Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 10: erlischt der Funke ------------------------------ Während sie in unfreiwilliger Einheit den letzten, kurzen Weg zur Grenze antraten, wurde Rin mit jedem Wolfgeheul, das gedehnt an ihre Ohren drang, ruhiger. Mit dem grummelnden Gewitter über ihnen waren die Rudel selbst für Minoru nicht hörbar gewesen. Mit dem Wetterumschwung und der Nähe zur Grenze hatte sich das eindeutig geändert. Rin schien davon wenig begeistert, hielt sich in A-Uns Nähe und schwieg sogar manchmal Minutenlang eisern, bevor sie sich wieder mit Myōga unterhielt, über dessen plötzliche Anwesenheit sie lange nicht so überrascht gewesen war, wie Minoru es erwartet hatte. Der missbrauchte sein hündisches Dasein, um jeder forcierten Antwort zu entfliehen. Mit einem Hund konnte man sprechen, aber niemand erwartete eine Antwort – nicht einmal Rin. Den lästigen Passagier hatte er damit allerdings nicht aus dem Pelz vertreiben können. Myōga saß auf seinem Rücken und schnatterte mit Rin über Wetter und Weltgeschichte. Da hatten sich ja die Richtigen gefunden. „Es ist doch nicht normal, das in letzter Zeit so viele seltsame Dinge passieren. Plötzlicher Krieg im Norden, die ständigen Regenfälle, ein... wie sagt man das, wenn jemand zwei Völkern angehört? Hundefuchs?“ Minoru, der nur mit halben Ohr hinhörte, sträubte sich das Fell. Das tat ja fast schon weh. „Ein Mischling, denke ich“, antwortete Myōga. „Ganz schlicht.“ „Ein Mischling, den noch nie jemand gesehen hat, kriegerische Grenzübertritte und ein aggressiver Kitsune, der wie aus dem Nichts auftaucht. Wie wahrscheinlich ist das alles?“ „Die Sterne stehen im Moment sehr schlecht“, sagte der Flohgeist mit einer Absolutheit, die an Absurdität grenzte. Die Sterne? Welcher senile Alte hatte sich diesen Unsinn schon wieder einfallen lassen? Vermutlich hatte niemand die Sterne in den letzten Wochen gesehen. Bei den Regenwolken war sogar der letzte Vollmond so wenig hell gewesen wie der Neumond zuvor. Wer wollte da noch Sterne deuten und einen sinnvollen Schluss ziehen? „Dann hoffen wir, dass die Sterne sich bald etwas besser platzieren!“ Sie sah ein wenig erbost in die Berge, als wartete sie auf das nächste Unheil, das sich zwischen den felsigen Hängen heraus auf sie stürzte. „Es wirkt beinahe, als sei Naraku auferstanden und habe überall seine dreckigen Finger hineingesteckt.“ „Sprich nicht davon, Rin“, mahnte Myōga. „Ausgesprochene Dinge werden nur allzu schnell wahr. Wir werden das schon in geordnete Bahnen bringen. Wie immer in den letzten tausenden Jahren.“ Minoru gähnte gedehnt und schüttelte das morgenfeuchte Fell auf. In der Nähe rauschte ein Gebirgsbach sprudelnd und schnell im ansteigenden Gelände. Während die beiden in tiefste Gespräche verwickelt schienen, prüfte er immer wieder die Luft. Irgendetwas passte ihm nicht ganz in das Gesamtbild, er war sich nur noch nicht sicher, was das war. Eine wirkliche Bedrohung lag nicht in der Luft, aber was bei Nachsicht passierte, hatte er ja am Vorabend bemerkt. Der Fuchsgeruch ohne auffindbaren Fuchsbau hätte ihn mehr als aufmerksam machen sollen. „Sesshōmaru-sama!!“ Der junge Yōkai zuckte zusammen, als Rin die Hand hob und zwischen die Felsen winkte, die er so nah am Boden, schlecht einsehen konnte. Dennoch stand er dort, wie aus dem Nichts. Die linke Schulter geschützt durch eine eiserne Spange, die rechte umwickelt mit einem langen, weißen Pelz, der ihm mit seinen weißen Haaren perfekt über den Rücken fiel. Minoru blieb einen Augenblick wie angewurzelt stehen, aber jede erwartete Reaktion blieb aus. Der Fürst wandte sich lediglich von den Ankömmlingen ab und ging einen ansteigenden Pfad hinauf ins Gebirge. Rin überholte Minoru beinahe, bevor der seine Beine wieder zur Arbeit überreden konnte. Wie peinlich war es, dass das Menschlein den Fürsten vor ihm bemerkt hatte? Stand der Wind tatsächlich so mies? Eigentlich nicht. Er legte für einen Moment die Ohren an, bevor er neben Rin trabte. „Also wirklich, du musst doch keine Angst vor ihm haben“, schalt sie ihn. Minoru achtete nicht auf sie, folgte aber beinahe brav dem Inu no Taishō, der ganz offensichtlich kein Interesse daran hatte, auf sie zu warten und in diesem unwegsamen Gelände ein Tempo vorlegte, bei dem selbst Minoru ein gelassenes Folgen unmöglich gewesen wäre – selbst