Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 19: ändern den Schein ----------------------------- „Guten Morgen.“ Die darauf folgende halbe Stunde hatten sie schweigend in der Küche zugebracht und während das Mädchen damit beschäftigt gewesen war, sämtliche Reiskörner zusammenzufegen und die Küche in ihren Ausgangszustand zurückzuversetzen, hatte Minoru drei Schalen Reis und eine unerträgliche Menge an geschmortem Gemüse zu sich genommen. Das füllte den Magen zwar längst nicht so gut wie ein frisch erlegtes Reh, aber war mindestens genauso warm. „Ohayō.“ Der erwiderte Gruß des Taishōs war fest, aber leise wie jeden Morgen, und meist blieben dies die einzig gesprochenen Worte für Stunden, was aber auch unter anderem damit zusammenhing, dass er Minoru nur eine kurze Zeit Gesellschaft leistete und derweil einige Inhalte der Nachrichten in erschreckend schwere Bücher übertrug. Er ließ seinen Blick über die Zeilen schweifen, rollte das Papier wieder zusammen und legte es auf einen Stapel zu seiner Rechten. Über seiner Schulter lag wie stets sein weißes, dickes Fell, das er sogar im Onsen getragen hatte, aber auch hier hatte er seine Rüstung abgelegt und trug lediglich seinen weißen Kimono mit rotem Muster und einen violett-gelben Obi, den er, entgegen seiner Angewohnheit, schlicht gebunden hatte. Seitdem sie angekommen waren hatte Minoru zudem nicht ein einziges seiner Schwerter zu Gesicht bekommen. Vielleicht hatte Myōga recht und dieser Ort war wirklich so sicher, dass der Fürst bedenkenlos unbewaffnet durch das Anwesen wandeln konnte. Unaufgefordert ging Minoru wieder an die Arbeit und zog sich in das angrenzende Zimmer zurück. Die Mühen der letzten Tage lichteten langsam die Regalwände des Raumes, der sich unmittelbar an das Arbeitszimmer des Fürsten anschloss und nicht minder schlicht war als Minorus eigenes Zimmer. Hier, so wie im Arbeitszimmer selbst, war neben dunklen Lacktischen und praktischen Dingen wie Schränken, Schreibwerkzeug und Papier, kaum etwas zu finden. Vor allem keine persönlichen Gegenstände irgendeiner Art. Die Papierrollen waren größtenteils wenig liebevoll in die Regale hineingeschoben worden und nicht nur eine wies ob dieser groben Behandlung und ihres Alters Knicke und Risse auf. Auch wenn Minoru seine Verwunderung darüber tunlichst in sich vergrub, so hatte er diese Unordnung dem Fürsten dennoch zu keinem Moment zugetraut. Sowohl Temperament als auch Ausstrahlung des Hausherren widersagte der Vorstellung, wie er auch nur einen Gegenstand unachtsam und fahrlässig verwarf. Aber derlei Eindrücke konnten täuschen, auch das wusste Minoru nur zu gut. Während er in den nächsten Stunden die Briefe überflog und auf ihre Stapel sortierte, stieß er auf einen, der ihn für einen Augenblick verwirrte. Im Gegensatz zu allen bisherigen Nachrichten war diese nicht an den Taishō, sondern einen gewissen 'Tōga-ō-sama' adressiert worden. Er eröffnete einen neuen Stapel für diesen Brief und brachte schließlich die vorsortierten Unterlagen einer Regalreihe ins Arbeitszimmer. Da der kleine, schwarze Lacktisch, an welchem sein Vater arbeitete, erbarmungswürdig überfüllt war, legte er die Stapel auf dem Boden ab. Minoru, völlig in andere Gedanken vertieft, erschrak, als der Fürst gezielt nach dem einsamen Brief griff, während dieser den Boden noch gar nicht berührt hatte. Er zog ihn Minoru aus der Hand und überflog ihn flüchtig. „Was ist mit diesem?“, fragte er ruhig, sah aber nicht auf. Als Minoru nicht antwortete, fügte er hinzu: „Du schienst verwirrt.“ Unmöglich, dass er die ganze Zeit auf ihn achtete und das mitbekam, obwohl er in einem anderen Raum gewesen war! „Dieser hier war nicht an Euch adressiert, Herr“, gab der Junge schließlich zurück. „Das war keiner dieser Briefe“, erwiderte der Fürst kühl. „Wir sortieren den Briefverkehr Eures Vorgängers?