das Zimmer, immer wieder von links nach rechts, während ihre Augen stets auf der Suche nach Dingen waren, die unauffindbar blieben. „Wo habe ich sie hingelegt?“, wisperte sie. Ihre Antwort kam von dem kleinen Tisch in der Ecke, an dem Kakashi saß. „Du hast deine Haarbürste bereits eingepackt, Sakura. Vor den Socken und nach den BHs, wenn ich mich recht erinnere.“ Sein Ton war lapidar, so dass Sakura nicht einmal ein Gefühl von Scham aufbringen konnte, als er ihre Unterwäsche erwähnte. Andererseits war sie nicht sicher, ob sein Ton in diesem Fall tatsächlich ausschlaggebend war. Konnten einem solche Themen unangenehm gegenüber jemandem sein, der einen bereits in und ohne Unterwäsche gesehen hatte? Sakura schielte zu Kakashi hinüber, der in seinem Buch blätterte, das er sicher bereits zum siebten Mal las. Doch sie hatte es schon vor Jahren aufgegeben seine Lektüren – oder sollte sie das Kind einfach beim Namen nennen und Schundromane sagen? – zu kritisieren. Kakashi Hatake war der sturste Mann, den Sakura jemals getroffen hatte. Man änderte ihn nicht, sondern akzeptierte ihn wie er war. Es war eine Eigenschaft, um die Sakura ihn schon immer beneidet hatte. Er musste sich vor niemandem rechtfertigen oder beweisen und erweckte in anderen trotz seiner vielen Fehler großen Respekt. „Jetzt, wo du es sagst...“, murmelte Sakura und zwang sich zum Tisch zurückzukehren. Sie setzte sich Kakashi gegenüber, der schweigend über den Rand seines Buchs zu ihr hinüberschielte. Wie gewöhnlich trug er die untere Hälfte seines Gesichts bedeckt. Den Grund dafür hatte Sakura nie aus ihrem ehemaligen Ausbilder herausbekommen, denn zu verstecken hatte er nichts. Sie erinnerte sich noch lebhaft an ihre ersten Tage in der Akademie, als die neuen Rekruten herumgerätselt hatten, was Kakashi-san zu verbergen hatte. Auch Sakura war neugierig gewesen und im Nachhinein umso überraschter, denn Kakashis Gesicht war markant und gutaussehend, vor allem jedoch vollkommen normal. „Vielleicht habe ich die Entscheidung überstürzt getroffen“, sprach sie schließlich das aus, was ihr bereits die gesamte Zeit durch den Kopf ging. „Ich meine, welche Person mit gesundem Menschenverstand tritt schon den Scouts bei?“ Ihre grünen Augen bohrten sich in Kakashi hinein, doch eine Reaktion blieb aus. „Niemand“, gab sich Sakura selbst die Antwort. „Nur jemand, der lebensmüde ist und unbedingt sterben möchte.“ Ein eisiger Schauer fuhr Sakuras Wirbelsäule hinab und ihre Hände fühlten sich klamm an. Sie rieb die Handflächen an ihren Leggins ab und atmete tief durch. „Du bist überhaupt keine Hilfe, Kakashi! Aber jetzt ist es eh zu spät... Ich glaube nicht, dass ich noch einen Rückzieher machen kann.“ „Oder dass du einen machen möchtest“, gab Kakashi zu bedenken. Mit einem dumpfen Geräusch schloss er sein Buch und legte es auf den Tisch. „Soweit wie ich das beurteilen kann, hättest du nicht zugesagt, wenn du nicht glauben würdest, dass es das Richtige für dich ist. Ich kenne dich inzwischen lang genug, um zu wissen, dass du keine voreiligen, vor allem jedoch keine unbedachten, Entscheidungen triffst, Sakura.“ Kakashi streckte eine Hand, die in einem fingerlosen Handschuh steckte, auf dem Tisch in ihre Richtung aus. „Irgendwas, was Erwin Smith zu dir gesagt hat, hat dich von der Wichtigkeit des Aufklärungstrupps überzeugt. Es ist nicht dumm, sich eine bessere Zukunft für die Menschheit zu wünschen. Es ist mutig.“ Sakura stieß ein Seufzen aus, bevor sie ihre Hand in Kakashis legte. Seine Finger schlossen sich um ihre, locker und doch fest genug, um sie daran zu erinnern, dass er sie schon in ganz anderen Situationen erlebt hatte und trotzdem nicht seinen Glauben in sie verloren hatte. Kakashi war da gewesen, als Sakura hingefallen war, aber auch, als sie sich von allein wieder aufgerichtet hatte. „Bist du den Scouts deswegen damals beigetreten?“, erkundigte sich Sakura mit leiser Stimme, obwohl sie bisher stets einen großen Bogen um Kakashis Vergangenheit gemacht hatte. Obwohl er auf den ersten Blick wie ein offener Mensch wirkte, konnte er kaum mehr verschlossen sein. „Weil du dir eine bessere Zukunft gewünscht hast?“ „Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass meine Motive so edel waren“, erwiderte Kakashi und trotz seiner Maske konnte Sakura die Belustigung von seinem Gesicht ablesen, die sich mit einer gewissen Melancholie vermischte. Kakashi war ein Meister, was diesen Ausdruck anging, denn nur er bekam diese äußerst seltene Mischung hin, von der Sakura auch heute noch nicht wusste, was sie bedeutete. Ein schmales Lächeln huschte über Sakuras Gesicht. „Und du denkst, ich treffe die richtige Entscheidung?’, fragte sie, anstatt weiter nachzuhaken, da sie bereits wusste, dass sie nichts aus Kakashi herausbekommen würde. „Ich denke, das kannst nur du wissen“, erwiderte Kakashi. Alle weiteren Worte wurden von dem Wiehern von Pferden unterbrochen. Sakuras Blick wanderte zu dem einzigen Fenster des Zimmers. Sie entzog Kakashi ihre Hand und umrundete den Tisch, um nach unten auf die Straße schauen zu können. „Meine Kutsche ist hier“, entrann es ihr mit leiser Stimme, als sie dem Kutscher mit einer Handgeste zu verstehen gab, dass sie auf dem Weg war. Die braunen Pferde hauchten den kaputten Pflasterstraßen ein wenig Leben ein, während Müll sich in den Ecken am Bordstein sammelte und vertrocknete Blätter von herbstlichen Bäumen feucht auf dem Asphalt klebten. Es war ein schmutziger Herbst in Trost, der von zu vielen Regenschauern begleitet war. Kakashis Gestalt zeichnete sich vage im Fensterglas ab, als er zu ihr herantrat. Seine Hände legten sich auf ihre Schultern und drehten sie sanft herum. Ihre eigenen fanden den vertrauten Platz an seinen Hüften, als sich stoffbedeckte Lippen auf ihren Mund pressten. „Pass auf dich auf“, murmelte Kakashi und suchte ihren Blick. „Leichtsinnigkeit ist—“ „Ich weiß“, unterbrach Sakura. „Leichtsinnigkeit ist der sichere Weg zum Tod.“ Sie lächelte. „Ich erinnere mich noch sehr gut an jede einzelne Trainingslektion, Kakashi.“ Gerade zum Beginn ihrer Ausbildung hatte Kakashi den Rekruten ihrer Einheit das Leben schwer gemacht. Auch heute galt er noch als der Ausbilder, bei dem die wenigstens Rekruten tatsächlich am Ende bestanden und zu einer höheren Einheit aufgestiegen waren. Andererseits erzielten seine ehemaligen Schüler auch oftmals die höchsten Ergebnisse und machten sich einen Namen. War Sakura deshalb von Erwin Smith für die Scouts angeheuert worden? Weil sie unter Kakashi trainiert hatte? Womöglich hatte das gar nichts mit ihren eigenen Fähigkeiten zu tun... Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Nein, das konnte es nicht sein. Einen guten Ausbilder zu haben war noch lange keine Qualifikation für den Erkundungstrupp, da war sie sich sicher. Am Ende des Tages war Kakashi nicht da, um ihr Tipps zu geben, sondern sie stand allein den Entscheidungen gegenüber. Am Ende war man immer auf sich allein gestellt, was dieses Leben manchmal furchtbar einsam machte. Sakuras Hände rutschten von Kakashis Hüften und sie löste sich aus seinem Griff. „Ich schreibe dir, sobald sich eine Gelegenheit ergibt.“ Sie schritt zum Bett hinüber und hievte ihren Koffer auf den Boden. Kakashi sah ihr nach, hüllte sich jedoch in Schweigen, wofür Sakura dankbar war. Abschiede waren noch nie ihre größte Stärke gewesen und sie ahnte, dass Kakashi und sie sich in dieser Hinsicht nicht allzu sehr unterschieden. „Kannst du bitte dafür sorgen, dass Marin den Zimmerschlüssel bekommt?“, fragte Sakura, als sie im Vorbeigehen den Schlüssel auf den Tisch neben sein Buch legte. Ihre Augen glitten ein letztes Mal durch den Raum, der ihr in den letzten Jahren als Zuhause gedient hatte. Zu guter Letzt schaute sie Kakashi noch einmal an, wohl wissend, dass es das letzte Mal sein könnte, dass sie ihn zu sehen bekam. Andererseits war er einst ein Mitglied der Scouts gewesen und war ihren Fängen lebendig wieder entkommen. Sakura wollte daran glauben, dass nicht alles, was der Erkundungstrupp berührte, zu Asche zerfiel, dass es für eine Einheit mit einem derartig zuversichtlichen Gründungsmotiv noch Hoffnung gab. Sich abwendend verließ Sakura das Zimmer und trug ihren Koffer die knarrenden Stufen hinunter. In dem kleinen Gemischtwarenladen, über dem sie lebte, herrschte reges Treiben, weshalb sie gar nicht erst versuchte einen Blick auf Marin zu erhaschen. Die alte Frau hatte sich immer gut um sie gekümmert, weshalb Sakura sich bereits gestern Abend Zeit genommen hatte, um sich in Ruhe von ihr zu verabschieden. Sie trat hinaus auf die nassen Straßen, die sich unter einem sturmgrauen Himmel auftaten. Der Fahrer kam ihr entgegen, um ihr den Koffer abzunehmen und ihn zu verstauen, während Sakura in die Kutsche kletterte. Die Polster waren verschlissen, aber weich genug, damit man auch bei einer längeren Fahrt bequem sitzen konnte. Der Kutscher kletterte in der Zwischenzeit wieder auf seinen Platz und wies die Pferde mit harschen Worten an, sich in Bewegung zu setzen. Kakashi stand noch immer oben am Fenster, die Hände locker in den Hosentaschen tragend. Doch Sakura wandte den Blick ab und richtete ihn stattdessen auf zwei Jungen, die auf dem Bürgersteig mit ihrem Ball spielten. Sie bettete ihre Hände im Schoß und atmete tief durch. Nun gab es kein Zurück mehr. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Kapitel 4: meeting for the first time. -------------------------------------- Wenn man sich auf etwas verlassen konnte, dann dass sich Neuigkeiten wie ein Laubfeuer verbreiteten. Die neuen Rekruten verbrachten mehr Zeit mit dem Plaudern, als mit ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Trainieren. Sie hatten den Ernst der Lage offenbar noch nicht verstanden. Allerdings wusste Levi aus Erfahrung, dass diese Gelassenheit nicht von Dauer sein würde. Schon bald, spätestens nach der ersten Expedition, würde die gewohnte Stille wieder im Schloss einkehren, weil sie entweder den Titanen zum Opfer gefallen waren oder endlich verstanden hatten, wie das wahre Leben funktionierte. Levis Füße trugen ihn durch die nackten Gänge des Schlosses, in dessen Ecken sich noch immer das eine oder andere Spinnennetz befand. Gedanklich notierte er sich jedes einzelne von ihnen, um dem nächsten, der seinen Geduldsfaden überstrapazierte, die unschöne Aufgabe zu erteilen, sie zu entfernen. Der Gang mündete in der eingerichteten Krankenstation, die sich im östlichen Flügel ihres Stützpunkts befand. Der Regen, der unablässig gegen die Fensterscheiben prasselte, vermischte sich mit den Stimmen, die Levi noch vor dem Betreten entgegenschallten. Die Anwesenden waren um eine Liege im hinteren Teil des Zimmers versammelt. Dabei stach die Frau mit den rosafarbenen Haaren am meisten hervor. Sie hatte die Ärmel ihres Kittels hinaufgeschoben und die Haare zu einem unordentlichen Zopf gebunden. „Haltet ihn still“, forderte sie ihre zwei Helfer auf. „Sonst kann ich das Bein nicht richten.“ Levi verweilte im offenen Durchgang und verschränkte die Arme vor der Brust, während die anderen zwei Sanitätsoffiziere ihren Griff um den Mann auf der Liege verstärkten. Er gab ein leises Wimmern von sich. Dieses schwoll zu einem qualvollen Schrei ein, als Sakura Haruno den Knochen in seinem rechten Bein mit einem geübten Handgriff richtete. Er hallte von den Wänden wider und den Gang hinunter, doch in Levis Gesicht zuckte kein Muskel. Sakura wischte sich mit dem Handrücken ein paar Haarsträhnen und den Schweiß von der Stirn, bevor sie das Bein zu vergipsen begann. Ihr Patient hatte das Bewusstsein verloren und sein Kopf rollte zur Seite, so dass Levi ihm direkt in das Gesicht sehen konnte, welches leichenblass war. Sein Name war Collins Hill, wenn Levi den herumgehenden Gerüchten vertrauen konnte. Er löste sich von der Wand, an der er zuvor gelehnt hatte, und schlenderte in das Krankenzimmer hinein. Sein Weg führte ihn nicht zur Liege hinüber, sondern zu der Kommode, auf der ein halb verwelkter Blumenstrauß in einer Vase dahinvegetierte. Seine Finger schlossen sich um die Karaffe und er goss ein wenig des Wassers in eines der dort stehenden Gläser. Mit diesem trat er an die Ärztin heran, die inzwischen den Gips fertig hatte und auf den nächstbesten Stuhl gesackt war. Sie zog ihre Handschuhe aus und legte sie trotz der Reste der Gipsmasse auf ihrem Knie ab. „Hier“, entrann es ihm, als er ihr das Glas vor die Nase hielt. „Du siehst aus, als ob du es gebrauchen könntest.“ Sie hob den Blick und sah ihn aus grünen Augen verwundert an. Trotzdem nahm sie ihm beinahe automatisch das Glas ab und hielt es in den Händen. „D-Danke?“ „Was ist mit ihm passiert?“, fragte Levi und sein Blick wanderte langsam zu der Liege mit dem verletzten Soldaten hinüber. Es war eine Sache den Geschichten Glauben zu schenken, die wispernd in den Gängen erzählt wurden, eine andere es aus dem Mund einer sogenannten Spezialistin zu hören. Die anderen zwei Sanitätsoffiziere sahen zu ihm hinüber, doch als sie erkannten, um wenn es sich bei ihm handelte, kümmerten sie sich um die Aufräumarbeiten. Sie räumten all die benutzten Instrumente weg, um sie in Ruhe säubern zu können. Eine Antwort auf seine Frage blieb aus. Levis Augen kehrten zu Sakura Haruno zurück, die ihn skeptisch musterte. Sie hatte keine Ahnung, wer er war, das konnte er ihr deutlich ansehen. „Das Stahldraht seines 3DMG hat beim Training geklemmt. Sein Bein ist an zwei Stellen bei seinem Fall gebrochen“, erklärte sie, nachdem sie seine Abzeichen anvisiert hatte. Scheinbar hatten diese und seine Uniform ihr bestätigt, dass er kein einfacher Rekrut war, der aus reiner Neugier an den neusten Vorfällen interessiert war. „Aber nun da das Bein gerichtet ist, muss es nur noch heilen.“ „Bis zur nächsten Expedition wird er nicht fit sein“, murmelte Levi zu sich selbst, obwohl seine Verletzung im Großen und Ganzen keinen Unterschied machte. In Erwins Plan war vermutlich sowieso keinen Platz für einen derartigen Grünschnabel. Umso mehr überraschte es ihn, dass er jemanden wie Haruno seinem Team zuteilen wollte. Im Grunde war sie auch nichts weiter als eine ungeübte Anfängerin. „Nächste Expedition?“, hakte Sakura nach. Sie nahm einen Schluck Wasser, nur einen winzigen, was Levis Meinung nach weniger mit Durst zu tun hatte, als über ihre eigene Unwissenheit hinwegzutäuschen. „Soweit ich weiß, wird sie Erwin morgen früh bei der Besprechung bekannt geben“, antwortete Levi mit einem Zucken der Schultern. Sein müder Blick lag auf der jungen Ärztin, während ihrer nachdenklich zu den verregneten Fensterscheiben wanderte. „Ebenso, wer daran teilnehmen wird und in welchen Teamkonstellationen“, fügte Levi hinzu, was bedeutete, dass er bis morgen früh entschieden haben musste, ob er Sakura Haruno in seinen Squad akzeptierte oder nicht. „Ich bin sicher, dass ich mir darüber keine Gedanken machen muss“, sagte Sakura. „Immerhin wäre es unverantwortlich jemanden wie mich mitzunehmen. Im Moment wäre ich vermutlich nur ein Klotz am Bein. Ich habe schon seit Jahren kein 3DM-Gear mehr benutzt.“ Sie schüttelte den Kopf und weitere rosafarbene Haarsträhnen rutschten aus ihrem Zopf heraus. „Dann solltest du schnellstens mit dem Training anfangen“, schlug Levi vor. „Ich habe gehört, dass die Sanitätsoffiziere eine wichtige Rolle in der kommenden Expedition einnehmen werden. Und Erwin rekrutiert generell niemanden ohne einen Grund.“ Besorgnis huschte über ihr Gesicht und ihre Finger verkrampften sich um das Glas. Sie biss sich auf die Unterlippe, holte im nächsten Moment jedoch Luft, um etwas zu sagen. „Captain!“, rief eine vertraute Stimme aus und Sakura blinzelte. Petra trat mit einem freudigen Lächeln an sie heran. „Wie ich sehe, hast du Sakura schon kennen gelernt. Ich wollte sie gerade zu dir zum Vorstellen bringen, aber der Unfall kam dazwischen. Wie ich sehe, ist hier aber alles unter Kontrolle. Danke für deine schnelle Hilfe, Sakura.“ „Kein Problem, aber... Captain?“ Sakura sah von Petra zu Levi und Petra folgte ihrem Blick, bis er die Aufmerksamkeit beider Frauen auf sich ruhen hatte. „Sag bloß nicht, dass du dich nicht einmal vorgestellt hast“, tadelte Petra in einem halb amüsierten Ton. „Das ist Levi Ackerman.“ „Soweit ich mich erinnere, hat sie kein einziges Mal nach meinem Namen gefragt“, erwiderte Levi. „Ganz im Gegenteil, sie hat die Informationen über ihren Patienten vollkommen freiwillig herausgerückt.“ „Was heißt ‚freiwillig herausgerückt’? Ich...“, begann Sakura, brach jedoch ab, als sie ihren Fehler bemerkte. „Das war ganz schön hinterlistig, Captain“, flüsterte Petra, aber Levi machte sich nicht die Mühe, sich zu erklären. Im Endeffekt gab es nicht einmal eine Erklärung, denn er hatte keinen ultimativen Plan verfolgt oder Sakura absichtlich in eine Falle gelockt. Er hatte sich lediglich unterhalten. „Was machst du überhaupt hier, Petra?“, wechselte Levi das Thema, während Sakura sprachlos in ihr Wasserglas starrte. Das Lächeln kehrte sogleich wieder auf Petras Lippen zurück und sie strich sich ein paar der roten Haarsträhnen hinter das Ohr. „Ich bin hier, um Sakura ihr Zimmer zu zeigen. Jetzt, wo sie zu unserem Squad gehört, dachte ich außerdem, dass es nett wäre, wenn sie auch gleich Oluo, Eld und Gunther kennen lernt.“ Und Levi hatte wieder einmal Recht behalten. Neuigkeiten verbreiteten sich in kürzester Zeit, selbst in seinem eigenen Squad. „In eurem Squad?“, wiederholte Sakura und erhob sich langsam von ihrem Stuhl. „Ich? Bedeutet das—“ „Dass du trainieren solltest?“, beendete Levi für sie. „Eindeutig. Außer du willst ein Klotz am Bein sein und als Titanenfutter enden.“ Mit diesen Worten wandte er sich von der jungen Ärztin ab, um dem Krankenzimmer den Rücken zu kehren. „E-Er meint es nicht so“, hörte er Petra noch schlichten. „Captain Levi ist manchmal etwas grob, aber er würde nie...“ Den Rest schnappte Levi nicht mehr auf und im Grunde war es ihm ohnehin egal. Petra informierte stets alle neuen Rekruten über seine Verhaltensweisen und sorgte dafür, dass sie sich hier einlebten. Dieser Aufgabe hatte sie sich früh angenommen und bis jetzt hatte sie sich noch mit jedem angefreundet. Levi selbst legte keinen Wert auf diese sogenannten Freundschaften, denn das einzig ausschlaggebende war Vertrauen. Dort draußen hinter den Mauern war das der entscheidende Faktor um zu überleben und eine Einheit zu bilden. Kapitel 5: drinking tea. ------------------------ Schwitzige Hände, zittrige Finger, klamme Stirn und ein klopfendes Herz. Sakura musste ihr ärztliches Wissen nicht benutzen, um zu erkennen, dass dies alles Anzeichen von Nervosität waren. Von der innerlichen Ruhe, die mit ihrer Entscheidung und der Ankunft bei den Scouts einhergegangen war, war nichts mehr zu spüren. Nicht, seitdem Levi Ackerman ihr diesen kleinen Besuch abgestattet hatte. Sakura mochte sich nie viel mit den politischen und militärischen Entwicklungen auseinandergesetzt haben, doch selbst sie hatte von dem berühmten Captain gehört. Levi Ackerman war neben Erwin Smith das Aushängeschild des Erkundungstrupps. Er galt als der Stärkste der Menschheit, obwohl Sakura sich ihn etwas größer und autoritärer vorgestellt hatte, wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war. Allerdings nahm er kein Blatt vor den Mund, das hatte er deutlich klargemacht – und Sakura war auch noch so dumm gewesen, um ihn ihre Zweifel in ihrer Unwissenheit vor die Füße zu werfen. Ein Seufzen schlüpfte über ihre Lippen. Petra, die vor ihr herging, warf einen Blick über ihre Schulter. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Mach dir nichts aus Levis Worten. Er ist kein Menschenfreund. Zumindest nicht am Anfang. Er braucht etwas Zeit, um sich an neue Leute zu gewöhnen.“ „Er wusste ganz genau, wer ich bin“, entrann es Sakura, denn das war der ausschlaggebende Punkt. Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Und er hat nichts gesagt, sondern mich auf den Arm genommen. Was ist das denn für eine Begrüßung?“ Sakura holte mit Petra auf, als die rothaarige Soldatin mitten im Gang des Schlosses stehen blieb. Sie kam zum Halt und beide Frauen tauschten einen Blick aus. „Ich sage ja nicht, dass Levi gutes Benehmen hat oder überaus freundlich ist, aber dort draußen hinter den Mauern möchtest du niemand anderen an deiner Seite haben“, erklärte Petra. „Dass er dich in sein Squad aufnimmt bedeutet eine Menge. Ich bin sicher, dass ihr euch mit der Zeit arrangieren werdet.“ Sakura nickte. Zumindest galt das, sollte sie die erste Mission irgendwie überleben. Sie wollte optimistisch sein, aber es fiel ihr schwer. Zwar hatte sie schon unzählige Zeichnungen von Titanen gesehen, aber das war nicht dasselbe als einem gegenüber zu stehen. Würde man sie wirklich bei der nächsten Expedition schon dabei haben wollen? Levis Worte trugen mehr als nur einen Hauch von Logik in sich. Warum hatte Erwin Smith sie sonst rekrutieren sollen? Sicherlich nicht, damit sie tatenlos im Schloss herumsaß, während alle anderen hinter den Mauern ihre Leben riskieren. Sie wollte auch überhaupt nicht tatenlos herumsitzen und— Mit einer Handgeste bedeutete Petra ihr auch den letzten Rest des Weges zu folgen. Inzwischen befanden sie sich im Ostflügel, in dem einige Soldaten herumirrten. Stimmengewirr hallte an einigen Ecken von den kalten Steinwänden wider und schwere Holztüren standen offen, die Sicht auf Schlafstätten gaben. „Abgesehen von den Kommandanten und den Captains hat hier niemand eigene Zimmer“, fuhr Petra fort. „Du wirst also mit ein paar der anderen Sanitätsoffizieren vorliebnehmen müssen. Ich hoffe, das macht dir nichts aus.“ „Überhaupt nicht“, antwortete Sakura. „Das war damals in der Ausbildung ja auch nicht anders. Man gewöhnt sich daran.“ „Gut.“ Mit diesen Worten blieb Petra auch bereits vor der letzten Tür des Ganges stehen. Sie klopfte, aber nachdem sie keine Antwort erhielt, öffnete sie die quietschende Tür hinter dem sich ein leerer Raum verbarg. „Um die Uhrzeit sind die meisten nicht in ihren Zimmern“, erklärte Petra, als sie es betrat. Sakura folgte ihr und ließ den Blick über die Einrichtung gleiten. Zwei Hochbetten standen links und recht, während sich ein Tisch mit Stühlen in der Mitte befand und zwei altmodische Kommoden unter dem Fenster geradezu standen. Jacken hingen über Stuhllehnen und einige halbeingegangene Topfpflanzen standen auf dem Fenstersims. Ihr Koffer lag auf einem der unteren Betten, auf dem auch neues Bettzeug und eine feinsäuberliche Uniform platziert war. Obwohl die Gänge des Schlosses leblos und nackt wirkten, herrschte in diesen kleinen vier Wänden eine eigenartige Gemütlichkeit, die es nicht einmal in ihrem Zimmer über dem Gemischtwarenladen gegeben hatte. „Willst du erst einmal auspacken oder soll ich dich gleich dem Rest unseres Squads vorstellen?“, fragte Petra, die noch immer nahe der Tür stand. Sie war ein Stückchen kleiner als Sakura, aber ihr Lächeln nahm dennoch das ganze Schloss ein und verlieh diesem trostlosen Ort etwas Angenehmes. Petra empfing sie mit offenen Armen, wie es nur wenige Leute vollbrachten. Sakuras Mundwinkel zuckten in die Höhe. „Auspacken kann ich jederzeit. Ich würde mich freuen, gleich alle kennen zu lernen.“ Außerdem würde es nur schwerer werden, wenn sie es aufschob. Manche Dinge musste man sofort erledigen und die Wahrscheinlichkeit, dass die erste Begegnung mit dem restlichen Team genauso deprimierend wie die mit Levi ablaufen würde, bezweifelte Sakura. Niemand konnte so gefühlsarm sein, wie der sogenannte Stärkste der Menschheit. Oder etwa doch? „Ich wollte eh gerade für alle Tee kochen. Du kannst mir dabei helfen“, erklärte Petra, als sie das Zimmer verließen und um die Ecke bogen, hinter der sich ein weiterer Gang auftat. „Das gemeinsame Trinken von Tee ist sozusagen eine unausgesprochene Tradition in unserem Squad.“ „Also werde ich tatsächlich ein Teil des Teams?“, fragte Sakura und konnte sich das kritische Zusammenziehen der Augenbrauen nicht verkneifen. Levi hatte ihr nicht den Eindruck vermittelt, als würde er sie mit gutem Gewissen aufnehmen wollen. Ganz besonders nicht, nachdem sie sich selbst vor ihm in so ein schlechtes Licht gerückt hatte. Allein der Gedanke, dass sie sich selbst einen Klotz am Bein genannt hatte, trieb ihr die Röte ins Gesicht. Sie sollte wirklich manchmal den Mund halten und die Selbstzweifel für sich behalten. „Natürlich, Sakura“, antwortete Petra und warf ihr einen amüsierten Seitenblick zu. „Das hat Captain Levi doch selbst gesagt.“ Sakuras Schritte wurden langsamer, als sie die offene Küche erreichten. Levi hatte es gesagt? Er hatte sie nur wissen lassen, dass sie trainieren sollte, um eben kein Klotz am Bein zu sein. Sprach Petra davon? War das eine indirekte Zustimmung gewesen? Für Sakura hörte sich das nicht so an, andererseits kannte Petra ihn um einiges länger und verstand seine Ausdrucksweise daher wohl besser. „Wie lange gehörst du schon zu den Scouts?“, fragte Sakura, als Petra sie zum Ofen hinüber führte. Er war genauso alt und verschlissen, wie auch alles andere in diesem Schloss. Petra öffnete einen Hängeschrank und holte einen verbeulten Teekessel heraus, den sie mit Wasser aus dem quietschenden Hahn füllte. „Schon über ein Jahr.“ Sie stellte den Kessel auf den Herd, um das Wasser zu erwärmen, bevor sie eine Schublade aufzog, um den Tee herauszusuchen. „Holst du die Tassen? Die sind da neben dir im Schrank. Wir brauchen fünf – nein, von nun wohl eher sechs.“ Ein helles Lachen drang aus ihrer Kehle und sie zwinkerte Sakura zu, welche die Tassen herausholte und auf den breiten Tisch stellte. Sie setzte sich auf einen der Stühle, während Petra summend ein paar Teebeutel herausholte und sie hinüberbrachte, um sie in den Tassen aufzuteilen. Von dem vorigen Stimmengewirr war nichts mehr zu hören. Es war beinahe totenstill in diesem Teil des Gemäuers, doch Petra schien es nicht wahrzunehmen. Vielleicht hatte Sakura zu lange in einer trostlosen, aber chaotischen Stadt gelebt, so dass ihr das auffiel. Oder es war Petra, die schon zu lange hier lebte, abgelegen vom Rest der übriggebliebenen Menschheit. Der Kessel gab ein Pfeifen von sich und Petra nahm ihn vom Herd. Dieser Laut war vertraut genug, um ein paar Männer anzulocken, die mit einer angefangenen Unterhaltung in die Küche spazierten. „Bei dem Sauwetter kommt Tee zum rechten Zeitpunkt“, murmelte einer von ihnen und warf einen säuerlichen Blick zu den verregneten Fenstern hinüber. Sein dunkles Haar war kurz und sein Gesicht markant und ernst. Ein blonder Mann mit dem Bärtchen am Kinn stupste ihn mit dem Ellenbogen an. „Du findest doch bei jedem Wetter etwas, worüber du dich beklagen kannst, Gunther.“ „Halt den Mund, Eld.“ „Was für einen Tee hast du gekocht, Petra? Meinen Lieblingstee?“, fragte der Dritte im Bunde und zuckte vielsagend mit den Augenbrauen, als sie den Tisch erreichten und Petra heißes Wasser in die Tassen goss. „Du weißt genau, welchen Tee ich gemacht habe, Oluo. Bestimmt nicht deinen Lieblingstee“, erwiderte Petra. „Übrigens könnt ihr gleich unser neues Teammitglied begrüßen.“ Sie machte eine Handbewegung in Sakuras Richtung, als sich die Männer gesetzt und jeweils eine Tasse zu sich herangezogen hatten. „Das ist Sakura Haruno, unsere neue Sanitätsoffizierin. Sakura, das sind Eld, Gunther und Oluo.“ „Willkommen im Team“, murmelte Eld, nachdem er sich einen Schluck Tee genehmigt hatte. „Endlich haben wir eine eigene Ärztin. Das kann nur von Vorteil sein“, entrann es Gunther lächelnd. „Es sind schon genug Soldaten umgekommen, weil sie nicht richtig behandeln worden sind. Wenn überhaupt.“ „Vielleicht kannst du dir irgendwann mal meinen Rücken anschauen, Sakura. Ich bin irgendwie schon seit Ewigkeiten vollkommen verspannt“, begann Oluo, doch bevor er weitersprechen konnte, schlug Petra ihm bereits mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf. „Deinem Rücken geht es blendend, Oluo! Also tu nicht so und benimm dich ausnahmsweise mal, verstanden?“, tadelte sie ihn, sein leises Wimmern ignorierend, da er sich den heißen Tee über das Hemd geschüttet hatte. Sakura presste die Lippen belustigt aufeinander. „Freut mich, eure Bekanntschaft zu machen“, sagte sie anschließend, musste sich jedoch erst gar keine Gesprächsthemen aus dem Ärmel schütteln, um unangenehme Stille zu vermeiden. Solch eine Stille schien es in diesem Team nicht zu geben, denn Sakura stand nicht im Rampenlicht. Ihre Anwesenheit wurde stattdessen schlicht und einfach akzeptiert und in dem Ganzen integriert. „Gesellt sich Levi noch zu uns?“, fragte Eld und nickte in die Richtung der letzten Teetasse, die dampfend zwischen den Sitzenden auf dem Tisch stand. „Wahrscheinlich nicht, sonst wäre er sicher schon hier. Er ist beschäftigt. Ich werde ihm einfach den Tee in sein Zimmer bringen“, sagte Petra und ihr eben noch genervter Blick hinterließ eine Sanftheit, die Sakura aus eigener Erfahrung kannte. Sie hatte diesen Ausdruck oft genug im Spiegel gesehen. Damals, als Sasuke noch nicht dermaßen unerreichbar für sie gewesen war. Sakura senkte den Blick in ihre Tasse hinein. Der Tee war hell und roch nach Minze. Es war mit Sicherheit Levis Lieblingstee. Kapitel 6: a rainy morning. --------------------------- Der Morgen brach kalt und regnerisch an. Es war ein typischer Herbsttag, wie es sie jedes Jahr auf ein Neues gab. Levi drehte dem Fenster den Rücken zu, als die Tür zum Konferenzzimmer sich öffnete. Hineinmarschiert kamen alle Soldaten, die Erwin mit seiner Hilfe für die bevorstehende Mission auserkoren hatte. Levis verschlafener Blick blieb jedoch an dem rosafarbenen Haarschopf hängen, der soeben in seinem Blickfeld auftauchte. Sakura hatte ihre Zivilkleidung gegen die übliche Uniform der Scouts eingetauscht, während sie ihre Haare nun offen trug. Sie waren zu kurz, um auch nur ihre Schulterblätter zu berühren. Petra ging an ihrer Seite und gemeinsam setzten sich beide Frauen in die zweite Reihe der im Raum aufgestellten Stuhlreihe. Levis Mundwinkel zuckten in die Tiefe und er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper, als auch die anderen Soldaten ihre Plätze einnahmen. Er wusste ganz genau, worauf das hinauflaufen würde. Petra würde sich mit ihr anfreunden – und wenn er sie nach dem Grund dafür fragte, würde sie ihm ganz bestimmend, wenn auch mit einem zögerlichen Lächeln, erklären, dass die einzigen Frauen im Squad eben zusammenhalten mussten. „Was denkst du?“, erklang Erwins Stimme neben ihm, gesenkt und viel zu interessiert. „Was soll ich schon denken?“, stellte Levi die Gegenfrage und hob den Blick. Der Ansatz eines Schmunzelns lag auf Erwins Lippen, welches ihn die Augen verdrehen ließ. „Du hast mir Miss Haruno bezüglich noch keine offizielle Antwort gegeben“, sagte er, obwohl sie beide wussten, dass Erwins Ausdruck allein ausgereicht hatte, damit Levi den Bezug der Unterhaltung aufschnappte. Erwin war durchschaubarer, als er zu sein glaubte. „Du hast sie hierher bestellt, Erwin“, erwiderte Levi. „Also kennst du die Antwort bereits.