wenn er darauf verzichtet hätte, direkt neben Rin zu laufen, die zumindest über dieses Verhalten verwundert zu sein schien. „Er hat es ganz schön eilig“, warf Myōga auf Minorus Rücken sitzend schließlich ein. Der Einzige, der mehr als vier Gliedmaßen besaß und nicht einmal eine krumm machte, um vom Fleck zu kommen, klagte. So hatte man das doch gern. Minoru sollte dieser zügige Marsch eigentlich recht sein, immerhin ging er nach Norden. Seine Ignoranz gegenüber Rins zerfetzten Kimono und A-Uns schweren Verletzungen verblüffte jedoch selbst ihn. Er hatte nicht mit viel Reaktion gerechnet, aber das erschien ihm doch ein wenig sehr kalt. Außerdem schien er auf ihre direkte Gesellschaft zu verzichten. Die ausbleibende Rüge und völliges Desinteresse an einer Unterhaltung schienen auch Rin ein wenig zu verwirren. Der Taishō führte sie tiefer ins Gebirge. Es gab keine besonderen Einrichtungen, die eine Grenzlinie markierten. Man wählte meist prägnante, natürliche Grenzen wie einen Fluss oder eine Gebirgskette. Hier ging es aber so fließend von Wald in Hochgebirge über, dass eine genaue Trennung von Nord und West unmöglich auszumachen war. Hatten sie die Grenze bereits überquert? Minoru witterte eine Weile, aber die Gerüche schienen dumpf und verweht. Vermutlich hätte er einfach zufrieden sein sollen, endlich im Norden oder zumindest in der Nähe angekommen zu sein, aber die letzten Tage hatten ihn noch einmal gelehrt, dass man dem Frieden nicht trauen durfte, wenn man kein Freund von ungünstigen Überraschungen war. Nun konnte das Schicksal ihm ja einmal gütig gegenüberstehen, aber welches Schicksal kümmerte sich in den letzten Wochen schon darum, was er wollte? Es kam selten vor, dass ihm Stille bedrückend oder gar bedrohlich vorkam, aber er musste sich eingestehen, dass diese verstörende Szene kaum anders bezeichnet werden konnte. Wie angewurzelt blieb er einen Moment stehen und sah zu Rin empor. Sie wirkte niedergeschlagen. Nicht allzu sehr, vermutlich konnte sie das gar nicht, aber auch ihr war nicht entgangen, dass sie nicht wirklich willkommen schienen, womit sie aber auf eine Art sicher gerechnet haben sollte. Er stupste sie mit der Nase an und preschte ohne Vorwarnung an ihr vorbei. Reflexartig machte sie einen Satz zur Seite und keuchte kurz erschrocken auf, bevor sie sich umwandte, um zu prüfen, ob sie vielleicht angegriffen wurden oder es einen anderen sinnvollen Grund dafür gab, dass er ohne jegliches Vorzeichen vom Fleck weg derart davonsprintete. Es war aber nichts zu sehen. Sie wandte sich erneut nach vorn und starrte Minoru ungläubig an. Er war wie ausgewechselt, tobte über die abschüssige Wiese und benahm sich, wie ein durchgedrehter Welpe. Stob am Fürsten vorbei, der ihm ebenso irritiert nachsah, bremste und kam in großen Sprüngen laut bellend zu Rin zurück. Der weiße Fellball umrundete sie mit massivem Schwanzwedeln seiner aufgerollten Rute, während er sie immer wieder mit der kalten, schwarzen Nase anstieß. Sie musste sogar gänzlich stehen bleiben, um nicht über ihn zu fallen. „Minoru-“, setzte sie an, doch statt sich ihr zuzuwenden, wandte er sich auf der Stelle wieder um und sprintete zu Sesshōmaru zurück, der mit der Situation tatsächlich überfordert schien, schließlich nur prüfend die Augen verengte und sich auch dann nicht bewegte, als der Hund spielerisch springend auf ihn zukam. Der lange, weiße Pelz des Fürsten berührte sacht den Boden. Minoru verzichtete darauf, hineinzubeißen, nur um ihn stattdessen laut bellend zum Spielen aufzufordern. Der Krach, den er dabei veranstaltete war sicher noch in einiger Entfernung gut hörbar, wenn man nicht gerade taub war. Immer wieder sprang er mit den verschlammten Pfoten an der weißen Kleidung des Fürsten empor und Rin konnte das Lachen nicht mehr zurückhalten. Das sah so skurril aus! Er hatte völlig den Verstand verloren! Als Minoru sich mit allen Vieren kräftig vom Boden abstieß und seine gefletschten Zähne im Gesicht seines Gegenübers vergrub, blieb ihr das Lachen allerdings im Hals stecken und wich purem Entsetzen. Er hatte alle Kraft in den Sprung gelegt, biss sich auf der Stelle fest und brachte den Mann tatsächlich zu Fall, presste die Vorderpfoten auf den Hals des Gegners und riss den Kopf hin und her, schmeckte Blut, biss knurrend nach und riss am Fleisch herum, bis die Zähne