My Dear Brother 2 von ellenchain (The Humans) ================================================================================ Prolog: Ansturm --------------- Ängste in meinem Leben waren wie Sand am Meer: Unzählig mal zu finden. Und das Glück verbarrikadierte sich in Form von Muscheln in diesen Ängsten. Ein Strand des Leidens, während eines wunderbaren, roten Sonnenaufgangs. So stellte ich mir …   »Hiro? Hiro, wir sind da, oder?«, fragte diese dunkle Stimme neben mir und quetschte meine Hand. Ich blinzelte zur Seite und erkannte durch die quälenden Sonnenstrahlen einzelne weiße Haare. Sie strahlten so wunderschön. Seine blasse und weiche Haut glänzte Perlmuttfarben, während seine wunderbaren blau-violetten Augen meine suchten. »Ja, wir sind da, Kiyoshi …«, murmelte ich müde, da ich während des Fluges eingenickt war. Kiyoshi war so aufgeregt, das konnte ich ihm ansehen. Immer wieder wechselte er den Blick zwischen mir und der Welt außerhalb des Fensters. Als ich meine Augen endgültig aufschlug, beugte ich mich zu meinem geliebten Bruder und starrte ebenfalls aus dem Fenster. Der alte Flughafen. Nicht so schnieke wie der im Norden. Aber er hatte Persönlichkeit. Eine Menge Persönlichkeit, war jedenfalls meine Meinung. Beim Gedanken gleich wieder die Heimat zu betreten, klopfte mein Herz wie wild. Kiyoshis sicher auch, wenn es noch in Takt gewesen wäre. Wir näherten uns immer weiter der Gefahr. Mit jedem Schritt, den wir tätigten. Ob es innerhalb dieses überfüllten Flugzeuges war oder auf dem Weg zu den Koffern oder schließlich vom Kofferband zum Anreisepunkt hinter einer Glasscheibe. Dort stand sie. Meine Mutter. Unsere Mutter. Kiyoshi würde sie das erste Mal sehen. Also kennen lernen, Geburt zählte nicht. Und ich? Ich würde ihr auch das erste Mal gegenüber treten. Als mein neues Ich. Als Untoter. Als Vampir. Oder zumindest als irgendetwas dazwischen. Ob sie es merken wird? Von Kiyoshi weiß sie es ja, aber wird sie es von mir erahnen? Immerhin sahen er und ich nunmehr immer identischer aus. Hellhäutig, strohblond, strahlend glänzende Augen mit diesem Anreiz der Unsterblichkeit und der Anmut. Das sagte mir allein schon ein kurzer Blick in den Spiegel einer Säule, wo ich mein Shirt richtete und letzte Pflaster unter dem Stoff verbarg. Der Grund, wieso ich Kiyoshi mitnahm, lag nicht mal einen Tag zurück. Vincent verfolgte uns sicherlich noch immer und suchte die Endgültige Hinrichtung Kiyoshis. Und wenn ich mit Kiyoshi auswandern müsste: solange uns Vincent nicht findet, sollte alles gut sein.   Als wir unsere Koffer vom Kofferband gezogen hatten, standen wir noch eine Weile ratlos vor einer Glasscheibe, hinter der sich ein geschlossener Schalter der Fluggesellschaft befand. »Hiro?«, brach Kiyoshi die Stille mit einem zaghaften und zögerlichen Ton. »Ja?« »Wie … Wie soll ich ihr gegenübertreten?« Etwas verwundert über die Frage, dachte ich kurz nach. »Am besten so, wie du bist.« »Oh nein, dann hasst sie mich ja schon nach zwei Minuten!« »Kiyoshi, also …« Er übertrieb ja wohl ein bisschen. »Ist doch so …«, murmelte er schließlich und sah sich im Spiegel an. »Sie hat doch eh Vorurteile gegen mich.« »Die hat sie gegen jeden. Glaube mir, auch gegen mich.« »Wie kann sie denn Vorurteile gegen dich haben, wenn ihr doch schon seit achtzehn Jahren zusammen wohnt?