“ Genauso wenig wie er Erwin etwas vormachen konnte, konnte Erwin es ihm. Seine Augen kehrten zu Sakura zurück, die sich mit Petra unterhielt und sich offensichtlich all die neuen Gesichter einprägte. „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sie für eine Mission dieser Art bereit ist, aber wir wurden alle einst ins kalte Wasser geworfen. Entweder schwimmt sie oder sie sinkt.“ Erwins Lippen entwich ein zustimmender Laut, der fast gänzlich in dem Stimmengewirr, welches das Konferenzzimmer erfüllte, unterging. „Obwohl...“, räumte er ein, offenbar als Gedankenblitz. Levi wusste es besser, schwieg jedoch. „Die wirklich wichtige Frage erscheint mir eher, ob du in der Lage sein wirst, dich auf sie verlassen zu können.“ Kaum hatten diese Worte Erwins Mund verlassen, schallte bereits ein schrilles „Erwin!“ durch den Raum. Die Anwesenden drehten die Köpfe in die Richtung der Tür und auch Levis lustloser Blick glitt zu Hanji hinüber. Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen und sie stand mit den Händen in die Hüften gestemmt im Türrahmen. Erst als sie die volle Aufmerksamkeit hatte, marschierte Hanji zu ihnen hinüber. „Du hast eine derartig entscheidende Expedition geplant und ich erfahre erst jetzt davon?“ „Ich befand, dass Geheimhaltung in diesem Fall am angebrachtesten ist“, antwortete Erwin. „Levi ist der einzige, der davon wusste.“ „Es ist eben nie eine gute Idee, Plappermäulern von den wirklich wichtigen Dingen zu erzählen“, gab Levi zu bedenken. Hanji zog eine Schnute. „Trotzdem... mir so etwas Spannendes vorzuenthalten, ungeheuerlich! Es ist schließlich nicht so, als würde ich auf den nächstbesten Schlossturm klettern und es herausposaunen.“ „Das nicht“, sagte Erwin. „Aber—“ „Aber in deinem Eifer plapperst du alles mögliche aus, Brillenschlange“, fasste Levi zusammen, bevor er Hanji mit einem empörten Gesichtsausdruck stehen ließ und sich auf die andere Seite des Raums begab, um sich dort an die Wand zu lehnen. Erwin schnaubte, bevor er sich an die versammelten Soldaten wandte. „Ihr solltet inzwischen alle mitgeteilt bekommen haben, warum ihr hier seid und dass die bevorstehende Mission keine normale Erkundungsexpedition sein wird“, begann er, ehe er die genauen Details erklärte. Eine Karte war hinter seinem Rücken aufgespannt und trug in etwa dieselben Markierungen wie die Karte, die Erwin ihm vor ein paar Tagen gezeigt hatte. Zudem war die Formation, die sie benutzen würden, dort aufgezeichnet. Levi hörte jedoch nur mit halbem Ohr zu, während er die Versammelten musterte. Selbst einige der erfahrensten Soldaten wich die Farbe allmählich aus dem Gesicht. Gemurmel brach aus. Levi schnappte nur hin und wieder ein paar Wortfetzen auf, doch es war einfach zu erahnen, was ihnen allen bei dieser Ankündigung durch den Kopf ging. Jahrelang hatten sie sich außerhalb der Mauern begeben, nur um den Titanen als Mahl zu dienen und am Ende doch nichts zu erreichen. Nur Erwins Führungsqualitäten hatten den Trupp zusammengehalten und dafür gesorgt, dass die Männer und Frauen nicht desertierten. In dieser Einheit war die Loyalität wichtiger, als in jeder anderen. Nun schien sich das Blatt jedoch gewendet zu haben, jetzt gab es einen neuen Plan, der neue Risiken mit sich brachte, aber auch so etwas wie eine vage Hoffnung, an die keiner mehr so richtig glauben konnte. Levi verstand es, war sich aber auch bewusst, dass ihnen niemand die Entscheidung, ob sie die Hoffnung am Leben erhielten, abnehmen konnte. Das musste jeder Soldat im Raum für sich selbst ausmachen und mit den Konsequenzen dieser Entscheidung leben. Erwin endete mit einem „Wir werden in zwei Tagen aufbrechen. Wenn es noch Fragen gibt, wendet euch an euren zuständigen Teamcaptain“, bevor er die Anwesenden mit all ihren Zweifeln und Gedanken entließ. Das anfängliche Gemurmel des Erstaunens war einer drückenden Stille gewichen, die von dem Schaben von Stühlen und unzähligen Schritten auf dem Steinboden begleitet war. Levi lehnte auch weiterhin an der Wand und beobachtete die Soldaten, die an ihm vorbeigingen und das Konferenzzimmer verließen. Sein Blick begegnete Sakuras, die ihn erwiderte. Eine Art der Entschlossenheit zeigte sich auf ihrem Gesicht, als sie zusammen mit Petra, die ein Salut andeutete, an ihm vorbeiging. Er sah ihr nicht nach, sondern löste sich stattdessen von der Wand, um Erwin mit gemütlichen Schritten anzusteuern. „Ich schätze nun wird allen klar, warum wir in der letzten Zeit die Vorräte so gestreckt haben und warum die Trainingseinheiten verschärft worden sind“, entrann es ihm und Erwin nickte. „Es macht mir keinen Spaß Geheimnisse zu haben und allen etwas vorzuenthalten, aber... es ist effektiver“, erwiderte Erwin. Levi sagte nichts, als er ebenfalls den Raum verließ. Diese Taktik war effektiver, um möglichen Spionen, die für die Regierung oder anderen Organisationen arbeiteten, Informationen zu enthalten. Zudem verhinderte es, den Soldaten zu viel Zeit einzuräumen, um über die bevorstehende Expedition und ihren möglichen Tod nachzudenken. Sein Weg führte ihn in die Küche des Schlosses, in dessen angrenzenden Speisesaal einige Soldaten freudlos auf trockenem Brot herumkauten. Harsche Worte erfüllten den Raum, verebbten jedoch binnen Sekunden, als man Levi entdeckte. Er schenkte ihnen keinen einzigen Blick, als er sich eine Tasse aus dem Schrank holte, einen Teebeutel hineingab und ein bisschen heißes Wasser aus dem Kessel hineingoss. Anschließend verließ er die Küche wieder, konnte aber in der Ferne noch vernehmen, wie die Unterhaltung hektisch wieder aufgenommen wurde, als könnte da einer seine Gedanken nicht mehr für sich behalten. Levi konnte es kaum weniger interessieren, worüber sie sprachen und wie sie zu der Mission standen, solange sie in zwei Tagen auf dem Rücken ihrer Pferde saßen und ausritten, um sie zu erfüllen. Regentropfen schlugen noch immer im monotonen Rhythmus gegen die Fensterscheiben und ertränkten die Welt dahinter in Farblosigkeit. Gelangweilt betrachtete Levi das trostlose Wetter und schlenderte durch den Gang, der ihn zu seinem Quartier brachte. Auf dieser Seite des Schlosses war der östliche Turm zu sehen, der wie ein stiller Koloss, größer als die meisten Titanen, Wache stand, während der Trainingsplatz von Steinmauern umschlossen und vollkommen verlassen dalag. Farbe in einer grauen Landschaft zog Levis Aufmerksamkeit auf sich und er blieb stehen. Scheinbar war der Trainingsplatz doch nicht so verlassen, wie er angenommen hatte. Mit zwei Schritten hatte er das Fenster erreicht und bettete einen Unterarm auf den kalten Sims. Seine Augen waren an die Person dort unten geheftet, die sich als Sakura Haruno herausstellte. Sie stand allein auf dem Platz und schnallte sich umständlich die 3DM-Ausrüstung um die Hüften. Der Wind zog an dem grünen Umhang, den sie trug und der sie vor dem Regen schützen sollte. Doch der Wind riss ihr die Kapuze vom Kopf und Sakura zerrte sie unbeholfen wieder über ihre Haare. Sie stand halb mit dem Rücken zu ihm, was ihm einen Blick auf die auf den Mantel gestickten Flügel verlieh, auf das Zeichen des Aufklärungstrupps. Hatte er sie falsch eingeschätzt? War sie doch nicht einfach das verwöhnte Mädchen, das bei den Aristokraten hinter Wall Sina aufgewachsen war und sich nun einbildete Soldatin spielen zu können? Traute sie sich selbst doch mehr zu, als sie angedeutet hatte? Oder trainierte sie hier draußen im Regen, weil sie es eben nicht tat? Levi hob die Tasse an seine Lippen, als er zusah wie der Regen unablässig auf sie herabfiel und sie trotzdem die zwei Schwerter an ihren Hüften hervorzog. Sie lagen schwer in ihren Händen, das konnte er selbst aus der Ferne sehen. Aber Levi konnte gleichzeitig auch sehen, wie sie trotz allem ihr Gewicht verlagerte und mit den Klingen in einer Angriffstechnik ausholte, welche den Nacken eines Titanen mit Präzision durchtrennen konnte. Die Technik existierte, ausgearbeitet und akkurat, nur an Erfahrung mangelte es. Kapitel 7: spoken words. ------------------------ Die Nacht war aus Tinte gemacht. Sakura tauchte in sie ein, als sie die schwere Tür hinter sich zuzog, die das Licht der letzten brennenden Kerze hinter den dicken Schlossmauern einsperrte. Über dem Schlosshof tat sich das Firmament auf und Sterne glitzerten. Im Gegensatz zu den Menschen, die sich in selbstgemachten Käfigen einschlossen und es Sicherheit nannten, trug das kleine Stückchen Himmel über ihrem Kopf die wahre Bedeutung von Freiheit in sich. Das Firmament war die Verkörperung der Freiheit – und Sakura kribbelte es bei dem Gedanken, bald mehr von diesem Himmel und den Sternen zu sehen, unwillkürlich im Bauch. Doch die Aufregung, endlich einmal einen richtigen und uneingeschränkten Blick hinter die Mauern werfen zu können, war von der Tatsache begleitet, dass es das Letzte sein könnte, was Sakura jemals tun würde. Den freien Himmel und die wilden Landschaften einmal bewundern, um danach nie wieder etwas zu Gesicht zu bekommen. All das war Grund genug, um in den Nächten kein Auge mehr zuzubekommen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, überhaupt eine Nacht auch nur ansatzweise durchgeschlafen zu haben, seit sie sich bei dem Erkundungstrupp befand. Selbst das Training konnte sie nicht genug auslaugen, um die endlosen Gedanken zu verhindern, die mit dem Erlöschen des Lichts Einzug in ihren Kopf hielten und sie jedes Mal wieder heimlich aus dem Zimmer trieben. Ob Ayana und Suwanee, die beiden Frauen mit denen Sakura sich den Raum teilte, ihre Abwesenheit bemerkten oder nicht, konnte sie nicht sagen. Niemand sprach sie darauf an und keiner schenkte ihr mehr Aufmerksamkeit als nötig. Sie verstand sich mit allen gut, mit Petra jedoch am meisten und mit Levi am wenigsten. Der Captain ihres Squads hatte seit der ersten Begegnung kein Wort mehr mit ihr gewechselt, nur manchmal konnte Sakura im Vorbeigehen seine Blicke scharf wie Skalpelle im Rücken spüren. Womit sie diese Art der Abweisung verdient hatte, konnte sie sich allerdings nur vage vorstellen. Sie hatte sich vielleicht blamiert, aber er war derjenige gewesen, der sich unfreundlich benommen hatte. Ein Funke Wut keimte in Sakuras Brust auf, als sie die Scheune mit dem angrenzenden Pferdestall erreicht hatte, die am Rande des Schlosshofs nahe des Torbogens erbaut worden war. Wieso es sie ausgerechnet hierher lockte blieb eine Frage, die sie sich selbst nicht beantworten konnte. Sie wusste nur, dass die Pferde etwas Beruhigendes ausstrahlten, etwas Intelligentes und Starkes. Das hier waren keine gewöhnlichen Reittiere, wie Sakura sie jeden Tag im Trost-Distrikt die Kutschen und anderen Lasten der Menschen hatte ziehen sehen. Nein, die Pferde des Erkundungstrupps waren für die Weiten der Welt und all ihre zweibeinigen und menschenfressenden Gefahren trainiert. Sie hatten schon mehr als Sakura im Leben erlebt und dafür respektierte sie diese Tiere. Blind tastete Sakura an der Wand entlang, nachdem sie sich in den Stall geschoben hatte. Der Geruch von frischem Heu stieg ihr in die Nase, als ihre Fingerspitzen gegen das Regal stießen und die Laterne und Streichhölzer daneben identifizierten. Mit geübten Bewegungen entzündete sie die Laterne, die den Stall sogleich ins Halbdunkel tauchte. Einige Pferde reckten die Köpfe in die Höhe, während andere genüsslich auf dem Heu herumkauten. Keines von ihnen störte sich an Sakuras Anwesenheit, sondern hatten sich wahrscheinlich bereits an sie gewöhnt. Ein schmales Lächeln huschte über ihre Lippen. Die Laterne ließ sie auf dem Regal stehen, als sie näher an eines der Pferde herantrat und die Hand nach ihm ausstreckte. Der braune Hengst beäugte sie für einige Momente, presste schließlich jedoch seine Stirn gegen ihre Finger, als Sakura ihn streichelte. Spürte er ihre innerliche Unruhe? Es schien fast so. Vielleicht war es aber auch nur Einbildung oder Wunschdenken. Viele Dinge, die sie von ihrer bevorstehenden Mission ablenken konnten, gab es hier in diesem Schloss nicht. Es gab auch nur so viele Gesprächsthemen und so viele Soldaten zu verarzten, die sich beim Training verletzten. Doch Petra hatte ihr versichert, dass ihre Fähigkeiten als Ärztin noch früh genug auf die Probe gestellt und dass sie dort draußen gebraucht werden würden. Aber würde sie ihnen wirklich eine Hilfe sein? Nicht, wenn der erste Titan, der ihren Weg kreuzte, sie erwischen würde, das war sicher. Aber dafür trainierte sie diese zusätzlichen Stunden, wenn alle längst beim Abendessen saßen und die Dunkelheit langsam über die Mauern kroch, um den Schlosshof zu fluten. Alles, was Sakura dann noch blieb, war Petras Gesellschaft, die ihr etwas vom Abendessen aufhob und vorbeibrachte, und ihre Briefe, die sie an Kakashi schrieb, aber von denen sie bisher keinen einzigen abgeschickt hatte. Was sollte sie ihm sagen? Dass sie womöglich doch einen Fehler begangen hatte? Dass sie trainierte, aber nicht das Gefühl hatte, etwas damit zu erreichen? Dass Captain Levi sie zwar in seinem Squad akzeptierte, aber er nicht gut auf sie zu sprechen war? Dass Erwin Smiths Plan nach purem Selbstmord klang? Dass ein Teil von ihr sich wünschte, dass sie in Trost und bei— Sakuras Gedanken kamen zu einem abrupten Halt, als die Scharnieren der Tür ein langgezogenes Quietschen verlauten ließen. Ihre Augen zuckten zu dem Schatten hinüber, der sich aus der Finsternis draußen löste und in den Stall schlüpfte. Dabei verschluckte sich Sakura fast an ihrer eigenen Spucke, denn bei dem Neuankömmling handelte es sich ausgerechnet um Levi Ackerman. Ausdruckslos wanderten seine Augen durch den Innenraum, über die Tiere, das Heu und die Heugabeln und anderen Geräte, die an der linken Wand sorgfältig aufgehangen waren. Erst danach kam sein Blick auf Sakura zum Liegen, als hätte er sie eben gerade erst entdeckt oder als wäre sie bloß ein weiterer Gegenstand hier drinnen. Er wandte sich dem Regal mit der Laterne zu und ließ eine Fingerkuppe über die glatte Oberfläche gleiten, um möglichen Staub zu inspizieren. Sakura war sich fast sicher, dass er das regelmäßig tat, denn sein Ruf zur Reinlichkeit war ihm weit voraus. „Scheinbar nehmen sie euch beim Training nicht hart genug ran, wenn du immer noch die Bettruhe missachten kannst, Haruno“, durchbrach er die Stille zwischen ihnen und erinnerte Sakura somit unangenehm daran, weshalb sie wie festgefroren dastand und ihr Rücken bis zum Schmerzen durchgebogen war. Sie schnappte nach Luft, als sie nach einer glaubwürdigen Erklärung suchte, aber nicht fündig wurde. Grundgütiger, scheinbar war es ihr nicht vergönnt, auch nur einmal bei ihrem Teamleiter einen einigermaßen anständigen Eindruck zu hinterlassen! Jetzt hielt er sie nicht nur für ein Plappermaul ohne Selbstbewusstsein, sondern für ein regelbrechendes Plappermaul ohne Selbstbewusstsein. Sakuras Schultern sackten und sie wandte den Blick von dem Mann ab, der ohnehin nur grobe Worte für die Welt übrig hatte. Ihre Hand kehrte zu dem Pferd zurück und sie streichelte dem Tier, das den Kopf gesenkt hatte, um an das Heu heranzukommen, den Hals. Scheinbar war Levi frei von sämtlichen Zweifeln von denen Sakura einfach nicht loskam. Lag das an seiner jahrelangen Erfahrung oder doch an seiner Persönlichkeit? War er die Sorte Mensch, an der sämtliche Ängste abperlten? Doch das glaubte Sakura nicht. Niemand war dermaßen eiskalt, nicht einmal Levi Ackermann. Ihren Gedanken nachhängend bemerkte Sakura erst nach einigen Sekunden, dass dieser noch immer rechts von ihr am Regal stand. Er hatte die Arme locker vor dem Oberkörper verschränkt und sah mit unergründlichem Blick in ihre Richtung. Auf was wartete er? Dass sie zurück ins Schloss ging und in ihr Bett kroch, weil sie eigentlich zu dieser Uhrzeit nichts mehr hier draußen zu suchen hatte? Sakura wollte ihn danach fragen, aber letztendlich rutschte ihr eine völlig andere Frage über die Lippen: „Hast du nie irgendwelche Bedenken oder Zweifel, Captain?“ Sogleich schlug sie sich mit der flachen Hand gegen den Mund, da sie Levi nicht einmal gesiezt hatte. Doch dieser blinzelte nicht einmal. Sein Gesicht blieb auch weiterhin ausdruckslos, unbeeindruckt, beinahe verschlafen. Er schwieg und kam ein paar Schritte auf sie zu, bis er neben ihr stand. Seine Augen waren auf das Pferd gerichtet, welches nur das Ohr erwartungsvoll in seine Richtung drehte, während Levi auch Sakuras vollkommene Aufmerksamkeit auf sich ruhen hatte. Ihr Blick klebte an seinen Lippen und ihr Herz pochte gegen ihren Brustkorb. Jetzt würde er ihr sagen, dass er sie nicht bei der Mission dabei haben wollte. Dass man sich auf jemanden, der schon jetzt Erwin Smith und seinen Plan anzweifelte, nicht verlassen konnte. Sakuras Hand fiel von dem Hals des Pferds und Levis ersetzte sie. „Es gibt niemanden hier, der sich keinerlei Gedanken macht“, sagte er schließlich und etwas Nachdenkliches schwamm in seiner sonst so gleichgültigen Stimme mit, als er den Hengst tätschelte. „Aber... wenn du dir zu viele Gedanken machst, bist du vielleicht falsch bei dem Erkundungstrupp. Darüber solltest du dir im Klaren sein, bevor wir aufbrechen. Das ist etwas, was niemand außer dir wissen kann.“ Damit wandte er sich ab und schlenderte aus dem Stall hinaus, als hätte er ihr diese Worte nicht soeben einfach vor die Füße geworfen. Er ließ die Tür offen stehen, als ihn die Dunkelheit verschluckte, die in wenigen Stunden bereits der Dämmerung weichen würde. Ein heiseres Lachen steckte in Sakuras Kehle und ihre Mundwinkel hoben sich zu einem freudlosen Lächeln, um ihm Ausdruck zu verleihen. Er hatte keine Ahnung, nicht die geringste. Sakura hatte sich in letzter Zeit mit nichts anderem beschäftigt, als diese eine Frage zu beantworten. Sie stellte sie sich beim Aufstehen, jede Sekunde, die sie auf dem Trainingsplatz verbrachte, wenn sie Tee mit Petra und den anderen trank und beim Schlafengehen. Die Antwort, ihre Antwort, fiel jedoch jedes Mal gleich aus: Es musste der richtige Platz für sie sein, denn sie hatte keinen anderen. Sie konnte nicht einfach ihre Sachen packen und nach Trost zurückkehren, zu Kakashi, weil die Unsicherheit die Oberhand gewonnen hatte. Sakura musste wissen, wie weit sie gehen konnte, wo ihre Grenzen lagen und ob sie all dem gewachsen war. Sie wollte dem hier gewachsen sein, denn sie glaubte an diese Mission. Kapitel 8: the wall. -------------------- Levis Faust war hart und laut auf dem Holz. Sie war ein Donnerschlag in der friedlichen Stille des bewölkten Morgens. Ein dumpfes Geräusch auf der anderen Seite der Tür ertönte, gefolgt von einem Schmerzensschrei. Anstatt darauf zu warten, dass man ihn hineinbat, öffnete Levi die Tür, verweilte jedoch in deren Rahmen. Eine der Frauen war aus dem Bett gefallen und rappelte sich unter seinem gelangweilten Blick auf, um ihm zu salutieren. Eine zweite sah von dem Hochbett hinunter und zog die Decke bis zum Kinn hinauf, obwohl Levis Blick nicht ihr gehörte. Er legte sich auf Sakura, die dabei war sich in ihrem Bett aufzusetzen und sich die Augen zu reiben. „Zieh dich an“, verkündete Levi monoton. Im selben Atemzug trat er ein und legte die Ausrüstung, die er bei sich trug, auf dem kleinen Tisch ab. Sein eigenes 3DM-Gear war bereits um seine Hüften geschnallt und stellte ein vertrautes Gewicht dar. „I-Ist etwas passiert?“, fragte Sakura mit schlaftrunkener Stimme. Ihre Finger hatten sich in die Decke verkrampft, scheinbar hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch einfach im Bett zu bleiben und seinem Befehl Folge zu leisten. Sorge huschte über ihr Gesicht und Levi deutete ein Kopfschütteln an. „Zieh dich einfach an. Ich warte vor der Tür“, sagte er, bevor er kehrt machte und aus dem Zimmer marschierte. „Und lass dir nicht zu viel Zeit.“ Mit diesen Worten zog er hinter sich die Tür zu und sobald er sie geschlossen hatte, konnte er Stimmen im Inneren vernehmen, diesmal wispernd. Keine von ihnen gehörte Sakura. Levi setzte ein paar Schritte nach rechts und lehnte sich dort gegen die Wand, die Arme vor dem Brustkorb verschränkt. Für seinen langen Geduldsfaden war Levi nicht bekannt, aber Sakura ließ ihn nicht warten. Binnen weniger Minuten stand sie bereits neben ihm im Gang, leicht verschwitzt und mit bebenden Händen, mit denen sie sich umständlich die Ausrüstung um die Hüften schnallte. Ihre Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, wie Sakura ihn stets beim Training oder bei der Arbeit in der Krankenstation trug. Sagen tat die junge Ärztin nichts, aber die Frage stand in ihren grünen Augen geschrieben und bedurfte keinerlei Worte. Levi ignorierte sie dennoch. Er setzte sich in Bewegung und bedeutete mit einer knappen Handbewegung an, dass Sakura ihm folgen sollte. Ihre Schritte hallten in dem kahlen Gang des Schlosses wider, fest und sicher, kein Stück zögerlich. „Ich habe mit Erwin gesprochen. Deine Schicht in der Krankenstation wird heute von jemand anderem übernommen“, erklärte er ihr, als er sie zum Stall hinüber führte, in dem sie sich erst vor ein paar Stunden inmitten der nächtlichen Dunkelheit über den Weg gelaufen waren. „Steht etwas anderes an? Etwas Wichtigeres?“, fragte Sakura, als sie den Stall erreichten, in dem ein paar neue Rekruten auf seinen Befehl bereits zwei Pferde gesattelt hatten. „Nein.“ Levis Antwort fiel knapp aus. Er nickte den Rekruten zu, nahm ihnen die Zügel eines der Pferde ab und schwang sich auf den Rücken des Tieres. Sakura tat es ihm gleich, richtete zuvor jedoch noch einige freundliche Worte an die jungen Soldaten. Diese hatte sie für Levi nicht übrig, aber das war besser, als unnötige Zeit mit langen und überflüssigen Reden zu verschwenden. Gemeinsam ritten sie aus, zunächst über den vertrauten Hof des alten Schlosses und durch das für sie geöffnete Tor. Blicke folgten ihnen, bis sich das Gitter des Tores wieder quietschend gesenkt hatte und sie über einen Hügel verschwunden waren. Die Morgensonne stand niedrig am blauen Himmel und schickte ihre orange-gelben Strahlen nur schleppend über die hohen Mauern, die sie von den Titanen und der restlichen unbewohnten Welt trennten. Das einzige Geräusch in der morgendlichen Stille und über den rauschenden Wind hinweg war das Getrampel der Pferde, die Hufe auf den sandigen Wegen und weiten Wiesen, die zwischen ihnen und dem Trost-Distrikt lagen. Nur kurz schielte Levi aus den Augenwinkeln zu Sakura hinüber, die auf einer hellbraunen Stute kaum einen Meter hinter ihm ritt. Die anfängliche Unsicherheit war aus ihrem Gesicht gewichen und hatte eine sichtbare Vorahnung hinterlassen. Er konnte es in den zusammengezogenen Augenbrauen sehen, in den Lippen, die zu einer schmalen Linie gepresst waren. Selbst Sakura wusste inzwischen welche Richtung sie einschlugen, auch wenn sie den Grund dafür nicht kannte. Oder ahnte sie doch etwas? Levi bezweifelte es. Sein Blick richtete sich geradeaus, weg von der jungen Ärztin, die Soldatin spielen wollte. Er lehnte sich tiefer über den Hals seines Pferds und presste die Hacken seiner Stiefel fester in seine Flanken, um die Geschwindigkeit zu erhöhen. Gemeinsam donnerten sie schweigend über die weite Fläche, die furchtbar endlos wirkte, wenn man nicht wusste, dass es hinter den Mauern weiterging. Wenn man nicht wusste, dass der Weg zwischen dem Hauptquartier des Aufklärungstrupp und dem Trost-Distrikts kein Vergleich zu der weiten und wilden Natur darstellte, die den Menschen schon so furchtbar lange enthalten wurde. Die alte Wut war noch immer da und brodelte unter der Oberfläche, in den verwinkelten Ecken seines Bauchs, seines Herzens. Die Sonne erhob sich über das ferne Gestein der Mauern und flutete die letzte Zuflucht der Menschen, während Wolken an dem blauen Himmel über ihren Köpfen hinwegzogen. Der Wind ließ die Blätter der Bäume rascheln, denen die Gräser gewichen waren. Letztendlich erhoben sich hinter den unzähligen Stämmen dichtere Mauern, die nicht weniger hoch waren. Die Mauern von Wall Rose bauten sich vor ihnen auf, mitsamt des Tores, welches direkt in das Trost-Distrikt führte. „Was machen wir hier?“, fragte Sakura, ihre Stimme rau und angespannt. Ihr Blick glitt von den Soldaten am Tor, die es auf Levis Zeichen hin öffneten, zu dem Squad-Captain hinüber, der sie nicht weniger emotionslos anschauen könnte. „Wir sind hier, damit ich dir etwas zeigen kann“, antwortete Levi, als die schweren Tore sich öffneten und ihnen Einlass erlaubten. „Oder dachtest du, dass es nur ein Ausflug zum Spaß ist?“ Er ließ ihr keine Zeit zum Antworten und trieb stattdessen sein Pferd an, damit es sich in Bewegung setzte. Sakura schnappte hinter ihm nach Luft, bevor sie es ihm gleichtat. „Das dachte ich ganz sicher nicht! Aber du bist unheimlich sparsam mit den Informationen, Captain.“ Ein paar der Soldaten erlaubten sich das Heben eines Mundwinkels, als sie Fetzen ihrer Unterhaltung aufschnappten. Kennen tat Levi sie nicht, aber sie kannten ihn und legten ihm keine Steine in den Weg, was das einzig Wichtige war. Sakura und er ließen sie zurück und trabten mit ihren Pferden durch die schmutzigen Straßen von Trost. Müll und Laub hatte sich an den Ecken gesammelt und die letzten Regenschauer hatten Pfützen in den unebenen Stellen auf dem Asphalt hinterlassen. Levi war nicht zum ersten Mal hier unterwegs. Ganz im Gegenteil, sie ritten jedes Mal durch Trost, wenn sie zu einer neuen Erkundungsmission aufbrachen oder mit ihren Toten nach Hause zurückkehrten. Er kannte den Distrikt und die Blicke der Menschen, die sie bei ihrem Kommen und Gehen beobachteten. Er kannte sie alle und sie alle waren Säure auf Levis Haut. Allerdings war ihm Trost dennoch nicht so vertraut, wie es Sakura war. Ihr Blick verriet es, der beinahe suchend umherwanderte. Fast so, als hielte sie Ausschau nach einer ganz bestimmten Person, obwohl sie laut ihrer Akte keinerlei Kontakt zu ihrer Familie hatte. Diese stammte ohnehin nicht aus Trost, da Sakuras Wurzeln ganz woanders lagen, was sie zu einer vollkommen ungewöhnlichen Wahl für den Aufklärungstrupp machte – und da wunderte sich Erwin, dass Levi Bedenken haben könnte. „Auf was wartest du?“, fragte er, als Sakura zurückfiel und er den Kopf drehen musste, um sie überhaupt bei dem ganzen Trubel auf den Straßen zu erkennen. „Wenn du etwas besseres vorhast, als deinem Captain Folge zu leisten, musst du es nur sagen.“ Seine Worte waren monoton, doch die winzige Drohung dahinter sein voller Ernst. Auch Sakura bemerkte es, die ein Lächeln aufsetzte, das ihre Augen nicht erreichte. Sogleich beschleunigte sie das Tempo ihres Pferds und holte mit ihm auf, während eine Kutsche langsam an ihnen vorbeifuhr und Bewohner mit ihren Körben und Kindern an den Händen die schmalen Bürgersteige entlang gingen. Hier herrschte das normale Leben, so normal wie es sein konnte, wenn man dicht an den Außenmauern und den Titanenangriffen lebte. Die meisten Soldaten, die sich in den Aufklärungstrupp hocharbeiteten, stammten aus Trost und anderen Dörfern, die sich nahe Wall Rose befanden. Die meisten waren Menschen, die das harte Leben kannten und wussten, was Hunger bedeutete, die von einer besseren Welt träumten. Nicht Menschen wie Sakura Haruno, die wohl geborgen hinter Wall Sina aufgewachsen waren, Freunde in hohen Plätzen hatten und sich doch dem Militärdienst verschrieben. Levi kannte den Lebenslauf der Ärztin auswendig, wenig wie er beinhaltete. Die Grundausbildung hatte sie früh abgelegt, erst danach hatte der Weg sie nach Trost geführt, in das Krankenhaus und letztendlich zu den Scouts. Nicht unweit von dem Tor, welches sie nach Trost geführt hatte, erreichten sie einen Außenposten. Bei ihm handelte es sich nur um einen kleinen Pferdestall und eine Hütte für Soldaten, die genau an die Mauern gebaut worden war. Levi zügelte sein Pferd und stieg ab, um es an den Stallburschen abzugeben. „Wir kommen sie in einer Stunde abholen. Du bist dafür verantwortlich, dass unsere Pferde bis dahin etwas zu trinken und essen bekommen haben“, sagte er an den jungen Mann gerichtet, der kaum dem Teenageralter entsprungen war. Der Junge versuchte einen Bart wachsen zu lassen, der stoppelig war und kahle Stellen aufwies. Er salutierte, stramm und stocksteif. „V-Verstanden, Sir!“ „Danke“, entrann es Sakura, als sie dem Jungen die Zügel ihres Pferdes überreichte und dem Tier noch einmal den Hals streichelte. Anschließend wandte sie sich Levi zu und ein Funken Bitterkeit blitze in ihren hellen Augen auf. Levi erwiderte ihren Blick ausdruckslos, die Augenbrauen leicht in stummer Frage und Herausforderung gehoben. Doch Sakura wartete, bis der Stallbursche ihre Pferde ins Innere des kleinen Schuppens geführt hatte, bevor sie ihre Hände zu Fäusten ballte und das Wort ergriff. „Ich wollte es nicht von einem Pferderücken zum anderen schreien, aber ich finde trotzdem, dass ich mir etwas mehr Respekt verdient habe“, verkündete sie. Ihre Stimme bebte, doch ausnahmsweise konnte Levi nicht mit Sicherheit sagen, ob es vor Wut, vor Unsicherheit oder einer Mischung aus beidem war. „Ich weiß, dass du etwas gegen mich hast, Captain, aber das ist noch lange keine Rechtfertigung, mich so unfreundlich zu behandeln. Oder generell alle Menschen.“ Sie atmete schwer, als ob ihr diese Ansprache schon eine Weile auf den Lippen gelegen hatte. „Bist du fertig?“, fragte Levi aber doch nur. Sakura setzte einen Schritt zurück. „Ja... Ja, bin ich“, sagte sie leiser, einem halben Seufzen gleich. „Gut, dann lass uns gehen.“ Levi nahm eines der Schwerter aus der metallenen Scheide an seiner Hüfte und betätigte die Bedienung der Stahlseile. Auf Knopfdruck schoss eines hervor und verankerte sich gezielt am oberen Ende der Mauer, furchtbar weit über ihren Köpfen hinweg. Er zog mit der freien Hand daran, doch es war sicher, was er ohnehin bereits wusste. Die Geste räumte ihm lediglich die Zeit ein, Sakura ein paar letzte Informationen vor ihrem Aufstieg zukommen zu lassen. „Wir sind hier beim Militär, nicht im Kindergarten. Hier geht es nicht darum nett zu sein, sondern um fähig zum Überleben zu sein. Und wenn ich dich nicht leiden könnte, würde ich mir nicht die Mühe machen.