über Knochen schrappten und sich lange Krallen in ihn gruben. Mit aller Gewalt wurde davongeschleudert und schlug unsanft auf dem harten Boden auf. Blut bedeckte weißen Pelz und weißes Fell. Das Gesicht des Mannes war auf der rechten Seite völlig zerfetzt. Selbst das Auge und Teile der Nase bedeckten die letzten Teile heiler Haut unter Blutströmen. Das Bild flackerte und endlich machte auch Rin lieber zwei Schritte zurück und drückte den Rücken an A-Un. Mit einem Fuchs aufzuwachsen hatte auch seine Vorteile: Man erwartete Gestaltwandel in jeder Ecke und bei jedem Frühstück. Gestaltwandlungen und Illusionen zu erkennen waren Grundvoraussetzung für ein Leben frei von unangenehmen Überraschungen gewesen. Er hatte gelernt seiner Nase zu vertrauen, nicht seinen Augen – und so gut diese Illusionen auch war, sie war für Augen gedacht. Pech für diesen Hochstapler, hinter dem nun die Luft zu schwirren begann. Das also auch eine Täuschung, sieh an. Das Gebiet um sie herum wurde mit einem Schlag ein wenig felsiger, die Luft roch schwach nach Blut, Verwesung und Yōkai. Minoru war sich nun sicher, dass sie den Norden längst betreten hatten. Der sich nun langsam als zierliche, kleine Frau entpuppende Gegner, hätte durchaus hübsch sein können, hätte ihr nicht jemand das Gesicht verstümmelt. Ihr grün-rosafarbener Kimono war blutbesudelt, ihre Mimik drückte nichts weiter aus als blankes Entsetzen und die einst sicher zarte, rosafarbene Blume in ihrem Haar war in einzelnen Blüten auf ihr verteilt. Sie war kaum dazu in der Lage, sich wirklich aufzuregen. „Shunran!“, stellte Myōga auf seiner Schulter erstaunt fest, während ihre Illusion vollständig in sich zusammenbrach und damit einige versteckte Krieger des Panther-Clans zwischen den Felsen enttarnte, die sich fauchend erhoben. In der Nähe antworteten mittlerweile ganze Rudel von Wölfen auf den deutlich hörbaren Zwischenfall. „Dafür bezahlst du, Welpe!“, keifte Shunran, als sie sich annähernd gesammelt hatte. Minoru hatte sich zumindest wieder auf die Beine gehievt und drohend das Fell abgestellt, während sich Rin geistesgegenwärtig auf A-Uns Rücken geschwungen hatte. „Tötet den Köter! Bringt mir das Mädchen!“ Rin hätte mit A-Un fliehen sollen, stattdessen warf sie einen besorgten Blick zu Minoru hinüber. Der schlug einen Haken um zwei Soldaten, die auf ihn zustürmten und zischte zwischen ihren Beinen hindurch. „Dämlicher Mensch! Verschwinde schon!“, fuhr er sie an, aber heraus kam lediglich ein wütendes Bellen, das sie vermutlich niemals verstehen würde. Er zog den Kopf unter dem Katana eines grauen Katers weg, machte einen Satz nach vorn und verbiss sich so tief in dessen Arm, bis der endlich die Waffe fallen ließ. Außer Stande, die Hand willkürlich zu bewegen, schlug er mit der anderen fauchend nach dem Hund, der sein Schwert zwischen den Zähnen hielt. Minoru machte einen Satz zurück, nahm wieder menschlichere Züge an und zog die Waffe zwischen den Kiefern hervor. Um ihn herum hatte sich eine Ansammlung von Soldaten zusammengescharrt wie Krähen um einen Kadaver. Diese Shunran war allerdings nirgends zu sehen, aber er konnte sie wittern. Nicht weit von ihm entfernt lag ihr Blutgeruch schwer in der Luft. Die Waffe drohend erhoben konnte er sich die Soldaten zumindest ein wenig vom Hals halten. Sie zögerten, waren offensichtlich verwirrt, nun plötzlich nicht mehr als einen Jugendlichen vor sich zu haben, wo eben noch ein Hund gestanden hatte, und wagten nicht, einfach durch die Verteidigung zu schlagen. Blieb nur zu hoffen, dass er irgendwie vertuschen konnte, wie wenig er vom Gebrauch dieses übergroßen Messers verstand. Sie drängten ihn mit Lanzen zurück, bis er mit dem Rücken an einen großen Felsen stieß. Wie sehr er eine zum Pazifismus neigende Mutter in diesem Moment gern laut verflucht hätte. Rin trat dem ersten Soldaten, der ihr zu nahe kam, mit voller Wucht ins Gesicht. Sie wollten sie lebend? Das Spiel kannte sie zur Genüge und sie war es leid, mitzuspielen. Flucht kam nicht in Frage. Sie konnte den Jungen unmöglich allein zurücklassen, nachdem sie ihm die Reise überhaupt ermöglicht hatte. Er mochte vielleicht ein kalter, stummer Fisch und nicht gerade der sympathischste Zeitgenosse sein, aber auch kalte Fische waren ihr lebendig lieber. Außerdem stand für sie außer Frage, das Hilfe längst auf dem