“, fragte Minoru verdutzt und ein wenig vorschnell. „Meines Vaters“, korrigierte der Fürst stumpf, tauchte den Pinsel abermals in die Tusche und beendete seine Arbeit mit einigen, feinen Linien. Wie konnte ihm das während der ganzen Tage entgangen sein? Wie dumm von ihm. Zumal er insgeheim gehofft hatte, irgendetwas zu finden, das ihn selbst betraf. Das musste er dann wohl oder übel abhaken. Dann klappte der Taishō das große Buch zu und zog ein anderes aus einer Ablage neben sich. „Wie weit bist du?“ „Die linke Regalwand fehlt noch. Heute werde ich das nicht mehr komplett schaffen, fürchte ich.“ „Dann beende es morgen. Geh zu Yūsei.“ Minoru nickte lediglich und verließ schweigend den Raum. Ihm den Tisch noch voller zu packen oder ihn in Stapeln von Zetteln einzumauern wäre sicherlich auch nicht sonderlich hilfreich gewesen. Blieb nur die Frage, wer oder was Yūsei war. „Myōga.“ „Er wird Euch irgendwann fragen, warum Ihr keine Hilfe braucht, Euch zurechtzufinden!“, schimpfte Myōga sofort und hüpfte aufgeregt auf seiner Schulter umher. „Sorge, dass er dich wittern könnte?“ Myōga zuckte zurück, als er das diabolische Grinsen in Minorus Mundwinkeln sah und schluckte schwer. Dieser elendige Haufen Arbeit, der ihm von seinem Vater aufgehalst worden war, hatte ganz offensichtlich seinen Zweck erfüllt und ihn ein wenig zur Ruhe gebracht. Das hieß allerdings auch, dass er wieder Biss entwickelte – was für einen alten Flohgeist zwar einerseits beruhigend, andererseits aber auch ein absoluter Graus war. In dieser Familie hatte ein Lächeln wie dieses noch nie etwas Gutes bedeutet und er würde da sicher keine Ausnahme darstellen. „Was ist nun?“ „Bis er ein Bein verlor, stand er im Feld an der Seite des Fürsten - seit der Zeit Eures Urgroßvaters. Hier links“, dirigierte er. „Wenn er da ist, hat man ihn sicher in den Westflügel geleitet.“ Minoru schlug den vorgegebenen Weg ein und steckte die Hände in die Ärmel seines Yukatas. Das klang nach einem sehr alten Dämon. Wie grausam es sein musste, ein so wichtiges Körperteil wie ein Bein einzubüßen, um für den Rest der langen Verweilzeit auf Erden dem alten Lebensstil beraubt zu werden. Yūsei war in der Tat alt, sicher noch älter als Tōtōsai. Von der Stirn bis zur Mitte des Hauptes war er fast kahl, den Rest seines altersgrauen Haares hatte er in einem dünnen, kaum nennenswerten Zopf im Nacken zusammengefasst. Die stützende Wirkung seines rechten Beines hatte er durch einen einfachen Stock ersetzt, den er mit seiner Hand derart fest umschlossen hielt, dass sein ganzer Arm zu zittern schien. Seine Krallen waren so krumm wie er selbst und er tat sich sichtlich schwer damit, seinen Respekt in einer Verbeugung auszudrücken. Noch nie war Standesgehabe Minoru persönlich so unangenehm gewesen. „Es ist mir eine Ehre, junger Herr“, sagte der Alte mit kratziger Stimme und hob den Blick wieder. Im Gegensatz zu anderen Momenten, in denen er einfach nicht sprechen wollte, wusste er in diesem wirklich nicht, was zu sagen war. Es war zu abwegig, dass ein so lebenserfahrener und alter Herr von der Anwesenheit eines Kindes geehrt zu sein vorgab; selbst, wenn es sich nur um eine Floskel handelte. Es fühlte sich von Grund auf falsch an. Yūsei musterte ihn verhalten, bis sich ihre Blicke für einen Moment trafen. Seine Augen waren von einer schwarzen Farbe und im Gegensatz zu seiner restlichen Erscheinung wirkten sie wach und jugendlich. „Verzeiht einem alten Mann seine neugierigen Blicke, Minoru-sama“, sagte er mit fester Stimme. „Ich habe mir auf meine alten Tage jedoch nicht mehr träumen lassen, Euch zu sehen.“ „Mich zu sehen?“, Minoru schloss die Tür hinter sich, was den Alten einen Moment ins Stocken brachte. Dann lächelte er jedoch wieder. „Seit ich ein kleiner Junge war, habe ich unter drei Herrschern gedient. Den meisten von uns ist es nicht einmal vergönnt, die eigenen Kinder bis ins Erwachsenenalter zu begleiten. Ich hingegen darf mich nun als einen der wenigen Yōkai bezeichnen, die auch den zukünftigen Taishō treffen durften.