“ Er spezifizierte seine Worte nicht, denn im nächsten Moment ließ er das Stahlseil einfahren und sich mit einem Ruck in die Höhe ziehen. Sakura blieb unter ihm zurück, bis er oben angekommen war und sich mit den Händen das restliche Stück an der Mauer hochzog. Erst danach schätzte sie die Höhe ab, verankerte ihr eigenes Stahlseil und begab sich damit und mit einem bleichem Gesicht dem Gestein hinauf. Levi reichte ihr die Hand, um sie die letzten Zentimeter hochzuziehen und ihr aufzuhelfen. Ein leises „Danke“ war ihre Antwort, als hätte sie nicht erwartet, dass Levi Ackerman zu einer fast hilfsbereiten Geste fähig war. Doch binnen weniger Sekunden, in dem Moment, in dem ihre Augen die Weite des Landen zum ersten Mal erblickten, war jeder Gedanke an ihn vergessen. Bis zum Horizont und weiter erstreckten sich die weiten Wiesen, die in der Ferne in Wäldern übergingen, mit Bäumen so viel höher als alle, die es hinter den Mauern gab. Auch der Himmel lag ausgestreckt wie ein Teppich über ihr, vor ihr und verschmolz in der Ferne mit dem Land, auf dem sie noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Sakura stolperte ein paar Schritte vorwärts, so dass es Levi glatt in den Fingern juckte, sie an der Schulter zu packen. Erwin würde es ihm nicht verzeihen, wenn eine von ihm ausgesuchte Soldatin schon vor Beginn der Expedition von der Mauer in den Tod purzelte. Doch Sakura stützte die Hände auf dem Gestein ab, das eine Art Gelände bildete und kniehoch war. In regelmäßigen Abständen befanden sich Öffnungen, in denen Kanonen bereit standen und ferne Soldaten patrouillierten die Mauern, die sie nur aufgrund ihrer Uniform und dem Abzeichen des Aufklärungstrupps hier oben duldeten. Levi überbrückte den Abstand zu Sakura mit einem Schritt. Seine Finger schlangen sich nun doch um ihren Oberarm, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ohne sie unnötig zu erschrecken. „Dafür kämpfen wir“, entrann es ihm und er nickte der Freiheit entgegen, die so nah und greifbar und einnehmend war. Anschließend streckte er den Arm aus und deutete zur linken Seite, dort wo die Mauer einen ovalen Bogen zog, weit genug von ihnen entfernt, um nicht sofort erkenn- oder hörbar zu sein. „Und dagegen kämpfen wir.“ Sakura folgte seinem Blick zu dem Titan hinüber, der halb so hoch wie die Mauer war. Seine Finger kratzen an dem Gestein, das schon Jahrhunderte stand und von dem jeder hoffte, dass es noch weitere Jahrhunderte stehen würde. Ein verzehrtes Grinsen nahm die riesige Fratze ein, die sich den Soldaten auf der Mauer entgegen streckte, während er von einem Fuß auf den anderen trat, als könnte er weitergehen und als stünde ihm keine Barriere im Weg. „Wenn ich deinen netten Babysitter spiele, bringt dir das nichts“, sagte Levi. „Dort draußen bist du auf dich selbst gestellt. Du kannst dich zwar auf deine Kameraden verlassen, aber im Endeffekt stehst du dem Titanen am Ende allein Aug in Aug. Es kommt auf dich und deine Fähigkeiten an, ob du überlebst, Sakura.“ Seine Worte holten sie aus ihrer Erstarrung. Sie löste den Blick nur widerwillig von dem Titan, um Levi mit ihm festzunageln. „So wie ich das sehe, haben wir aber niemand anderes als unsere Kameraden. Gerade da draußen.“ Und sie machte eine schweifende Armbewegung zu den Wiesen und Bäumen, Wäldern und weiten Flächen, als sei Sakura mit ihnen vertraut, vertrauter als Levi, obwohl er derjenige war, der die Mauern schon unzählige Male verlassen hatte und die Einsamkeit und die Gefahren dieser Freiheit kannte. Vielleicht war es das, was Erwin in ihr gesehen hatte, ging es Levi durch den Kopf, als er Sakura musterte. Womöglich war es diese Entschlossenheit gewesen, die zwar von Zweifeln besät war, sich aber nicht von ihnen unterkriegen ließ. Kapitel 9: across the dining hall. ---------------------------------- Im Schloss war es warm und sicher und das völlige Gegenteil von der Welt dort draußen. Dort waren die Nächte endlos lang und dunkel und regnerisch. Allein bei dem Gedanken daran ging ein Beben durch Sakuras Körper. Vielleicht war es auch der Morgen, den sie mit Levi auf der Mauer verbracht hatte und der Anblick des Titanen gewesen. Sie hatte immer von ihnen gewusst, aber zuvor noch nie einen mit eigenen Augen gesehen. Der Unterschied war groß und morgen schon würden sie aufbrechen. Das war eine Gewissheit, an der es nichts zu rütteln gab, denn Erwin Smith hielt seine stets Pläne ein. Er war für sein Durchsetzungsvermögen bekannt, dafür, dass er seinen Plan in die Tat umsetzte. Sakuras Blick streifte ruhelos durch den Saal, größer und mit viel mehr Tischen bestückt, als das kleine Zimmer es war, das an der Küche grenzte und in dem Tee getrunken wurde. Der Speisesaal unterlag einem beständigen Stimmengewirr und dem Klappern von Geschirr. Es gab mehrere Tischreihen und sie alle waren besetzt. Die Anwesenden hauchten dem alten Schloss mit seinen kalten, grauen Mauern Leben ein und kreierten eine Verbundenheit untereinander, die Sakura so zuvor nicht gekannt hatte. Obwohl viele von ihnen nicht einmal den Namen der anderen wussten, da sie verschiedenen Einheiten angehörten, verband sie dennoch das gleiche Ziel. Sie alle wollten die Menschheit voranbringen, damit sie sich nicht länger verstecken mussten. Sie alle waren bereit ihr Leben für die Menschheit zu riskieren und sogar zu verlieren. An dem Tisch direkt neben Sakuras, den sie sich mit Levis restlichem Squad und den anderen Sanitätsoffizieren teilte, saß eine Gruppe neuer Rekruten. Sie waren erst vor wenigen Tagen angekommen und hatten erst vor kurzem ihr Training absolviert. Sakuras Blick blieb an der dunkelhaarigen Frau hängen, die schweigend dasaß und aß. Ihr Gesicht verriet keine Emotion, kein Gedanke, der ihr durch den Kopf ging. Das war Mikasa Ackerman, wenn sich Sakura richtig erinnerte. Sie konnte sich nur an die andere Frau erinnern, da sie den gleichen Nachnamen wie Levi trug, aber nicht mit ihm verwand war. Trotzdem teilten sie ein Talent, das ihnen scheinbar mit in die Wiege gelegt worden war. Sie beide waren ausgezeichnete Soldaten. Sakura hatte Mikasa beim Training gesehen. Es gab nicht viele, die dermaßen geschickt mit der Ausrüstung umgehen konnten. Ihr Ruf eilte ihr außerdem voraus, denn jeder hier wusste, dass sie das Training als Klassenbeste abgeschlossen hatte. Aus diesem Grund war sie auch einem der Teams zugeteilt worden, die morgen mit ihnen auf diese neue Erkundungstour aufbrechen würden. Sakuras Augen wanderten bei diese Gedanken unwillkürlich weiter und hinüber zu ihrem Captain. Levi saß am anderen Ende der Halle, fernab der neuen Kadetten und der alten Hasen, die schon eine Ewigkeit bei dem Erkundungstrupp gewesen und irgendwie die unzähligen Expeditionen überlebt hatten. Die Beine waren überschlagen und er führte die Teetasse an seine Lippen, der Teller bereits halbleer und die Gabel für den Moment abgelegt. Neben ihm saß Hanji, von der Sakura schon so einiges gehört hatte, ohne bisher ein Wort mit ihr gewechselt zu haben. Besonders ihre Faszination für Titanen war berühmt und machte seine Kreise unter den Männern und Frauen. Die beiden waren umgeben von anderen Soldaten und Erwin Smith selbst, der sich weitere Kartoffeln auf den Teller füllte und die Unterhaltung mit seinem Sitznachbarn weiterführte. „Du magst ihn, nicht wahr?“, erklang neben Sakura eine Stimme, die verschwörerisch leise war und sie dennoch zusammenzucken ließ. Petra hatte sich zu ihr hinübergelehnt. Ihre roten Haare umrahmten ihr Gesicht und ihre Lippen hatten sich zu einem freundlichen Lächeln verzogen, das trotzdem nicht ganz über die Traurigkeit dahinter hinwegsehen ließ. Galt diese Sakuras Gefühlen, die so seltsam und ihr selbst so unverständlich waren, oder ihren eigenen? Oder galten sie Levi, der in seiner Art furchtbar unerreichbar schien? Sakura kannte diese Sorte von Mensch besser als ihr eigentlich lieb war. Umso mehr überraschte es sie, dass sie immer noch so dumm war, dass sie sich zu einer solchen Person hingezogen fühlte. Dass ausgerechnet Levi, der vom ersten Tag unfreundlich zu ihr gewesen war, problemlos ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Lernte sie denn nie dazu? War sie dazu verdammt dieselben Fehler ständig zu wiederholen? Doch Sakura kannte sich selbst gut genug, um die Anzeichen zu erkennen und richtig zu deuten. Zumindest konnte sie es jetzt, da jemand es freiheraus aussprach und ihr die Wahrheit vor Augen hielt. Sakura schluckte schwer. Petra hatte recht. Sie... mochte Levi. Sie könnte ihn mögen, wenn sie es zulassen würde. Wenn sie bereit dazu wäre, wäre es einfach, fast zu einfach. „Es ist nicht so, als ob ich ihn tatsächlich mögen würde“, erwiderte Sakura und legte besondere Betonung auf das Wort, als könnte sie damit die komplizierten Gefühle ausdrücken, die sie in der Gegenwart des Squad-Captain hatte. Petra nickte. „Ich glaube, ich verstehe was du meinst. Ich weiß, dass ihr euch nicht so gut versteht, aber... du fühlst dich trotzdem zu ihm hingezogen. Er hat einfach diese Aura. Er muss nicht einmal viel dafür tun.“ Nun schüttelte sie den Kopf, bevor sie ihre Gabel zur Hand nahm und weiteraß, beinahe so als wäre nichts gewesen. Um diese Eigenschaft beneidete sie Petra fast. Sie war im Einklang mit ihren Emotionen und schämte sich nicht für sie. Petra konnte sich ohne viel Anstrengung ausdrücken und auch die anderen perfekt verstehen – und sie war auf Sakura nicht einmal sauer, dass sie ähnliche Gefühle zu haben schien. Sakura riss ihren Blick von der rothaarigen Soldatin los, um erneut in Levis Richtung zu sehen. Dunkle Augen bohrten sich in ihre hinein. Dieses Mal zuckte Sakura nicht zusammen, sondern fror ertappt in ihrer Haltung ein, obwohl sie wusste – wusste! – dass Levi sie nicht gehört haben konnte. Dass er nichts von dem kurzen Gespräch mit Petra mitbekommen hatte. „Ich... ich bin müde“, sagte Sakura an Petra gewandt und erhob sich. „Wir sehen uns morgen.“ Mit versucht ruhigen Schritten suchte sich Sakura den Weg zwischen den Tischen hindurch und kehrte dem Saal und Levi, dessen Augen sie immer noch auf sich ruhen spüren konnte, den Rücken. Obwohl Levi auf den ersten Blick stets desinteressiert wirkte, waren seine Sinne laserscharf. Sie musste vorsichtiger sein! Das Letzte, was sie wollte war, dass er ihre Schwäche ihm gegenüber bemerkte und sich darüber lustig machen konnte. Nicht, wenn sie sich geschworen hatte, dass sie sich nur auf ihre Arbeit konzentrierte. Dieses Versprechen hatte sie sich vor einer Ewigkeit selbst gegeben und sie war nicht bereit es zu brechen, nicht jetzt vor einer solch wichtigen Mission, die ihnen allen das Leben kosten konnte. Das kleine Zimmer, das sie bezogen hatte, stand leer, als Sakura es erreichte. Alle befanden sich im Moment im Speisesaal, was ihr ein paar Momente allein mit ihren Gedanken gab. Bisher hatte sich zwar alles in ihr dagegen gewehrt, doch nun war es beinahe eine Erleichterung sich an den Tisch im Zimmer zu setzen und Stift und Blatt zur Hand zu nehmen. Bisher hatte sich jede Zeile wie ein weiterer Abschied angefühlt, ein endgültiger diesmal, weshalb sie nie mehr geschrieben hatte. Doch das hier war der letzte Abend, den sie vorläufig in diesem Schloss verbringen würde. Sie hatte trainiert, lange und ausgiebig und hoffentlich genug. Sie fühlte sich bereit, obwohl sie wusste, dass man für eine derartige Expedition, für eine derartige Welt, nie bereit sein konnte – und genau das schrieb sie in den Brief, den sie Kakashi schuldete. Kapitel 10: preparations. ------------------------- Nebelschwaden hingen in der Luft und die Dunkelheit lauerte noch immer in jeder Ecke. Trotzdem waren sämtliche Bewohner des Schlosses bereits auf den Beinen. Besonderer Aufruhr herrschte auf dem Hof, auf dem die Soldaten hin- und herhechteten, um die Vorräte heranzuschaffen. Satteltaschen wurden gepackt und Pferde wurden gesattelt, während die einzelnen Teams sich zusammenfanden, um ein letztes Mal den Plan und die individuelle Route durchzugehen. Levi stand inmitten des organisierten Trubels, die Arme locker an den Seiten hängend. Der Wind zog an seinem grünen Umhang und sein trüber Blick gehörte den vorbeiziehenden Wolken. Im Moment hielt das Wetter noch, aber Levi machte sich nichts vor. Früher oder später würde der Regen wieder fallen und— „Captain Levi“, rief eine Stimme, die melodisch, aber gleichzeitig auch furchtbar ausdruckslos klang. Es war eine seltsame Mischung, aber das Gesicht, in das Levi schaute, war mindestens genauso emotionslos wie seines. Es gehörte Mikasa Ackerman, die stramm vor ihm stand und salutierte, denn aus irgendeinem Grund war sie die disziplinierteste Soldatin hier, obwohl sie erst mit den neusten Rekruten eingetroffen war. Levi kannte ihren Namen nur, da er mehrfach im belustigten Ton gefragt worden war, ob er mit der anderen Ackerman verwandt war. Dabei hatte er keinerlei Familienangehörige und noch weniger welche, die ein Teil des Erkundungstrupp waren. Davon wüsste er. „Was ist?“, fragte er. „Erwin hat eine Versammlung in zehn Minuten einberufen und mich beauftragt es an alle Teamleiter weiterzugeben“, erklärte sie und ihre dunklen Augen wanderten zu dem erhöhten Treppenabsatz des Schlosses hinüber, von dem Erwin stets eine letzte Ansprache hielt, bevor sie ausritten. Levi nickte träge. Kurz folgte er ihrem Blick, ehe er wieder zu Mikasa Ackerman sah. „Unter welchem Teamleiter reitest du?“ „Hanji, Sir“, antwortete sie und obwohl sie der überenthusiastischen Brillenschlange zugeteilt worden war, schwang keinerlei Zweifel und Missmut in ihren Worten mit. Sie war festentschlossen und bereit – und offensichtlich stimmte das, was man sich von der schwarzhaarigen Soldatin erzählte, die am ersten Trainingstag ihr Haar kurzgeschnitten hatte und schon jetzt aufgrund ihrer ausgeprägten Technik mit der Ausrüstung von vielen alten Hasen respektiert wurde. „Also hat Vierauge Erwin doch kleingekriegt...“, murmelte Levi. Kein Wunder, er konnte sich noch gut daran erinnern, wie aufgebracht Hanji gewesen war, als sie von der Besprechung erfahren hatte, zu der sie nicht eingeladen war. Diese Expedition würde sie sich nicht durch die Finger gehen lassen, das hätte Levi eigentlich klar sein sollen. Er senkte den Kopf und fuhr sich mit ein paar Fingerkuppen an der linken Augenbraue entlang. „Sorg dafür, dass Hanji nicht bei ihrem Liebäugeln mit den Titanen versehentlich von einem gefressen wird. Es macht sich nicht gut auf deinem Lebenslauf, wenn dein Teamleiter bei deiner ersten Mission stirbt, aber du überlebst“, sagte er an Mikasa gewandt. Trotz der groben Worte zuckte kein Muskel in ihrem Gesicht. Sie blinzelte nicht einmal, als sie seinem Blick standhielt. „Ist das ein Befehl oder eine Drohung, Sir?“ Levi hob halbherzig einen Mundwinkel. „Vielleicht ein bisschen von beidem, Ackerman.“ Etwas lag ihr auf der Zunge, das konnte er ihr ansehen, doch dann ging ihr Blick über seine Schulter hinweg und Levi wandte sich von ihr ab, um sich dem Neuankömmling zuzuwenden. „Unsere Pferde sind gesattelt und unser Proviant gepackt, Captain“, verkündete Petra mit einem freundlichen Lächeln und einer Hand im Salut gegen ihr Herz gepresst. Im Gegensatz zu Mikasa Ackerman stellte sie den strahlenden Sonnenschein dar. „Wo sind die anderen?“, fragte Levi, während er Mikasas Schritten auf dem Gestein lauschte, die sich entfernten und gänzlich verebbten. „Oluo und Eld sind in der Küche, um vielleicht noch ein paar Dinge von unserem Koch stibitzen zu können. Gunther ist bereits bei der bevorstehenden Versammelung und Sakura... Das Letzte Mal, das ich sie gesehen habe, hatte sie den Inhalt ihrer Tasche zum dritten Mal kontrolliert.“ Ein Pause folgte dieser Aufzählung, in der Petra ihn erwartungsvoll ansah. „Ich finde, Sakura ist eine große Bereicherung für unser Team“, fügte sie schließlich hinzu und studierte Levis Gesicht. Es erinnerte ihn an früher, als er sie frisch für sein Squad rekrutiert hatte. Damals hatte sie ihn ständig so angesehen, gespannt und mit Faszination. „Gibt es irgendetwas, was du mir damit sagen möchtest, Petra?“, erkundigte sich Levi und unterdrückte ein Augenrollen. Diese stockte und öffnete den Mund, ohne dass ihrer Kehle ein Laut entrann. Ihre Schultern spannten sich an und Röte kroch ihr in die Wangen, was Levi bestätigte, dass er sie auf frischer Tat ertappt hatte. „W-Was? N-Nein, Captain. Überhaupt nicht!“ Sie machte einen Schritt rückwärts, ein vages Lächeln auf den Lippen tragend. „Entschuldige mich bitte. Die Ansprache beginnt sicher gleich. Ich werde Oluo und Eld holen gehen, damit sie sie nicht verpassen.“ Mit diesen Worten verschwand Petra in der Menge, die sich bereits auf dem Hof gesammelt hatte. Das Wiehern der Pferde lag in der Luft, die inzwischen von den Stallburschen in kleinen Gruppen zum Tor gelotst wurden. Levi schlug die entgegensetzte Richtung ein, als er sich zu den versammelten Soldaten gesellte, die miteinander schwatzten. Viele von ihnen würden nicht mit ihnen ausreiten, halfen jedoch bei den Vorbereitungen. Hier und da sah er kameradschaftliche Umarmungen und Abschiede zwischen den Soldaten, einige von einem wackeligen Lachen begleitet, andere von tränenschweren Blicken. Levi schob sich zwischen ihnen durch, bis er beinahe über die Ärztin mit den rosafarbenen Haaren gestolpert wäre. Sie hockte auf dem Boden und kramte in ihrer Tasche herum. Über ihre Schulter hinweg konnte Levi Verbandszeug und Desinfizierungsmittel unter all den Dingen ausmachten, die sich in ihr befanden. „Wenn du jetzt nicht alles eingepackt hast, ist es nun auch zu spät“, kommentierte er tonlos und sah zu, wie sie herumfuhr. Ihr Blick wirkte gehetzt, aber eine gesunde Nervosität hatte noch niemanden geschadet, ganz besonders nicht vor der ersten Expedition. Sie schloss ihre Tasche, schlang sie sich um die Schultern und richtete sich auf. Ihre Uniform war faltenfrei und ihre Ausrüstung glänzte poliert in dem wenigen Sonnenlicht, das durch die Wolkedecke brach. „Es ist alles vorhanden“, erklärte sie. „Und ich bin bereit zum Aufbruch, Captain.“ „Gut, dann sind wir schon zwei“, antwortete Levi und richtete den Blick zum Stufenabsatz hinauf, auf dem Erwin soeben mit Mike im Schlepptau aufgetaucht war. Der blonde Soldat mit dem Bart war zusammen mit Erwin eines der ältesten Mitglieder des Aufklärungstrupp und lange vor Levi hier gewesen. Auch er würde eines der Teams auf diese Mission führen. Sein Gesicht war ernst, genauso ernst wie Erwins, der sich räusperte , um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken. Sogleich kehrte Schweigen ein und auch das letzte Raunen und Geflüster erstarb, bis nur noch der heulende Wind auf dem Schlosshof und das gelegentliche Wiehern der Pferde zu vernehmen war. Levi konnte Sakuras Präsenz neben sich wahrnehmen, ohne sie ansehen zu müssen. Sie stand nicht einmal einen halben Meter von ihm entfernt, ruhig und vielleicht nicht ohne Angst, aber bereit sich dieser Angst zu stellen – und Petras Worte von eben hallten ungefragt durch Levis Kopf. Sie war eine Bereicherung für ihr Team. War es das, was Erwin im Sinn gehabt hatte? Hatte er gewusst, was ihrem Team fehlte, ohne dass sich Levi selbst dem bewusst gewesen war? Waren seine Zweifel womöglich unbegründet? Levi war interessiert an der Antwort, doch wenn er etwas in seinem Leben gelernt hatte, dann das es immer mehr als nur eine Antwort gab. Die Welt war nicht schwarz und weiß, sondern aus unendlich vielen Graunuancen gemacht. Er konnte Sakura sein Leben anvertrauen oder sich dagegen entscheiden. Letztendlich würde er erst wissen, was richtig oder falsch gewesen war, nach dem er das Risiko eingegangen war. Doch Sakura hatte es selbst gesagt, als sie dort oben auf der Mauer gestanden hatten. Dort draußen hatten sie nur einander. Dort draußen waren sie allein, allein mit ihren Teamkollegen, die an ihrer Seite kämpften. „Diese Expedition, diese Mission, wird ein wichtiger Schritt sein. Nicht nur für uns, sondern für die gesamte Menschheit. Lasst uns die 57th Exkursion beginnen!“, gab Erwin kund und endete seine Rede mit diesen euphorischen Worten. Sein Ton war laut und autoritär und steckte voller Gewissheit, als diese Aussage über dem Hof schallte. Irgendjemand begann zu klatschen, ein anderer jubelte, bevor mehr einstimmten, mehr und immer mehr, bis der gesamte Platz von jubelnden Männern und Frauen eingenommen war. Levi sah zu Sakura hinüber und betrachtete ihr Seitenprofil, die Entschlossenheit auf ihrem Gesicht, die ihm immer vertrauter zu werden schien. Sie wandte sich ihm zu, als ob sie seinen Blick gespürt hätte, und lächelte und erfasste ihn mit furchtbar grünen Augen, die ihn an die weiten Wiesen hinter den Mauern erinnerten. Irgendwas stolperte in Levis Brust. Er verengte die Augen und drehte sich weg. Kapitel 11: reason to hate and hope. ------------------------------------ Ihre Tasche war leicht gepackt, um nur das Nötigste zu enthalten und trotzdem mit ihr beweglich zu sein. Als Ärztin bestand ihre erste Verantwortung darin, sich um die verletzten Soldaten ihrer Einheit zu kümmern, nicht sich in Kämpfen mit Titanen verwickeln zu lassen. Einerseits war sie dankbar für diese Tatsache, andererseits wollte sie nicht, dass jemand von ihrem Squad wegen ihr in Gefahr geriet. Das war nicht Sinn ihrer Aufgabe. Aber genau deshalb hatte sie all diese Stunden auf dem Trainingsplatz verbracht, um im Notfall auf alles vorbereitet zu sein. Ihre Finger fühlten sich klamm an und festigten sich um die Zügel ihrer Stute. Das hellbraune Tier scharrte gelangweilt mit den Hufen auf dem sandigen Boden. Sakura war gestern bereits auf ihr geritten, als Levi sie nach Trost und hinauf auf die Mauern geführt hatte, und Sakura wollte darauf vertrauen, dass sie ein stilles Einverständnis mit der Stute hatte. „Wird schon schief gehen“, verkündete Oluo, der stocksteif auf seinem Pferd saß. Er lächelte einer blassen Petra zu, die ebenfalls die Mundwinkel hob. „Genau“, verkündete sie in die Runde hinein. „Wir haben schon ganz andere Dinge gemeistert.“ Ihr Blick galt besonders Sakura, die nickte. „Jetzt gibt es ohnehin kein Zurück mehr“, erwiderte Eld und pustete sich einige blonde Haarsträhnen aus der Stirn, an denen der Wind zog. Gunther schnaubte. „Das gibt es seit dem Eintritt in den Erkundungstrupp nicht mehr.“ „Es wird Zeit“, unterbrach Levi die sinnlose Unterhaltung, die ohnehin nur dazu gedacht war, um überhaupt etwas zu sagen und nicht schweigend auf dem Pferderücken nebeneinander zu sitzen. Im langsamen Trott ritt Levi voran, Petra und Gunther an seiner Seite, während Oluo, Eld und Sakura sich hinter ihm einreihten. Ihr Platz in der Formation befand sich hinter dem von Erwin Smith und dem Team, welches er seinerseits hinter die Mauern führen würde. Irgendwie hatte Sakura angenommen, dass Erwin bleiben und sich der Expedition nicht anschließen würde, doch sie hatte sich geirrt. Vielleicht war es das Denken gewesen, das ihr mit in die Wiege gelegt wurde, denn Erwin Smith war keiner dieser scheinheiligen Politiker, die sich hinter Wall Sina befanden und abgeschieden von dem Leid in Trost und anderen Dörfern nahe der Außenmauern lebten. Dort war die Ignoranz mindestens genauso ausgeprägt wie die Unwissenheit. Bevor sie sich dem Militärdienst verschrieben hatte, hatte sie nichts über das Leben außerhalb von Wall Sina gewusst. Darüber wurde nicht gesprochen und wenn dann in einem geflüsterten Ton hinter vorgehaltener Hand. Oluo, Gunther und Levi trugen zusätzlich die Zügel eines Ersatztieres in der Hand, da ihre individuelle Route länger als die von Petra, Eld und ihr waren. Der Gedanke, dass sich ihr ohnehin kleines Team noch einmal in zwei Gruppen aufteilen würde, behagte Sakura nicht, aber sie konnte die Weisheit in diesem Plan erkennen. Viele unterschätzten die Titanen und räumten ihnen keine allzu große Denkkapazität ein. Sakura hatte schon unendlich viele Werke zu diesem Thema gelesen, die von Wissenschaftlern, Philosophen und Soldaten geschrieben wurden. Sie hätten kaum unterschiedlicher sein können, doch in sämtlichen Werken wurde derselbe Schluss gezogen: Titanen agierten aus einem primitiven Instinkt heraus und verfügten nicht über einen logischen Verstand. In dieser Hinsicht waren sie wie Tiere, weshalb Menschen ihnen zumindest mental überlegen waren. Wie viel Wahrheit in dieser Annahme steckte, konnte Sakura nicht mit Sicherheit sagen, doch anhand des Plans bekam sie den Eindruck, dass Erwin Smith sie dennoch nicht auf die leichte Schulter nahm. Er unterschätzte sie nicht, denn er wusste, dass das ein fataler Fehler sein würde. Das lag sicherlich mit den ganzen Verlusten zusammen, welche diese Einheit schon über die Jahrzehnte hinweg hatte einstecken müssen, und mit seiner allgemeinen Erfahrung mit diesen Ungetümen. Jedenfalls konnte sie sich kaum einen besseren Anführer für den Aufklärungstrupp vorstellen. Die anderen Teams reihten sich nach und nach hinter ihnen ein, bis sie als gesamte Bataillon den Schlosshof hinter sich ließen und Richtung Trost ritten. Sakura war diesen Weg erst vor einem Tag geritten, doch diesmal war es anders. Diesmal waren sie nicht zwei Soldaten, sondern eine komplette Einheit. Dieses Mal war sie ein Teil von der Militäreinheit, die sie einmal vom Krankenhausfenster aus beobachtet hatte, als sie mit ernsten Gesichtern durch die kaputten und dreckigen Straßen von Trost gezogen waren. Ein Schauer rann ihren Rücken hinunter. Abermals begrüßte sie Trost mit einer Stadtwache, welche das Tor für sie öffnete, ausnahmsweise mit verhaltenen Gesten und Worten, als hätten sie Angst, dass sie die Soldaten sonst wie ausgeschreckte Häschen verscheuchen würden. „Manchmal frage ich mich, was sie denken“, murmelte Oluo, als sie das Stadttor passiert hatten und den Hauptstraßen aus Kopfstein gefertigt folgten, auf denen die Hufe laut und wie Omen klangen und ihr Echo sich in den engen Gassen rechts und links von ihnen verloren. Sakura sah zu dem hochgewachsenen Mann hinüber, der an ihrer Seite daherritt. Er saß kerzengerade auf seinem Ross und mit den kleinen, verschlafenen Augen wirkte er überheblicher als er eigentlich war. „Was meinst du?“ „Ich meine, dass ich gern wissen würde, was sie sehen, wenn wir vorbeireiten“, erklärte Oluo. Wut schwang in seiner Stimme mit, die sich etwas gehoben und auch Elds Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, der auf Sakuras anderen Seite ritt. Sakura ließ den Blick durch die Straßen wandern, über die Menschen, die Fensterläden und Türen geöffnet hatten, um den Trupp bei ihrem Zug durch Trost sehen zu können. Nur auf den runden Gesichtern von kleinen Jungen und Mädchen, die an den Händen ihrer Mütter zogen und zerrten, konnte Sakura Stolz und Faszination erkennen. Die Gesichter ihrer Eltern und anderer Erwachsenen waren regungslos, skeptisch und kühl, obwohl die Blicke ihnen nicht weniger folgten. „Ich glaube, sie wissen auch nicht so recht, was sie denken sollen. Oder um es besser auszudrücken, was sie fühlen sollen, wenn sie uns sehen“, antwortete Sakura und die Worte schmeckten bitter auf ihrer Zunge. Sie war einst eine von ihnen gewesen, von diesen Menschen, die starrten und dann wieder ihren alltäglichen Arbeiten nachgingen, nach einem langen Arbeitstag nach Hause gingen und Abendessen kochten, bevor sie sich in ihr warmes Bett kuschelten, während Kanonen die Finsternis der Nacht erschütterten und Titanen an den Mauern kratzten und hämmerten. „Sie haben gemischte Gefühle“, bestätigte Eld neben ihr. Sein Blick war gesenkt, hinunter auf den Rücken seines Tieres, den er mit ausgestreckten Fingern seiner freien Hand streichelte, behutsam und in Zeitlupe, als wollte er sich das Gefühl von seinen Fingerkuppen auf dem kurzen Fell einprägen. „Wir sind die Hoffnung, dass die Menschheit den Titanen trotzen können. Aber gleichzeitig haben sie uns schon so oft mit unseren Toten zurückkommen sehen. Sie sind überzeugt, dass wir nichts erreichen können, weil wir bisher nie etwas erreicht haben. Trotzdem ist da immer dieser Funke Hoffnung, dass es einmal anders sein könnte. Deswegen hassen sie uns. Wir geben einfach nicht auf und deswegen können sie auch nicht aufgeben. Zumindest nicht die Leute aus Trost, wenn sie uns durch ihre Stadt marschieren sehen.“ Ein erstickter Laut entrann Oluos Kehle, doch Sakura brachte es nicht übers Herz den älteren Mann anzusehen. Ihr Blick richtete sich auf Levis Rücken, da er mit seinem Pferd direkt vor ihr ritt und jedes Wort vernommen hatte. Die Mehrheit der Menschen verabscheute sie und es gab genug Leute, ganz besonders hinter Wall Sina, die dem Aufklärungstrupp ein Ende setzen wollten, doch irgendwie fand Erwin Smith immer einen Weg finanzielle und politische Unterstützung für seinen Traum zu bekommen, um diese Einheit am Leben zu erhalten. „Sakura“, erklang Levis Stimme und ihre Augen zuckten zu dem Seitenprofil ihres Vorgesetzten, der den Kopf in ihre Richtung gedreht hatte. Er betrachtete sie aus den Augewinkeln und nickte zur Seite. Es dauerte einen Moment, bis Sakura verstand, bis ihr Blick sich in die Menschenmenge richtete, die sich am Straßenrand gesammelt hatte. Ein grauer Haarschopf zog sogleich Aufmerksamkeit auf sich, denn sie würde ihn immer auf Anhieb herauserkennen. Die untere Gesichtshälfte war mit einer Stoffmaske bedeckt, doch ein schmales, kaum zu erkennendes Lächeln zeichnete sich unter dem dünnen Material ab – und Sakura spürte, wie sich unwillkürlich ein ähnliches Lächeln auf ihren Lippen bildete. Kakashi hob die Hand in einem stummen Gruß und Sakura dachte an den Brief, an die Worte, die sie gestern Abend noch an ihn gerichtet hatte. Sie war nicht die einzige gewesen. Ein brauner Beutel war im Speisesaal hingelegt worden, der mit so einigen Briefen gefüllt gewesen war, als Sakura ihren heute Morgen zusammen mit Petra, die einen an ihren Vater geschrieben hatte, zu ihnen gelegt hatte. Nun erschien der Brief, den sie Kakashi ohnehin schon seit einer Weile geschuldet hatte, kaum noch wichtig, denn Kakashi hatte sie nicht vergessen. Er war gekommen, um sie zu verabschieden. Allein sein Anblick sorgte für eine innerliche Ruhe in Sakura, die er schon immer problemlos in ihr hervorgerufen hatte. Ihre Hand hob sich einige Zentimeter, gerade hoch genug damit Kakashi es sehen konnte, bevor die Straße einen Bogen nahm. Eine Häuserwand nahm ihr die Sicht, als sie dem Tor entgegenritten, dem sich Sakura noch nie in ihrem Leben angenähert hatte und welches alles war, was sie von der Welt dahinter und den Titanen trennte. Kapitel 12: separation. ----------------------- Die morgendliche Eilnachricht aus Trost hatte versichert, dass sich derzeitig keine Titanen an den äußeren Mauern befanden. Ihre Anwesenheit wäre der einzige Grund gewesen, weshalb Erwin dem Aufbruch der Expedition aufgeschoben hätte. Nicht, weil es den Soldaten des Squads automatisch einen wahrscheinlich tödlichen Nachteil verschafft hätte, sondern um ihre letzte Zuflucht nicht unnötig zu gefährden. Wo waren die Titanen hin? Die Antwort darauf war genauso vage, wie die Antwort auf die Frage, woher sie kamen. An den meisten Tagen bezweifelte Levi, dass sie jemals zufriedenstellende Erklärungen erhalten würden. Doch all diese Gedanken und Zweifel wurden fortgewischt, als sie Wall Maria und somit Trost und dieses selbsterbaute Gefängnis hinter sich zurückließen. Obwohl er diesen Weg schon so oft geritten war, erfasste ihn die uneingeschränkte Weite des Landes immer wieder aufs Neue. Gräser sprossen so weit wie das Auge reichte aus der Erde und tänzelten unter dem Wind, während sie auf ihren Reittieren über die Wiesen hinwegdonnerten. Anders als hinter den Mauern war die Natur hier draußen wild und uneingeschränkt. Sie war unberührt – und Levi fühlte sich mit dem Wind auf seiner Haut und auf dieser offenen Fläche trotz aller Gefahren frei. Er lenkte sein Ross zur Seite, weg von Erwins Team, welches vor ihnen ritt, fort von der Formation, die wie abgesprochen auseinanderbrach. Die sieben Teams trennten sich und ritten in unterschiedliche Richtungen, die sie mehr und mehr voneinander absonderten und verteilten. Ein schneller Seitenblick verriet, dass Oluo, Petra, Sakura, Eld und Gunther ihm dicht auf den Fersen waren. Dennoch hielten sie einen Sicherheitsabstand, um einander im Notfall nicht in die Quere zu kommen. Wolkenberge türmten sich am Himmel auf, grau und zum Greifen nahe, während die Sonne zwischen ihnen auf sie hinunterschien und sie in ihren Uniformen und unter ihren Umhängen schwitzen ließ. In der Ferne wichen die Wiesen den Wäldern mit Bäumen so hoch, dass es ein Wunder war, dass sie die niedrig hängenden Wolken nicht berührten. Ihre Kronen waren gold-braun und teilweise kahl, da das Laub schon seit einer Weile am Fallen war. Das Ende des Jahres rückte näher, mit ihm die eisige Kälte und der Schnee, der schon bald die Regenfälle ersetzen würde. Levi grub seine Hacken fester in die Flanken seines Pferdes und lehnte sich tiefer über den muskulösen Nacken. Im raschen Galopp erreichten sie den Wald und Laub und Dreck wirbelte unter den Hufen ihrer Tiere auf. Die Zügel des zweiten Pferds hatte er an dem Sattel des ersten festgemacht, um die Hände freizuhaben und jeden Moment nach den Schwertern seiner Ausrüstung greifen zu können. Die westlichste Route war ihre. Levi orientierte sich an dem Stand der Sonne, obwohl er wusste, dass Petra die Karte in ihrem Umhang trug. Mit dem wenigen Sonnenlicht im Rücken suchten sie sich den Weg zwischen den Bäumen mit ihren mächtigen Stämmen hindurch, die höher als die meisten Titanen reichten. Inzwischen war es still geworden. Die Rufe der anderen Teams waren verebbt, ebenso wie das Getrampel ihrer Pferde. Nun waren sie allein. Nun waren sie auf sich gestellt. „Es ist merkwürdig ruhig“, kommentierte Oluo das Offensichtliche über den Wind und ihre Reittiere hinweg. „Fast wie ausgestorben.