Weg war. A-Un schlug mit dem Schwanz um sich, gab drohende, ja wütende Geräusche von sich und rammte einen Angreifer mit seinem verletzten Kopf weg. Als Shunran blutüberströmt auf sie zuhielt, ließ Rin sich auf A-Uns anderer Seite ins Gras fallen, steckte eine Hand tief in die Ärmel ihres Kimonos und fischte ein Messer heraus. Sie war lange genug unbewaffnet gewesen und hatte daraus einiges gelernt. Solche kleinen Hilfsmittel waren zwar völlig ohne Nutzen, wenn es um einen Dämon wie Minorus Vater ging, aber in einem heillosen Durcheinander wie diesem leisteten sie gute Dienste, solange man nur wusste wie – und Sango war ihr in solchen Angelegenheiten eine durchaus gute Lehrerin gewesen. Shunran war von A-Un abgewehrt worden, startete aber sofort einen erneuten Angriff und setzte einfach über den Reityōkai hinweg. Ihre Klauen fuhren auf Rin zu, die, durchaus erschrocken schauend, das in der Hand verdrehte Messer auf die Pantherdämonin zufahren ließ, um es ihr über den Handrücken zu ziehen. Die Katze fauchte laut auf, riss verdutzt die Hand zurück und schlug der jungen Frau mit der anderen Hand flach ins Gesicht. Rin wankte, aber Shunran hatte sie schlecht getroffen. Die Dämonin war mit nur einem Auge offensichtlich nicht dazu in der Lage, den Raum wirklich einzuschätzen und eine miserable Kämpferin. Nur zu verständlich, wenn sie sich stets auf ihre Illusionen verließ – und nicht mit Gegenwehr rechnete. „Sieh an, auch ein menschlicher Hund scheint Zähne zu haben“, höhnte sie, aber sie klang längst nicht so erhaben, wie sie es vermutlich beabsichtigt hatte. „Hat er – aber von Zähnen weißt du mehr als ich“, gab Rin erstaunlich niederträchtig zurück. In Shunrans Augen flammte Hass auf, aber ihre gesamte Erscheinung war eher mitleiderregend. Minoru hatte sie schlimm zugerichtet und Rin war sich sicher, dass Shunrans Gesicht sehr wahrscheinlich ebenso gut verheilen würde wie A-Uns fehlendes Ohr – nämlich so ziemlich gar nicht. „Einfältiges Ding! Denkst du wirklich, du könntest dich wehren?“, Shunran packte sie mit einem Griff an der Kehle und stemmte sie ein Stück in die Höhe. „Wenn dein Herr dich heute retten will, ist er verloren! Sobald er nur einen Fuß über die Grenze setzt, wird jeder Yōkai im Land erfahren, dass der Inu no Taishō sich in Kriege einmischt, die ihn nichts angehen und dass er sich mit der bisherigen Erweiterung des Westens nicht zufriedengeben wird!“ Sie grinste, beinahe dreckig, selbstgefällig. „Nicht einmal er kann allein gegen die vereinte Kraft aufgebrachter Daiyōkai bestehen. Und keiner wird Erklärungen hören wollen, keiner wird dir glauben, dass er nur wegen dir gekommen ist. Aber weißt du, was das Beste ist? Im Grunde könnte ich dich gehen lassen. Er braucht gar nicht mehr zu kommen. Du hast uns bereits jemanden mitgebracht, der die Aufdringlichkeit des Westens nur zu gut belegen wird – und für den Dienst braucht er nicht einmal meine Luft zu atmen!“ Sie lachte hell auf. Rin röchelte heftig, als Shunran den Griff um ihre Kehle verstärkte, trat nach ihr, aber damit amüsierte sie die Dämonin nur. A-Un war von weiteren Soldaten umzingelt und stapfte eher verzweifelt mit vollem Gewicht auf der Stelle, um sie von sich fern zu halten. Zu Rin kam er so jedenfalls nicht durch. Takeru war des tatenlosen Herumsitzens überdrüssig. Shunran hatte mitten in der Nacht erneut eine Illusion um das Lager herum hochgezogen, bevor sie mit ihren Truppen aufgebrochen war. Dieser Schutz war eine imposante Mauer ohne Dach. Die Umgebung blieb dieselbe, aber Takeru hatte schnell bemerkt, dass es unmöglich war, durch die Illusionswand hinaus zu sehen. Tag und Nacht wechselten zwar und auch die Wolken zogen direkt über ihnen hinweg, sobald er aber Wolken in der Ferne betrachtete, bewegten sie sich nicht im Geringsten. Vermutlich hätte jeder, der außen am Lager vorbeigegangen wäre, nur die natürliche Umgebung gesehen, die sich an Stelle des Lagers für gewöhnlich befand. Währenddessen war Karan mit einigen wenigen Leuten zurückgeblieben und schien jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. Takeri war sich nun sicher, dass sein Rudel nicht allein war. Shunran und Karan verstanden kein Wort von den Gesängen, die die Wölfe jeden Abend in den Himmel entließen. Andernfalls hätte zumindest die hitzköpfige Karan irgendwann einmal Anstoß an den