« Er sah mich durchdringend an. Ich liebte diesen Blick, auch wenn er mir jedes Mal einen ziemlich Schub Gänsehaut überlieferte. »Na ja, wir leben zwar zusammen und die Wohnung ist richtig klein, trotzdem verbarrikadiere ich mich immer in mein Zimmer und sie ins Wohnzimmer. Wir reden eigentlich nur zu Essenszeiten. Und eigentlich da auch nicht immer.« Da schmunzelte Kiyoshi. »Ist ja dann doch nicht so anders, als bei uns zu Hause.« »Hm …« Doch das war es. Trotzdem wir nicht viel miteinander sprachen, war doch der persönliche Bezug da. Den hatte ich zu Vater einfach nicht aufbauen können. Kiyoshi wahrscheinlich auch nicht – so wirkte es zumindest immer. »Okay, sei einfach freundlich und nett«, sagte ich aufmunternd und richtete seinen Hemdkragen, »Sei wie du bist, Kiyoshi. Denn du bist wundervoll.« Wow, das war richtig schnulzig von mir. Aber als er mich unfassbar glücklich anlächelte und mich sanft umarmte, konnte ich sicher sein, etwas Gutes getan zu haben. »Danke, Hiro.« Er löste sich von mir und legte seine Stirn an meine. Wir konnten uns direkt in die Augen sehen. Bei eineiigen Zwillingen ja auch keine Schwierigkeit. »Wir packen das«, sagte ich schließlich und lächelte ihn an. Er erwiderte weiterhin mein Lächeln und nickte. »Hiro …«, murmelte er und senkte seinen Blick. Ich verstand nicht ganz, was er vorhatte und sah ihn verwirrt an. Er nahm meine Hände in seine und kam mir ein Stück näher, legte seinen Kopf in die Schieflage. Setzte zum Kuss an. Ich wich zurück. »Nee, nee!« Er sah mich erst überrascht, dann enttäuscht an. »Wieso nicht?« »Wir sind hier in aller Öffentlichkeit.« Vorsichtig ließ Kiyoshi seinen Blick schweifen. Einige Leute starrten schon verwirrt zu uns rüber, andere blinzelten nur von der Seite aus. Mein Blick fiel wieder zu Kiyoshi, der langsam seine Augenbrauen zusammenschob und verkniffen durch die Halle sah. Ich konnte mir ein leises Seufzen nicht verkneifen und suchte erklärende Worte. »Es ist schon schlimm genug, dass wir wegen unserer Aura so dumm angestarrt werden, da können wir nicht einfach so hier unsere Beziehung ausleben … Das ist nämlich auch hier verboten …« Kiyoshi senkte seinen Kopf und ließ betroffen meine Hände los. Dann nickte er niedergeschlagen und schnappte sich seinen Koffer. Innerlich tat es weh, ihn so zu sehen, aber wir durften einfach nicht. Sowieso würde es sehr schwer werden in der kleinen Wohnung irgendetwas auf die Reihe zu bekommen. »Hey …«, flüsterte ich ihm zu und küsste ihn auf die Stirn. »Besser so, als ganz getrennt, oder?« »Ja …«, stieß er sanft aus seinen Lippen und lächelte traurig.   Als wir vor der Glastür standen, atmeten wir beide noch einmal tief durch. Nervös und fast schon zittrig betraten wir den großen Raum des Flughafens. Dort stand sie. Ihre blonden Haare lagen ihr sanft auf der Schulter, der rote Lippenstift passte ausnahmsweise mal zu ihrem roten Kostüm, dass sie gerne bei der Arbeit trug. Schwungvoll hatte sie sich ein weißes Tuch um ihren Hals gebunden. Die Augen mit viel Lidstrich angemalt und das Rouge würde auch bald aufgebraucht zu sein – bei der aufgetragenen Menge.   »Das ist Mom …«, murmelte ich lächelnd und seufzte kaum hörbar, während wir uns ihr näherten. »Sie sieht … eigenartig aus …«, musste Kiyoshi zugeben und konnte seinen Blick wohl nicht von ihrem auffälligen Auftreten lassen. Ich spürte, wie Kiyoshi sich zurückfielen ließ und immer weiter hinter meinem Rücken verschwand. Da entdeckte sie uns. Sie öffnete den Mund und lächelte erfreut. Doch als sie genauer hinsah und wir uns ihr näherte, versiegte ihr Lächeln immer mehr; bis nur noch ein entsetzter Blick übrig blieb. Ja, sie merkte es. »Hey, Mom«, sagte ich sanft und stellte den Koffer neben ihr ab. Vorsichtig öffnete ich meine Arme, um sie zu umarmen. Zögerlich erwiderte sie die Umarmung. Ganz zärtlich legte sie ihre Arme auf meinen Rücken und klopfte sanft. »Hallo, Schatz …«, kam erst nach einer kleinen Schweigesekunde. »Schön, dich wiederzusehen.« Dann ließ sie mich schnell los. »Geht’s dir gut?«, fragte ich vorsichtig, da sie besorgt wirkte. Sie nickte schnell. Natürlich ging es ihr nicht gut. »Geht es dir denn gut?« Der Unterton spielte die Musik der Wahrheit und meine Vermutung, dass sie es ahnte, bestätigte sich hiermit. Doch was blieb mir anderes übrig, als erst einmal zu lügen? »Ja, mir geht’s super. Immerhin bin ich jetzt wieder hier.« Nur ein kurzes, müdes Lächeln huschte auf Moms Mund, das schnell wieder in einer strengen Linie endete. Dann fiel ihr Blick auf Kiyoshi, der halb hinter mir stand. Er sah verstohlen zu ihr rüber, sagte aber nichts. »Kiyoshi, das ist Mom«, stellte ich sie ihm vor und ging einen Schritt zur Seite, sodass die beiden sich in die Augen blicken konnten. »Mom, das ist Kiyoshi.« Um ein wirklich herzliches und freundliches Lächeln bemüht, kam Kiyoshi einen Schritt auf sie zu. »Freut mich, dich endlich kennenzulernen, Mutter.« Er reichte ihr zögerlich seine dünne weiße Hand. Sie regte sich nicht, stand nur da und sah ihn verängstigt an. »Mom …«, ermahnte ich sie, »Er beißt nicht …« Jedenfalls nicht dich, fügte ich leicht schmunzelnd in meinem Kopf hinzu. Wie aus der Trance erwacht, lachte sie peinlich berührt und ergriff zögerlich Kiyoshis Hand. Und dann spürte sie wohl dasselbe, was ich manchmal auch noch spürte. Dieses Gefühl der Gefahr und der gleichzeitigen Zuneigung; dieses seltsame Gefühl mit dem Schauer über dem Rücken, wo ich mir bis heute nicht sicher bin, ob ich es angenehm oder abstoßend finde. Moms Blick haftete noch immer auf Kiyoshis blassem Gesicht und strahlte eine unglaubliche Angst aus. »Freut mich natürlich auch, Kiyoshi«, sagte sie schließlich mit dünner Stimme und schüttelte seine Hand, ließ sie aber nach kurzer Zeit wieder los. Fast unbemerkt, in einer flüssigen Handbewegung, strich sie die Handfläche, mit der sie ihn berührt hatte, an ihrem Rock ab. Kiyoshi hingegen ließ die Hand einfach wieder zurückfallen und versteckte sie hinter seinem Rücken. Seine Unsicherheit stieg wohl von Minute zu Minute. Wie sollte man schon seiner völlig fremden Mutter entgegentreten, die einen schon bei der Geburt verstoßen hat? Mit Missmut und Unbehagen. Die ganze Situation war seltsam und schien aus dem Ruder zu laufen. Ich versuchte sie irgendwie zu retten. »Na ja, können wir dann? Ich möchte Kiyoshi unbedingt noch etwas die Stadt zeigen«, log ich, empfand die Idee im nächsten Moment als doch nicht so schlecht.  