“ Skepsis schwamm in seiner Stimme. Es war dieselbe Skepsis, die auch Levi fühlte, die jeder hier draußen fühlen sollte. „Unke nicht, Oluo“, mahnte Petra. „Wenn man unkt, passiert immer etwas.“ Abermals ging ein Blick über Levis Schulter. Die anderen hatten sich um Sakura gesammelt und ließen die junge Ärztin in ihrer Mitte reiten, was verriet, dass sie die Wichtigkeit ihrer Position erkannt hatten. Andererseits wusste er, dass sie es für jeden Neuling tun würden, der zum ersten Mal Fuß außerhalb der Mauern setzte. Sakuras Lippen waren zu einer schmalen Linie gepresst und ihre Augen wanderten aufmerksam von links nach rechts, um die Umgebung im Blick zu haben. Er musste sie nicht fragen, was ihr durch den Kopf ging. Er wusste es, denn er hatte bei seiner ersten Expedition dieselben Gedanken gehabt. Es war schwer, sich von dem Gesehenen nicht einnehmen und ablenken zu lassen. Doch ihre Instinkte und Reflexe waren zu ausgeprägt, als dass sie die Vorsicht ablegen konnte. Das war es, was einen Soldaten hier draußen wirklich am Leben erhielt. „Wir kriegen Besuch“, verkündete Gunther, der Ton laut und angespannt. Im selben Moment konnte Levi bereits die schweren Fußstapfen vernehmen, welche die Erde erzittern ließen und selbst in der Ferne dumpf zu hören waren. Ein Schwarm kleiner Vögel brach aus den Bäumen über ihren Köpfen heraus und jagten in die Ferne, während der Schemen vor ihnen Gestalt annahm. Ein dummes Grinsen lag auf dem riesigen Gesicht, das von fettigen Haaren umrahmt wurde. Die Arme streckten sich ihnen entgegen, als die riesigen Finger selbst bei dieser Distanz nach ihnen zu greifen versuchten. „Oluo, Petra, Gunther“, entrann es Levi, gerade laut genug, um über den allgemeinen Krach hörbar zu sein. „Ihr reitet links von ihm. Sakura und Eld... ihr reitet mit mir rechts herum.“ „Was?“, presste Petra hervor. „Sollen wir nicht erledigen, Captain?“ Levi verengte die Augen, als er zusah, wie der Titan sich zwischen zwei Bäumen hindurchquetschte und Gebüsche und anderes Gestrüpp auf seinem Weg zu ihnen niedertrampelte. „Nicht hier. Hier haben wir keinen Platz zum Manövrieren.“ „Dann machen wir das so, bis wir eine freiere Fläche gefunden haben“, bestätigte Oluo und ergriff die Führung, indem er eine Schneise zwischen die Bäume hindurch ritt. Petra und Gunther folgten ihm, während Levi mit den anderen rechts einschlug. Die auseinandersplitternde Gruppe registrierte keinerlei äußere Reaktion von dem Titan, der nahtlos nach links abweichte, um Oluo, Gunther und Petra nachzujagen. Es war keine rationale Entscheidung, sondern ein Impuls. Was hatte Levi auch erwartet? Er wusste, dass Titanen dämlich waren, auch wenn die abnormalen durchaus eine gewisse Intelligenz zeigten. „Sollen wir ihn verfolgen?“, schlug Sakura hinter ihm atemlos vor. „Sakura hat recht. Dann können wir dem Titan problemlos den Gar ausmachen“, sagte Eld, als er mit Levi aufholte. „Macht euch bereit“, antwortete Levi. Es war nicht das, was er im Sinn gehabt hatte, aber da es nur ein Titan war, wäre es vom Vorteil, wenn sie ihn sich vom Hals schaffen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Immerhin ging es bei dieser Expedition hauptsächlich darum, die Strecke zurückzulegen und die Vorräte zu verstauen. Zu dritt donnerten sie durch das Dickicht hinter dem Titanen und den anderen her. Links und rechts von ihnen flogen die Bäume vorbei, als sie sich den Weg zwischen diesen hindurch suchten. „Eine Lichtung“, verkündete Eld und auch Levi konnte die heller werdende Stelle inmitten des Waldes ausmachen. Sie beschleunigten ihre Geschwindigkeit. Levi zog seine Schwerter hervor, als sie die Lichtung erreichten. Oluo, Gunther und Petra hatten sie durchquert und donnerten davon, so dass sich der Titan strategisch gut in der Mitte der Lichtung befand. Bevor Levi jedoch sein Stahlseil betätigen konnte, bemerkte er die Bewegungen, die sich in seinen Augenwinkeln abzeichneten. Es waren Schatten, die zwischen den Laub- und Nadelbäumen hervortraten und ihre unteren Äste mit Armen und Körpern verbogen, als seien sie dünne Zweige. Suchend schwangen die riesigen Köpfe der Titanen von links nach rechts, die Augen aufgerissen, ohne blinzeln zu müssen. „Achtung.“ Es war die einzige Warnung, die Eld und Sakura von ihm erhielten. Im nächsten Augenblick rissen ihn die Stahlseile auf seinen Knopfdruck hin von dem Rücken seines Pferdes, welches weiterritt und wiehernd zwischen den Bäumen verschwand. Sorgen machte er sich um die Tiere nicht, denn sie konnten besser auf sich selbst aufpassen, als so einige ihrer eigenen Soldaten. Sein Hengst wusste, wie man überlebte, ebenso wie die junge Stute, die an ihn festgebunden war. Festgeankert in einem breiten Ast hoch in den Bäumen schwang Levi durch die Lüfte, zwischen den sich hebenden Armen hindurch, zwischen den nach ihm greifenden Händen. Sie mochten den Menschen in Stärke und Größe überlegen sein, aber sie waren dank ihrer Ausrüstung schneller und wendiger. Genau diese Vorteile nutzte Levi, als er hoch oben das Stahlseil vom Baum löste. Einen winzigen Augenblick lang kam er sich schwerelos vor, bevor die Gravitation einsetzte und er gen Erde fiel. Seine Hände waren um die Griffe seiner Schwerter geschlossen, ihre Klingen tödlich und scharfe Verlängerungen seiner Arme. Er zog die Beine an und mit den Schwertern schlitzte er die Handflächen und Arme des ersten Titanen auf, der Petra, Oluo und Gunther verfolgt hatte. Auf der Höhe der muskulösen Schulter benutzte er die Stahlseile, um sie abermals an einem Baum zu verankern. Sie ließen ihn im Kreis schwingen und eine Klinge zertrennte in einem präzisen Schnitt die Wirbelsäule des Ungetüms. Blut spritzte. Er fiel in sich zusammen, doch noch ehe es vollkommen zu Boden gesackt war, löste es sich bereits auf. Rauch stieg auf und vernebelte die Sicht, während Blut und Muskeln zerfielen und ein Skelett hinterließen, einen Haufen Knochen, der auch nicht lange dort verweilen würde. Levi schenkte dem keinerlei Beachtung und hatte längst einen weiteren anvisiert. Aus den Augenwinkeln hielt er nach Eld und Sakura Ausschau. Der blonde Mann schwang nah am Boden durch die Luft, um höher und höher zu steigen und auf dem Rücken eines Titanen zu landen. Die Schwertklinge grub sich in den Nacken und ein zweiter hauchte sein Leben aus. Sakuras rosafarbenen Haarschopf machte er auf einem Ast aus. Sie hielt ihre Schwerter in Angriffsstellung und selbst bei dem kurzen Blick konnte Levi den Impuls lesen, mit dem sie kämpfte. Würde sie eingreifen oder würde sie ihre Stellung halten? Levi konnte die Entscheidung nicht für sie treffen und er konnte auch nicht vorausahnen, wie sie entscheiden würde. Dafür kannte er sie noch nicht lange genug, dafür verstand er sie nicht gut genug. Der Titan befand sich in seiner Flugbahn. Er stellte ein einfaches Ziel dar und Levis Klinge hinterließ eine blutige Linie auf der farblosen Haut. Sie fällten die Titanen wie Bäume, wie Mammutbäume, die gigantisch, aber nicht unzerstörbar waren. Mit einem Ruck landete Levi auf einem Ast, der unter seinem plötzlichen Gewicht erzitterte. Ein paar gold-braune Blätter flatterten im ruhigen Takt zur Erde, hinab zu den Knochen und dem weißen Rauch, der von ihnen aufstieg und sie verschlang, bis keine Spur mehr von ihnen zu sehen war. Seine dunklen Augen wanderten zu seinen Schwertklingen hinunter, die von Blut verklebt waren, welches jedoch ebenfalls am Verschwinden waren. Diese Plage, welche die Menschen in Atem hielt, hinterließ nur seelischen Schaden, selten einen anderen. Levi stieß geräuschvoll den Atem aus, so dass es einem Schnaufen gleichkam. Sein trüber Blick wanderte zu seinen Kameraden hinüber, die ebenfalls Stellung bezogen hatten. Sakura befand sich auf demselben Ast wie zuvor, Eld auf einem rechts von ihnen und um einiges tiefer. Ein Kommentar steckte in Levis Kehle und wollte sich barsch den Weg über die spröden Lippen suchen, als ein Arm aus dem Dickicht hervorschoss. Finger mit dreckigen und langen Nägeln schlossen sich um Elds Taille. Sie umklammerten Eld und die Schwerter, die er noch immer in den Händen trug, als sie ihn vom Ast und zu dem offenstehenden und warteten Mund zerrten, der zwischen den Blättern lauerte. Kapitel 13: first fight. ------------------------ Ein spitzer Schrei vermischte sich mit dem von Eld. Bevor Sakura realisierte, dass er aus ihrer eigenen Kehle stammte, hatte sie sich von dem Ast, auf dem sie stand, abgestoßen. Sie fiel. Der Wind wischte ihr die Haarsträhnen aus dem Gesicht und ihre Augen tränten. Doch sie ignorierte es. Sie zwang sich ihre Augen offenzuhalten. Sie musste sehen. Instinkt hatte die Kontrolle an sich gerissen. Sakura agierte wie im Training, wie eine Maschine, wie die Soldatin, die sie sein sollte. Die Stahlseile fuhren sich auf Knopfdruck nacheinander aus und verankerten sich in Baumstämmen. Sie ließen Sakura blitzschnell, schneller als sie sich erträumt hätte, durch die Lüfte gleiten. Proteste erklangen, Levis Stimme, welche die merkwürdige Stille in Sakuras Kopf durchbrach und sie doch nicht erreichte. Trotz der Geschwindigkeit war ihr Verstand klar und ihre Kontrolle über die Ausrüstung vorhanden. Alle Sinne waren auf den Titanen fixiert, auf Eld, der sich zu befreien versuchte und doch nicht gegen die enorme Stärke des Ungestüms ankam. Nicht, bevor die Klingen ihrer Schwerter ihre Arbeit vollrichtet hatten. Das Handgelenk besaß zu massive Knochen und zu viel Fleisch, um es abtrennen zu können. Es waren die Finger, die Sakura anvisierte. Die scharfen Klingen trennten die drei mittleren Finger von der Hand. Schwer fielen sie zu Boden, verpufft, bevor sie ihn erreichten. Rausch stieg von dem erhitzten Fleisch auf, mehr als dass es blutete. Eld rutschte zwischen dem letzten Finger und dem Daumen hindurch, nur Zentimeter von dem Mund des Titanen entfernt. Er fiel durch Blätter und Äste, weiter unter Sakura hinweg. Zeit blieb ihr keine, um sich um ihn Gedanken zu machen. Die andere Hand schoss bereits zu ihr hinauf. Dreckige Fingernägel, spitz und doch furchtbar menschlich, sausten unter ihr vorbei. Die Kuppen der Finger streiften ihr Bein. Mit der Kraft dahinter war es wie ein Schlag ins Gesicht, der ihre Flugbahn durcheinander brachte. Sie wollte an seinem Kopf vorbeifliegen und auf einem hohen Ast außer Reichweite landen. Doch der Winkel stimmte nicht mehr, die Kollision ließ sie auf den Baumstamm zusteuern. Sie glitt an dem Titan vorbei, dessen Augen ihr folgten, riesig und starr, furchtbar ausdruckslos, obwohl sie eine Gier in ihnen vermutete. Sakura beobachtete die Geste, instinktiv und in den Bann gezogen. Ihre Schwerter rutschten ihr aus den Händen, die sie schützend vor ihr Gesicht schlug, bevor sie mit dem Baum kollidierte. Ihre Unterarme und ihre Hüfte fingen den Aufprall ab. Schmerz explodierte in ihrem Körper und die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst. Doch der erwartete Sturz blieb aus, stattdessen ließ das verankerte Seil hinter ihr sie rückwärts schwingen, fort von dem harten Baumstamm, mit dem sie soeben Bekanntschaft gemacht hatte und zurück zu dem Titan. Finger krallten sich in die Rinde, doch der Schwung war zu stark und sie wurde fortgerissen. Sie hatte vergessen das Stahlseil zu lösen! Panisch wanderten ihre zittrigen Finger an ihrer Hüfte entlang und griffen erfolglos nach dem Kabel, welches die Schwerter mit der Ausrüstung verband. Wo war es? Es musste irgendwo hinter ihr sein. Wo war es nur? Ihr wurde schwummrig vor Augen, doch die tanzenden Flecke schwanden, als sie das Kabel ertastete und die Finger darum schloss. Sie hing mitten in der Luft, fast wie ein Käfer, der in einem Spinnennetz gefangen war. Der Titan hatte sie nicht aus den Augen verloren. Mit einem gewaltigen Schritt stieg er über einige Büsche hinweg und trat zwischen den Bäumen hervor. Sakura befand sich auf der Höhe seiner Stirn, zu weit unten, um der riesigen Hand, die keine Finger verloren hatte, ein zweites Mal zu entgehen. Aus den Augenwinkeln konnte sie die andere Hand sehen, an der die Finger nachwuchsen. Auch darüber hatte sie gelesen, denn als Rekrut stand einem ein ganzer Haufen Bücher zu Verfügung, die kein Normalbürger zu sehen bekam. Komisch, dass ihr das ausgerechnet jetzt einfiel. Ist dies das Gefühl, das man bekam, wenn man dem Tod ins Auge schaute? War das ihr Leben, welches Revue passierte? Es bestand nur aus dem Training und theoretisches Wissen? Sie bekam ihr Schwert mit schwitziger Hand zum Greifen, zusammen mit der eingebauten Steuerung am Griff. Finger streckten sich ihr entgegen, doch da gab das Stahlseil nach. Mit einem Ruck fiel sie in den Laub, landete halb auf ihrer Tasche und rollte nur Seite. Die Hand folgte ihr, langsam, aber doch schnell genug, um sie am Unterschenkel zu packen. Ein weiterer Schrei entfuhr ihrer Kehle, als sie kopfüber angehoben wurde. Sie ruderte mit den Armen und hielt sich die Tasche aus dem Gesicht, ehe sie das Schwert mit beiden Händen umklammerte und damit herumfuchtelte. Bevor ihre Klinge auch nur die Nähe des Titanen erreichen konnte, sauste eine Silhouette auf sie zu. Sie bewegte sich zwischen Sakura und dem Titan, viel zu schnell, um erkennbar zu sein – und trotzdem wusste Sakura sofort, dass es Levi war. Seine Klingen zogen scharfe, blutige Abgründe in die Haut des Titans. Sie reichten von einer Wange über ein Auge und den Nasenrücken zum anderen Auge hinüber. Nicht einmal Schmerz zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, doch er schüttelte den gewaltigen Kopf von links nach rechts, als versuchte er eine lästige Fliege zu verscheuchen. Sakura wurde hin- und hergeschleudert. Zeitgleich konnte sie spüren, wie ihr Bein zwischen den Fingern hindurchrutschte. Ein gehetzter Blick ging in die Tiefe, zu den Büschen und dem bunten Laub, auf dem sie soeben schon einmal gelandet war. Sie musste nur dafür sorgen, dass sie nicht auf ihr eigenes Schwert fiel. Sie musste— Der Gedanke fand kein Ende, denn ihr Stiefel rutschte ihr vom Fuß, der von dem Titan festgehalten wurde, und sie fiel. Sie machte eine Drehung in der Luft, um auf der Seite zu landen. Schwerfällig rollte sie sich auf den Rücken und ein Stechen ging bei jedem zittrigen Atemzug durch ihre Seite. Sie hatte eindeutig ein paar Rippen erwischt. Erschöpft sah sie in die Höhe und kämpfte sich gleichzeitig auf die Beine. Über ihr manövrierte Levi sich noch immer zwischen den Bäumen hindurch, während er Kreise um den Titan zog. Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde und als wäre dies das Stichwort gewesen, schlug Levi einen Haken in der Luft und hielt beide Schwerter parallel zueinander. Er vergrub sie im Nacken des Titans, dessen Knie augenblicklich einknickten. Stumm sackte er wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sakura stolperte rückwärts und in Sicherheit, um nicht von ihm getroffen zu werden. Ein Schwall Hitze stieß ihr entgegen und sie musste die Augen mit einer Hand abschirmen. Es war vorbei. Der Gedanke war so klar und deutlich. Vorerst zumindest. Für den Moment, obwohl sich das hier draußen genauso schnell ändern konnte. Trotz dieses Wissens ließ sich Sakura nach hinten fallen. Sie stützte sich mit den Händen hinter sich ab und ließ den Blick von dem Skelett des Titans zu dem grauen Himmel hinaufwandern, der zwischen den kahlen Stellen in den Baumkronen zu sehen war. Es gab keinen Muskel, der nicht vor Anstrengung schrie, keinen Gliedmaßen, der nicht pochte und schmerzte und auch die Müdigkeit war einnehmend, obwohl sie sich noch nie dermaßen lebendig gefühlt hatte. Levi landete vor ihr. Die Stahlseile fuhren sich surrend ein und er reinigte die Schwertklingen am unteren Ende seines Umhangs, bevor er sie wegsteckte. Sein Blick war emotionslos, doch Sakura konnte den Schweiß sehen, der sich auf seiner Stirn gesammelt hatte. Die schwarzen Haare waren wirrer als zuvor, auch wenn seine Maske perfekter denn je war. „Das war dumm.“ Unter anderen Umständen hätte Sakura empört nach Luft geschnappt. Dazu fehlte ihr im Moment jedoch die Kraft. Stattdessen sah sie ihn aus trüben Augen an, schweigend und müde, während sie ihre Atmung unter Kontrolle bekam und das Adrenalin aus ihren Arterien wich. Ohne dieses nahm der Schmerz zu, aber es erlaubte ihr auch festzustellen, ob sie schwere Verletzungen davon getragen hatte. Gut... gegen innere Verletzungen konnte sie nichts tun, doch das war unwahrscheinlich. Ihr Sturz war nicht tief genug gewesen und sie war relativ günstig gelandet. Jedenfalls hätte es weitaus schlimmer sein können, dessen war sie sich bewusst. Es erinnerte sie an den Soldaten, der einst in Trost von der Mauer gefallen war und seine Ausrüstung nicht getragen hatte. Sie hatten nichts mehr für ihn tun können, außer ihm ein paar starke Schmerzmittel zu geben. Sakura schluckte bei der Erinnerung, bevor sich ihr Blick festigte und sie zu Levi aufsah. Er stand noch immer vor ihr und starrte auf sie hinunter. Er blinzelte genauso wenig wie der Titan es getan hatte, obwohl er so furchtbar menschlich war, auch wenn er davon vermutlich nichts hören wollte. Sakura hätte sich gewünscht wütend sein zu können, doch er hatte recht. Sie war leichtsinnig gewesen. Sie hatte ihre Position vergessen und hatte sich stattdessen von einem blinden Impuls leiten lassen. „Ich war dumm“, bestätigte sie. Die Worte waren Glas in ihrem Mund, denn ihre Motive waren edel gewesen. Zumindest wollte sie sich dies einreden, obgleich sie in jenem Augenblick nicht nachgedacht hatte. Sie hatte nicht an Eld gedacht, nicht an Levi und auch nicht an sich selbst. Sie hatte nicht gedacht, denn ihr Kopf war leer gewesen. „W-Was ist mit Eld?“ Die Frage suchte sich nur bebend den Weg aus ihrer Kehle. Sie wusste nicht, was sie denken und fühlen sollte – was sie tun sollte – wenn Eld es nicht überlebt hatte. Wenn Levi ihn problemlos hätte retten können, aber sie dazwischen gefunkt und ihn deswegen auf dem Gewissen hatte. Ihre Augenwinkel brannten und ihre Sicht verschwamm. Levi ging vor ihr in die Hocke. Sein Blick war unbeeindruckt, als er mit dem Daumen über seine Schulter deutete. Sie folgte seiner Geste, ebenso wie sie es in Trost getan und Kakashis grauen Haarschopf in der Menschenmenge ausgemacht hatte. Nur diesmal war es Eld, den sie entdeckte. Er stand an einigen hohen Bäumen und lockte ihre Pferde aus ihrem Versteck hervor. Ein paar Blätter steckten in seinen Haaren und sein Umhang war zerrissen, doch er war auf den Beinen und scheinbar größtenteils unverletzt. Sakura stieß den Atem aus, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie ihn angehalten hatte. Die Tränen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten, flossen ihren Wangen hinab und tropfen von ihrem Kinn, aber sie machte sich nicht die Mühe sie fortzuwischen und zu verstecken. Levi saß direkt vor ihr. Sie konnte ihm ohnehin nichts vormachen. „Du hast ihm das Leben gerettet“, sagte er mit monotoner Stimme. Nur Levi konnte ein Kompliment wie einen simplen Fakt und eine Beleidigung zugleich wirken lassen. Sakura blinzelte und ihre Sicht klärte sich auf. „Ich war zu weit weg“, fuhr er unbeirrt fort. „Ich hätte es nicht rechtzeitig zu ihm geschafft. Trotzdem hast du deine Befehle missachtet. Es ist deine Aufgabe dich aus den Kämpfe rauszuhalten und deine Kameraden zu verarzten, nicht dich in Gefahr zu bringen und dich retten zu lassen.“ „Es... Ich hab es nicht geplant. Es ist einfach passiert“, erklärte sie, obwohl sie wusste, dass es keinen Unterschied machte. Es kam ihr ungefragt über die Lippen und sie schloss seufzend die Augen, um sich zu sammeln. Die Berührung an ihrer Wange ließ sie jedoch sogleich wieder die Augen aufreißen, doch es war nur Levi. Ihr Teamleiter strich ihr die Überreste verflossener Tränen von der Haut. Sakura starrte ihn an, nahm die zusammengepressten Lippen und die schmale Falte wahr, die sich zwischen seine Augenbrauen gegraben hatte. Sein Blick war auf seine Finger gerichtet, die er nach einigen Sekunden sinken ließ und an seiner Hose abschmierte, als seien ihre Tränen dreckig. „Kannst du aufstehen?“, fragte er. „Wie schlimm sind deine Verletzungen?“ Sakura öffnete den Mund, aber kein Laut entkam ihr. Das beständige Pochen in ihrem Körper war kurzzeitig in dem Durcheinander ihrer Gefühle untergegangen. Nun konzentrierte sich Sakura wieder darauf und räusperte sich, um ihre Stimme wiederzufinden. „Ein paar Rippen auf der linken Seite sind geprellt“, entrann es ihr und sie tastete die schmerzhafte Stelle an ihrem Brustkorb ab. „Ansonsten dürften es wohl nur Kratzer und blaue Flecke sein.“ „Und ein vermisster Stiefel“, sagte Eld, der hinter Levi auftauchte. Er hatte ihre Pferde bei sich. Selbst Levis Reittiere waren dabei, die ein paar Gräser zwischen dem Laub fanden und zum Fressen herausrissen. Doch Sakuras Blick blieb an ihrem Stiefel hängen, den Eld an den Schnürsenkeln festhielt. „Ich hab ihn zufällig dort drüben gefunden.“ Sein Lächeln war müde und zaghaft, als er ihn Sakura reichte. „Danke“, entwich es ihr, als sie ihn über die dunkle Socke zog und zuschnürte. „Ich danke dir“, erwiderte Eld, als Levi schweigend aufstand und sich zurückzog, um den Proviant der Satteltaschen zu überprüfen. „Ohne dich wäre ich Titanenfutter geworden, Sakura.“ Er hielt ihr die Hand hin und zog sie auf die Beine, wobei sie die Zähne zusammenbeißen musste. Während Levi ihre Position anhand des Tageslichts, das durch die Bäume drang, überprüfte, stützte Eld sie ungefragt zu den Pferden hinüber und half ihr beim Aufsteigen. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln, obwohl es nicht ganz so herzlich war, wie sich Sakura gewünscht hätte. Doch der egoistische Gedanke, dass sie lieber Levi gehabt hätte, der ihr aufhalf, schlich sich ein. Am liebsten hätte sie sich dafür selbst geohrfeigt. „Wo müssen wir lang?“, erkundigte sie sich und Levis betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Er machte eine Handbewegung in westliche Richtung, obwohl seine Worte diese Geste durchkreuzten. „Aber erst einmal suchen wir uns einen Unterschlupf und legen eine Pause ein.“ Seine Schritte führten ihn zu seinem Pferd hinüber und er schwang sich auf seinen Rücken. Eld und Sakura ritten dicht hinter ihm, als sie sich den Weg durch den stillen Wald suchten, in dem nicht einmal mehr ein Vogel zwitscherte. Auch von ihren Kameraden, von Petra, Oluo und Gunther, war keine Spur zu entdecken. Wo waren sie? War etwas passiert, dass sie nicht zu ihnen zurückgekommen waren? Sakura biss sich auf die Unterlippe und hielt sich die Rippen, die bei dem schnellen Galopp schmerzten. Doch das spielte keine Rolle, denn wenigstens waren sie alle drei noch am Leben und zusammen. Sakura wüsste nicht, was sie tun würde, wenn sie sich allein hier draußen wiederfinden würde, weswegen sie ihren Blick auf Levis Rücken richtete und wenigstens so an ihm festhielt. Kapitel 14: the way she looks at him. ------------------------------------- Die hiesigen Eichenbäume waren die letzten, die ihre Blätter verloren. Ihre Stämme waren massiv und ihre Baumkronen ragten weit über die der umstehenden Bäume und Fichten hinaus, weit über die Köpfe und Arme der Titanen. Bisher hatten sie keine abnormen Titanen entdeckt, die oftmals muskulöser, schneller oder größer waren. Selbst wenn sie dort draußen im Dickicht lauerten, mussten sie dieses Risiko eingehen, denn ein hoher Ast auf einem der Eichenbäume war im Moment noch der sicherste Platz hier draußen. Ihre Pferde grasten auf der kleinen Lichtung und rupften das Unkraut aus dem Boden, der von den ständigen Regenfällen weich und feucht war. Dass die Titanen aus unbekanntem Grund alles, was nicht menschlich war, in Ruhe ließen und scheinbar nicht einmal wahrzunehmen schienen, stellte sich als ein Vorteil heraus. Ein merkwürdiger Zufall, denn— Levis Gedanke kam zu einem abrupten Ende, als Eld mit Sakura neben sich bei ihm auf den Ast landete. Surrend fuhren sich die Stahlseile ein. Er half Sakura beim Hinsetzen, damit sie sich an dem Baumstamm anlehnen konnte. „Ich werde mich ein bisschen höher begeben und mal umschauen, ob ich irgendwo ein Zeichen von den anderen ausmachen kann“, verkündete Eld. „Entferne dich nicht zu weit“, sagte Levi und Eld salutierte, bevor er ein Stahlseil aus seiner Ausrüstung hervorschnellen ließ. Er verankerte es in einem anderen Baum und schwang davon, bis er von sich verfärbenden Blättern, die sich wacker an den Zweigen hielten, verschluckt wurde. Levi sah ihm nach, bevor sein Blick zu Sakura wanderte. Sie hob mit grimmiger Miene, die von einem Ziehen in ihrer Seite sprach, die Arme, um sich ihre Haare mit einem Zopfband zusammenzubinden. Ihre Beine waren ausgestreckt und auf ihrem Schoß lag die Tasche, die ihre Vorräte enthielt. In ihr herumkramend zog sie ein kleines Fläschchen mit Desinfektionsmittel und ein Tuch hervor. Levi brauchte ihr nur ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, was sie damit anstellen wollte. Kratzer und tiefe Schrammen zeichneten sich auf ihrer hellen Haut ab. Ihr Umhang und ihre Uniform hatten sie vor weiteren an Armen und Beinen bewahrt, obwohl der Stoff hier und da Schnitte aufwies. Sie hatte Glück gehabt, denn es hätte auch anders ausgehen können. „So wie deine Hände zittern, wirst du morgen noch nicht fertig sein“, murmelte Levi abwertend und zog ihr die Flasche und das Tuch aus der Hand. Er hockte sich neben ihr, da der Ast breit genug war. Levi mimte den Moment vor ein paar Stunden nach, als die Sonne wenigstes gelegentlich noch durch die Wolkendecke erkennbar gewesen war. Nun neigte es sich jedoch dem Abend entgegen und die Dunkelheit im dichten Wald würde nur mehr werden. Trotzdem wollte Levi vermeiden, die Nacht hier draußen zu verbringen. Bis zu ihrem Unterschlupf, dem Ziel ihrer Route, war es nicht mehr weit – und obwohl es anders geplant gewesen war, würden sie diesen Ort zu dritt erreichen. Ihr Zeitplan war aufgrund des Kampfes mit den Titanen und dem verloren Teil ihrer Truppe ohnehin außer Kontrolle geraten. Sie mussten ihren Reittieren nur etwas Ruhe und Erholung gönnen und eventuell die Geschwindigkeit ein wenig drosseln, aber das sah Levi im Moment als das kleinste Problem an. Viel wichtiger war es herauszufinden, was mit den anderen passiert war. Levi wollte nicht zu viele Gedanken an Petra, Oluo und Gunther verschwenden, denn am Ende änderten diese rein gar nichts an der Realität. Außerdem hatte er sein Team wohlüberlegt ausgesucht und wusste, dass jedes einzelne Mitglied dieses Squads auf sich allein aufpassen konnte und dass sie nun mal ebenfalls zu dritt und nicht allein waren. „Machst du dir Sorgen?“, erklang Sakuras Stimme. Ein Zögern unterlag ihr, doch Levi konnte nicht sagen, ob es Unsicherheit oder ob es allgemeine Müdigkeit war. Ihre grünen Augen suchten nach seinen und hielten an ihm fest, während er etwas von dem Desinfektionsmittel auf das Tuch träufelte. „Um was sollte ich mir Sorgen machen?“ Sakura lächelte schwach. „Um die anderen? Um Oluo und Gunther. Um Petra.“ Kurz betrachtete Levi sie, ehe er das Tuch gegen ihre Wange presste, auf der ein hässlicher Kratzer prangte. Sie zuckte zusammen und die spröden Lippen formten eine schmale Linie. Seine Augen wanderten von seinen Fingern über ihr Gesicht. „Nein“, antwortete er dann und Verwirrung huschte über ihre Züge. „Im Endeffekt bringt es rein gar nichts, wenn man sich Sorgen macht. Es ändert nichts an dem, was passiert oder eben nicht passiert. Man kann nur auf das Können seiner Teammitglieder vertrauen und sehen, was draus wird.“ Er tupfte dem Kratzer entlang, bevor er etwas mehr von dem Desinfektionsmittel auf das Tuch goss und ihrem Kinn entlang tupfte, an dem sich ein zweiter tiefer Kratzer befand. „Das ist eine sehr praktische Einstellung“, entrann es ihr und er konnte ihre Mundbewegung unter seinen Fingern wahrnehmen. „Praktisch für einen Soldaten, aber ziemlich kalt für einen Menschen.“ Levi hob die Augenbrauen und ließ seine Hand sinken. „Ist das ein Kompliment oder eine Beleidigung?“, erkundigte er sich, obwohl sie beide die Antwort bereits kannten und es ihm im Grunde egal war, was Sakura über ihn dachte. „Du bist zu unerfahren hier draußen, um Ahnung von diesen Dingen zu haben.“ Sie schnaufte und Wut funkelte in den Augen, die bis vor ein paar Minuten noch erschöpft ausgesehen hatten. „Und vielleicht bist du schon zu erfahren hier draußen und solltest mal wieder von deinem hohen Ross herunterkommen, Captain.“ Sich strammer aufsetzend nahm sie ihm das Desinfektionsmittel und das Tuch ab. Beides verstaute sie in ihrer Tasche. „Nur weil das meine erste Expedition ist, bedeutete das nicht, dass meine Meinung weniger wiegt. Oder dass ich keine Ahnung von der Welt habe. Leb du für eine Weile in Trost, wo die Kanonen jede noch so friedliche Nacht zerstören und die Menschen in ständiger Angst leben, dass die Titanen doch irgendwann durch die Mauer brechen. Das ist alles leicht zu vergessen, wenn man hinter Wall Sina lebt. Oder im Hauptstützpunkt der Scouts. Man muss nicht hinter die Mauern, um tagein und tagaus mit dem Tod konfrontiert zu sein. Und wenn du da anders denkst, Levi, dann bist du hier der Unerfahrene von uns beiden.