vielen Beleidigungen genommen, die darin mitschwangen. Dass sie die „Miezen" zu den Verrätern ins Ochotskische Meer treiben wollten, konnte nur eine Drohung der Dosanko sein, wie sich die Wölfe von Hokkaidō nannten. Kein anderer Stamm lebte nördlich genug, um seine Abtrünnigen in jenem oftmals zugefrorenen Meer ertränken zu können, außerdem erklärte das nur zu gut, warum er auf seiner Reise keinen ihrer Truppen begegnet war: Sie waren aus dem Norden gekommen und hatten sehr wahrscheinlich die Tsugaru-Straße, eine Meerenge zwischen Honshū und Hokkaidō, durchschwommen, die das Japanische Meer mit dem Pazifischen Ozean verband. Dass sein Vater um diese Unterstützung gebeten hatte, hielt Takeru jedoch für unwahrscheinlich; ebenso wenig seine Mutter. Sie mussten also aus eigenem Antrieb den beschwerlichen Weg auf sich genommen haben – und das sicher nicht für ein herzliches Dankeschön. Takeru hätte auf ihr Rufen gern geantwortet, aber durch seine Barriere drang kein Ton nach außen, obwohl sie selbst für das nervtötende Schnarchen der Panther durchlässig war. Zumindest hatten sie daran gedacht, ihm die Mitteilungsmöglichkeiten zu nehmen, wenn sie schon nicht dazu in der Lage gewesen waren, sich die Kommunikationswege der Wölfe zu Nutzen zu machen. Warum gaben sie sich nicht einmal die Mühe, die Botschaften zu entschlüsseln, die letztlich auch Informationen über Truppenbewegungen beider Seiten enthielten? Einer der Soldaten, bewaffnet mit einem langen Yari und in eine eher schlichte Rüstung gekleidet, kam ins Lager und rief irgendetwas schwer Verständliches. Bevor er die Chance hatte, Karan zu erreichen, hatte sie ihn bereits zu Boden befördert und ein Knie in seinen Rücken gerammt. „Still! Was gibt es Eilendes?“ „Einer der Außenposten meldet Bewegungen an den westlichen Grenzen!“ Karan gab den Kater frei und ließ ihn wieder auf die Beine kommen. Sie sah nicht unzufrieden aus. Takeru zog die Knie noch enger an sich heran und fluchte. Das durfte nicht Minoru sein! Es wäre ein leichtes für sie, ihn zu töten und seine Leiche als Beweis zu präsentieren, dass der Westen sich in ihre Angelegenheiten einmischte. Dass der Hundefürst ihn vermutlich nicht einmal kannte, konnten sie sogar als Verleugnung auslegen. Takeru schüttelte sich heftig und knirschte mit den Zähnen. Wenn es dazu kommen sollte, war das alles letztlich auf dem ein oder anderen Wege seine Schuld! Als der Boden mit einem Mal heftig erzitterte, wurde er in der eher kugelförmigen Barriere herumgeschleudert. Krached stieß er überall an die unsichtbaren Wände, die ihn nur wieder verbrennend von sich warfen und versuchte verzweifelt, sich am Boden zu halten. Erdbeben waren hier keine Seltenheit, aber gänzlich ohne leichte Vorbeben ging das selten vonstatten. Der Boden des Lagers riss auf, gab einige Blätter frei, die einen Moment in der Luft standen und im nächsten rasiermesserscharf zwischen die Soldaten stoben. Die Erde beruhigte sich langsam. Als Takeru sich mühsam wieder gesammelt hatte, waren das ganze Lager in Aufruhr. Das Fauchen der Soldaten war ein durchdringendes, widerliches Geräusch und auch Karan hatte nun ihre Waffe gezogen und sah sich suchend um. Bevor sie jedoch ein Ziel für ihren Unmut ausmachen konnte, wich sie einem Wirbel ebenso scharfkantiger Blätter aus, die sich erneut todbringend im Lager verteilten. Takeru war zum ersten Mal dankbar, dass er von dieser sonst so verhassten Barriere umgeben war. Karan hatte sich auf die Seite geworfen und war in seiner Nähe gelandet. Schnaubend sah sie aus glühenden, orangefarbenen Augen zu ihm auf, als könne er irgendetwas dafür, dass ihre Tarnung aufgeflogen war. Als er ihre Laune mit einem lächelnden Schulterzucken beantwortete, schien sie beinahe vor Wut Feuer zu fangen. Sobald jedoch die Illusion um sie herum zu wanken begann, wich ihr Zorn purem Entsetzen. Die Wolken in der Ferne machten einen Satz und nahmen ihr natürliches Bewegungsmuster wieder auf. Sie waren dunkel, fast schwarz. Gewitterwolken. Der Wind frischte hart auf und trug den vorher verdeckten Geruch von Wolf durch das Lager. Ein Wirbelsturm fegte zwischen den Soldaten umher und Karan sprang wieder auf die Beine. Sie löste die Barriere um Takeru, packte ihn an der Kehle und riss ihn vor sich zu Boden. „Keinen Schritt weiter!