“ Minoru biss die Zähne zusammen und hütete sich, seine Gedanken offen kund zu tun. Er hatte genug an den neuen Umständen zu knabbern – auch ohne, dass er versuchte, diesen nicht unbedeutenden Punkt seiner Zukunft darin zu verpacken. Er war nicht einmal in der Lage eine Waffe ordentlich zu führen, geschweige denn die Mauern eines so gewaltigen Anwesens und dessen Bewohner zu verteidigen. Allein der Gedanke war aberwitzig – und dennoch tat dieser alte Herr so, als sei es selbstverständlich und von ihm nichts anderes zu erwarten. Schließlich neigte Minoru den Kopf doch ein wenig vor ihm – und wehe Myōga würde ihm dafür nachher einen Vortrag über seine Stellung halten. „Von jemandem, der derart erfahren ist, wie Ihr es seid, so angesehen zu werden, ehrt mich. Ich hoffe inständig, dass ich Euren Erwartungen gerecht werden kann.“ Dem armen Greis fiel beinahe alles aus dem Gesicht – ebenso wie dem Flohgeist, der die kleinen Hände in Minorus Haare krallte und probeweise lieber nochmal an ihm schnupperte, um sicherzustellen, dass er nicht auf dem falschen Welpen saß. So wohlerzogene, gewählte Worte aus seinem Mund? Unmöglich! Yūsei fing sich jedoch schnell wieder und lächelte lediglich beschämt. „Ich will Euch nicht weiter die kostbare Zeit stehlen. Ihr wollt sicher Eure neuen Kleider begutachten. Ich muss gestehen, dass es eine Herausforderung war, mich allein auf die Maße Eures Yukatas zu verlassen, statt selbst Maß zu nehmen.“ Der Themenwechsel warf Minoru aus der Bahn. Kleider? Von was für verfluchten Kleidern und welchem Yukata sprach er? „Euer Vater war nicht sehr konkret, was die Farben anbelangt. Genau genommen hat er gar nichts gesagt.“ Yūsei nahm einen großen, dunklen Lackkasten von einem Tisch auf, um ihn auf einer Hand in Minorus Richtung zu tragen, was recht wackelig aussah. Schnell machte Minoru zwei Schritte vor und nahm ihm die Last ab. „Ich habe mich daher an die wenigen Informationen gehalten, die ich von Euch hatte. Solltet Ihr Änderungen wünschen, werde ich mich bemühen, diese schnell zu tätigen.“ Minoru öffnete den Lackkasten und bemühte sich, den darin befindlichen, weißen Stoff nicht ungebührlich anzustarren. Was machte der Fürst eigentlich noch so hinter seinem Rücken? „Wenn Ihr Hilfe beim Ankleiden benötigt - “ „Danke, ich versuche es zunächst selbst.“ Als der Alte hinausgegangen war, presste Minoru verdrießlich die Lippen zusammen. „Du hättest nebenbei auch erwähnen dürfen, dass der Mann nun Schneider ist – statt mich ins offene Messer laufen zu lassen.“ „Ich konnte ja nicht ahnen, warum Euer Vater Euch zu ihm schickt!“, protestierte Myōga leise, während sein Schützling die Kleidungsstücke einzeln auf dem Tisch ausbreitete und glattstrich. „Ihr solltet Euch allerdings glücklich schätzen. Yūseis Arbeit ist herausragend.“ Nun, damit hatte der Flohgeist eindeutig recht. Der Hanjuban war schlicht weiß, aber aus so hochwertiger Seide gefertigt, dass Minoru allein schon bei diesem Teil der Unterkleidung die Gedanken über die Finanzierung getrost in den Wind schoss. Sie würden die geringen Mengen an Geld, die er bis Dato in der Hand gehalten hatte, deutlich überschreiten. Spätestens der Kimono würde ihn sein Leben lang in die Schulden treiben – daran konnte auch der ungewöhnlich kurze Schnitt nichts ändern, der den Kimono bereits knapp oberhalb seiner Knie enden ließ. Auch er war aus widerstandsfähiger, schneeweißer Seide. An der linken Schulter prangte ein bordeauxrotes Muster aus verwebenden Ranken, das sich vom Kragen bis an den Ärmel fortsetzte. Der Saum der weit ausfallenden Ärmel war im selben Farbton gehalten, der an dunkles Blut