“ Ein Beben unterlag den letzten Worten, welches ihm verriet, dass sie ganz genau wusste, dass sie sich zu weit aus dem Fenster lehnte und dass ihre Anmaßung an Respektlosigkeit grenzte. Selbst sein Namen lag bitter auf ihrer Zunge. Es gab nicht viele Menschen, die es sich wagten in diesem Ton mit ihm zu sprechen. Doch wenn er an die letzten Wochen zurückdachte, musste er zugeben, dass Sakura schon vorher so mit ihm geredet hatte. Die Erinnerung an ihren Weg nach Trost und ihre Unterhaltung hoch oben auf den Mauern wiesen Ähnlichkeiten auf. Sie ließ sich nichts von ihm gefallen, obwohl sie zu ihm aufsah, obwohl sie ihn beobachtete. Er konnte ihre Blicke zu genau im Rücken spüren, ganz egal, ob sie sich im Schloss oder auf dem Pferderücken befanden. Ihre Augen folgten ihm, ein wenig wie Petras, bei der er jedoch Bewunderung und Faszination sah, von dem war bei Sakura aber nichts zu entdecken. Die Emotion hinter ihren Blicken konnte er nicht definieren, aber er konnte sie auch jetzt wieder sehen. Levi schwieg und erhob sich. Er betrachtete sie einen Moment länger und die Entschlossenheit auf ihrem Gesicht flackerte, ohne unsicher zu wirken. Sie war fehlende Antworten und Erwiderungen in ihrem Leben gewöhnt. Es ärgerte sie, aber es konnte sie nicht mehr überraschen. Sie setzte sich nur trotz schmerzender Rippen aufrechter hin und zog einen Müsliriegel und eine Wasserflasche aus der Tasche. Levi wandte sich ab und brachte Abstand zwischen sie, so viel wie der Ast ihnen erlaubte. Ihr Blick folgte ihm nicht. Kapitel 15: the cave. --------------------- „Ein Sturm zieht auf.“ Elds Worte waren von einem Donnern begleitet, welches selbst über das Getrampel ihrer Pferde zu hören war. Der Wind zerrte an ihren Umhängen und Haaren, während die Dunkelheit zwischen den Bäumen das Sehen erschwerte und das Risiko, blind einem Titanen in die Arme zu laufen, erhöhte. Doch Levi erinnerte sich an den Felsvorsprung, der ihren Weg gekreuzt hatte, was ihn versicherte, dass sie nah genug an dem für die Vorräte vorgesehenen Unterschlupf waren, um ihn noch zu erreichen. Sein Griff um die Zügel festigte sich und er trieb sein Reittier an. Er hatte die Pferde getauscht und ritt auf dem Ersatzpferd, während sein Hengst die Satteltaschen mit dem Proviant trug. Sakura und Eld lagen etwas zurück, da sie das Tempo ihrer Pferde gedrosselt hielten, um sie nicht zu überanstrengen. Ein weiteres Knallen folgte, dichter diesmal. Der Sturm war auf dem Weg zu ihnen. Bei diesem Gedanken konnte Levi auch bereits die ersten Regentropfen spüren, die den Weg durch die Baumkronen fanden und sein Gesicht und seine Handrücken benetzten. „Schaffen wir es noch?“, erklang Sakuras Stimme. „Ja“, rief Levi zurück, ohne auch nur einen Blick über seine Schulter zu werfen. Seine Augen waren geradeaus gerichtet, blieben auf ihr Ziel fokussiert, welches irgendwo dort in der Dunkelheit auf sie wartete. Sie jagten zu dritt über Wurzeln und Laub und Unkraut hinweg, zwischen Bäumen und Fichten und Steinen hindurch, die sie gerade rechtzeitig genug sahen, um ihnen ausweichen zu können. Es war ein Rennen, ein Lauf gegen die Zeit und die Natur, die Blitze und Donner über ihren Köpfen explodieren ließ. Sein Pferd wieherte aufgeregt, da es vielleicht immun gegen die Bedrohung der Titanen war, aber immer noch seinen angeborenen Instinkt folgte, sich bei einem Gewitter irgendwo zu verkriechen und zu warten, bis es vorbeigezogen war. Levi trieb es weiter an. Sein Finger strichen über das stoppelige Fell, sekundenlang, für die Länge eines Herzschlags. Der Wald lichtete sich vor ihnen und der Laubboden unter ihnen wurde zunächst matschiger, bevor er steiniger wurde. Die Berge, die sich vor ihnen in dem grauen Licht abzeichneten, waren durch die Bäume unsichtbar geblieben. Doch nun wirkten ihre Ausläufer greifbar und mit ihrer Sicht kehrten auch die Erinnerungen zurück. Levi war schon einmal hier gewesen. Alle Punkte, die als Erwins sogenannten Nachfüllstationen dienen sollten, waren strategisch ausgesuchte Orte, welche bei den einzelnen Expeditionen entdeckt und ausgekundschaftet worden waren. Anfangs galt es noch den Ursprung der Titanen herauszufinden, doch im Laufe der Jahre waren Zeichnungen der Gegenden erstellt worden und diese waren die äußersten Punkte, die sie erkundet hatten. Weiter waren sie noch nicht in die Welt vorgedrungen, die genauso gut endlos sein konnte. Levi wollte ihr Ende finden, wissen, ob es eine Klippe war oder sie die Mauern von der anderen Seite erreichen würden. Wollte herausfinden, ob sie dieses Meer finden konnten, von dem viele der illegalen und verbotenen Sachbücher sprachen. Er wollte all die Orte sehen, um die sich so viele Legenden rankten. Die Anspannung fiel von ihm ab und seine Muskeln lockerten sich, obwohl sie hier draußen auf der freien Fläche zwischen Bäumen und Bergen schutzlos waren. Der Regen fiel in dicken Tropfen, die binnen weniger Sekunden und Meter durch seine Kleidung geweicht waren. Sie schränkten seine Sicht ein. Ein Frösteln erfasste ihn, das ihn an den bevorstehenden Winter erinnerte. Sie ritten eine Senke hinunter, die in dem letzten Tal der Gegend mündete. Dahinter befanden sich steile Klippen und schmale Pfade, die mit einem Pferd oder nur zu Fuß erreichbar waren und in die Gebirgskette hinaufführte. Er hatte nie herausgefunden, wohin sie führten und wo sie endeten. Aber allein der Gedanke, irgendwann vielleicht auf der Spitze einer dieser Berge zu stehen, die so viel höher als jeder Baum und jeder Titan und jede Mauer waren, und auf die restliche Welt hinunterzublicken, schickte Adrenalin durch seinen Körper. Es ließ sein Herz klopfen, schwer und schnell gegen seinen Brustkorb. „Dort drüben“, rief er gegen den Wind und das Hufgetrampel aus. Er machte eine Armbewegung zu dem dunklen Schatten im Gestein vor ihnen hinüber. Erwin hatte gewusst, dass er diese Route haben wollte. Er hatte es gewusst, ohne das Levi etwas hatte sagen müssen. Der Höhleneingang war groß und breit, hoch genug, damit sie absteigen und die Pferde hinter sich in den natürlichen Raum des Gestein hineinziehen konnten. Der Regen draußen prasselte, während sie den tropfenden Spuren auf dem Boden ins Innere folgten und ihr eigenen hinterließen. Sie waren nicht die ersten, die ihr Ziel erreicht hatten. „Captain Levi... Sakura... Eld.“ Petras Stimme zerschnitt die Stille, die in der Höhle herrschte, die einem ganzen Höhlensystem angehörte, welche tief in das Innere der Gebirgskette führte und unzählige Abzweigungen besaß. Ihre roten Haare waren zerzaust und tiefe Ringe lagen unter ihren Augen, als Petra aus der hinteren Ecke auf sie zukam. Ihre Pferde befanden sich ebenfalls dort und kauten faul auf einen angehäuften Haufen von Gräsern herum, während Oluo auf dem Boden saß und aus ein paar Zweigen und vertrockneten Blättern ein Feuer zu entfachen versuchte. Als er sie bemerkte, breitete sich ein freudiges Grinsen auf seinem Gesicht aus und er richtete sich auf. Doch die Blässe auf den Gesichtern der beiden und die Abwesenheit von Gunther sagten Levi bereits alles, was er wissen musste. Oluo bemerkte seinen Blick und das Grinsen verlor sich, stattdessen schüttelte er den Kopf. „Gunther... er hat uns gerettet. Er hat...“ Doch er beendete seine Worte nicht, als ein Schluchzen sich den Weg aus seiner Kehle suchte und von den Steinwänden als hohles Echo widergegeben wurde. Levi presste die Lippen aufeinander. Er stand inmitten der Höhle und zwang sich den Rest des Abstands zu überbrücken, um seine zwei Pferde zu denen von Petra, Oluo and Gunthers hinüberzubringen. „Sakura, alles in Ordnung? Du siehst mitgenommen aus.“ Tränen schwammen in Petras Augen und in ihrer Stimme, doch sie nahm Sakura dennoch ihre Tasche ab und zog die andere Frau in eine lange Umarmung, die Sakura mit bebenden Lippen erwiderte. „Ja, es ist nichts. Mach dir keine Sorge“, versicherte sie Petra, als diese sie mit zu dem halbhergerichteten Feuer zog. Eld brachte sein und Sakuras Pferd ebenfalls zu den anderen hinüber und tätschelte Oluos Schulter im Vorbeigehen. „Ich bin froh, dass es euch gut geht“, sagte dieser und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. „Für eine Weile haben Petra und ich fast geglaubt... wir haben fast geglaubt, dass wir die einzigen wären. Hier draußen wird man verflucht schnell einsam.“ „Jetzt sind wir ja wieder zusammen“, sagte Eld beruhigend, obwohl sein Gesichtsausdruck verriet, dass eben einer von ihnen fehlte und niemals wieder zurückkehren würde. Levis Mund war trocken und er sah sich in der Höhle um, die von Sekunde zu Sekunde düsterer wurde. Die Sturmwolken hatten ihnen das letzte Tageslicht geraubt, welches ohnehin langsam der Dunkelheit wich. „Wir sollten das Feuer zum Brennen bringen“, sagte er. „Wir sind alle durchnässt. Das Letzte, was wir nun brauchen, ist dass sich einer von uns etwas wegholt. Oder, Sakura?“ Sakura zuckte zusammen und straffte die Schultern. „Richtig.“ Ihr Blick wanderte von einem zum anderen. „Wir sollten aus den nassen Sachen raus und sie zum Trocknen aufhängen. Die Höhle mag tief sein, aber der Luftzug hier drinnen ist stark genug, damit wir uns leicht etwas wegholen.“ Um ihren eigenen Worten Bedeutung zu schenken, öffneten sie die Knöpfe ihres Umhangs und zog ihn sich von den Schultern. Sie hing ihn über eine spitze Kante in der Felswand, langsam und bedacht. „Ich werde endlich das Feuer entfachen!“, verkündete Oluo und legte seine Faust im stummen Salut gegen sein Herz. Er ging zu den zusammengelegten Zweigen und Blättern zurück und ließ sich vor ihnen im Schneidersitz fallen. Sein Umhang und seine Jacke streifte er unwirsch ab, bevor er das Entzünden der Flammen wieder aufnahm. Levi beobachtete schweigend, wie wieder Antrieb und Leben in sein Team zurückkehrte, als sie die nassen Umhänge und Jacken auszogen und auf Steinen und dem Boden ausbreiteten. Die Traurigkeit war noch da und ließ ihre Bewegungen lustlos wirken, aber Levi war sich bewusst, dass diese Traurigkeit nie mehr gänzlich vergehen würde. Aber das Leben ging dennoch weiter. Wenn jemand das wusste, dann ein Soldat des Erkundungstrupp. Ein lautloses Seufzen bahnte sich den Weg über seine Lippen, bevor er es den anderen gleichtat. Sein Umhang legte er ordentlich auf den Boden und strich ihn glatt, bis auch die letzte Falte nicht mehr sichtbar war. Anschließend pellte er sich auch aus seiner braunen Uniform und legte sie daneben ab. Sein weißes Hemd war feucht, hatte jedoch nur wenig vom Regen abbekommen. Als er damit fertig war, steuerte er abermals ihre Pferde an, welche die Ruhe und Abgeschiedenheit nach den Anstrengungen genossen. Levi löste die schweren Satteltaschen seiner Reittiere und zog sie nacheinander von ihren Rücken. Er schwang sie sich über die Schultern und widmete sich dann den Satteltaschen der anderen Pferde. Die Arbeit lenkte ihn ab und verscheuchte die Gedanken. Sie hatten gewusst, dass diese Expedition gefährlich sein würde. Sie verlief nicht einmal mehr nach Plan, denn es war niemals vorgesehen gewesen, dass sie sich alle in diese Höhle einfinden würden. Es zog zu viel Aufmerksamkeit auf ihr Versteck, obwohl es für diese Einsicht zu spät war. Im Grunde hatten sie bisher sogar Glück gehabt, dass nur einer von ihnen den Titanen zum Opfer gefallen war. Doch... Gunther war einer der Besten gewesen. „Captain...“ Ihre Stimme war zart und weniger autoritär, als sie es dort draußen auf dem Baum und im Regen gewesen war. Trotzdem war sie nicht weniger einnehmend. Levis Blick zuckte zu Sakura hinüber. Sie hielt sich die Rippen, löste mit der anderen Hand aber die Schnalle der Satteltasche ihres Pferdes. Er trat auf sie zu, schob ihre Hand achtlos beiseite und zog die Satteltasche auf seine Schulter. Das Gewicht war schwer und erinnerte ihn an die eigene Müdigkeit. „Was ist?“ Sie atmete tief durch, ehe sie den Blick hob. „Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Ich bin zu weit gegangen.“ Ein Schnaufen seinerseits folgte. „Du hast deine Meinung gesagt. Außerdem kann man Gesagtes nicht zurücknehmen.“ Mit diesen Worten ließ er sie stehen und schleppte die Satteltaschen tiefer in die Höhle hinein. Auf halben Weg nahm Eld ihm einige ab und gemeinsam verstauten sie diese in einer versteckten und kaum zu erreichenden Nische, wo sie vor den Wettereinflüssen und vor allem wilden Tieren geschützt sein würden. Levi zog eine Handvoll Energieriegel und ein paar Wasserflaschen hervor, die sie für heute Nacht und ihren Rückweg hinter die Mauern gebrauchen würden, bevor sie noch zusätzlich einige herumliegende Steine heranhievten, um das Versteck zu kaschieren. Den Proviant brachte er zum entfachten Feuer hinüber und verteilte sie an seine restlichen Kameraden. Sakuras Blick wog derweil schwer auf seiner Gestalt, fast schwerer noch, als wenn sie vermieden hatte in seine Richtung zu schauen - und es beunruhigte Levi ein wenig, dass simple Blicke diese Wirkung auf ihn hatten. Kapitel 16: pieces of the past. ------------------------------- „Ich werde die erste Nachtwache übernehmen“, verkündete Levi. Es waren die ersten Worte in einer gefühlten Ewigkeit, die seine Lippen verließen. Sein Ton war kalt und ausdruckslos - und er genauso unerreichbar wie sonst auch. Sakuras müder Blick blieb auf die knisternden Flammen von dem kleinen Feuer gerichtet. Sie warfen flackernde Schatten an die Höhlenwände und auf den ungemütlichen Boden. Ihre Arme waren um sich selbst geschlungen, vorsichtig, da jeder Druck gegen ihre Rippen schmerzte. Sie lehnte an einer der Steinwände und hatte die Beine angewinkelt. „Dann werde ich die zweite Wache übernehmen“, sagte Petra, die trotz der Dunkelheit, die vor der Höhle lauerte, energisch und voller Energie klang. Ihr Lächeln war hell und gefüllt mit Leben, obwohl man die Erschöpftheit sehen konnte. „Bitte wecke mich nicht so spät, Captain.“ Ihre Augen wanderten zu ihrem Teamleiter hinüber, der sich von ihnen und dem Feuer abgewandt hatte. Er trug lediglich sein weißes Hemd, da sein Jackett und sein Umhang vom Regen durchnässt waren. Trotzdem trugen ihn seine Schritte ohne weitere Worte zum Höhleneingang hinüber und er spähte hinaus in die nächtliche Finsternis. Petra ließ ihn ziehen, denn im Gegensatz zu Sakura verstand sie Levis Schweigen. Sie verstand seine Art und akzeptierte sie, worum Sakura sie glatt beneidete. Wäre sie dazu ebenfalls in der Lage, würde sie vielleicht gelegentlich den Mund halten und sich nicht in Schwierigkeiten bringen, wenn es um Levi ging. Aber schon ihr erstes Treffen hatte unter einem schlechten Stern gestanden, was hatte sie also erwartet? Sakura schluckte das Seufzen hinunter und ließ ihre Lider zufallen, die nach einer Ruhepause schrieen, genauso wie jeder Muskel in ihrem Körper. Lange ließ der Schlaf nicht auf sich warten. Das Knistern des Feuers und Olous Gähnen und das leise Gespräch zwischen Eld und Petra lullten sie ein und verliehen selbst diesem fremdartigen Ort eine gewisse Harmonie. Doch ihr Schlaf war nicht traumlos. Er war es nie gewesen. Als Kind und selbst während ihrer Grundausbildung hatte Sakura von einer Zukunft an der Seite von dem ihr wichtigsten Menschen geträumt, bevor ihr Weg sie nach Trost geführt hatte. Dort hatte sie den kleinen Raum über Marins Laden bezogen, um viele Nächte allein an die schattenbesetzte Decke zu starren, weil die ausgemalte Zukunft nur ein Traum geblieben war. Lediglich an den Abenden, an dem Kakashis Körper dicht neben ihren gelegen hatte, hatte sie einschlafen können, obwohl die Kanonen hoch oben auf den Mauern sie bis tief in den Schlaf verfolgten und sie von gesichtslosen Monstern hatte träumen lassen, die ihr nach dem Leben trachteten. Erst beim Aufklärungstrupp, nach den rigorosen Trainingseinhalten, war sie müde genug gewesen, um sich hinzulegen und morgens aus dem Bett zu steigen und keinerlei Erinnerungen an die Zeit dazwischen zu haben. Es war der beste Schlaf, den Sakura je gehabt hatte. Nun jedoch, mit dem beständigen Pochen in ihrer Seite, war er unruhig, begleitet von Bildern von riesigen Fratzen, die grinsten und sie mit einer Leere ansahen, die unbegreiflich war. Hände griffen nach ihr und Finger schlangen sich um ihre Taille, sie zerrten und zerrten und zerrten – und Sakura schlug schweratmend die Augen auf. Erstarrt saß sie im Halbdunkel, das nur von dem letzten Glanz glühender Asche und ein paar sterbenden Flammen erhellt wurde. Schweiß lief ihre Schläfe hinunter und Sakura wischte ihn mit harscher Geste weg. Um sie herum war es still und sie konnte die Umrisse von Petra, Eld und Oluo ausmachen, die es sich auf dem Boden um das Feuer gemütlich gemacht hatten. Es war bloß ein Traum gewesen. Mal wieder. Ein freudloses Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie nach der angefangenen Wasserflasche neben sich griff und sich einen Schluck der kalten Flüssigkeit genehmigte. Ihr Mund und ihre Lippen fühlten sich staubtrocken an, obwohl die Luft, die in die Höhle drang erfrischend war. Sie roch nach einer Wildheit, nach einer Freiheit, die man in Trost und auch keiner anderen Stadt fand. Sakura schaute unwillkürlich zum Eingang der Höhlenformation hinüber, der noch immer von Levi bewacht wurde. Er lehnte an der Steinwand und sein Blick galt der Finsternis vor ihm, als konnte er in ihr mehr erkennen als Sakura. Die Ärmel seines Hemdes waren hochgeschoben und seine linke Hand ruhte auf seiner Ausrüstung. Er war ein stummer Wächter, der in seiner stillen Haltung einer Statue Konkurrenz machte. Sie wusste, dass es ein Fehler war. Sakura wusste es, bevor sie sich an der Wand hochzog und auf leisen Sohlen die Höhle durchquerte, ehe sie sich in seine Richtung begab. Aus irgendeinem Grund funktionierten Levi und sie nicht. Sie kamen einfach nicht miteinander aus, obwohl Sakura… es doch wollte. Es war ein dummer Gedanke, ein absurder Wunsch, denn sie sollte sich mit wichtigeren Dingen beschäftigen. Sie sollte sich ausruhen und ihre Rippen schonen, da sie morgen früh schon wieder auf dem Pferderücken sitzen und durchgeschüttelt werden würde. „Captain Levi…“, murmelte sie, weil sie vorschnell war und scheinbar einfach nicht begriff, was gut für sie war. „Ist alles ruhig dort draußen?“ Levi betrachtete sie aus den Augenwinkeln. „Ja.“ Stille folgte. Sakura nickte, mehr zu sich selbst, als auf seine Antwort. „Ich habe von Titanen geträumt“, entrann es ihr, auch wenn es Levi nicht interessierte. Sie musste darüber sprechen, um es zu verarbeiten. „Aber ich schätze, dass das unter den Umständen ganz normal ist. Außerdem hatte ich schon immer eine blühende Fantasie.“ Sie lächelte über sich selbst, als sie sich auf der anderen Seite des Höhleneingangs setzte und die Arme um die angezogenen Beine schlang. Sie bettete das Kinn auf ihren Knie und folgte seinem Blick in die Dunkelheit, die alles verschluckte und sie nicht einmal einen Meter weit sehen ließ. Der Regen hatte aufgehört, das war das einzige, was sie mit Sicherheit sagen konnte. „Ich habe schon von Titanen geträumt, bevor ich Fuß außerhalb der Mauern gesetzt habe. Nur damals haben sie noch wie die schrecklichen Karikaturen in den Büchern ausgesehen. Nicht wie… du weißt schon.“ Die Worte stolperten aus ihrem Mund, ungehindert und frei. Ihr Kopf war genauso klar wie der Nachthimmel über ihren Köpfen. Die Wolkendecke war an einigen Stellen aufgerissen und sie konnte die Sterne sehen, winzig und unendlich weit entfernt. „Es gibt keinen Soldaten, der nicht von Titanen träumt, Sakura“, sagte Levi, als Sakura nicht mehr daran glaubte, dass er sich auf eine Unterhaltung mit ihr einlassen würde. Immerhin hatte er sie vor einigen Stunden abgewiesen, was sie ihm nicht einmal übel nehmen konnte. Sie war unhöflich gewesen, respektlos, denn er war immer noch ihr Vorgesetzter. „Träumst du auch von ihnen?“, fragte Sakura. „Gelegentlich.“ Ein Zucken der Schultern folgte. „Meistens sind es die Gesichter meiner toten Kameraden, die mich bis in den Schlaf begleiten.“ Sakura senkte den Blick, denn Gunthers Gesicht würde sich fortan zu den anderen gesellen. Sie hatte schon oft gehört, dass der gefürchtete Levi Ackerman stets auf den Beinen zu sein schien, ganz gleich der Uhrzeit. Selbst mitten in der Nacht sah man ihn durch das Schloss streifen oder aber es brannte noch Licht in seinem Zimmer. Lag es an den Träumen? „Warum hat sich jemand wie du, der hinter Wall Sina ein wohlbehütetes Leben geführt hat, dem Militärdienst verschrieben?“, fragte Levi und wandte den Kopf in ihre Richtung, um sie diesmal richtig anzusehen. Röte schlich Sakura in die Wangen, während Levi sie mit müden und vollkommen unlesbaren Blick musterte. Hoffentlich konnte er in der Dunkelheit ihre Gesichtsfarbe nicht erkennen… „Was… was soll das denn heißen?“, stammelte sie. „Glaubst du, dass ich nicht weiß, wer die Harunos sind? Wenn ja, dann muss ich dich enttäuschen. Erwin hat mich oft genug gezwungen, zu irgendwelchen unsinnigen Veranstaltungen mitzukommen. Dein Vater ist ein recht hohes Tier und deine Familie reich genug, damit du kein einziges Mal in deinem Leben den Finger rühren musst. Geschweige denn, dem Aufklärungstrupp beitreten. Verhätschelte Menschen bleiben in der Grundregel verhätschelte Menschen.“ Er nahm kein Blatt vor den Mund, dies wurde schnell klar. Levi hatte nachgeforscht, ehe er sie in seinem Team aufgenommen hatte. Immerhin gab es einige Familien, die diesen Nachnamen trugen, obwohl Sakura ihre Herkunft auch nie zu verstecken versucht hatte. Sie hatte nichts zu verbergen, oder doch? „Du hast recht“, gestand sie, wohlwissend, dass sie Levi nicht Rede und Antwort stehen musste. Nicht einmal mit seinem Teamleiter musste man seine Vergangenheit besprechen, wenn diese rein gar nichts mit der Mission oder dem Dienst als Soldat zu tun hatte. „Mein Vater ist ein guter Mann. Ignorant, aber gut. Er würde alles für seine Familie tun. Ich hatte alles, was ich zum Leben brauchte und auch alles, was ich jemals haben wollte. Bis auf eine Sache.“ Sakura schluckte und ihre Augen wanderten durch die Gegend, einen Bogen um Levi machend, dessen Aufmerksamkeit sie noch immer auf sich ruhen hatte. „Bis auf einen Menschen.“ Sie kam sich so dumm und naiv vor, obwohl sie sich stets einredete, dass sie nicht mehr die Person war, die einst ihrem Kindheitsfreund in der Hoffnung, dass sie ein gemeinsames Leben aufbauen könnten, hintergerannt war. „Sein Name ist Sasuke Uchiha. Ich bin sicher, du hast schon von ihm oder wenigstens seiner Familie gehört.“ „Sie leiten die Militärpolizei. Ihre Netzwerke sind riesig und ihre Gene gut genug, um von vielen als Genies angesehen zu werden“, erklärte Levi, dessen Augenbrauen sich zusammenzogen. Ob es nun aufgrund der Uchihas war oder weil er sich denken konnte, was sie dazu inspiriert hatte, dem Militär beizutreten, konnte Sakura nicht sagen. Sie presste die Augen zusammen, um ihn nicht länger ansehen zu müssen. „Ich war schwer verliebt in ihn. Wir sind praktisch zusammen aufgewachsen. Ich… dachte, er fühlt so wie ich. Jedenfalls hab ich mir das eingeredet, obwohl er immer furchtbar kühl gewesen ist. Emotionslos.“ Ein bisschen so wie Levi selbst, denn sie war scheinbar dazu verdammt, die gleichen Fehler immer wieder zu begehen. „Ich war blind vor Liebe. Ich bin ihm in die Akademie gefolgt. Erst da habe ich gemerkt, dass er kein Interesse hat und auch nie gehabt hat. Plötzlich stand ich allein da, mit nichts.“ Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einer Grimasse, die eigentlich ein Lächeln sein sollte. „Aber es war nicht alles umsonst. Immerhin habe ich entdeckt, dass ich mich als Ärztin ganz gut mache. Und Trost braucht jeden Arzt, den die Stadt bekommen kann.“ „Kakashi hat dir geholfen“, schlussfolgerte Levi und riss Sakura aus ihrem Selbstmitleid. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Seine Mimik hatte sich nicht verändert und er schien kein Stück erstaunt oder angewidert über ihre einstige Motivation. Vielleicht war er aber auch nur ein besonders guter Schauspieler oder tatsächlich so gefühlskalt, wie alle immer von ihm behaupteten. Andererseits träumten Menschen ohne Gefühle nicht von ihren toten Kameraden und sie nahmen sich auch nicht die Zeit, sich mitten in der Nacht die alten Liebeskamelen einer Untergeordneten anzuhören. Sakuras Gesicht fühlte sich heiß an. „Ja, irgendwie schon. Er hat mir geholfen herauszufinden, worin ich gut bin und was mich interessiert.“ „Er ist ein guter Soldat gewesen. Jedenfalls gibt es nicht viele Männer, über die so viele Geschichten erzählt werden“, erzählte Levi mit monotoner Stimme. „Ich habe ihn selbst nie getroffen, aber er trat mit Erwin zusammen dem Aufklärungstrupp bei. Sie waren beide zusammen in der Akademie, soweit ich weiß.“ Sakura blinzelte. Davon hatte sie nichts gewusst, was kein Wunder war, denn Kakashi sprach grundsätzlich nicht von der Vergangenheit. Er konnte wunderbar über Expeditionen oder Trainingseinheiten reden, aber sobald es um seine Person ging, wurden seine Erwiderungen furchtbar schwammig und vage. Im Grunde wusste Sakura nichts über ihren ehemaligen Ausbilder außer, dass er den Aufklärungstrupp verlassen hatte, um an der Akademie zu unterrichten. Er lebte in Trost, las gerne seine Schmuddelbücher und stellte den paar streunenden Hunden, die sich in der Gasse hinter seiner kleinen Wohnung herumtrieben, gelegentlich Futter raus. Weder wusste sie, warum er den Aufklärungstrupp verlassen hatte, noch warum er sein Gesicht hinter einer Stoffmaske versteckte, auch wenn er unheimlich gutaussehend war. Levi hingegen, der ihn nicht einmal kannte, wusste mehr über seine Vergangenheit, als die Frau, die für lange Zeit sein Bett geteilt hatte. Doch Sakura war zu müde, um wütend zu sein. Er hatte seine Gründe, denn Kakashi war der einzige Mensch, auf den sie sich immer hatte verlassen können und daran wollte sie festhalten. „Was meinst du, warum er die Scouts verlassen hat?“, fragte sie dennoch. „Soweit ich weiß, weil jemand gestorben ist. Eine Frau“, antwortete Levi, beließ es aber dabei. Eine Frau… Diese Worte echoten durch Sakuras Kopf, bedeutungsschwer, obwohl sie sich hätte denken können, dass es schon öfter Frauen in Kakashis Leben gegeben hatte. Immerhin lagen doch einige Jahre zwischen ihnen und sie konnte nicht erwarten, dass sie die einzige in seinem Leben war, nur weil er der erste und bisher einzige für sie war. Ihre Augen wanderten zu Levi hinüber und fingen seinen Blick auf, der abschätzend auf ihrer Gestalt ruhte. Fast so, als hätte er jeden ihrer Gedanken gelesen. Allein diese wahnwitzige Idee sollte ihr peinlich sein, doch angesichts der Tatsache, dass Levi überhaupt noch mit ihr sprach, kam diese Emotion nicht auf. „Kakashi war einer der besten Soldaten im Aufklärungstrupp“, sprach Levi weiter. „Einer der wenigen, die ihn lebend verlassen haben.“ Hörte sie da Missbilligung heraus? Verschrieb man sich mit dem Einstieg in den Trupp solange auf Missionen zu gehen, bis man von einem Titan gefressen wurde? Oder war es etwas anderes? Dass Kakashi gegangen war, weil jemand gestorben war, obwohl bei jeder Mission unzählige starben? Machte das Kakashi in Levis Augen zu einem Feigling? Die Frage steckte in Sakuras Kehle, brannte ihr auf den Lippen, doch schaffte es nie aus ihrem Mund, als dumpfe Geräusche ertönten. Der Boden unter ihr vibrierte in gleichmäßigen Abständen, die Sakura nicht zuordnen konnte. „Was ist—“ „Ruhe“, stieß Levi mit einem Zischen aus und zog ein Schwert aus seiner Ausrüstung hervor. Er spähte hinaus in die Dunkelheit, suchend. Sakura kämpfte sich auf die Beine und stolperte rückwärts, gerade in dem Moment, in dem ein riesiges Bein vor dem Höhleneingang auftauchte. Ein Fuß versperrte ihnen den Weg, bevor die monströse Gestalt sich bückte und ein riesiges Gesicht den gesamten Eingang einnahm, als es sie mit einem Auge erspähte. Hinter ihnen ertönten Stimmen, orientierungslos und verwirrt. Die anderen waren durch den Krach erwacht, den der Titan erzeugt hatte. „Was soll das? Was ist los?“ brummte Oluo verschlafen, während Eld scharf die Luft einzog und Petra einen spitzen Schrei ausstieß. Levis Schwertklinge schlitzte dem Auge entlang und der Kopf wurde zurückgezogen, um stattdessen von einem Arm ersetzt zu werden. Die Hand schob sich blind in den Hohlraum hinein. Die Pferde wieherten aufgeregt und drängten sich zurück. Sakura stürzte nach vorn, um die Arme um Levis Schultern zu schlingen. Mit ihm zusammen stolperte sie nach hinten, bis sie die Steinwand im Rücken hatte. Levis Körper presste sie an ihren, um der Hand zu entgehen. Schmerz zog sich ihren Rippen entlang, doch sie ignorierte ihn, um ihren Captain festzuhalten, dem ein Fluch auf den Lippen lag. Er wehrte sich halbherzig gegen ihre Geste, was Sakura bestätigte, dass er wusste, dass hier drinnen kein Platz zum Manövrieren war. Dass ein Kampf in ihrer Situation aussichtslos war. Die Hand wanderte suchend umher und Fingernägel kratzten dem Steinboden entlang, tiefe Schrammen hinterlassend. „Schnell!“, rief Oluo, der einen Ast, der halbverbrannt im Feuer lag hob und sie als Fackel benutzte. Er schwang sie herum, um die Hand zu vertreiben, die ein Stück zurückzuckte, jedoch weitersuchte. Petra winkte sie in manischer Geste zu ihnen hinüber, auch sie war dicht an die Wand gepresst. „Hier lang. Wir können die Tunnel benutzen. Vielleicht gibt es einen zweiten Ausgang.“ Eld war bereits zu den Pferden hinüber geschlichen und zog die störrischen Tiere tiefer in den Arm der Höhle hinein, weg von der Titanenhand, die nach ihren Reitern lechzte. „Petra hat recht“, presste Sakura hervor. „Das ist der einzige Weg.“ Ihre Finger waren in Levis Hemd vergraben, nicht wissend, ob sie ihn zurückhielt oder sich bei ihm abstützte. Ihre Seite stach. Levi schnaufte, steckte seine Schwerter weg und wandte sich um. Er packte sie am Oberarm, mit sich ziehend, dicht an der Steinmauer entlang, die ihrer Haut entlang schürfte. Der Arm zog sich zurück, nur damit die Hand ein weiteres suchend in den Hohlraum vordringen konnte. Sie pressten sich in eine Ecke, als die Finger in ihre Richtung tasteten, als könnten sie ihre Beute riechen. Levi befand sich hinter ihr, so dicht, dass sie ihn spüren konnte, als er sie weiterzerrte, sich aber stets zwischen ihr und der Hand befand. Sie war die Ärztin und ein wertvolles Mitglied des Teams. Dieser Gedanke schmerzte, mehr noch als ihre angeschlagenen Rippen es taten. Petra und Oluo warteten im Tunnel auf sie. Die letzten Meter rannten sie, waghalsig, den Kopf einziehend, als die Hand über ihre Köpfe hinweg sauste. Der Durchgang im Gestein empfing sie mit einer Sicherheit, die Sakura diesem engen Raum kaum zutraute. Sie stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab, während sie ihren Atem zu beruhigen versuchte. Ihr Herz schlug heftig und das Blut rauschte in ihren Ohren. In den Augenwinkeln sah sie die Hand, die noch immer nach ihnen suchte und nicht findig wurde. „Das war knapp...“, murmelte Petra. „Woher wusste er, dass wir in der Höhle sind?“, fragte Oluo mit skeptisch zusammengezogenen Augenbrauen. „Es ist, als ob er einen sechsten Sinn besitzt. Vielleicht ist er ein abnormaler Titan...?