“, keifte sie und richtete ihr Schwert auf seinen Hals. Der Wirbel verflog mit einem Mal, während ein zweiter in einiger Entfernung es ihm gleichtat. Kōga verschränkte die Arme vor der gepanzerten Brust und sah Karan herausfordernd an. Ayame und einige Wölfe hielten eine Handvoll unversehrter Pantherdämonen drohend auf Abstand. „Ihr Fellball spuckenden Kätzchen haltet euch wohl für besonders schlau, nicht wahr?“, spottete sein Vater und Takeru hoffte, dass er einen guten Plan in der Hinterhand hatte, als der kalte Stahl sich enger an seinen Kehlkopf schmiegte. „Eine falsche Bewegung und dein Welpe ist tot! Wo ist meine Schwester?“ „Was interessiert mich, wo sich deine verfluchte Schwester herumtreibt? Töte ihn doch! Was stört es mich?“ Takeru weitete geschockt die Augen und starrte ihn an. Auch Ayame warf nichts Gegenteiliges ein. Er hatte gewusst, dass es durchaus hätte hart werden können, wenn er nach Hause zurückkehrte, aber das war mehr als er ertragen konnte. Er schluckte. „Wenn ich vielleicht auch etwas dazu sagen dürfte-“ „Halt's Maul!“ Die Klinge in Karans Händen zitterte und tanzte über seine Haut. Das Blut rann ihm den Hals hinab, sickerte in feinen Fäden in die Erde. Er biss die Zähne zusammen und zischte wütend. „He, pass auf! Das Ding ist scharf!" Kōgas Arroganz geriet bei dem Anblick allmählich ins Stocken. Er sah von der Pantherdämonin zu Takeru und wurde mit jedem Moment ein wenig blasser. "Takeru... ." „Nein, wie herzzerreißend!“ Karan bleckte die Zähne. „Hast du es endlich begriffen? Das hier ist kein Trick, Kōga! Der Junge war so dumm, uns in die Arme zu laufen. Wollte sich wohl bei Mama und Papa verstecken! Kann er meinetwegen, aber erst gibst du mir meine Schwester unversehrt zurück!" Das silberne Glänzen der Klinge über seiner Kehle entwickelte sich langsam aber sicher zu Takerus ganz persönlichen Albtraum. Die Art, wie sein Vater das Gewicht verlagerte, während seine Kieferknochen wie Mühlsteine aufeinandermahlten, ließ erahnen, dass zumindest der Teil mit 'unversehrt' ein gewisses Problem aufwarf - und das spürte auch Karan, die mit jeder Minute nervöser wurde. Das Verschwinden der Illusion hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Natürlich bedeutete dies, dass ihrer Schwester etwas zugestoßen sein musste, aber wer verlor deswegen derart die Fassung, dass es an Unzurechnungsfähigkeit grenzte? Als sie Takerus in die Haare griff und ihre Klauen über seine Kopfhaut kratzten, wurde sein Vater von einen Moment auf den anderen ruhig: „Hakkaku, hol Shunran her und bring sie unbeschadet zu ihrer Schwester zurück." Der Ōkami an der Seite des Rudelführers strich sich betreten durch den Nacken: „Aber Kōga, wir haben sie – “ „Er meinte jetzt sofort“, unterbrach ihn Ayame und deutete hinter sich. Hakkaku sah sie einen Moment überfragt an, dann folgte er ihrem Fingerzeig und verließ das Lager eilends. Sie hatten Shunran nicht. Dafür musste Takeru kein Hellseher sein, aber Karan schien sich ganz offensichtlich so sehr an die Hoffnung zu klammern, ihre Schwester könne als Geisel sicher im Austausch gegen ihn zurückerlangt werden, dass sie die klaren Zeichen – und Aussagen – vollkommen ignorierte. Ein Krieg unter so labiler Führung war doch von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Er fing den besorgten Ausdruck seiner Mutter auf. Ihre sonst so strahlenden, grünen Augen waren von Kummer getrübt, als sie sich eng an ihrem Mann hielt. Warum war er bloß so herzlos gewesen und weggelaufen, statt sich mit ihnen auszusprechen? Weil sein Vater so kompromisslos auf sein Recht beharrt hatte? Weil seine Mutter ihm keinen überzeugenden Grund für diese Verlobung wider Willen hatte vorlegen können? Die letzten Monate mussten für sie unerträglich gewesen sein; nicht sicher sein, dass es ihm gut ging, nicht wissen, ob er je zurückkehren würde. Was hatte er ihnen bloß angetan? Minoru hatte letztlich Recht behalten: Er bedeutete seinen Eltern viel. Genug, um seine Mutter beinahe zum Weinen zu bringen. Seine Angst, nach Hause zu gehen, war völlig unbegründet gewesen! Was war er doch für ein vollkommen egozentrischer Idiot! Karans Reaktion auf Shunrans Verbleib schien bei genauerer Betrachtung gar nicht mehr so abwegig. Er wollte nicht garantieren, dass er nicht auch die Fassung völlig verlor, wenn seinen Eltern etwas zustieß. Sie musste ihrer Schwester näher stehen, als viele andere es in ihren Familien hielten. Er schrie gedehnt auf, als sie ihm die Waffe durch die Schulter trieb und tief in den Boden rammte. „Wo ist sie?!