erinnerte. Es fehlten lediglich der Geruch und die zu Boden fallenden, roten Tropfen, während dieselbe Farbe in den Ranken eher ästhetisch wirkte. Anbei lag ein langer, dunkelbrauner Obi mit ebenfalls rot verwobenen Enden. Die dazugehörige Hose, ein Sashinuki Hakama aus fein gearbeiteter Baumwolle, hatte ebenfalls die Farbe frisch gefallenen Schnees, wohingegen die Schuhe in tiefem Schwarz schimmerten und mit einzelnen Lederbändern sicher bis auf die Hälfte der Schienbeine schnürbar waren. Lediglich diese ließ er eine Weile unschlüssig stehen. Den Boden unter den Füßen zu spüren war ihm lieber, aber wenn er alles anprobieren sollte, musste er wohl oder übel auch diese anziehen. Er wollte den Mann nicht beleidigen, der sich mit all den Sachen so viel Arbeit gemacht hatte. Schließlich richtete er sich auf und fühlte sich für einen Moment unsagbar fremd in den neuen, sauberen und vor allen heilen Sachen. Es war erstaunlich, wie perfekt jedes einzelne Teil saß und wie leicht die Stoffe am Körper lagen. Yūsei hätte es vermutlich kaum besser abmessen können. Lediglich mit dem Obi war er nicht zurechtgekommen und hatte ihn zurück in den Lackkasten gelegt. Als Yūsei nach einer Weile mit seiner Zustimmung wieder eintrat, musterte er seine Arbeit einen Moment und half ihm schließlich auch mit dem Gürtel. Es war befremdlich, sich von einer fremden Person anfassen zu lassen – und noch viel verwunderlicher war es, wie viel Kraft der Greis aufbringen konnte. Als er den Obi festzog, dachte Minoru, er wolle ihm um jeden Preis die letzte Rippe in die Lunge quetschen. Ein schändliches Keuchen konnte er jedoch zum Glück unterdrücken. „Trifft es Euren Geschmack?“, fragte der Schneider letztlich ernst. Minoru warf einen Blick auf den Lackkasten, in dem er sich zumindest ein wenig spiegelte. Seinen langen, weißen Zopf hatte er sich über die Schulter gelegt und auch ohne Spiegelung war ihm bereits klar gewesen, dass die Farbe des Kimonos den Ton seines Haares traf, während das dunkle Rot dem seiner Markierungen an Handgelenken und Gesicht entsprach. Er war froh, dass er hinsichtlich dieser Sachen keine Auswahl hatte treffen müssen. So waren sie wenig auffällig, leicht und gefielen ihm gut. Genau richtig. „Ich danke Euch“, sagte er höflich. „Sie gefallen mir und passen gut.“ „Das beruhigt mich zutiefst“, gab Yūsei zurück und stützte sich ein wenig mehr auf seinen Stock. „Da dies Eure erste Erfahrung mit diesem Stoff sein dürfte, lasst mich dazu bitte etwas erläutern. Es handelt sich nicht um gewöhnliche Seide oder Baumwolle.“ Er fuhr mit der Hand über seinen eigenen Yukata in schlichtem Dunkelblau. „Es würde nichts nützen, wenn Eure Kleidung Euch bei der ersten ernsthaften Auseinandersetzung den Dienst versagte. Wie bei der Eures Vaters ist der Stoff reparabel, sofern Ihr es vermögt, Euer Yōki entsprechend einzusetzen. Das ist sicherlich nicht die einfachste Kunst, aber es erhält Euch diese Stücke, solange Ihr wünscht.“ Das war erstaunlich, aber auf eine Weise auch ernüchternd. Um den Stoff zu reparieren, müsste er sicherlich erst einmal in der Lage sein, kleinere Wunden seiner Haut selbst zu heilen. Von diesen gezielten Einsätzen war sein Yōki meilenweit entfernt. Es verhielt sich viel lieber wie eine aufgescheuchte Schlange und wand sich nervös um ihn herum. „Des Weiteren“, fuhr Yūsei fort, „wird der Stoff auch den Strapazen Eurer Formwandlungen widerstehen. Gewöhnliche Materialien geben den Verwandlungen gewöhnlich auch nach, aber sie leiden extrem darunter und irgendwann kann man sie schlicht nur noch wegwerfen. Grämt Euch aber bitte nicht, wenn diese Dinge nicht gleich funktionieren. Alles braucht seine Zeit und der Umgang mit diesen Sachen erfordert ebenso Übung wie alles im Leben.“ „Ich werde es versuchen. Das ist erstaunlich. Was ist an diesem Stoff anders als an anderen?