“ Die Fackel in seiner Hand spendete ihnen als einzigstes Licht und ihre Gesichter waren schattenbesetzt, blass, leichenblass. Sakura schluckte, verschluckte sich fast und ein Frösteln ging durch ihren Körper. Was würde sie nun für ihren Umhang oder ihre Jacke geben... Sie warf einen Blick zurück in die Höhle, doch es war zu dunkel, um ihre zurückgelassenen Kleidungsstücke zu entdecken. „Das spielt jetzt auch keine Rolle“, unterbrach Levi. „Holen wir lieber zu Eld und den Pferden auf und finden einen anderen Ausgang. Ich habe keine Lust hier unten zu verrotten.“ Er schob sich zwischen Petra und Sakura hindurch, nahm Oluo die Fackel ab und übernahm die Führung. Sakura folgte ihnen, als sie sich tiefer in das Höhlensystem hineinwagten. Sie rieb sich die Oberarme. Was sollte aus ihnen werden, wenn es keinen Ausweg gab? Was, wenn sie sich verliefen und nicht einmal den Weg zurück fanden? „Hier, Sakura“, sagte Petra neben ihr. Ihr Gesicht war verschwitzt und ihr rotes Haar wirr, als sie Sakura ihre Tasche überreichte. „Ich konnte sie retten. Immerhin brauchen wir die Sachen da drin vielleicht noch mal.“ Ihre Augenwinkel brannten, als sie die Tasche von der anderen Frau annahm und den Riemen um ihre Schultern legte. Ihr Gewicht war vertraut, angenehm, in der Lage die negativen Gedanken wenigstens für den Moment zu verscheuchen. „Wenigstens sind wir zusammen...“, flüsterte Sakura, eine Weisheit wiederholend, die Eld vor ein paar Stunden erst ausgesprochen hatte. Kapitel 17: discoveries. ------------------------ Der Schweiß sammelte sich in Levis Nacken, hervorgerufen von der kaltfeuchten Luft um sie herum. Das Gestein, welches vor einiger Zeit noch trocken und hart gewesen war, fühlte sich nun glitschig unter seinen Fingerspitzen an. Angewidert wischte Levi sich die Hand an seiner Hose ab, wohl wissend dass es einen unansehnlichen Fleck hinterlassen würde, der unter dem schwachen Schein der Fackel nur nicht sichtbar war. Diese erhellte ihnen den Weg, doch Levi bezweifelte, dass das noch ewig so weitergehen würde. Irgendwann würde das Holz verbrannt sein, jedenfalls näherten sich die Flammen langsam seiner Hand. Doch einen Ausgang aus diesen endlosen Tunneln gab es bisher keinen... oder sie hatten die falsche Abbiegung gewählt. Dieser ernüchternde Gedanke war begleitet von dem sich absenkenden Boden unter ihren Füßen. Sie bewegten sich bergab, immer tiefer und die klare Luft am Höhleneingang war einer stickigen gewichen, die klebrig und feucht genug war, so dass gelegentlich Tropfen von der Decke fielen. „Wir irren hier im Halbdunkel herum wie ein paar Idioten“, entfuhr es Oluo, der irgendwo hinter ihm ging. Bitterkeit unterlag seiner bebenden Stimme, die von dem Gestein dröhnte. „Nicht so laut“, erwiderte Eld ruhiger. „Die Pferde sind schon nervös genug. Dein Geschrei macht es nur schlimmer.“ Zusammen mit ihren Reittieren bildeten die beiden das Schlusslicht, doch die unregelmäßigen Laute von Hufen auf dem Stein bestätigten, dass es schwerer wurde die Pferde weiter in die unbekannte Enge zu lotsen. Unzählige Abbiegungen zuvor waren die Tunnel von breiter, vor allem jedoch höher, gewesen. Inzwischen spielte die Frage, ob sie den falschen Tunnel gewählt hatten, jedoch keine Rolle mehr, denn sie waren zu weit gekommen, um umzukehren. Selbst dann, wenn sie letztendlich gezwungen sein würden, ihre Reittiere zurückzulassen. Zudem war sich Levi durchaus bewusst, dass sie sich bereits hoffnungslos in diesem unterirdischen Labyrinth verlaufen hatten, da jeglicher Richtungssinn an einem derartigen Ort unbrauchbar war. „Hört ihr das?“, fragte Sakura und Levis Gedanken kamen zu einem abrupten Halt. Stattdessen spitzte er die Ohren, obwohl er nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob er nach dem lauschte, was Sakura gehört hatte, oder darauf wartete, dass sie weitersprach. Ein lautloses Seufzen bahnte sich den Weg über seine Lippen. „Und was soll das bitte sein, was du hörst?“ „Es hört sich an wie—“ „Ja, ich höre es jetzt auch!“, unterbrach Petra ihre Ärztin. Ihre Hände fanden Levis Schulter und Sakuras Oberarm. „Es klingt nach Wasser. Eindeutig nach Wasser!“ „Na und?“, fragte Oluo. „Dann werden wir nicht verdursten. Das bedeutet noch lange nicht, dass wir jemals wieder Tageslicht zu sehen bekommen.“ „Weiß nicht“, entrann es Eld. „Bedeutet Wasserrauschen nicht, dass das Wasser irgendwo hinfließen muss? Vielleicht nach draußen?“ Eine Stille folgte auf seine Worte hin, als wollte niemand zustimmen und eine falsche Hoffnung aufkommen lassen. „Wir sollten einfach nachsehen, anstatt hier dumm herumzustehen und zu raten“, sagte Levi und erlaubte sich ein Augenrollen, welches ohnehin ungesehen blieb, da er noch immer mit dem Rücken zu den anderen stand. Wann war er stehen geblieben? Levi setzte ihren Weg fort, dem fernen Rauschen folgend, das er zuerst nicht einmal wahrgenommen hatte. Sein Gehör war gut, aber Sakuras Aufmerksamkeit war scharf genug, um Details wie diese aufzuschnappen. Tatsächlich schwoll das Geräusch von fließendem Wasser mit jedem weiteren Schritt an. Pfützen hatten sich auf dem unebenen Boden gebildet, die schwarze Flecke in der Halbdunkelheit darstellten. Zudem nahm die Luftfeuchtigkeit weiter zu, obwohl es Levi kaum mehr für möglich gehalten hatte. „Passt auf wohin ihr tretet“, merkte Levi tonlos an, als ein weiterer Tunnel ihren kreuzte. In diesem senkte sich der Boden ein weiteres Stück ab und beim ersten Schritt spürte er bereits das glitschige Gestein unter seiner Stiefelsohle. In der Mitte des Tunnels befand sich ein schmaler Rinnsal, der sich rechts und links von ihnen in der Dunkelheit verlor, welche die Fackel in Levis Hand nicht mehr erhellen konnte. Sakura schob sich neben ihn in den Tunnel, während Petra auf Zehnspitzen über seine Schulter schielte. Sakura ging in die Hocke. „Sieht so aus, als ob der Wasserfluss nach rechts geht.“ „Was bedeutet das?“, fragte Petra und auch Levi war gespannt auf die Erklärung. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, weshalb die Richtung, in die das Wasser floss, wichtig war. Allerdings hatte er sich auch nie mit Dingen wie Flüssen oder anderen Wasserquellen beschäftigen müssen, denn besonders viele hatten seinen Weg hier draußen nie gekreuzt. Selbst die Wasservorräte hinter den Mauern waren unter strengste Kontrolle gestellt und für Normalbürger nur durch Brunnen in den Städten oder Flaschen in den Läden erhältlich, da ihre Ressourcen knapp bemessen waren. Wasser, Essen und Platz waren die drei kostbarsten Dinge, die sie besaßen und die alle von innerhalb Wall Sina kontrolliert wurden. Doch wenn Levi etwas gelernt hatte, dann dass der Klasseunterschied kaum größer sein konnte und niemand jemals einen Finger rühren würde, um das zu ändern. Die Politiker und Aristokraten versteckten sich im Luxus hinter Wall Sina, von der Militärpolizei beschützt, während die Farmer die solide Mittelklasse bildeten, da jeder auf sie angewiesen war. Der Rest der Bevölkerung bestand aus Leuten wie ihm, die im Untergrund versauerten, weil nicht jeder von Erwin Smith aufgespürt und rekrutiert wurde. Ausgenutzt, flüsterte manchmal eine Stimme in seinem Kopf, von der Levi nicht wusste, ob er ihr trauen konnte. Aber was im Leben war schon gewiss? Dass Erwin ihn für seine Zwecke benutzte, das durchaus. Gleichzeitig musste er durch Erwin nicht mehr im Dreck leben, sondern konnte die Weiten der Welt sehen, die ihm zuvor nicht zugänglich gewesen waren. Gegen das Kämpfen hatte er nichts, genauso wenig gegen das Aufschlitzen von diesen hässlichen Ungeheuern, welches damit einherging. Es verlieh seinem Leben einen Sinn. „Das Wasser wird irgendwo münden. Wahrscheinlich in einem Fluss“, erklärte Sakura. Sie hockte noch immer auf dem Boden und beobachtete das Wasser, das unter dem Schein der Fackel dunkel glitzerte. „Die meisten Flüsse befinden sich nicht in einer Höhle, sondern irgendwo außerhalb. Wenn ich mich nicht vollkommen irre, dann hat sich das Wasser über die Jahrhunderte hinweg bloß einen Weg durch das Gestein gefressen und fließt deswegen durch diesen Tunnel. Vielleicht finden wir also doch einen Ausgang, wenn wir dem Wasserverlauf folgen.“ „Wow, Sakura…“, entrann es Eld. „Woher weißt du das alles?“, fragte Petra und schenkte ihr ein Lächeln, welches von der Hoffnung sprach, die sie mit ihren Worten in den anderen erweckt hatte. „Das ist nichts, was man an der Akademie lernt. Oder generell weiß. Glaube ich zumindest. Ich habe jedenfalls keine Ahnung von etwas dergleichen.“ Petras helles Lachen hallte von den Tunnelwänden wider, was letztendlich auch dafür sorgte, dass sich die Anspannung in Levis Schultern zu lockern begann. Sakura kratzte sich verlegen mit einem Finger am Kinn, als sie sich der vollen Aufmerksamkeit ihres Teams bewusst wurde. „Nun ja, ich… habe eine Menge Zeit in der Bücherei an der Akademie verbracht. Kakashi… Ich meine, Captain Kakashi hat mich auf die alten Bücher aufmerksam gemacht, die dort unberührt herumstehen. Die meisten haben weder Zeit noch Interesse gehabt sie zu lesen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Viele alte Werke haben nicht überlebt, aber da war das Verhalten des Wassers und… ich glaube, es hieß Wie Natur sich um seine Bewohner kümmert und—“ Levi schnaufte. „Wir brauchen keine komplette Bücherliste…“ Er wandte den Blick von Sakura ab, welche die Schultern straffte und sich auf die Unterlippe biss, als ob sie das Herunterschlucken musste, was ihr durch den Kopf ging. Levi konnte sich genau vorstellen, was es war. „Also nach rechts“, verkündete er und drehte sich in die besagte Richtung. Finsternis befand sich vor ihnen und ihr Weg war rutschiger als zuvor. Sie bewegten sich nur langsam, ganz besonders mit den Pferden im Schlepptau, die unruhig schnauften und kümmerliche Geräusche machten. Nur die Anwesenheit ihrer Reiter sorgte dafür, dass sie nicht scheuten und sich von Eld und Oluo weiterziehen ließen. Kakashi… Da war er wieder, dieser Name. Obwohl Levi ihn nie persönlich getroffen hatte, fühlte er sich, als ob er den Mann kannte. Legenden rankten sich beim Erkundungstrupp um ihn, viel mehr noch, als er Sakura erzählt hatte. Andere Geschichten, die mehr Wahrheit in sich trugen, stammten direkt von Erwin, wenn er zu viel Wein getrunken und seine Zunge gelockert hatte. Levi hatte so einige Abend mit Erwin an seinem Schreibtisch verbracht und diesen alten Kamellen gelauscht – und während Sakura ihn als Held ansah, kannte Levi die Wahrheit über den Mann, der nie sein Gesicht zeigte, sondern sich ständig hinter einer Stoffmaske versteckte. Sein Fuß stieß gegen etwas Hartes, das plätschernd und hohl durch den Rinnsal davon rollte. Levi blieb stehen und seine Augen zucken nach unten. Doch erst nachdem er die Fackel etwas zum Boden hinunter gesenkt hatte, erkannte er, was er weggetreten hatte. Ein menschlicher Schädel lag schräg im Schmutz und ein hohles Auge war halb von Wasser gefüllt. Levi verzog das Gesicht, mehr noch, als er die restlichen Knochen ausmachte, die herumlagen und sich in den Ecken häuften. Petra zog scharf die Luft ein, nachdem sie halb in ihn hineinlief, während Sakura dicht neben ihm innehielt. Er konnte ihren Arm nur Millimeter von seinem entfernt spüren. „Was war das?“, entwich es Oluo. „Warum halten wir an?“ „Knochen… Menschliche Knochen“, entrann es Petra flüsternd. „Was bedeutet das?“, fragte Eld und auch sein Ton hatte jegliche Belustigung verloren. „Wir haben noch nie… Spuren von einer früheren Zivilisation außerhalb der Mauern gefunden.“ „Wir sind auch noch nie soweit vorgedrungen“, verbesserte Levi. Eigentlich war es ein Durchbruch, aber er hätte auch gut und gern darauf verzichten können. Im Grunde war es ihm ohnehin stets egal gewesen, woher sie kamen oder was es mit der Titanenplage auf sich hatte. An Geschichte war er nicht interessiert, sondern an eine Lösung, wie sie die Titanen loswerden konnten, um die Mauern endlich gänzlich hinter sich zu lassen. „Wir sollten ein paar der Knochen mitnehmen“, sagte Petra, obwohl ihre Stimme bebte. „Findest du nicht, Sakura? Vielleicht… vielleicht können wir irgendwie herausfinden, was mit ihnen geschehen ist. Hanji ist sicher interessiert daran, nicht wahr, Captain?“ „Wenn du welche mitnehmen willst, dann sammelst du sie ein, Petra“, erwiderte Levi, doch Sakura kam ihnen zuvor. „Ich werde das übernehmen.“ Sie zog ihre Tasche von der Schulter und setzte sie an eine trockene Stelle ab, um darin herumzukramen. Eine Plastiktüte hervorholend zog sie sich einen Gummihandschuh an und packte verschiedene Knochen ein, einige größer und andere kleiner. Von Anatomie verstand Levi nichts, doch von der Größe konnten sie von einem Arm stammen. „Du hast recht, Petra“, sagte Sakura. „Einige Tests können uns vielleicht Aufschluss darauf geben, was genau die Ursache des Todes gewesen.“ „Leute…“, unterbrach Oluo. „Hey, habt ihr die Wände gesehen?“ Levi hielt die Fackel näher an das Gestein, um die Runen zu erleuchten, die dort hineingeritzt worden waren. Sie wirkten alt und die Symbole unverständlich, als stellten sie eine verschlüsselte Nachricht dar. Womöglich spielte ihm sein Kopf aber auch nur einen Streich und interpretierte zu viel in diese neuen Entdeckungen hinein. „Hier drüben sind sogar Zeichnungen. Sie sehen aus, als ob sie mit Blut aufgemalt worden sind“, sagte Petra und deutete auf ein paar grobe Skizzen, die kleineren und größeren Strichmenschchen ähnelten. Levi runzelte die Stirn. „Menschen und Titanen…“, murmelte er. Einige von den kleineren Strichmenschen steckten halb in dem Mund der größeren, die wilde Ausdrücke auf den kreisrunden Gesichtern trugen. Ihm stellten sich unwillkürlich die Nackenhaare auf, als er daran dachte, dass diese Plage die Menschen schon ewig heimgesucht hatten. „Was meint ihr, was das alles heißt?“, fragte Oluo. „Haben unsere Vorfahren in dieser stinkenden Höhle gewohnt, weil die Titanen sie gejagt und gefressen haben?“ „Ich frage mich eher, wie alt diese Zeichnungen und die Knochen wirklich sind“, sagte Petra. Stille folgte ihren Worten, nur begleitet von dem Plätschern des Wassers, dem Schnaufen der Pferde und dem Knistern, als Sakura die Tüte mit den Knochen wieder in ihrer Tasche verstaute. „Ich möchte unbedingt noch eine Wasserprobe nehmen“, sagte Sakura schließlich und richtete sich wieder auf, einen kleinen Behälter in der Hand haltend, den sie aus ihrer Tasche gezogen hatte. „Aber nicht hier, so nah bei den Knochen.“ „Wozu soll das gut sein?“, erkundigte sich Levi, obgleich es für ihn eigentlich keine Rolle spielte. Nur eines wurde ihm in diesem Moment bewusst: Sakura war vorbereitet. Alte Hasen machten sich nicht mehr die Mühe, um Behälter für irgendwelche Proben mit sich herumzuschleppen, denn sie glaubten nicht mehr daran, etwas Außergewöhnliches zu finden oder die Mission überhaupt zu überleben. Außer sie hießen Hanji, denn die Brillenschlange hatte nach all den Jahren noch immer mehr Elan und Ehrgeiz als sämtliche Soldaten zusammen. Nun hatte sie scheinbar Konkurrenz in der jungen Ärztin, die sich unwissend ein Leben lang auf diese Mission vorbereitet hatte, weil sie ihrem Schwarm ins Militär gefolgt war. Es war eigentlich urkomisch, doch Levi hob nicht einmal einen Mundwinkel bei diesem Gedanken. So wie ich das verstehe, haben wir den Proviant verstaut, um später eine weitere Mission von hier zu starten und weiter in die Berge vorzudringen, richtig?“, erkundigte sich Sakura und erhielt ein Zustimmen von Oluo, Eld und Petra, die sie mit ihrem Wissen bereits um den Finger gewickelt hatte. „Daher wäre es doch vom Vorteil, wenn wir eine Trinkquelle in der Nähe finden würden, so dass wir nicht nur von unseren eigenen Vorräte abhängig sind. Natürlich müssen wir das Wasser dafür aber erst einmal testen, woher sollen wir sonst wissen, um es verunreinigt ist oder nicht?“ „Sakura, ich bin so froh, dass du bei dieser Mission dabei bist“, verkündete Petra. „Jedenfalls kann ich nicht von mir behaupten, dass ich soweit gedacht hätte.“ „Ach, Petra, du bist doch auch intelligent“, brummte Oluo und Petra gab ihm einen verlegenen Klaps gegen den Brustkorb. „Halt den Mund, Oluo. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für deine ollen Sprüche“, erwiderte sie und seine Proteste hallten als Echo im Tunnel davon, begleitet von Elds Lachen und Sakuras Lächeln, von ihrem Blick, der zu Levi hinüberhuschte und auf seinen traf, weil seine Augen von ganz allein in ihre Richtung wanderten. Ihm graulte es schon jetzt davor, den Bericht für diese Expedition zu schreiben. Erwin würde alles haargenau wissen wollen und Erwin konnte genauso nervtötend sein wie Hanji, wenn er von etwas begeistert war. Außerdem wusste Levi schon jetzt, dass er keinen Grund finden würde, der nicht sogar in seinen eigenen Ohren lächerlich klingen würde, um Sakura aus seinem Team zu schmeißen. Die Glut der Fackel erwischte Levis Handrücken und versenkte die Haut. „Verfluchter Mist!“, stieß er aus und ließ sie fallen, so dass sie in den schmalen Bach fiel. Die Flammen erloschen mit einem Zischen und hinterließen eine Finsternis, die nicht zuließ, dass man auch nur die Hand vor Augen sah. Kapitel 18: searching for an exit. ---------------------------------- Vom Regen in die Traufe. Sakura fand keine besseren Worte, um ihre Situation zu beschreiben. Das Wasser war kalt durch ihre Stiefel gesickert, durch die dicken Wollsocken, die sie trug, da der Bach an unebenen Stellen im Boden tiefer war. Die Dunkelheit um sie herum machte es jedoch unmöglich irgendetwas in dem Tunnel zu erkennen, in dem sie sich in Zeitlupe voranbewegten. Die einzigen Dinge, auf die sich Sakura konzentrieren konnte und die ihr hier in der Finsternis Halt gaben, waren Petras Hand auf ihrer Schulter und ihre eigene Hand, die wiederum auf Levis Schulter ruhte. Die jeweilige Körperwärme sickerte ähnlich wie das dreckige Wasser durch die Kleidung und direkt in ihre Haut hinein. Es war die beste Möglichkeit, um einander nicht aus den Augen zu verlieren und nicht ineinander hineinzulaufen. Levi führte sie, langsam und mit einer Hand stets an dem rauen Gestein der Tunnelwand entlang. Die Muskeln unter ihren Fingern waren angespannt und durch seine schlanke Statur problemlos spürbar. Der Gedanke, wie sich seine bloße Haut anfühlte, wie er aussah, wenn er keine Hemden trug, schlich sich ihr auf und sie war froh um die Dunkelheit, die ihren verlegenen Gesichtsausdruck vor den Blicken der anderen versteckte. Es war unangebracht so zu denken, ganz besonders, weil sie wusste, dass ihnen ihre fehlenden Jacken und Umhänge zum Verhängnis werden konnten, sollten sie tatsächlich einen Ausgang aus diesem unterirdischen Labyrinth finden. Hier drinnen mochte es feucht und stickig sein, aber draußen herrschte noch immer der kühle Herbst, der sich schon bald in einen eisigen Winter verwandeln würde. Ihr fröstelte es bereits bei dem Gedanken daran. Andererseits konnten sie vom Glück sagen, dass die herbstlichen Regenfälle im Moment noch das Wetter bestimmten. Ohne den beständigen Regen in der letzten Zeit hätte es diesen Bach nicht gegeben, der ihnen hoffentlich den Weg aus der Höhle zeigen würde. „Was ist los?“, erklang Levis Stimme, ein raues Murmeln, welches nur von den Stiefeln und den Hufen im Wasser begleitet wurde. Sakura zuckte unwillkürlich zusammen. Hinter ihr blieb es still, weshalb sie ein „Huh?“ verlauten ließ. „Deine Hand. Sie hat sich verkrampft“, erklärte Levi und Sakuras Blick richtete sich auf den Platz, an dem sich ihre Hand befand, obwohl sie diese nicht einmal ansatzweise erkennen konnte. Er hatte es bemerkt... Sakuras Wangen glühten und sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals zu vertreiben. „Es... nichts. Es ist nichts. Ich war nur in Gedanken vertieft“, plapperte sie. „Es besteht Gefahr der Unterkühlung, sobald wir draußen sind. Besonders, wenn es wieder regnet.“ „Vielleicht haben wir ja Glück und die Temperaturen sind gestiegen“, sagte Petra hinter ihr. Olou schnaufte. „Sollten wir es jemals aus der Höhle schaffen. Vor einer Stunde hatte ich noch Hoffnung, aber inzwischen...“ „Die Luftfeuchtigkeit ist weniger geworden“, kommentierte Levi. Seine Stimme spiegelte weder Petras Optimismus wider, noch Oluos Pessimismus, war aber nicht weniger selbstbewusst in ihrer Aussage. „Jetzt, wo du es sagst, Captain“, entwich es Sakura. „Das kann nur bedeuten, dass frische Luft irgendwo in die Höhle dringt. Wir müssen nahe am Ausgang sein.“ Ein Beben ging durch ihren Körper, denn das bedeutete, das sie schon bald herausfinden würden, ob sie diesen stickigen Tunneln tatsächlich entkommen konnten. Was würden sie tun, wenn die Öffnung zu klein für sie war? Das Blut rauschte ihr vor Aufregung in den Ohren. Stille folgte ihren Worten, als ob die anderen dieselben Zweifel hatten und niemand sie aussprechen wollte, weil sie dann Gefahr liefen, sie zur Realität werden zu lassen. Doch es war wichtig, dass sie es zurück hinter die Mauern schafften. Immerhin hatten sie nicht nur Spuren ihrer Vorväter entdeckt, sondern auch eine mögliche Quelle für frisches Wasser, selbst Sakura verstand die Bedeutsamkeit diese Funde. Noch bevor Sakura darüber nachdenken konnte, wie euphorisch die restlichen Soldaten sie ihrer Entdeckungen bezüglich empfangen würden, spürte sie, dass Levi und sie richtig gelegen hatten. Ein feiner Windzug streifte ihr Gesicht, so leicht, dass es glatt Einbildung hätte sein können. Doch Petra drückte ihre Schulter und stieß einen freudigen Laut aus. Die Dunkelheit endete nicht, nur Levi hielt in seinen Schritten inne. „Der Tunnel endet hier“, verkündete er monoton und Sakura fühlte wie Levi den Arm hob und ausstreckte. „Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, es gab einen Erdrutsch und der Gang ist zugeschüttet.“ „Und was machen wir jetzt?“, bellte Oluo. Seine Stimme wackelte und Sakura sah über ihre Schulter zurück, obwohl sie den panischen Ausdruck auf Oluos Gesicht nur vermuten konnte. „Wie sollen wir den ganzen Weg zurückgehen? Ohne Licht? Das waren zu viele Abzweigungen und—“ „Halt den Mund, Oluo“, raunte Levi. „Bewege deinen Hintern stattdessen lieber hier rüber und helfe beim Wegräumen des Gerölls.“ „Es gibt nur einen Weg für uns und der ist geradeaus“, fasste Eld zusammen. Seine Stimme schwoll an und eine Hand berührte ihren Arm, als der blonde Soldat sich an ihnen vorbeischob, um ebenfalls anzupacken. Auch Petra, Sakura und Oluo tasteten sich blind voran, bis ihre Finger das raue Gestein berührten. Die unregelmäßigen Formen verrieten Sakura, dass Levi richtig lag und der Durchgang verschüttet war. Kleine und große Felsbrocken wogen schwer in ihren Armen, als sie begannen sie aus dem Weg zu räumen. Sobald einer aus dem Weg war, rollte ein zweiter an dieselbe Stelle, der seinen Platz einnahm. Ihre Finger brannten, als sie sich die Haut an den scharfen Kanten aufriss, doch Sakura biss die Zähne zusammen. Den anderen musste es ähnlich ergehen und niemand von ihnen gab auch nur einen Mucks von sich. Kein Wunder, entweder sie schafften die Steine weg oder sie würden hier unten jämmerlich verrecken. Ein eisiger Schauer rann ihrer Wirbelsäule herab, als sich ihr der Gedanke aufschlich, dass die Finsternis das Letzte sein würde, was sie je zusehen bekam. Sakura wollte hier drinnen nicht sterben. Nicht, wenn alles in ihr schrie, dass der Ausgang, dass die Freiheit, praktisch zum Greifen nah war, nur ein paar weitere Steine von ihnen entfernt. Doch konnte sie sich dessen sicher sein? Nein, es war nur eine Vermutung, nichts weiter. „Hey, Leute… hier tut sich was“, rang Oluos Stimme aus, der sich irgendwo links von Sakura befand. „Eine Öffnung, meine Hand passt durch.“ „Siehst du Tageslicht?“, erkundigte sich Eld und auch Sakura hielt bei dieser Frage die Luft an. „Nein, nichts. Nur… etwas Luft. Kommt mir aber mehr als vorhin vor. Hat das etwas zu heißen? Ist der Ausgang nah? Sakura?“ „Ich... Ich weiß nicht.“ Ihre Worte klangen hohl und unsicher. Das schlechte Gewissen folgte dicht auf dem Fuß, denn sie hatte ihren Teamkameraden eine falsche Hoffnung gegeben, als sie von einem Ausgang gesprochen hatte. Von Wasser, welches irgendwo hinfließen musste. Von einem Luftzug, der auf eine Öffnung hindeutete. Sie schluckte und ihre pochenden Hände ballten sich zu Fäusten. Ihre Augenwinkel brannten fast genauso sehr, wie die Abschürfungen an ihren Handflächen. „Spielt das eine Rolle?“, fragte Levi. „Es ist der einzige Weg vorwärts, wie Eld bereits gesagt hat. Also hört auf Zeit mit unsinnigen Gedanken zu verschwenden und arbeitet weiter. Seid ihr Schwächlinge oder seid ihr Soldaten?“ „Captain Levi hat recht“, sagte Petra. „An die Arbeit. Den letzten Rest schaffen wir jetzt auch noch!“ Zustimmung folgte von Eld und Oluo, bevor sich wieder ein Schweigen über sie legte. Nur ein gelegentliches Ächzen und Keuchen erklang, als sie besonders große Brocken zu zweit oder dritt aus dem Weg schafften, um nicht nur einen Durchgang für sie zu kreieren, sondern auch einen schmalen Pfad für ihre Pferde, die in der Dunkelheit standen und mit den Hufen im Wasser scharrten. Sie kamen besser zurecht, als Sakura ihnen zugetraut hätte. Andererseits half die Finsternis vielleicht, denn sie sahen nicht die engen Tunnelwände und die niedrige Decke, die Sakura gelegentlich ertastet hatte und ihr ein beklemmendes Gefühl bescherten. Das Sehen mochte in dieser Höhle nicht vom Nutzen sein, aber ihre anderen Sinne arbeiten dafür auf Hochtouren. Natürlich wusste sie von ihren Patienten und unzähligen Textbüchern, dass das normal war, dass die anderen Sinne besser zu funktionieren begannen, sobald einer fehlte. Es war jedoch eine ganz andere Sache, es selbst zu erfahren und mitzuerleben. Es war faszinierend, aber auch ein klein wenig beängstigend. Auch Zeit war etwas, dass in diesen Tunneln verloren ging, abgeschnitten wie sie von dem Tageslicht waren. Wie viele Stunden waren vergangen? Der neue Tag musste längst angebrochen sein, vielleicht war er sogar bereits wieder vorbei. Es war schwer vorstellbar, doch Sakura konnte beim besten Willen nicht sagen, wie lange sie bereits hier drinnen herumirrten. Kein Wunder, denn niemand hatte mit einem Titanenangriff mitten in der Nacht gerechnet. Sie hatte schon öfter gehört, dass sich Titanen in der Dunkelheit nicht bewegen konnte, auch wenn die Erklärung dafür fehlte. Allerdings hatte der Arm, der sich in die Höhle geschoben hatte, sehr bewegungsfreudig ausgesehen. Ihr Mund öffnete sich, doch bevor ein Laut ihren Lippen entrann, schloss sie ihn wieder. Sie hätte Levi liebend gern danach gefragt, aber das war nicht der richtige Moment, um die Gedanken aller wieder auf die ausweglose Situation und den Grund dafür zu lenken. Stattdessen arbeite sie weiter, bis Petra und sie gemeinsam einen größeren Stein aus dem Weg räumten und Eld verkündete, dass er die Öffnung als breit genug empfand, um die Pferde hindurchzuleiten. Er strauchelte zurück zu ihren Tieren und nur der Fluch aus seiner Kehle verriet, dass er dabei über einen herumliegenden Steinbrocken stolperte. Sakura drehte sich dem Tunnel zu, der in unbekannte Richtung weiterführte und in derselben Finsternis getaucht war. Was hatte sie sich erhofft? Dass hinter den Felsbrocken sich urplötzlich frische Luft und strahlender Sonnenschein befand? „Lasst uns weiter“, entrann es Levi und Sakura ergriff die erste Hand, die sie zu greifen bekam. Sanfte Finger schlossen sich um ihre. „Sakura, bist du das?“ „Ja.“ Petra und Sakura gingen voran, dicht gefolgt von Levi, der sich hinter ihnen beinahe lautlos bewegte. Anschließend kam Oluo und Eld, welche die Pferde vorwärts lotsten. All das wurde nur aus den unterschiedlichen Schritten und ihren Stimmen erkenntlich. Nur die Müdigkeit und die brennenden Innenflächen ihrer Hände erinnerten an den zugefallenen Gang, ansonsten hätte man meinen können, es hätte diese Verzögerung nie gegeben. Es erinnerte Sakura an eine philosophische Frage, die ihr einst in einem der alten Bücher in der Akademie über den Weg gelaufen war: Wenn ein Baum im Wald umfiel und niemand da war um es zu hören, machte er dann tatsächlich ein Geräusch? Warum fiel ihr das ausgerechnet jetzt ein? Und was hatte es mit ihrer Situation zu tun? Die Brise, die ihr entgegenwehte, lenkte sie von ihren Überlegungen ab. Ihre Haare kitzelten ihre Wange. Die Luft war frisch im Gegensatz zu den stickigen Temperaturen, die bisher in der Höhle geherrscht hatten. Dieses Mal war es auch kein winziger Luftzug, sondern… mehr, vor allem näher. Sakura zog den Atem ein und streckte ihre Hand aus, als sie eine Ecke erreichten und der Tunnel eine Kurve nahm. Petra drückte ihre Hand. Wenige Schritte später tauchte der Durchgang auf, halb verhangen mit Kletterpflanzen und anderem Gestrüpp, aber eindeutig ein zweiter Eingang in das Höhlensystem. Tageslicht flutete den Tunnel und fernes Vogelgezwitscher drang an ihre Ohren. Sakura blinzelte, damit sich ihre Augen wieder an die Helligkeit gewöhnten. Trotzdem setzte sie zügig einen Fuß vor den anderen, kämpfte sich durch die Ranken und trat hinaus ins Freie. Die anderen waren ihr dicht auf den Fersen und Petra schlang die Arme um ihre Schultern, als sie auflachte. Gierig streifte ihr Blick über die verwilderte Landschaft. Der Höhlenausgang lag versteckt zwischen einigen Felsen, inmitten hoher Berge, die weit über ihre Köpfe hinausragten, während Gräser aus dem steinernen Boden um sie herum sprossen, ein paar bunte Wildblumen dazwischen. Weiter entfernt raubten Bäume ihnen das Licht und die Landschaft ging in einen schattigen Wald über. Doch es war der See, an dem Sakuras Augen hängen blieben. Er befand sich in der Senke vor ihnen und der kleine Rinnsal schlängelte sich durch das Gras zu ihm hinüber, um in ihm zu münden. „Wir haben es geschafft. Wir haben es tatsächlich geschafft!“, rief Oluo aus, dem die Zügel der Pferde aus der Hand rutschten. Stattdessen breitete er die Arme aus und schlang sie um Petra und Sakuras Schultern, während er lachte, bis Tränen in seinen Augenwinkeln hingen und Eld, Petra und Sakura ebenfalls einstimmten. Kapitel 19: his greatest weakness. ---------------------------------- Levi stand reglos da. Sein Blick galt der wilden Vegetation, die zwischen ihnen und dem See lag, welcher sich in der Senke gebildet hatte. Er hatte so zielstrebig nach einem Ausgang gesucht, dass er seine eigene Reaktion nicht bedacht hatte, sollten sie tatsächlich einen finden. Die letzten Jahre waren mit allerlei Ereignissen gepflastert, so dass Levi davon ausgegangen war, ihn könnte nichts mehr überraschen. Wieso spürte er also den Schock über diesen einfachen Anblick, als ob er tief in seinen Knochen und Muskeln verankert war? Die eindrucksvolle Landschaft lotste sein Team weiter, die leise miteinander tuschelten und lachten, als sie durch das Gras in die Richtung des Sees marschierten. Levi sah ihnen hinterher. Ihre Bewegungen waren locker und unvorsichtig – und Levi saßen ein paar unfreundliche Worte auf der Zunge, die es jedoch nie aus seinem Mund schafften. Stattdessen zuckte seine Hand zu dem Griff des Schwerts hinauf, das in seiner Ausrüstung steckte. Ein Stechen ging durch seine Finger und er erhob die Hand, um sich die Abschürfungen und die blutigen Kratzer anzusehen, die hässliche Ritze auf seiner Haut hinterlassen hatten. Levi verzog das Gesicht, als sein Name gerufen wurde. „Levi, kommst du?