Es war ja immerhin erst früher Nachmittag und mit einem Schirm ginge das schon mit der Sonne. »Ja, natürlich … Ich stehe im Parkhaus. Hoffentlich bekommen wir die Koffer gut in das Auto«, murmelte meine Mutter und sah auf Kiyoshis Sturmgepäck und auf meinen halben Schrank. Mit noch einer Person, könnte es knapp werden. »Klar, bestimmt. Sonst kommt Kiyoshi einfach auf meinen Schoß nach vorne«, witzelte ich und lächelte Kiyoshis an. Dieser musste sofort grinsen und strahlte endlich eine weniger angespannte Aura aus, doch meine Mutter fand das weniger lustig. »Wohl eher ein Koffer«, sagte sie schroff und ging voraus. Sofort musste ich schlucken. Das Thema stand auch noch an. Spätestens heute Abend wird sie mit uns reden wollen, das war klar. Sie predigte es mir ja schon am Telefon vor, dass die Sache noch nicht gegessen war. Da poppten so viele Dinge in meinem Kopf auf. Wieso hat Vater ihr das unbedingt erzählen müssen? Klar, wenn die Söhne das Techtelmechtel anfangen, geht das schon beide Eltern was an, aber gemäß der Situation hätte es auch erst einmal gereicht, wenn nur Vater uns Moralpredigten gehalten hätte. Sowieso fragte ich mich, wie Vater es geschafft hatte, sie zu überreden, Kiyoshi kommen zu lassen? Dass es um sein Leben ging, hatte er vielleicht noch angebracht, aber den Rest der Story kannte sie ja gar nicht. War aber vielleicht auch vorerst besser so … Ein heikles Thema nach dem anderen. Schweigsam gingen wir in Richtung Auto. Sie bezahlte das Ticket am nahe gelegenen Automaten; Kiyoshis und ich blieben weiter weg stehen. Da zupfte Kiyoshi an meinem Hemd. Er sah mich verzweifelt an, mit der Frage im Gesicht stehen, ob er etwas falsch gemacht hat. Ich schüttelte etwas leidvoll den Kopf, dass es definitiv an Mom und nicht an ihm lag. Leise atmete er aus und starrte wieder auf den Boden. Aufmunternd drückte ich kurz seine Hand, ließ sie jedoch sofort wieder los, als Mom Mit Bezahlen fertig war und wieder auf uns zukam. Langsam trotteten wir den Weg zum Auto und luden die schweren Koffer ein. Kiyoshis Koffer war nicht mal ansatzweise so schwer wie meiner gewesen. Wahrscheinlich hatte er nicht so viele Mädchenbücher, Kleinkinder CDs und anderen Kram mit. Abermals entwich mir ein Seufzer, als ich den Kofferraum schloss. Ein Koffer musste auf der Rückbank stehen, Kiyoshi durfte sich aber nicht auf meinen Schoß setzen. Angeblich sei das zu Gefährlich für ihn gewesen. Doch selbstverständlich quetschte ich mich neben den Koffer und ließ Kiyoshi vorne sitzen. Ich spürte während der ganzen Autofahrt, dass zwischen Kiyoshi und meiner Mutter eine gedrückte Stimmung herrschte. Hoffentlich, dachte ich, würde das nicht in den nächsten Tagen so bleiben, die er hier verbräche. Trotz der anfänglich miesen Stimmung, freute ich mich wie ein König. Endlich war ich wieder daheim, in der vertrauten Umgebung, meinem zu Hause. Und als Kirsche auf der Torte, hatte ich sogar meinen Liebsten dabei. Kein unheimliches Geisterschloss um uns herum, keine seltsamen Leute, die uns jederzeit fressen könnten. Nur ich, in meiner normalen Umgebung, mit meiner Mutter zu Hause in der kleinen Wohnung und meinem Bruder Kiyoshi, den ich über alles auf der Welt liebte. Was könnte es besseres geben? Doch so schnell die positiven Gedanken während der Fahrt kamen, so schnell gingen sie auch. Was, wenn dieses Glück wieder nur ein paar Tage anhalten würde? Für ihn würde ich sterben. Das würde er auch für mich. Beinahe wäre das passiert. Doch ich wollte nicht an vorgestern denken. An diesen grausamen Vorfall in der Schule mit Vincent. Hoffentlich käme er nie wieder. Er soll nie wieder meinen Bruder und mich trennen wollen. Nie wieder. Wir näherten uns der Stadtmitte. Die Straßenbahnen fuhren wieder wie verrückt, viele Autos standen an den Ampeln oder suchten einen Parkplatz. Hupen, Sirenen, laute Motoren. Als ich kurz nach vorne blickte, sah ich, wie Kiyoshi seinen Ärmel weiter über sein Handgelenk schob. Auch ich merkte, dass es ein wenig auf der Haut bitzelte. Zwar nicht schmerzvoll, trotzdem schob ich unbemerkt meine Hände in die Hosentaschen. Mom blieb die ganze Fahrt über still, sah nur stur nach vorne und konzentrierte sich auf den Verkehr. Kiyoshi brach schlussendlich die drückende Stille. »Ist … das hier immer so unruhig in der Stadt? Mit den ganzen Autos?