“, keifte Karan die Ōkami an und richtete sich dabei nicht einmal an jemand bestimmten. „Ich schneide euren wertvollen Kleinen in Streifen!“ Als einer ihrer Soldaten sich gegen einen Wolf wenden wollte, der ihn schon eine ganze Weile leise knurrend bedrohte, ließ sie ihren eigenen Mann in Flammen aufgehen. Das Geschrei und der Gestank von verbrennendem Fell waren entsetzlich. Sie drehte an ihrer Waffe herum, bis Takeru nicht mehr wusste, ob die Schulter noch Teil seines Körpers war. Er wand sich gegen seinen Willen und presste den Hinterkopf mit aller Gewalt an den Boden, um sich irgendwie zu sammeln. Karan giftete weiterhin Kōga an und ging nun auch dazu über, Ayame anzuschreien, um sie mit den abwegigsten Schilderungen von Mordgelüsten an ihrem Sohn davon zu überzeugen, wie ernst es ihr mit den Drohungen war. Sie redete sich in Rage, drehte weiter an der Waffe und bemerkte kaum, dass sich hinter ihr etwas drohend aufbaute. Takeru weitete die Augen, als er den Schatten über ihr aufragen sah. Geifer rann aus dem Maul des riesigen Tieres und klatschte Karan auf die Schulter. Sie zuckte zusammen, blickte erschrocken nach oben und dem gewaltigen Fang entgegen, der über ihr die Zähne bleckte. Das Zusammenschlagen der Kiefer, als sie sich um Karan schlossen, ließ eine Art Schockwelle durch das Lager fegen, die die Verunsicherung des Panther-Clans in pures Entsetzen umwandelte. Sie ergriffen ungeordnet und überstürzt die Flucht, verließen das Lager zu allen Seiten, rannten dabei Zeltschnüre um und fielen über tote Kameraden wie über Stolpersteine. Karans aufgeregtes Geschrei war binnen Sekundenbruchteilen verstummt. Ihr Blut ergoss sich über Takeru, bis der riesige Wolf den leblosen, schlaffen Körper unachtsam zur Seite fallen ließ und zurücktrat. Hakkaku traf etwas abgehetzt an seiner Seite ein und rang um Luft. Ayame ließ sich neben ihrem Sohn fallen und riss die Klinge mit einer Mischung aus Vorsicht und Überstürzung aus seiner Schulter, warf sie weit von sich weg und zog ihn in ihre Arme. Wieder und wieder bedeckte sie sein schwarzes Haar mit Küssen, presste ihm beinahe die Luft aus den Lungen und schien völlig aufgelöst. „Du lebst! Ein Glück, du lebst!“, sie drückte ihre Nase an seine Wange und seufzte tief. „Ich bin so froh... wir sind so froh. Du hast keine Ahnung, wie sehr wir uns gesorgt haben, du...“ Sie nahm ein wenig Abstand zu ihm und sah ihn aus Tränen durchtränkten Augen scharf an. „Wenn du noch einmal einen Fuß aus der Höhle setzt, ohne Bescheid zu geben, dann kannst du was erleben! Hast du mich verstanden?!“ „J... ja“, gab er verdutzt zurück und mit einem Mal kehrte ihr Lächeln wieder. Sie küsste ihn abermals, auf die Stirn, strich ihm durch die Haare und ließ ihn langsam lockerer. „Sie haben gesagt, sie hätten dich gefunden“, meinte sein Vater. Er stand hinter seiner Partnerin, hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt und wirkte müde. „Dass sie dich in ihrer Gewalt hätten. Wir haben mit ihnen verhandelt, wollten einige Gebiete an sie abtreten, aber daran schienen sie nur halb interessiert zu sein. Sie hatten dich auch zur Verhandlung mitgebracht, aber es sind und bleiben Katzen. Gestaltwandlern ist nicht zu trauen. Ich dachte nicht, dass du es wirklich warst...“ „Ich war es nicht“, gab Takeru kleinlaut zu und richtete sich langsam wankend auf, als seine Mutter es zuließ. „Ich bin erst seit ein paar Tagen hier. Ich wollte nach Hause. Ich dachte – “ „Was ich sagen wollte“, fuhr sein Vater unbeirrt fort. „Ich dachte, du seist nicht du.“ Takeru sah ihn einen Moment irritiert an, bevor er verstand. Niemand hier wollte ihn wieder fortschicken oder war übermäßig wütend. Bei dem Gedanken, wie wenig er das vermutlich verdient hatte, wurde ihm ganz schlecht und er musste das ungewohnte Stehen nach all den langen Tagen des Kauerns mit einigen Gleichgewichtsproblemen aufrecht halten. Kōga fasste seinen Sohn mit einem harten Griff an der unverletzten Schulter, um ihm ein wenig Halt zu geben, dann legte er doch einen Arm um ihn, zog ihn an sich heran und ließ eine Hand in die dunklen Haaren gleiten, die seinen eigenen so ähnlich waren. „Ich hätte das eben niemals gesagt, wenn ich auch nur einen Moment gedacht hätte, dass du es bist“, erklärte er. „Nie. Wir sind froh, dass du Zuhause bist. Sehr froh. Lass dir so einen Schwachsinn nicht noch einmal einfallen, Zwerg. Beim nächsten Mal komme ich dich holen – und das willst du nicht erleben.