“ Petra warf auf halben Weg zum Ufer ein Lächeln über ihre Schulter zurück und winkte ihn zu sich hinüber. Eld und Oluo hatten die Pferde zu einer schattigen Stelle mit hohem Gras geführt, machten sich jedoch nicht die Mühe ihre Rosse an einem der Bäume anzubinden. Ihre Tiere waren darauf trainiert in der Nähe ihrer Reiter zu verweilen oder auf ein Pfeifen hin zu ihnen zurückzukehren. Sie konnten sich keinerlei Verzögerungen erlauben, sollte ihnen ein Titan über den Weg laufen. Es mochte friedlich hier wirken, aber strategisch konnte ihnen dieser Ort leicht zum Verhängnis werden. Die niedrigen Bäume waren zu klein, um sich auf ihnen zu retten, und ihre Stämme zu schmal, um in ihnen ihre Ausrüstung verankern zu können. All das Gestrüpp erschwerte außerdem das Manövrieren, während die hohen Berge und Felsen auf den ersten Blick nicht einmal einen Weg aus diesem Tal zeigten. Die Gedanken rasten in bekannter Schnelligkeit durch Levis Kopf, während er sich aus seiner Starre riss und hinter den anderen her stapfte. Diese Nachteile waren zu offensichtlich, als dass seine Intuition keinen Alarm schlug. Auch seine Hände pochten unangenehmen, die er immer wieder zur Faust ballte und entspannte, um die Stärke und den Griff ihnen zu testen. Die anderen hatten unlängst das Ufer erreicht, an dem die aus dem feuchten Boden sprießenden Gewächse hüfthoch wuchsen. Sakura drängte sich zwischen sie, bevor sie aus seiner Sicht verschwand, da sie in die Knie ging. Hinter ihr zum Stehen kommend beobachtete Levi, wie sie einen größeren Container hervorholte und etwas Wasser schöpfte, um die Wasserprobe zu nehmen, von der sie in der Höhle gesprochen hatte. „So oder so sollte dieser See dem Aufklärungstrupp zukünftig als Wasserquelle dienen, solange man es vorher aufkocht. Vielleicht muss man es auch filtern. Das werden wir wissen, sobald wir diese Proben analysiert haben. Ich würde noch mehr nehmen, an anderen Stellen, aber ich habe nur einen Container mitgenommen“, sagte sie, als sie sich aufrichtete, umdrehte und in das durchsichtige Gefäß starrte. „Wozu sollen mehrere Proben nützlich sein?“, erkundigte sich Levi. Sakura sah über den Rand des Containers hinweg und ihr Lächeln war hinter dem Plastik verzerrt, aber trug eindeutig etwas Belustigtes in sich. „Der See ist so groß, dass die Werte an unterschiedlichen Stellen verschieden ausfallen können. An irgendeiner Stelle kann etwas das Wasser verseuchen, was wir hier vielleicht nicht aufschnappen, aber auf der anderen Seite des Sees eben. Ein gewisses Risiko bleibt also nach wie vor bestehen.“ „Eine verseuchte Wasserquelle ist unser kleinstes Problem...“, erwiderte Levi und als wäre dies das Zauberwort gewesen, schallte ein „Captain!“ durch die Luft. Ihre Blicke ruckten zu Oluo, Petra und Eld hinüber, die sich weiter zu dem angrenzenden Wald hinüber gewagt hatten. Sie standen auf einem Platz auf dem das Gras platt und verdorrt war, aber erst beim Näherkommen erkannte Levi den Grund dafür. Die Erde war eingedrückt und hatte die Form eines gigantischen Fußes, der leicht einem Titanen zuzuordnen war. Levi stand am Rand des Fußabdrucks, während Petra, Olou und Eld mitten in ihm standen. Levis Augen wanderten von dem Fußabdruck zu hohen Bergen und klippenartigen Felsen, die den Blick auf die flache Ebene verhinderten, die sie hierher geführt hatten und die auf der anderen Seite dieser Gebirgskette lag. „Für einen winzigen Augenblick hab ich fast geglaubt, dass wir eine Art kleines Paradies gefunden hätten“, sagte Eld und er brauchte nicht weiterreden, damit sie wussten, dass er einen natürlichen Ort meinte, an dem die Titanen nicht vordringen konnten. Levi konnte nicht behaupten, dass er ähnliche Gedanken gehabt hatte. Stattdessen ging er stets davon aus, dass ein Titan hinter jedem zu breiten Baum lauerte und nur auf einen unachtsamen Moment wartete, um sich auf sie zu stürzen. Seine Nachdenklichkeit hatte viel eher den Sinneseindrücken gegolten, die wie ein Blitz in ihn eingeschlagen waren, als sie die Höhle verlassen hatten. Die wilde Freiheit hier draußen war Levis größte Schwäche. Sie hatte Kontrolle über ihn, schon seit dem aller ersten Schritt, den er nach hinter die Mauern gesetzt hatte. „Wir müssen auf der Hut bleiben“, fasste Petra zusammen. „Trotzdem... wir sollten uns erst einmal eine Verschnaufpause gönnen, bevor wir nach einem Weg zurück suchen.“ „Dem Sonnenstand nach zu urteilen ist es noch relativ früh“, sagte Eld. Er schirmte seine Augen mit einer Hand ab, als er in den Himmel hinaufspähte. Graue Wolken, die Niederschlag versprachen, ließen nur spärliches Tageslicht durch, gerade genug, um sich orientieren zu können. „Ich würde sagen, wir haben noch gute vier Stunden Tageslicht. Mehr oder weniger. Kommt drauf an, wo die Regenwolken hinziehen.“ Oluo seufzte. „Aber unser gesamter Proviant liegt irgendwo in dieser verfluchten Höhle – und mir grummelt der Magen.“ Sakura verstaute die Wasserprobe vorsichtig in ihrer Tasche und angelte stattdessen ihre Wasserflasche hervor. „Alles, was ich habe, ist eine halbvolle Flasche.“ „Halbvoll und nicht halbleer?“ Eld schmunzelte und Sakuras Mundwinkel hoben sich. „Ich habe dort hinten Beeren gesehen, wenn ich mich nicht täusche“, sagte Petra und machte eine Armbewegung zu den dichter werdenden Bäumen hinüber. „Vielleicht sind sie essbar.“ „Oder giftig für Menschen...“, bemerkte Oluo stirnrunzelnd, doch Levi ignorierte ihn, als er sich an Petra wandte. „Wie du schon gesagt hast, wir müssen aufmerksam blieben. Nimm Oluo mit und schaut sie euch an“, bemerkte er und Petra salutierte, ehe sie den anderen Soldaten am Arm mit sich schliff. Levi sah zu, wie sie sich mit den Händen an ihren Schwertgriffen dem schattigen Waldstück annäherten. „Eld.“ Der Soldat deutete ebenfalls einen Salut an, stramm und nichts von der Müdigkeit zeigend, die sie alle fühlten. „Ich werde mich ein bisschen umsehen. Vielleicht gibt es einen Pfad oder etwas Ähnliches, der uns aus dem Tal führen kann.“ Mit diesen Worten ging Eld davon, zurück zum Eingang der Höhlenformation, der sie erst vor wenigen Minuten entkommen waren. Allein wenn Levi an die engen Tunnel und die erdrückende Dunkelheit zurückdachte, ging ein Beben durch seinen Leib. „Ist dir kalt, Captain?“, fragte Sakura. Sie stand nicht weit von ihm entfernt und musterte ihn aus grünen Augen, die im Tageslicht besser zur Geltung kamen. Levi schob die Augenbrauen zusammen. „Nein.“ Obgleich seiner Antwort brachte Sakura ein Lächeln zustande. „Gut. Darf ich mir dann wenigstens deine Hände anschauen?“ Die erste Frage hatte ihn nicht überrascht, die zweite dagegen schon. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ „Ich spreche davon, dass du offenbar deine Hände verletzt hast“, sagte sie und Levi ballte sie unter ihrem Blick abermals zu Fäusten, aus reinem Reflex heraus und das brennende Ziehen ignorierend. „Ich wäre keine gute Ärztin, wenn ich keine Beobachtungsgabe besitzen würde und nicht bemerken würde, wenn es den Leuten um mir herum schlecht geht.“ Ihr Ton war freundlich genug und trotzdem sah Levi in ihrer Aussage eine Beleidigung, die ihn schnaufen ließ. „Ein paar Kratzer bedeuten noch lange nicht, dass es mir schlecht geht.“ „Doch, besonders, wenn sie dich im Umgang mit der Ausrüstung einschränken. Außerdem können sich selbst Kratzer entzünden und zu etwas Ernstem werden“, beharrte Sakura. Die Auseinandersetzung wurde mit Blicken allein fortgeführt, bis Sakura ihre Augen letztendlich senkte und ihre Finger sein Handgelenk umfassten. Ihre Geste war sanft und es wäre furchtbar einfach gewesen sich aus ihrem Griff zu befreien. Levi ließ es geschehen, das Gesicht ausdruckslos und desinteressiert. Sie drehte seine Hand in ihrer, um sich die Innenfläche anschauen zu können, auf der blutverkrustete Kratzer zu sehen waren. „Wusste ich es doch!“, verkündete sie und bugsierte ihn an der Hand zu einem umgefallenen Baumstamm hinüber, der halb mit Moos überwuchert und halb versteckt im hohen Gestrüpp lag. Mit der freien Hand auf seiner Schulter bedeutete sie ihm sich zu setzen, bevor sie neben ihm Platz nahm. Sie legte ihre Tasche zwischen ihren Stiefeln ab, die sie öffnete, um Desinfektionsmittel und ein paar Tücher hervorzuholen, mit denen sie ihre eigenen Kratzer nicht einmal vierundzwanzig Stunden zuvor hoch oben auf dem Baum versorgt hatte. Levi hatte ihr damit geholfen, weil er ihre Unfähigkeit kaum hatte mitansehen können. Scheinbar hatte sie nun Gelegenheit sich zu revanchieren… „Es ist kein Zeichen von Schwäche nach Hilfe zu fragen, weißt du?“, sagte sie, als sie etwas Desinfektionsmittel auf eines der Tücher sprühte. „Ganz besonders, da eure Gesundheit in meiner Verantwortung liegt. Erwin hat mich nicht umsonst mitgeschickt, denke ich.“ „Denkst du?“ Levi streckte beide Hände zu ihr aus, die Innenflächen nach oben zeigend. Er beobachtete sie, als sie erneut eine von ihm in ihre Hand nahm und mit dem Tuch sanft den Abschürfungen entlang tupfte. „Falls du es vergessen hast, ich kenne ihn nicht so gut wie du, Captain“, antwortete sie, sah ihn jedoch nicht an und wechselte stattdessen die Hand, um sich auch um diese Kratzer zu kümmern. Levis Augen verengten sich skeptisch. „Nenn mich nicht Captain.“ Ihr Blick hob sich und sie schnappte nach Luft. Irritation huschte über ihr Gesicht, eine Verletzlichkeit, die Levi zuvor noch nicht bei ihr gesehen hatte. „Aber du—“ „Ich habe noch nie jemanden erlebt, der sich so widersprüchlich mir gegenüber verhält“, unterbrach Levi. Er war kein gnädiger Mann, nicht einfach und auch nicht besonders nett, weshalb es ihm schwer fiel zu verstehen, was sie in ihm sah. „Die meiste Zeit über nennst du mich nur Captain, wenn du sauer auf mich bist oder wenn du dich kaum respektloser verhalten könntest. Spar’s dir.“ Einen Moment saß sie eingefroren neben ihm und hielt seine Hand, das Tuch Millimeter über seiner Handfläche schwebend, ihr Blick auf sein Gesicht gerichtet. Ihre Augen wanderten tiefer, hinab zu seinen Lippen und ein freudloses Lächeln huschte über ihre eigenen, bevor sie von ihm abließ. Sie legte das Tuch beiseite, um stattdessen ein paar Pflaster aus der Tasche hervorzuholen. Schweigend klebte sie diese über die Kratzer in seiner Haut, während Levi noch immer bewegungslos ihr gegenüber saß. Er hatte eine Erwiderung erwartet, schroffe Worte, die ihn verletzen sollten, es aber doch nie schafften. Stattdessen zeigte sie ihm die kalte Schulter, welche weniger eiskalt und mehr tränenschwer war. Nachdem sie mit einer Hand fertig war, widmete sie sich wieder der anderen. Bevor sie jedoch das Pflaster dort aufgetragen hatte, strichen Levis Finger ihr bereits ein paar rosafarbene Haarsträhnen hinter das Ohr. Ihr Blick zuckte zu ihm hinauf und ihre Wangen erröteten, als Levis Finger weiterwanderten. Die Pflaster auf seiner Handfläche berührten ihre Haut auf dem Weg in ihren Nacken. Sakura zuckte zusammen und schloss die Augen. Sie fügte sich seiner stummen Geste und ließ sich von ihm heranziehen. Auf halben Weg kam er ihr entgegen, von seinem Instinkt geleitet, denn auf diesen war immer schon mehr Verlass als auf seinen rationalen Verstand gewesen. Es war sein Instinkt, der sich nach der Welt außerhalb der Mauern sehnte, nach der Freiheit auf dem Rücken seines Pferds, nach den Stahlseilen, die er wie weitere Arme kontrollierte, wenn er durch die Lüfte sauste. Sein Herz flatterte und er presste seinen Mund gegen ihren, raue, hungrige Lippen, die schon ein Leben lang nach Freiheit und Gefahr lechzten. Kapitel 20: escape. ------------------- Ihre Hand landete an seinem Schlüsselbein und drückte ihn von sich. Seine Lippen hinterließen ein Kribbeln auf ihren und seine Hand, die aus ihrem Nacken rutschte, eine feurige Spur auf ihrer Haut. Levis Blick war ausdruckslos. „Erst beschwerst du dich über mich, dann küsst du mich“, entwich es Sakura stockend, ihr erhitztes Gesicht keinerlei Beachtung schenkend. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, eine Anklage. „Und beides passt dir nicht“, antwortete Levi und verdrehte die Augen. Er erhob sich und betrachtete seine versorgten Hände für einen Moment. Dann wandte er sich ab, aber Sakura beugte sich vor und ergriff seinen Unterarm, um ihn zurückzuhalten. „Jetzt gehst du einfach?“, entwich es ihr und ihre Stimme wackelte, wofür sie sich selbst hätte ohrfeigen können. Sie hatte dieses verzweifelte Mädchen hinter sich gelassen, das Sasuke hinterhergerannt war. Sie räusperte sich und ihr Blick festigte sich, als sie Levi losließ. „Ich will einfach nur wissen, was das sollte“, stellte sie klar, als Levi verharrte. „Ich denke, dass das mein gutes Recht ist, Captain.“ Da war sie wieder, die förmliche Anrede, die er ihr Momente zuvor angekreidet hatte. Doch Sakura nahm sie nicht zurück, sondern hielt seinen desinteressierten Blick stand, in dem sie einen Hauch Genervtheit erahnte. Er antwortete nicht sofort und Sakura traute es ihm zu, ihre Ausdauer testen zu wollen, bevor er urteilte, dass sie seine Aufmerksamkeit doch nicht wert war und davonging. Dasselbe hatte er eben gerade erst versucht, aber dieses Mal würde Sakura ihn ziehen lassen, ganz egal, was für ein Schlag ins Gesicht das sein mochte. „Bist du so dumm oder tust du nur so?“, fragte er schließlich, ließ ihr jedoch keine Zeit für eine Erwiderung. „Warum küsst ein Mann eine Frau?“ Sakura öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, während die graue Wolkendecke genau diesen Moment wählte, um die ersten Regentropfen fallen zu lassen. „Wir... Wir sollten irgendwo Schutz vor dem Regen suchen“, entrann es ihr. Sie stand auf und wanderte zum Wald hinüber, in dem Petra und Oluo nach Beeren suchten. Ein Blick über ihre Schulter verriet, dass Levi ihr dicht auf den Fersen war. Seine Frage wog schwer wie Blei, wenn sie an die Antworten dachte, die ihr darauf einfielen. Sie hatte sich geirrt, als sie angenommen hatte, dass eine Ähnlichkeit zwischen Sasuke und Levi bestand. Auf den ersten Blick mochte das so wirken, aber sie waren grundverschieden. Levi nahm kein Blatt vor den Mund. Er war grob und oftmals gemein, aber er hatte kein Problem damit seine... Gefühle auszudrücken. Allein der Gedanke, dass Levi Gefühle für sie haben konnte, ließ Sakura hochrot anlaufen. Schreie trafen sie auf halben Weg zum Wald hinüber. Sie schreckten die Vögel hoch oben in den Baumkronen auf. Vielleicht war es aber auch der Titan, der einen Baum umknickte, als handelte er sich um einen Zahnstocher. Der Titan reichte weit über den höchsten Baum hinauf, als er Äste aus dem Weg bog. Mit einem Knacken brachen sie ab und er schob sich zwischen dem Gestrüpp hindurch. Der Mund hing offen und die Augäpfel rollten in ihren Höhlen, als er sich nach ihnen umsah. „Captain!“, rief Petra. In einem Baumstamm verankert sauste sie an ihren Stahlseilen dicht am Boden entlang. Sie löste die Seile, landete auf ihren Füßen und rannte von dem Schwung getragen weiter auf sie zu. „Eine Horde Titanen ist auf dem Weg hierher.“ „Wo ist Oluo?“, presste Sakura hervor, als Levi neben ihr die Schwerter hervorzog. Doch bevor Petra ihre Frage beantwortete, brach Oluo bereits aus dem Wald heraus. Er wirbelte im Kreis und metzelte den Titan nieder, der sie ins Auge gefasst hatte. Levis Pfiff gellte über die Landschaft, bevor das Getrampel von Hufen zu hören war. Die Pferde erreichten sie im selben Moment, in dem auch Eld zu ihnen stieß. „Was ist los?“, presste der Soldat schwertatmend hervor. „Titanen“, warnte Levi und zog sich am Sattel auf den Rücken seines Pferds. Auch die anderen sattelten auf, während zwischen den Bäumen mehr und mehr Titanen hervorbrachen. Oluo sauste zwischen ihren Köpfen durch die Luft und fällte die Vorreiter, ehe er zu seinem Team zurückkehrte. Sein Atem ging schwer, als er durch die Luft flog und direkt auf seinem Pferd landete. „Wie viele Titanen sind es?“, fragte Sakura. Petras Blick verfinsterte sich. „Über ein Dutzend.“ „Hast du einen Weg aus diesem Tal gefunden, Eld?“, fragte Levi. „Ja, es gibt einen schmalen Pfad.“ „Okay, dann los“, sagte Levi. „In diesem Gebiet sind wir im Nachteil.“ Oluo nickte. „Ganz besonders bei dieser Masse.“ Die Meter zwischen den Titanen und ihnen verringerte sich, als die massiven Gestalten die Bäume hinter sich ließen und auf sie zurannten. Ihre Truppe riss ihre Pferde herum und galoppierte los, Eld an der Spitze reitend. Gemeinsam jagten sie über die grünen Wiesen hinweg, zwischen Büschen und anderem Gestrüpp hindurch. Regentropfen schlugen ihnen ins Gesicht, nahmen stetig zu und weichten durch ihre Hemden und Hosen. All das erinnerte Sakura an die letzte Strecke, ehe sie die Höhle erreicht hatten. Langsam hatte sie die Nase voll vom Regen, auch wenn er ihnen den Weg aus diesem Labyrinth gezeigt hatte. Alles um sie herum war kalt und nass und einsam. Die Regentropfen schmeckten bitter und nach Verzweifelung auf ihren Lippen. Die Gräser wichen hartem Gestein und sie gewannen an Höhe, als sie zwischen Felsklippen hindurchjagten. Der Weg wurde enger, jedoch nicht eng genug. Größere Titanen verlangsamten ihre Geschwindigkeit, während die kleineren sich an ihnen vorbeidrängten und in ihrer Gier über ihre Kameraden hinwegkletterten. Höher und höher ritten sie in die Gebirgskette hinauf. Bewegten sie sich in die richtige Richtung? Was war, wenn ihr Weg sie nirgendwo hinführte? Tausende von Zweifeln brachen mitsamt des Regenwassers über Sakura hinein. Inzwischen goss es in Strömen und sie drosselten ihr Tempo, als sie eine Schlucht erreichten. Ihre Sicht war eingeschränkt, ebenso wie die ihrer Reittiere. Auf der einen Seite befand sich eine Felsmauer, während der Abgrund sich auf der anderen auftat, so tief, dass Sakura bei dem stürmischen Regen den Boden nicht sehen konnte. „Vorsicht!“, brüllte Eld. Nur mit Mühe nahm Sakura eine Hand von den Zügeln, um sich tropfende Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen. Ihr Griff festigte sich, als sie ihre Stute antrieb. „Genau, vorsichtig“, flüsterte sie dem Tier atemlos zu. „Wir haben es bald geschafft. Hoffe ich jedenfalls.“ Oluo und sie bildeten das Schlusslicht, als sie den steinernen Abhang überwunden. Hinter ihnen drängelten sich die Titanen aneinander vorbei. Einen sah Sakura die Klippe hinunterstürzen, doch er fiel ohne einen Schrei. Die Augen erfassten sie, während das dumme Grinsen auf seinen Lippen verweilte und er von dem Regenschleier verschluckt wurde. Ein Frösteln ging durch ihren Leib und sie beschleunigte ihr Pferd, als sie die Schlucht hinter sich zurückließen. Ein Titan weniger, das war alles, was zählte! „Nein!“, stieß Petra vor ihr aus. „Der Weg ist versperrt.“ „Durch den ganzen Regen muss der Baum umgekippt sein“, rief Eld. Levi schnaufte, als sie ihre Pferde wiehernd zum Stillstand brachten. Der schmale Pfad zwischen den Felsen hindurch war zugeschüttet. Ein Baum war von weiter oben gefallen, in der Mitte entzwei gebrochen und hatte Geröll und Erde mit sich gezogen. Sie saßen in der Falle. „Wir müssen die Pferde zurücklassen“, brüllte Oluo, als die Titanen auf sie zurannten. „Das wäre Selbstmord.“ „Eld hat recht. Ohne die Pferde schaffen wir es niemals zurück“, entwich es Petra. „Captain?“ „Eld, Petra, Sakura, ihr haltet die Titanen von uns fern“, sagte Levi und sein verzogener Gesichtsausdruck verriet, wie wenig ihm diese Idee gefiel. „Oluo und ich machen den Weg frei.“ Er wartete nicht auf eine Bestätigung, sondern stieß sich von dem Rücken seines Pferds ab. Die Stahlseile fingen ihn auf, bevor er auf den umgefallenen Baum zusauste. Seine Schwerter schnitten den riesigen Stamm und die dicken Äste wie Titanenfleisch. Blitzschnell bewegte er sich, während Oluo aus seinem Sattel rutschte und begann die Stücke und Steine wegzuräumen, ähnlich wie sie es in der Höhle getan hatten. Sakura wurde schwummrig vor den Augen. Durch den groben Schleicher fallender Regentropfen wirkte alles grau und surreal. „Okay.“ Ein freudloses Lächeln erschien auf Petras Gesicht und sie zog ihre Schwerter hervor. „Die kleinen Titanen sind schneller und wendiger, Sakura. Aber wahrscheinlich muss ich dir das nicht sagen.“ Petra und Eld begaben sich in die Lüfte – und Sakuras Rippen pochten in stummer Erinnerung an ihren ersten Titanenkampf. Ihre Lippen pressten sich aufeinander und sie wandte sich unter dem Riemen ihrer Tasche hervor, die zu Boden fiel. Im Moment war sie nur Ballast. Umständlich zog sie ihrer Schwerter hervor und ihre Finger bebten, als sie die Stahlseile aktivierten. Sie gruben sich in die hohe Felswand und zogen Sakura von ihrer Stute. Die Titanen erreichten sie, schenkten den Pferden aber keine Aufmerksamkeit, als sie ihre Mäuler aufrissen und die Arme nach ihnen ausstreckten. Sakura sauste durch die Luft, inmitten der Titanenmasse hindurch, die ihnen gefolgt war, die Augen trotz des Regens aufzwingend. Ihre Klingen hinterließen Risse auf Armen und Schultern und Oberkörpern, auf allem, was ihr in die Quere kam. Sie mussten die Titanen von Levi und Oluo fernhalten! Mit diesem Gedanken konzentrierte sich Sakura auf die vordersten Titanen. Sie flog einen Kreis über ihre Köpfe und fuhr das Stahlseil weiter aus, um sich auf die Höhe des Nackens hinunterzubegeben. Eine Hand griff nach ihr, doch sie war schneller. Sie sauste unter den Fingern hinweg, die Schwerter hoch erhoben, als sie ihm mit einem feinen Schnitt die Wirbelsäule durchtrennte. Schwerfällig glitt ihr erster Titan zu Boden und etwas lockerte sich in Sakuras Brustkorb. Rauchschwaden stiegen von den gefallenen Titanen auf und Regentropfen verdampften in der plötzlichen Hitze, die ihnen entgegenströmte. Petra, Eld und Sakura sausten blitzschnell durch den Regen, zwischen zotteligen Köpfen hindurch, während sie einen Titanen nach dem andere unfähig machten und andere ihre Plätze einnahmen. Sakura setzte in ihrem Schwung zu einem Schnitt im Nacken eines schlaksigen Titanens an und fiel in sich zusammen, als ein dunkler Schatten an ihr vorbeisauste. Neben ihr landete Levi an der Felswand, die Füße an dem Gestein abgestützt. „Der Weg ist frei. Zurück zu den Pferden.“ Petra landete neben ihm. „Gott sei Dank. Die Titanen nehmen einfach kein Ende.“ Sakura schwang an ihnen vorbei zu ihrer Stute zurück, die noch immer in der Nähe ihrer Tasche verweilte. Petra und Eld folgten ihr und saßen zur selben Zeit wieder im Sattel, während Levi hinter ihnen zwei weitere Titanen fällte und aus den Rauchschwaden herausbrach. Sie trieben ihre Pferde an und Eld zog Levis Pferde mit sich, bis ihr Captain sie einholte, im Sattel landete und die Zügel übernahm. „Los jetzt“, presste Oluo erschöpft hervor. Er wartete auf seinem Ross auf sie und reihte sich neben ihnen ein, ehe sie im rasanten Tempo weiterritten. Die Titanen krabbelten über ihre toten und sich auflösenden Kameraden, um ihnen hinterher zu jagen. Doch der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich zunehmend, auch wenn das Adrenalin nicht aus Sakuras Arterien wich. Ihr Herz flatterte noch immer, während ihre Instinkte sie dazu brachten, ihre Hacken fester in die Flanken ihrer Stute zu pressen. Plötzlich war der Regen nicht mehr störend, sondern erfrischend. Sakura spürte die Kälte nicht mehr, obwohl sie jeder Jacke noch Umhang trug. Ihr weißes Hemd klebte mitsamt des Tanktops und ihrem BH an ihr wie eine zweite Haut und kleine Seen hatten sich in ihren Stiefeln gebildet. Doch es war dieser kleine Sieg, dieses Überleben, das ihr wie ein Kloß im Hals saß. Kapitel 21: back home. ---------------------- Levis Griff um die Zügel war fest. Die Pflaster an seinen Händen erfüllten ihren Zweck, das hatte er schon bei der Benutzung seiner Ausrüstung bemerkt. Nah über den Hals seines Pferds gebeugt, donnerten sie über die weite Landschaft, die Levi längst wieder vertraut war. Das Gebirge befand sich hinter ihnen, entfernt und klein, nicht mehr so einnehmend und verwinkelt. Mit den Bergen und seinen engen Pässen hatten sie auch die Titanen hinter sich gelassen. Stattdessen waren die grauen Mauern zwischen den Bäumen und dem Regen sichtbar. Sie kletterten in den wolkenbehangenen Himmel hinauf, als sie ihnen näher kamen. Wall Maria war verfallen und verlassen. Das Loch in der Mauer, durch die vor gut einem Jahr die Titanen gebrochen waren, bot einen breiten Durchgang und sie ritten durch die zerstörten Städte und Überbleibsel, welche die Menschen zurückgelassen hatten. Binnen weniger Zeit kam Wall Rose in Sicht. Hoch oben auf den Wachtürmen meinte er durch den Regenschleier die Bewegungen der Soldaten auszumachen. Jedenfalls verließ er sich darauf, dass man sie entdeckt hatte. Sie jagten dem Gestein entlang, hinüber zum Tor. Levis Augen suchten die Umgebung ab, doch er entdeckte keinen Titanen. Wahrscheinlich war es längst zu dunkel, als dass sie noch an ihren Mauern lauerten und nach Einlass verlangten. Ausnahmsweise schienen sie gutes Timing zu haben, denn Levi spürte die Erschöpfung in den Knochen. Die Stille hinter ihnen, die nicht einmal von Oluos Jubelschreie durchbrochen wurde, bestätigte ihm, dass er nicht der einzige war, dem die Kälte und Nässe zu schaffen machte. Vermutlich würden sie morgen mit einer Lungenentzündung aufwachen. Das Gitter erhob sich schabend von der Erde, wurde hoch genug gezogen, damit sein Team und er hindurch reiten konnten, bevor er es sich wieder schloss. Levi reduzierte die Geschwindigkeit seines ohnehin ausgelaugten Reittiers, während das andere Pferd an seinen Sattel festgebunden war, damit sie es nicht aus den Augen verloren. Hinter dem Tor begrüßte sie der Trost-Distrikt mit derselben bedauernswerten Heruntergekommenheit. Der Regen hatte auch die letzten Farben aus den zerfallenden Häusern und kaputten Straßen gewaschen. Draußen hatten sie die Titanen, die jeden ihrer Schritte verfolgten und nach ihnen lechzen, und hier drinnen hatten sie die Soldaten an den überdachten Barrikaden und am Tor, die ihnen zusammen mit den wenigen Zivilisten auf der Straße mit leeren und hasserfüllten Blicken nachsahen. Im raschen Trapp ritt er der Hauptstraße entlang, der Rest seines Teams dicht auf seinen Fersen. Die Bewohner der Stadt erkannten sie auch ohne ihre Jacken und Umhänge, die das Zeichen des Aufklärungstrupps trugen. Allerdings waren bei diesem Wetter nur wenige vor der Tür und die, die es waren, hatten Schutz unter den Vordächern der Häuser gefunden. Eine Kutsche wich ihnen aus, doch Levi schenkte ihr nicht mehr als einen knappen Seitenblick. Für die Stadt hatte er nichts übrig. Zwar war er sich im Klaren darüber, dass die Bewohner hier genauso um ihr Überleben kämpften, wie ihre Soldaten es außerhalb der Mauern taten, aber das stellte sie nicht auf ein Podest. Es machte sie höchsten alle gleich, doch das gab niemand gern zu. Sakura müsste sich dessen am Besten gewusst sein, denn sie war die einzige, die zuvor für einige Jahre in dieser Stadt gelebt hatte. Levi knirschte mit den Zähnen, als er sich bei einem Gedanken an die Soldatin ertappte, die irgendwo hinter ihm ritt. Er hatte sie geküsst – na und? Doch selbst danach hatte sie ihm noch Vorwürfe gemacht, weil sie stets das letzte Wort haben musste. Es reizte ihn, aber er hatte sich damit abgefunden, dass es keine blinde Wut war, die sie in ihm erweckte. Andererseits war er auch kein gefühlsduseliger Mensch, der nach einem Kuss erwartete, dass sie sich plötzlich in einer Beziehung befanden, die Levi ohnehin nicht eingehen wollte. Soldaten des Aufklärungstrupps hatten Sex, aber sie führten selten eine Beziehung miteinander. Nicht nur, weil die offiziellen Regeln es untersagten, sondern weil sie alle wussten, wie es enden würde. Nach dem Aufenthalt außerhalb der Mauern war der Rückweg zu ihrem Hauptsitz nur einen Katzensprung entfernt. Seine Sinne waren nicht länger auf ihre Umgebung konzentriert, denn nun lauerten ihnen keine Titanen mehr auf. Er kannte den Weg zwischen dem alten Schloss, welches sie bewohnten, und dem Trost-Distrikt auswendig. Selbst sein Pferd kannte es nach all den Malen, die sie diese Strecke zurückgelegt hatten. Die meterhohen Mauern, die sie von der restlichen Welt abschnitten, entlockten Levi keinerlei Gefühle. Bei dem Anblick der Festung zog jedoch etwas in seiner Brust, nur für einen kurzen Augenblick, aber der Wunsch nach einer heißen Tasse Tee verweilte, als sie auf den Hof ritten und die Ställe ansteuerten. Ihr Hauptsitz befand sich fern aller Dörfer in der näheren Umgebung, abgelegen und zwischen Bäumen versteckt, obwohl die höchsten Türme über ihre Kronen hinausragten. Die Abenddämmerung brach über sie hinein, dunkler durch die schweren Wolken, die unaufhörlichen Niederschlag versprachen. In einigen Fenstern des Schlosses glühte bereits Licht und versprach Trockenheit und Wärme. Sie erreichten die Ställe und Levi rutschte unzeremoniell aus seinem Sattel. Die Stallburschen kamen durch den Regen auf sie zu gerannt, die Kapuzen ihrer Mäntel tief ins Gesicht gezogen. „Captain Levi, Sie sind zurück!“, rief Manabe aus und nahm ihm die Zügel ab. Der junge Rekrut lotste die Pferde in den Stall. „Alle haben schon angenommen, dass etwas passiert sei.“ „Alle anderen Teams sind schon zurück?“, erkundigte sich Levi, der ihm folgte. Hinter ihm sattelten auch die anderen ab und tauschten ein paar rasche Worte und Begrüßungen mit den anderen Stallburschen aus. Ein dunkler Zug erschien um Manabes Lippen. „Zumindest die, die noch übrig sind, ja. Es… es sind weniger als Kommandant Erwin erwartet hat. Nur die Truppe von Captain Hanji ist vollständig zurückgekehrt. Es ist ein wahres Wunder.“ Er lächelte schmal. „Diese neue Rekrutin – Mikasa Ackerman? – soll dafür verantwortlich sein. Zumindest wird das gemunkelt. Die anderen Mitglieder im Team scheinen ein wenig verängstigt zu sein, was Mikasa betrifft. Außer Captain Hanji selbstverständlich. Aber der Kommandant wird erfreut sein, dass Ihr Team und Sie zurückgekehrt sind, Captain.“ Levi wischte sich mit einer Hand die triefenden Haarsträhnen aus dem Gesicht, als sie den Stall erreichten und sich zum ersten Mal in Stunden nicht im Regen bewegten. „Lass Erwin wissen, dass wir wieder da sind. Aber vor jeder Berichterstattung gehe ich erst einmal duschen und mir etwas Trockenes anziehen.“ Sein Blick zuckte zu seinem Team hinüber, welche sich die Arme vor Kälte rieben und trotzdem erleichterte Lächeln zustande bekamen. „Das Gleiche gilt für die anderen, also sage jedem, dass wir keine Lust haben, dumme Fragen zu beantworten.“ Manabe salutierte. „Natürlich, Captain.“ Anschließend löste er die Sattelschnalle und hievte die Ausrüstung vom Rücken des ersten Pferdes. Levi ließ ihn stehen und wandte sich stattdessen Oluo, Eld, Sakura und Petra zu. „Ich hoffe euch ist klar, dass unsere Funde mit keinem geteilt werden, bis wir mit Erwin gesprochen haben.“ Er streckte die Hand in Sakuras Richtung aus, die wie alle wie ein begossener Pudel aussah. Sie blinzelte. „Captain?