« Ich lachte nervös, als Mom nichts dazu sagte, beugte mich zu ihm nach vorne und nickte. »Das ist was ganz anderes als bei euch auf dem Land, hm? Hier muss man aufpassen nicht von einer Straßenbahn angefahren zu werden.« Sofort drehte Kiyoshi sich entsetzt um und sah scheu in meine Augen. »Und hier wohnst du?« Dieser Blick wollte schon fast sagen, dass es hier um einiges gefährlicher sei, als in einem Geisterschloss voller Vampire zu wohnen. Ich winkte nur lächelnd ab und ließ ihn weiter die Innenstadt bewundern. Meine Mutter bog in die kleine Nebengasse ein, in der unsere Parkplätze für das Wohnhaus waren. Sie parkte schnell, aber schlampig ein und stieg aus dem Wagen aus, als würde sie flüchten wollen. Ich sah ihr vom Fenster aus hinterher, wie sie schnell den Kofferraum öffnete. Die Präsenz zweier Vampire in einem kleinen Auto ist wahrscheinlich für das Empfinden eines einzelnen Menschen zu viel. Ich bewunderte trotzdem, wie gut sie das gemeistert hatte, ohne einen Unfall zu bauen. Kiyoshi und ich bemühten uns aber auch wirklich außerordentlich, nicht zu verängstigend zu wirken. Ich hatte da nicht so viel Hilfe um mich herum, als ich das erste Mal auf Vampire traf. Ganz alleine habe ich meinen Vater kennengelernt, ohne eine liebe Person, die neben mir herlief und mein Händchen hielt. Ganz alleine wohnte ich mit drei Vampiren in ihrem Schloss. Und ich bin nicht panisch aus der Villa gerannt (obwohl ich nicht abstreiten will, dass ich es gerne versucht hätte). Nach einem kurzen nervösen Blickwechsel mit Kiyoshi, stiegen wir ebenfalls aus dem Auto. Während ich den Koffer von der Rückbank hievte, wollte meine Mutter ebenfalls stark sein und versuchte den anderen Koffer aus dem Kofferraum zu holen. Leider war das mein Koffer und dementsprechend schwerer. Natürlich bekam sie ihn nicht raus. Kiyoshi sah das und wollte helfen. »Lass ruhig, ich mach das«, sagte er in seinem sanftesten Ton, den er hatte und legte seine kalten Hände sachte auf die meiner Mutter, um den Koffergriff zu nehmen. Schnell zog sie ihre Hand weg und erschrak förmlich vor seinem durchdringenden Blick. Mit einem nervösen Nicken deutete sie Kiyoshis an, dass er den Koffer aus dem Auto tragen darf. Mit einem Ruck stand der Koffer neben dem Auto, so als ob er nur einige Kilos gewogen hätte. Sicherlich war Kiyoshi eine sehr zierliche Person, aber wenn es ums Kräftemessen ging, war er eigentlich immer der Stärkste. Doch das Verhalten meiner Mutter durchdrang mich wie ein Pfeil. Sie war komplett verstört, als ob Kiyoshi sie jeden Moment angreifen würde. Dabei hat sie ihn gebärt, er war ihr Sohn, genauso wie ich. Sie sollte keinen Unterschied machen. Vampir hin oder her.   Die Koffer waren aus dem Auto, Mom schloss das Vehikel ab und ging zur Tür. Als ob es nicht schon unspektakulär genug gewesen wäre, nahmen wir auch noch den Hintereingang. »Das ist euer Eingang?