“ Takeru ließ sich dankbar an ihn sinken und atmete den wohl bekannten Geruch ein, der ihn endlich wieder umgab. „Ihr habt mir so sehr gefehlt“, gab er kaum hörbar zu. „Ich wollte, ich hätte das nicht getan... es tut mir so unendlich leid...“ „Wir reden später darüber“, meinte Ayame beruhigend. „Nicht hier. Nicht jetzt.“ Kōga nickte und gab Takeru wieder frei. „Nutzen wir die Schwäche der Illusionen aus und treiben sie zurück auf ihr Land“, schlug Takerus Mutter vor und richtete sich wieder auf. „Frieden werden wir mit dem Panther-Clan vermutlich nicht mehr schließen, aber sie haben kein Druckmittel mehr gegen uns in der Hand. Zeigen wir ihnen, was es heißt, in den Bergen ausgeliefert zu sein.“ „Eine gute Idee“, stimmte Kōga zu. „Aber du wirst nicht mitkommen.“ Sie brauste empört auf. „Was?! Warum -?“ „Du bringst Takeru nach Hause“, gab ihr Mann versöhnlich zurück. Ayame beruhigte sich auf der Stelle und sah Kōga eine Weile an. Das Familienleben hatte ihn in einigen Momenten erstaunlich zahm gemacht und sein sonst so hitziges Gemüt gekühlt. Spätestens seitdem Naraku tot und Takeru auf der Welt war, hatte sein einst egozentrisches Wesen begonnen, einen Blick für die Gefühle anderer zu entwickeln. Ayame musste insgeheim murrend zugeben, dass sie das zu einem Großteil auch Kagome zu verdanken hatten. Zwar war Kōga sich als Rudelführer immer seiner Verantwortung gegenüber anderen bewusst gewesen, aber während er versucht hatte, dieser Menschenfrau zu imponieren, hatte sich ein gewisser Altruismus in sein Verhalten geschlichen – wenn auch nur ein kleiner Funken. Sie wusste, dass er sie und den Jungen schützen wollte, wenn er es eben konnte und wollte ihm nach all den grausamen Wochen der Sorge nicht noch mehr davon aufbürden. Also nahm sie sich zusammen. „Pass auf dich auf“, meinte sie lächelnd und wandte sich dann an den übergroßen Wolf. „Nobu-sama, ich danke Euch von Herzen. Kommt bitte auch Ihr unversehrt zurück.“ Der Wolf erhob sich, nahm die Leiche der Pantherdämonin ins Maul und gesellte sich zu Kōga. Neben ihm wirkte Takerus Vater winzig. Das Fell des Wolfes hatte die seltsame Farbe eines dunkleren, in Nebel versinkenden Strandes; sandbraun mit fadem Schleier. Er musterte Takeru aus einem eisig blauen Auge. Das andere war ebenfalls von grauem Nebel durchzogen und glänzte silbrig. Der Junge schauderte und senkte den Blick. Der Mann, Nobu, der sich hinter dieser Daiyōkai-Form verbarg, war der Anführer der Dosanko, des Rudels von Hokkaidō – und noch deutlich mehr als das. Wenn Takeru seinen Eltern nicht Rede und Antwort stehen musste, dann auf jedem Fall ihm. Als der gewaltige Wolf den Kopf herumriss und in die Ferne blickte, fuhr Takeru zusammen. Auch seine Mutter hob den Kopf und horchte. „Was ist los?“, verlangte Takeru zu wissen. Die Erwachsenen hatten offenbar doch ein deutlich feineres Gehör. „Der Hund von vorhin schreit“, sagte seine Mutter ein wenig zerknirscht. Kōga brummte: „Vor einer Weile hat er wie verrückt angeschlagen. Ginta ist mit einigen anderen los, um ihn zu vertreiben. Wir brauchen keine Hilfe von irgendwelchen stinkenden Kötern. Soll er seine Lektion lernen und zurück in den Westen kriechen, wo er hingehört.“ Takeru sackte das Herz um einige Zentimeter ab und er wurde aschfahl. „Ihr dürft ihm nichts tun!“, platzte es auf ihm heraus. Sein Vater sah ihn verständnislos an. „Er ist kein Hund! Na ja, doch. Zum Teil Inu, aber vor allem mein Freund! Er hat mir geraten, nach Hause zu gehen und kommt nur wegen mir her!“ Während Kōga noch einen Moment überlegte, wie er darauf wohl angemessen reagieren sollte, lief Nobu neben ihm bereits los und verließ das Lager mit wenigen Sätzen. Dann nickte Kōga seinem Sohn zu und verschwand, umgeben von einem persönlichen Wirbelsturm. Takeru sah ihm besorgt nach. Es konnte nur Minoru sein. Kein anderer würde sich die Blöße geben, zu bellen und es nicht einmal als solche empfinden. Er hatte die Grenze überschritten – und das konnte mehr Folgen haben, als Takeru sich ausmalen wollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)