“ „Deine Tasche.“ „Oh.“ Ihr Blick senkte sich auf die Umhängetasche, die sich bei sich trug und ihre Wasserproben sowie einige der gefundenen Knochen beinhaltete. Sie schloss die Finger um den Riemen, bis ihre Knöchel scharf hervorstanden, zog ihn dann aber rasch über ihre Schulter und reichte ihm die Tasche. Petra legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du kriegst noch genug Gelegenheit die Sachen zu untersuchen. Er will nur sichergehen, dass für den Moment alles unter Verschluss bleibt. Richtig, Captain?“ Ihre hellen Augen erfassten ihn und in ihnen steckte zu viel Vertrauen. Levi schnaufte. „Das ist nicht meine Entscheidung, sondern Erwins.“ Mit der Tasche in der Hand und den Blicken seiner Kameraden im Rücken ging er davon, erneut hinaus in den Regen. Doch ihre Festung war nicht weit und er hinterließ eine tropfende Spur, deren bloße Existenz ihn reizte, den gesamten Weg zu seinem Zimmer. Sein Raum lag kalt und dunkel vor ihm, nach dem er die Tür aufgeschlossen hatte. Levi entzündete eine Kerze, die flackernde Schatten an die kahlen Steinwände warf. Die Tasche verstaute er unter dem Schreibtisch, bevor er sich mit frischer Kleidung in den Baderaum des Stockwerks begab. Kapitel 22: the future is planned. ---------------------------------- Levi ließ die Tasche auf den Tisch knallen, sein Blick fest auf den Mann gerichtet, der zu viel Verantwortung schulterte und trotzdem ein Schmunzeln für ihn bereithielt. Bei jedem anderen wäre Levi davon ausgegangen, dass er ihn nicht ernst nahm, doch bei Erwin war diese Frage sinnlos. „Du bist ein paar Minuten zu früh. Wie du sehen kannst, sind die anderen noch nicht eingetroffen“, sagte Erwin, der von den ausgebreiteten Papieren und der ausgebreiteten Karte aufgeschaute und sich in seinem knarrenden Stuhl zurücklehnte. Er trug die Uniform des Erkundungstrupps, die Haare ordentlich zur Seite gekämmt, so dass nur die Ringe unter seinen Augen auf den wenigen Schlaf seit dem Beginn der Exkursion hindeuteten. Levis besah sich die Unterlagen, die den Tisch im Konferenzzimmer schmückten. Die verschiedenen Handschriften deuten auf Berichte hin, welche die anderen Teamleiter seit ihrer Rückkehr erstattet hatten. Die Karte, die ihre individuellen Routen aufzeigte, wurde erweitert und kleine Fähnchen verzierten sie nun, dessen Bedeutung Levi sich bereits denken konnte. „Das kann ich sehen. Ich habe Augen im Kopf.“ Mit einer wirschen Handbewegung öffnete Levi die Tasche. „Ich dachte, du willst einen Blick hierauf werfen, bevor die Besprechung anfängt.“ Erwin lehnte sich vor und zog die Tasche näher heran. „Von der Expedition?“, erkundigte er sich, als er den Inhalt auspackte. Er stellte die verschlossenen Container, die das gesammelte Wasser des Sees enthielt, auf den Tisch, bevor er die in Tüten eingepackten Knochen untersuchte. Ein Ausdruck huschte blitzschnell über sein Gesicht, doch Levi kannte ihn gut genug, um die Faszination zu identifizieren. „Sakura denkt, dass wir da draußen vielleicht eine nutzbare Wasserquelle gefunden haben. Die Knochen…“ Levi schenkte ihnen einen angewiderten Blick. „Scheinbar stammen sie von unseren Vorvätern oder so was. Sie wurden nicht gefressen, so viel steht fest. Mit ein paar Untersuchungen—“ „—könnten wir vielleicht die Todesursache feststellen“, beendete Erwin und nickte. „Das sind interessante Relikte, über die ihr da gestolpert seid.“ „Sakura hat sie gefunden“, entrann es Levi und ein Zucken seiner Schultern folgte. „Oder zumindest war sie der Meinung, dass wir sie eintüten sollten.“ Erwin lächelte. „Scheinbar hat mich mein sechster Sinn nicht im Stich gelassen und sie ist eine gute Ergänzung für die Scouts.“ Als Levi nicht antwortete, sah Erwin von den Knochen und die Wasserproben zu ihm auf. „Da ihr beide noch am Lebens seid, nehme ich an, dass ihr euch nicht gegenseitig die Köpfe eingeschlagen habt.“ „Ein bisschen Professionalität kannst du mir schon zutrauen“, brummte Levi und seine Lippen kribbelten bei der Erinnerung an den Moment, an dem Sakura seine Hände desinfiziert und Levi sich von einem überraschenden Impuls hatte leiten lassen. Er schloss die Augen, da Erwins Blick intensiv wie Säure auf seinem Gesicht lag, als wäre er dabei gewesen und kannte sein Geheimnis. Innerlich hätte er sich selbst ohrfeigen können. Schlimm genug, dass Erwin überhaupt auf die Idee gekommen war, jemanden seinem Team zuteilen zu wollen, aber Levi hatte auch noch mit ihr... angebändelt. Der Gedanke stieß ihm säuerlich auf und Erwins Mund öffnete sich, als er wollte er ihn auf etwas ansprechen. Nur das Klopfen an der angelehnten Tür zum Konferenzzimmer unterbrach das unangenehme Gespräch, welches mehr mit Blicken und Gesichtsausdrücken statt Worten geführt wurde. Hanji steckte den Kopf durch den Türspalt. „Bin ich zu spät? Zu früh?“ Ihre Brille hing schief auf ihren zerzausten Haaren, die wie gewohnt hochgesteckt waren. Noch bevor einer von ihnen antworten konnte, fiel ihr Blick auf den Tisch und ein Grinsen breitete sich auf ihren Lippen aus, welches Levi die Augen verdrehen ließ. „Oha, was habt ihr denn da?“ Ehe die Worte gänzlich ihren Mund verlassen hatten, schob sie sich in den Raum und sie riss die eingepackten Knochen an sich heran, als wollte sie diese an ihre Brust drücken und umarmen. „Vertrauliche Funde, von denen bisher niemand außer meinem Squad und Erwin weiß“, informierte Levi sie und entzog ihr die Tüte mit den Knochen, um sie wieder zurück auf den Tisch zu legen. „Keine Sorge, du kannst sie noch früh genug untersuchen, Hanji“, fügte Erwin bei ihrem enttäuschten Gesichtsausdruck hinzu. Bevor die Brillenschlange das aufgeregte Japsen ausstoßen konnte, welches in ihrer Kehle steckte, ertönte bereits ein Klopfen und ein paar weitere Gestalten tauchten im Türrahmen auf. „Kommt rein.“ Erwin winkte sie heran und erhob sich aus seinem Stuhl. „Dann sind wir ja alle anwesend. Schließt bitte die Tür hinter euch und setzt euch.“ Sein Blick wanderte über Mike und die restlichen Kommandanten, bevor er zu Petra, Sakura, Eld und Oluo wanderte, die ebenfalls dieser Besprechung beiwohnten. Levi hatte sie eingeladen, da sie das einzige Team waren, welches bisher nicht ihren Bericht abgegeben hatten und auch das einzige waren, das etwas Brauchbares zurückgebracht hatte. Sie setzten sich an den länglichen Tisch, bis auf Levi, der sich hinter Hanjis Stuhl an die Wand lehnte und die Arme vor dem Oberkörper verschränkte. Auch Erwin blieb stehen, die Hände auf dem Tisch abgestützt und die Augen auf die ausgebreitete Karte vor ihm ruhend. „Die Expedition war ein Erfolg“, verkündete er ohne Vorworte. „Nicht nur, dass wir unsere Ziele erreicht haben, sondern wir sind auch noch über einige interessante Funde gestolpert, wie mir soeben zu Ohren gekommen ist.“ Hanji stieß freudiges Wimmern aus und Levi trat von hinten gegen ihren Stuhl. „Spätestens nach diesen Beweisen muss ich euch wohl nicht mehr daran erinnern, dass unsere Vergangenheit dort draußen hinter den Mauern liegt“, sagte Erwin und hielt die Tüte mit den Menschenknochen hoch, damit auch Mike und die anderen einen Blick auf sie werfen konnten. Levi konnte die Verwirrung aus den buschigen Augenbrauen herauslesen, die sich zusammenzogen. „Unsere Vergangenheit und unsere Zukunft“, beendete Erwin und die Gesichter seiner Soldaten hellten sich auf. „Hanji, ich möchte, dass du mit Sakuras Hilfe die Wasserproben sowie die Knochen untersuchst. Wir müssen wissen, ob die Quelle uns von Nutzen sein kann. Vor allem jedoch, woran unsere Vorväter gestorben sind. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass Titanen in diesem Fall ausgeschlossen sind. Wo habt ihr die Knochen gefunden?“ „In einem Höhlensystem in einem der Gebirge“, erklärte Sakura zögerlich und Eld lehnte sich vor, um die Gegend mit einem Finger aufzuzeigen. Erwin nickte und griff nach einem auf dem Tisch liegenden Fähnchen, um die Stelle auf der Karte zu markieren. „Wir haben Verluste erlitten, aber es war unvermeidlich, dass ein paar Soldaten ihr Leben für diese Mission lassen werden“, redete Erwin nach einer knappen Pause weiter, als hätte er sie genutzt, um die richtigen Worte zu finden. Doch Levi wusste, dass diese sogenannten Verluste an Erwin abperlten wie der herbstliche Regen an den Fensterscheiben des Schlosses. Er war zu sehr auf die Ziele und Erfolge konzentriert, als dass er nicht bereit war, sie alle zum Wohle der Menschheit zu opfern. Gunther war letztendlich nur ein weiterer Name auf der Liste der verstorbenen Soldaten, auch wenn die Wut über seinen Tod wie Glut unter Levis Haut glomm. Petra wischte sich mit dem Handrücken über die Augenwinkel und Oluos Kopf senkte sich, bis seine Haarsträhnen seine Augen verdeckten. Sakura fing seinen Blick auf und ihre grünen Augen glänzten. „Aber ihr Opfer hat uns unserem Ziel einen Schritt näher gebracht“, erklärte Erwin und sein Gesicht war hart wie Stein. „Der Winter naht, aber sobald der Frühling anbricht, werden wir eine weitere Exkursion starten. Eine, die in die Geschichte eingehen wird.“ Erwins Mundwinkel hoben sich. „Zuerst waren die Nachfüllstationen als ein Zwischenstopp gedacht, doch... alle Berichte der verschiedenen Teams – und die Entdeckungen von Levi und seinem Squad – bestärken mich in der Annahme, dass sie mehr als nur Nachfüllstationen sein können. Alle Orte sind strategisch gewählt, um möglichst viel Schutz vor den Titanen und vor den Wettereinflüssen zu bieten. Sie alle sind ideal, um ein neues Experiment zu beginnen und etwas Neues aufzubauen. Wir werden nicht länger hinter diesen Mauern gefangen sein, sondern Teams losschicken, um Basen aufzubauen und dort draußen zu leben. Die Nachfüllstationen sind der erste Schritt zu neuen Siedelungen außerhalb der Mauern.“ Seine Worte waren von Stille gefolgt – und Levi konnte es niemanden verübeln, denn auch für ihn war dieser Sinneswandel neu. Für gewöhnlich war er im Bilde und wusste über Erwins Pläne im Voraus bescheid. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er glatt behauptet, dass dieser Entschluss schon vor ihrer Ankunft festgestanden hatte und rein gar nichts mit ihren Entdeckungen zu tun hatte. Levis Blick verfinsterte sich, doch er hielt seine Kritik zurück. Erwin war der einzige, bei dem er nicht frei heraus sagte, was er dachte. Jedenfalls nicht vor den anderen, außerdem konnte man Erwin nicht mehr umstimmen, wenn er bereits eine Entscheidung getroffen hatte. „Den Winter werden wir nutzen, um uns auf die Mission vorzubereiten, neue Soldaten zu rekrutieren und uns finanzielle Unterstützung zu sichern, bevor wir im Frühjahr aufbrechen. Doch bis dahin ist noch etwas Zeit und sobald die Planung voranschreitet, wird es auch mehr Informationen diesbezüglich geben. Für den Moment gibt es nichts weiter zu tun, als sich seelisch auf das Kommende vorzubereitet und bereit zu sein, ein neues Kapitel in unserer Geschichte aufzuschlagen.“ Erwin stellte es heldenhaft dar, wie er es so oft tat. Er war ein guter Redner, doch sie alle konnten zwischen den Zeilen lesen. Sie alle hatten einen vernünftigen Menschenverstand, um die Todesrate dieser bevorstehenden Exkursion zu erahnen, denn zwischen einem Ausflug hinter die Mauern und dem dortigen Leben lagen Welten. Levi fühlte ein Kribbeln in den Fingerspitzen, obwohl er wusste, dass Erwins Idee mehr Risiken als Erfolge mit sich bringen würde. Stumm wartete er ab, bis alle nach der Besprechung den Raum verlassen hatten, bevor auch er sich zum Gehen wandte. Weit kam er allerdings nicht, da er schon vor der Tür mit Sakura aufschloss, die offenbar auf ihn gewartet hatte. „Captain...“, begann sie und schenkte ihm ein Lächeln. Nur ihre Blässe verriet, dass sie nicht ganz so guter Dinge war, wie sie vorzutäuschen versuchte. Trotzdem deutete sie einen Salut an und Levi hatte Mühe das Schnauben bei ihrer plötzlichen Professionalität zurückzuhalten, nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war. „Wenn es nichts mit der beendeten oder bevorstehenden Exkursion zu tun hat, will ich es nicht hören“, blaffte Levi und ging an ihr vorbei. Hinter ihm hörte er das vertraute Luftschnappen, doch er hielt nicht an und Sakura folgte ihm nicht. Kapitel 23: confession. ----------------------- Es regnete in Strömen. Wieder einmal. Dieser Herbst schien aus nichts anderes zu bestehen, nur aus Regen und Tod und Träumen, die so viel größer als sie alle zusammen waren. Sakura beobachtete, wie die Tropfen die breiten Fensterscheiben hinunterflossen. Von der kleinen Küche, die in einen riesigen Speiseraum führte, hatte man einen besonders guten Blick auf das Trainingsgelände und die Wälder, in denen das Schloss vor Ewigkeiten erbaut worden war. Zu dieser späten Uhrzeit war sie hier allein, da das Abendessen bereits vorbei und sämtliches Geschirr schon abgewaschen war. Doch sie genoss die Ruhe, denn genau aus diesem Grund hatte es sie noch mal hierher verschlagen. In ihrem Zimmer war zu viel losgewesen und die anderen Frauen hatten unzählige Fragen über ihre Mission gestellt, die Sakura nur vage beantwortet hatte. Levi hatte klargemacht, dass sie niemanden von ihren Entdeckungen des Wassers und der Menschenknochen erzählen sollte und Sakura wollte nicht aus Versehen diese Regel brechen. Abgesehen davon stachen ihre Rippen noch immer, sobald sie sich in einer liegenden Position befand. Zudem waren sie erst vor einigen Stunden zurückgekehrt und obwohl sie sich aufgewärmt und mit dem restlichen Team ihre Mahlzeit beim Abendessen förmlich verschlungen hatte, war die Anspannung noch immer nicht aus ihren Schultern und sämtlichen anderen Muskeln gewichen. Alles in ihr war noch immer bereit für einen Titanenangriff und erwartete, dass eines dieser Ungetüme jede Minute um die nächste Ecke kam, obwohl sie wusste, dass das Unsinn war. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie die Erinnerungen an die Exkursion abgeschüttelt und verarbeitet hatte. Schritte kündigten Gesellschaft an, als Petra die Küche betrat. Sie trug eine frischgepresste Uniform und schenkte Sakura ein Lächeln. „Was machst du hier so allein, Sakura?“, erkundigte sie sich, wanderte jedoch zum Teekessel hinüber, den sie mit Wasser zu füllen begann. Sakura beobachtete sie dabei. „Ich muss ständig an die Titanen denken. An Gunther.“ Ihr Ton war leise, denn das Thema war heikel und sie konnte sehen, wie Petra kurzzeitig in ihrem Tun innehielt. „Ich kannte ihn kaum. Jedenfalls ist das kein Vergleich zu all den Jahren, die ihr gemeinsam als Team verbracht habt, aber...“, haspelte Sakura, denn sie wollte nicht noch Salz in die Wunde streuen. Doch bei Petra sprudelten ihre Sorge förmlich von allein aus ihr heraus. „Es ist so schön da draußen, aber gleichzeitig auch furchtbar“, fasste Sakura ihre Gedanken und Gefühle zusammen, während Petra den Tee und eine Tasse aus dem Schrank holte und was Wasser im Kessel kochte. Petra lehnte sich mit dem Rücken gegen die Anrichte. „Bereust du es, den Scouts beigetreten zu sein?“ „Was?“, stieß Sakura aus und schüttelte den Kopf. „Nein. Auf keinen Fall. Ich... zum ersten Mal habe ich mich für etwas entschieden, weil ich es für das Richtige halte. Nicht, weil ich jemand etwas beweisen möchte. Oder um jemanden zu folgen.“ Sie wusste nicht, ob ihre Antwort für jemand anderen Sinn machte, aber Sakura war froh, Trost verlassen zu haben und hier zu sein. Sie glaubte an die Mission, an Erwins Wunsch für eine Zukunft, auch wenn sie mit den toten Soldaten gepflastert war und sie sich wahrscheinlich eher früher als später zu ihnen gesellen würde. Doch wenn das ihr Schicksal war, dann hatte Sakura es selbst gewählt, anstatt einem Mann zu folgen und dessen Wünsche zu ihren zu machen. „Ich wäre Sasuke überall hingefolgt, weil ich ihn so geliebt habe. Ich habe damals nur nicht begriffen, dass es einseitig ist.“ Ein freudloses Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich an den schwarzhaarigen Uchiha-Erben erinnerte, der in die Fußstapfen seiner Familie getreten war und sich nach der Ausbildung der Militärpolizei angeschlossen hatte. Obwohl sie zusammen aufgewachsen waren, konnten sie nun kaum weiter von einander entfernt sein. Emotional sowie physisch, denn während Sakura Levi hinter die Mauern folgte, verweilte Sasuke hinter Wall Sina im Anwesen seiner Familie. Der Wasserkessel pfiff und Petra nahm ihm vom Herd, um stattdessen die Tasse mit heißem Wasser zu füllen und den Teebeutel hineinzugeben. Sakuras Blick war längst zum Fenster und dem beständigen Regen zurückgekehrt, als Petra sich zu ihr an den Tisch gesellte. Sie schob die dampfende Teetasse Sakura entgegen. „Das passiert manchmal“, gestand Petra mit einem Zögern, überspielte dieses jedoch mit einem sanften Lächeln. „Manchmal verguckt man sich in jemanden und dieser jemand fühlt nicht dasselbe. Das ist okay, denn manchmal trifft man durchaus jemanden und dieser jemand erwidert die Gefühle. Keine Ahnung, ob das Glückssache oder so vorhergesehen ist, aber es ist einfach so.“ Sakura wusste nicht, ob Petra über sich oder über Sakura sprach, aber bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte, wechselte Petra bereits das Thema. „Wärst du so freundlich und bringst Levi seinen Tee?“, fragte sie, spazierte jedoch schon davon. „Wir treffen uns morgen Abend im Westflügel auf dem Balkon – sollte es nicht wieder regnen –, um uns zeremoniell von Gunther zu verabschieden. Bitte sag es auch Levi, wenn du schon mal da bist.“ „Okay...“ Sakura nickte und Petra lächelte zufrieden, ehe sie bereits verschwunden war und Sakura wieder allein in der Küche saß. Nur die dampfende Teetasse erinnerte daran, dass Petra tatsächlich hier gewesen war. Leider erinnerte sie Sakura auch daran, für wen der Tee bestimmt war und an die letzten grantigen Worte, die Levi an sie gerichtet hatte. Sakura erhob sich mit einem Seufzen und begab sich zu dem kleinen Raum, der von ihrem Captain bewohnt wurde und in dem auch noch in tiefster Nacht laut Gerüchten noch Licht brannte. Tatsächlich zeichnete sich ein schmaler Lichtschein unter der Tür ab, was zumindest bestätigte, dass sich Levi in seinem Zimmer aufhielt. Einen Moment stand Sakura zögerlich davor, bevor sie anklopfte. Ein genervtes „Herein“ folgte. Sakura setzte ein professionelles Lächeln auf. Eines, dass sie bei besonders schwierigen Patienten in Trost stets benutzt hatte und sie bei Levi bisher nie zustande gebacht hatte, weil er sie ganz schnell auf die Palme bringen konnte. Als sie die Tür öffnete und eintrat, fand sie Levi mit einer entzündeten Kerze am Schreibtisch sitzend vor. Er brütete über einem Stück Papier, den Stift erhoben, als wäre er fleißig am Schreiben, obwohl die Seite bis auf einen Satz vollkommen leer war. Das durfte dann wohl der berüchtigte Bericht ihrer Mission werden... „Ich habe Tee mitgebracht“, sagte sie und hielt die Tasse höher, als sie den Schreibtisch ansteuerte, um sie dort abzustellen. „Ich habe gehört, dass gelegentliche Pausen die kreative Ader anregen.“ „Woher hast du dieses dumme Sprichwort“, blaffte Levi, doch sein Ton klang halbherzig, als wäre er so gelangweilt, dass er nicht einmal Interesse daran hatte, sie richtig zu beleidigen. Sakura schluckte die bissige Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag, und hielt stattdessen an ihrem Lächeln fest. „Von mir selbst. Ich habe diese Erfahrung selbst gemacht.“ Levi blickte unbeeindruckt auf. „Und du bist nur hierher gekommen, um mir Tee zu bringen und mir das zu sagen.“ Es war keine Frage, sondern glich eher einer Feststellung, die Sakura adoptieren sollte, wenn sie keinen Streit mit ihm wollte. Aber sie stritten seit Sakuras ersten Tag bei den Scouts fast pausenlos und langsam wurde sie immun gegen seine aufgesetzte Gleichgültigkeit und seine Unfreundlichkeit. Ihre Hände ballten sich an ihren Seiten zu Fäusten. „Ich weiß, dass du mich magst“, platzte es aus ihr heraus und sie konnte das wütende Brennen in den Augenwinkel und auf den Wangen nicht aufhalten. Plötzlich war ihr fürchterlich warm, obwohl es draußen regnete und auch die Steinwände des Schlosses nichts als Kälte absonderten. „Ich weiß, dass du mich magst und es nur nicht zugeben willst, weil du Angst hast, dich an jemanden zu binden“, wiederholte sie, energischer diesmal. Das künstliche Lächeln war längst von ihren Lippen gewichen, nicht nur aufgrund ihres Geständnisses, sondern auch aufgrund von Levis unergründlichem Gesichtsausdruck, der alles möglich verheißen konnte. Sie bewegte sich auf dünnem Eis, das tat sie bei Levi immer. „Und nur zu deiner Information, mir geht es genauso. Mit allem. Aber ich bin bereit ein bisschen gefährlicher zu leben, solltest du es ebenfalls sein.“ Auf ihre Worte hin folgte ein unangenehmes Schweigen. Levi blinzelte nicht einmal. Wie machte dieser Mann das? Schließlich legte er seinen Stift beiseite, der bis eben noch zwischen seinen Fingern geruht hatte. Sein Blick senkte sich auf das beinahe unbeschriebene Papier, aber noch immer blieb er stumm. Sakuras Körper bebte vor Anspannung, die schlimmer war, als heute Vormittag noch, als sie sich mit einer Horde Titanen konfrontiert war. Es war verrückt und Sakura ertrug es einfach nicht. „Denk darüber nach...“, murmelte sie, als der Mut sie letztendlich doch verließ und sie auf den Fersen ihrer Stiefel kehrt machte. Sie huschte aus dem Zimmer und ließ die Tür in ihrer Eile halboffen stehen. Um die Ecke des Ganges huschend lehnte sie sich an die kalte Steinmauer, während sie ein paar Sekunden später hörte, wie Levi seine Zimmertür schloss. Sakura presste die Finger gegen ihre Augen. Levi hatte nicht einmal probiert sie aufzuhalten! Kapitel 24: start of something else. ------------------------------------ Sakura stellte den Kragen ihrer Jacke auf, als ein Frösteln durch ihren Körper ging. Die abendliche Frische war kein Vergleich zu der Kälte, die durch den Regen und den Wind entstanden war, als sie sich außerhalb der Mauern befunden hatten, erinnerte Sakura jedoch an sie. Wenigstens war die Wolkendecke im Laufe des Tages aufgebrochen und die Sonne hatte einige Pfützen getrocknet. Hier und da war sogar ein Stern zu sehen. Mehr hatten sie sich von diesem Abend nicht versprechen können. Ein schmales Lächeln huschte über Sakuras Lippen, als sie Petra half die Kerzen zu entzünden, von denen sie ein Dutzend zusammengetragen hatten, um sie auf dem Balkon verteilt aufzustellen. Ein paar ruhten auf der breiten Brüstung, während andere auf kleinen Hockern und dem Tisch standen. Ihre Flammen zuckten unter gelegentlichen Brisen und warfen flackernde Schatten auf das Gestein des Schlosses, während ihre Lichter sich in den Fenstern und der Balkontür brachen. Sakura hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, sich im Westflügel des Schlosses aufzuhalten. In ihm befanden sich die Waffenkammern und die Schmiede im unteren Stockwerk, im oberen befand sich dagegen die Bibliothek und ein paar Leseräume, die mit alten, knarzenden Sesseln und verstaubten Tischchen versehen waren, die schon lange nicht mehr geputzt worden waren. Der Balkon schaute auf ein abgelegenes Waldstück herab, lag versteckt zwischen dichten Bäumen, deren Kronen gerade so einen Blick auf den Nachthimmel erlaubten. Es war einfach sich Gunther vorzustellen, wie er am Gelände stand und zum Firmament hinaufblickte, genau so wie Sakura es in diesem Moment tat. Es war ein netter Gedanke, letztendlich aber nicht mehr als eine Fantasie, denn sie wusste so gut wie nichts über Gunther. Sie kannte seine Vorlieben und Hobbys nicht. Sie hatte mit dem Mann vor ihrer Mission kaum ein Wort gewechselt, was ihr im Nachhinein unheimlich dumm vorkam. „Wie war Gunther?“, fragte Sakura, bevor sie sich zurückhalten konnte. „Ich meine, als Person.“ Petras Augen lösten sich von der entzündeten Kerze vor ihr, um Sakura anzusehen. „Nun ja... er war sehr privat und ernst, aber er war auch der beste Soldat von uns. Levi ausgeklammert, versteht sich. Wenn Levi nicht da gewesen ist, hat er das Kommando unseres Squads übernommen. Er war ein Stratege und hat – im Gegensatz zu Oluo – erst nachgedacht, bevor er gehandelt hat.“ Nun lächelte sie und Sakura erwiderte diese Geste, obwohl ihre Worte den Verlust nicht weniger traurig machten. Ganz im Gegenteil, denn er schien ein wichtiger Teil des Teams gewesen zu sein, eine Lücke, die sie nun irgendwie füllen mussten. Bevor Petra weitersprechen konnte, ertönte ein Keuchen und Eld trat mit einem hohen Bücherstapel im Arm zu ihnen auf den Balkon. Er lud die dicken Wälzer zwischen einigen Kerzen auf dem Tisch in der Ecke ab, der von ein paar Stühlen umringt war. „Meinst du, die reichen erst einmal, Petra?“, fragte er und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Petra trat zu ihm hinüber, nahm das erste Buch in die Hand und untersuchte es, während Sakura sich dazu gesellte. „Auf jeden Fall. Sieht aus, als hättest du die ganze Bibliothek durchsucht“, erwiderte Petra. Eld schnaufte belustigt. „Vielleicht die Hälfte. Ich war überrascht, wie viele Bücher sie zu diesen Themen haben.“ Sakura nahm ebenfalls eines der Bücher vom Stapel. „Meere, Seen und Sümpfe“, las sie den Titel laut vor und runzelte die Stirn. Das Buch, welches Petra in den Händen hielt, wies einen ähnlichen Titel auf, dessen verschnörkelte Schrift sich zu einem „Warum Pflanzen unsere Helfer sind...“ zusammensetzte. Es war ein Buch über pflanzliche Medizin, wurde Sakura bewusst. Ein Blick auf die anderen Buchtitel genügte, damit Sakura verstand, dass sie sich alle mit der Natur und der Welt außerhalb der Mauern befassten. Sie alle waren mit Leder zusammengebunden, alt und brüchig mit vergilbten Seiten, die an den Ecken teilweise auseinander bröselten. „Gleich nachdem Erwin zum Kommandanten aufgestiegen ist, hat er all die alten und verbotenen Bücher zusammentragen lassen, um sie hier aufzubewahren.“ „Sicherlich sind das nicht alle...“, murmelte Sakura, denn das ein oder andere war ihr damals in der Akademie über den Weg gelaufen und sie hatte es heimlich abends bei Kerzenschein unter ihrer Decke gelesen. Petra schüttelte den Kopf. „Nein, nicht alle. Soweit ich weiß, wird gemunkelt, dass einige alte Bücher innerhalb Familien weitergegeben werden. Selten innerhalb blutsverwandter Nachkommen des Autoren, da es zu offensichtlich und gefährlich wäre.“ „Vor gut einem Jahrhundert ist die Militärpolizei noch herumgegangen und hat aufgrund Irrlehren angefangen, alte Schriften über die Welt hinter den Mauern und unserer Geschichte zu verbrennen“, erklärte Eld. „Das große Bücherverbrennen“, entwich es Sakura. Schritte ertönten hinter ihnen und sie zuckten bei der monotonen Stimme zusammen, die ertönte. „Die Zeiten haben sich nicht sonderlich verändert. Wenn die Militärpolizei Wind davon bekommen würde, dass wir all diese Bücher besitzen, würden sie versuchen hier einzumarschieren und sie zu konfiszieren. Dann hätten wir einen kleinen Krieg an der Hand“, sagte Levi, der sich mit Oluo zu ihnen gesellten. Wahrscheinlich hatte der hochgewachsene Soldat Levi Bescheid gesagt, da Sakura dieses Treffen vergessen hatte zu erwähnen. Sakura räusperte sich. „Willst du damit sagen, dass—“ „—die Regierung etwas vor uns vorheimlicht?“, fuhr Levi ihr über den Mund, die Hände in den Hosentaschen vergraben und sein ausdrucksloser Blick auf den Stapel Bücher gerichtet. „Sie versuchen mit allen Mitteln die Vergangenheit und die Wahrheit über die Titanenpest vor uns Normalsterblichen zu verbergen. Und seit Erwin Kommandant ist und versucht mit der Hilfe des Aufklärungstrupps etwas zu bewegen, hat man stets ein Auge auf uns. Was glaubt ihr, was passieren wird, wenn Erwin die Details der nächsten Exkursion bekannt geben wird?“ Schweigen folgte und Levi schnaufte. „Ich weiß es auch nicht, aber es wird ungemütlich werden. Es gibt genug Leute, die uns unterstützen werden, weil sie das Leben in diesem Käfig genauso leid sind wie wir, aber es gibt auch die Aristokratie, die nicht will, dass sich etwas ändert. Wir werden dreifach so sehr auf der Hut sein müssen. Am Ende des Tages gibt es nur wenige Leute, denen wir vertrauen können. Auch innerhalb des Aufklärungstrupps.“ Levis nonchalanten Worte hingen schwer zwischen ihnen in der Dunkelheit der Nacht, nur vom Kerzenschein beleuchtet, der plötzlich nicht mehr tanzende, sondern groteske Schatten auf die Schlossmauer und den Boden des Balkons warf. Sakura zog ihre Jacke enger um ihre Schultern, hielt jedoch an dem Buch fest, welches sie noch immer in die Hand hielt. „Deswegen werden wir vorbereitet sein“, brummte Oluo schließlich. „Wir haben schon einen Kameraden verloren. Wir werden keinen zweiten verlieren.“ „Wir werden vorbereitet sein“, bestätigte Eld und legte die flache Hand auf die herangeschafften Bücher. „Stimmt“, fügte Petra mit grimmigem Lächeln hinzu. „Außerdem ist unsere Mission wichtig. Wir sind die einzigen, die um eine Zukunft außerhalb der Mauern kämpfen. Was sollen die Menschen ohne uns machen?“ Sakura kamen all die Gesichter der Bürger von Trost in den Sinn. Sie erinnerte sich an das nächtliche Donnern der Kanonen, das einen aus dem Schlaf riss, und an den Soldaten, der von der Mauer gefallen und unter ihrer Aufsicht ausgeblutet war. Sie dachte an Kakashi, der den Scouts beigetreten und sie nach dem Tod einer Frau verlassen hatte. Stattdessen unterrichtete er an der Akademie und ließ die meisten Rekruten durchfallen, um sie vor einem verfrühten Tod zu bewahren. Während Kakashi an der Zukunft aufgegeben hatte, stand sie hier von vier Menschen umringt, die bereit waren ihr Leben für diese Zukunft zu geben, auch wenn die Regierung sie stürzen wollte und die meisten Bürger sie für lebensmüde Versager hielt. „Für alle Soldaten und Zivilisten, die für die Idee der Freiheit gestorben sind“, sagte Sakura. „Für Gunther“ Petra lächelte. „Für Gunther.“ „Für Gunther“, stimmten Oluo und Eld ein und Levi deutete ein Nicken an. Während die Kerzen niederbrennten und sie bis in die tiefste Nacht hinein mit ihren Jacken auf dem Balkon des Westflügels saßen und durch die dicken Bücher blätterten, holte Sakura ein Stück Briefpapier, einen Stift und ein Titanenfass aus ihrem Zimmer. Sie sparte sich die Anrede und die förmlichen Worte, die Gedanken und Gefühle, die aufgewühlt und noch zu wirr waren, um sie niederschreiben zu können. Stattdessen kritzelte sie ein „Wir sind zurück.“ auf das Papier und faltete es ordentlich zusammen, bevor sie es in den Umschlag schob. Sie versah ihn mit Kakashis Namen und Adresse. Aufsehend fing sie Levis Blick auf, der auf sie gerichtet war. Er saß auf der andere Tischseite, ebenfalls über ein Buch gebeugt, das Kinn auf dem Handballen stützend, während die anderen sich Notizen machten und leise miteinander tuschelten, während der Wind die Kerzen flackern und die Buchseiten rascheln ließ. Der Winter rückte näher und würde ihnen eine Verschnaufpause geben. Doch der Frühling würde nicht lange auf sich warten lassen und bis dahin gab es noch einige Vorbereitungen zu treffen – und Sakuras Herz hämmerte bei diesem Gedanken in ihrer Brust. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)