«, fragte Kiyoshi berechtigt, während wir den schmalen Hausflur betraten, in dem es immer ein wenig nach Döner roch. »Ja … Nicht so prunkvoll wie bei euch. Aber daran musst du dich jetzt leider gewöhnen.« Ich seufzte kurz und schleppte den Koffer hinter Mom her. Sie sagte nichts, klackerte mit schnellen Schritten auf ihren Schuhen durch den Flur bis zum Aufzug. »Ihr könnt den Aufzug nehmen, ich gehe die Treppe«, sagte sie hastig und wartete noch, bis der Aufzug kam. Ich verdrehte die Augen. »Mom, der Aufzug ist groß genug …« »Nein, nein. Mir fällt grad ein, dass ich sowieso noch eben zum Bäcker muss, wir beide brauchen ja morgen etwas zum Frühstücken.« Und schon war sie weg. Eine kurze Stille trat ein. Als ich die Eingangstür wieder einrasten hörte, seufzte ich sofort laut los. »Mutter ist wirklich seltsam«, murmelte Kiyoshi enttäuscht und kam mir näher. Ich nickte wissend und hob beide Augenbrauen hoch. »Aber noch lange nicht so seltsam wie Vater.« Unsere Blicke trafen sich, wir grinsten und nickten sofort zustimmend. Doch im Gegensatz zu Vater, wurde Mom fies, wenn sie Angst bekam. Wir beide brauchen ja morgen etwas zum Frühstücken, sagte sie. Das war gemein, wirklich gemein. Und nicht nötig zu erwähnen: unfair. Kiyoshi hatte sich dieses Leben nicht ausgesucht. Aber genau so stellte sie es dar. Als der Aufzug ankam, öffnete sich quietschend die Tür. Kiyoshi stellte sich in ihn und nahm die zwei Koffer an, die ich ihm reichte. »Was willst du ihr erzählen, wenn es ums Essen geht?«, fragte Kiyoshi vorsichtig, da das Thema ‚Brötchen holen’ noch in der Luft lag. »Gute Frage … Wahrscheinlich werde ich ihr vorgaukeln, keinen Hunger zu haben. Und bei den anderen Essenszeiten werde ich einfach sagen, ich hätte schon gegessen.« Mit diesen Worten fühlte ich mich wie ein Magersüchtiger. Bloß nichts essen, Essenszeiten vermeiden, so wenig wie möglich. Und schon vermisste ich die eklig, leckere Aufbackpizza vom Discounter. Mit einem großen Ausfallschritt stieg ich zu Kiyoshi und den Koffern in den Aufzug und drückte den Knopf in den 5. Stock. Die Türen fingen an sich zu schließen. »Das wird sie dir nicht lange glaub-«, setzte Kiyoshi an, doch ich ließ ihn nicht ausreden. Ich presste meine Lippen auf seine und schlang meine Arme um seine Hüfte. Schnell spürte ich auch seine Hände in meinem Nacken, wie sie mich sanft streichelten. Unser flüchtiger Kuss wandelte sich schnell in einen leidenschaftlichen Zungenkuss, den ich so sehr genoss, dass ich gar nicht mehr darauf achtete, in welchem Stockwerk wir uns befanden. Erst als die Tür aufging und wir beide erschrocken auseinander fuhren, verstand ich, in was für eine unbedachte Situation wir uns begeben hatten. Es hätte nur eine Nachbarin in einem anderen Stockwerk dazu steigen müssen und alles wäre aufgeflogen. Doch wir hatten das Glück auf unserer Seite – es war unser Stockwerk und niemand war zu sehen. Etwas beschämt über den leidenschaftlichen, spontanen Akt, schoben wir unsere Koffer auf den Gang. »Kiyoshi … das … können wir ab jetzt wirklich nur noch dann machen, wenn wir ganz alleine sind, in einem Raum, den niemand ohne unsere Einwilligung betreten kann, ja?« Er musste grinsen, nickte aber sofort und griff meine Hand. Das nächste Mal würde sicherlich nicht mit einem Kuss enden. So viel war klar. Und ich freute mich darauf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)