“ Der Alte lächelte verlegen und sah ein wenig zur Seite. Minoru verstand sofort. „Verzeiht. Ich wollte Euch nicht bedrängen, Eure Berufsgeheimnisse zu teilen.“ „Nein, ich bin es, der um Vergebung bitten muss. Aber in der Tat rede ich ungern darüber. Ich könnte einen Lehrling brauchen, der sich dieses Handwerk ernsthaft aneignen will, aber ich fürchte, Ihr seid schon anderweitig eingeplant.“ Er lächelte so breit, dass man seine Fangzähne sehen konnte. Einer fehlte und der übrige wirkte stumpf und vergilbt. Minoru schenkte dem Alten ebenfalls ein flüchtiges, wenn auch aufrichtiges Lächeln und bat um Nachsicht: „Ich sollte zum Fürsten zurückkehren und mich für diese Aufmerksamkeit bedanken.“ Yūsei nickte ihm freundlich zu. „Lasst es mich wissen, wenn Ihr herausgewachsen sein solltet.“ Während Minoru ins Arbeitszimmer zurückkehrte, fand er den Tisch aufgeräumt, aber verwaist vor. Der Witterung des Taishōs in einer Umgebung zu folgen, in der praktisch alles seinen Geruch hatte, war anstrengender als angenommen, aber wenn es etwas gab, auf das sich Minoru verlassen konnte, dann war das seine Nase. Zum Glück verlor sich die Fährte nicht tiefer im östlichen Trakt, den zu betreten er nicht gewagt hätte, und schließlich fand er den Fürsten mit einer Hand voll Wachen auf dem Vorplatz des Palastes. Minoru hielt im Torbogen inne, da er immerhin angewiesen worden war, den Palast nicht zu verlassen und musterte die Szene einen Moment neugierig. Er bedurfte keines Hellsehers, um zu erahnen, dass das keine belanglose Unterhaltung war, die der Hausherr mit einem hochgewachsenen Yōkai führte, der ihm an Größe beinahe ebenbürtig war. Was Minoru nicht ahnen konnte, war, dass es sich bei diesem Mann mit den ungewöhnlich kurzen, schwarz-grünlich schimmernden Haaren um den Generalleutnant des Heeres handelte, dessen gelbe Augen trotz seiner jungen Erscheinung beinahe tausend Jahreswechsel hatten kommen und gehen sehen. „- Eurer hohen Aufmerksamkeit zu keinem Zeitpunkt wert“, fuhr Ryouichi mit seinem Bericht fort. „Bemitleidenswert stumpfsinnig und plump. Eine unmittelbare Gefahr ist auszuschließen. In Anbetracht der nahenden Ratsversammlung rate ich dennoch an, sich ihrer zu entledigen. Wenn Ihr es wünscht, werden wir uns umgehend darum kümmern.“ Eine Unterhaltung mit dem Fürsten verlief meist in einem Monolog, aber damit hatte sich der erfahrene Organisator der Patrouillen, Wachen und Krieger längst arrangiert. „Es sind einige Oni in der Nähe.“ Minoru widerstand dem Reflex, sich zu der Stimme umzudrehen, die hinter ihm erklang. Er hatte Rin ohnehin schon gewittert. Mit einem Oni waren selbst Takeru und er fertig geworden. Sie waren tatsächlich äußerst einfältig und agierten so vorhersehbar, dass es nicht sonderlich schwierig war, ihnen auszuweichen. Weniger amüsant wurde es, wenn diese Berge gehirnentbehrender Muskeln einen Treffer landeten. Im Normalfall lebten sie im zerklüfteten Hochgebirge – und fraßen vermutlich pures Gestein, so selten, wie sich dort jemand in ihr Revier verwirrte. So gab Minoru nur ein leises, aber durchaus verächtliches Schnauben von sich. „Nicht sonderlich beeindruckend, meinst du?“, fragte Rin vorsichtig, schob eine Strähne ihres hüftlangen, braunen Haares zurück hinter ihr Ohr und stellte sich an seine Seite. Sie hatte sich nicht angewöhnt, ihm mit Titeln und gehobenen Ansprachen zu begegnen, wie unter anderem Myōga es zu tun pflegte, und da er kein Aufhebens davon machte, beließ sie es dabei, solange niemand sonst zuhörte. „Wahrscheinlich hast du recht, aber wenn die Ratsmitglieder mit ihnen zusammentreffen sollten, wird ihre alleinige Anwesenheit in der Nähe der Burg ein schlechtes Licht auf Sesshōmaru-sama werfen.“ Sie musterte ihn für einen Moment und lächelte schließlich sanft. „Sehr stattlich. Yūseis Arbeit steht dir wirklich hervorragend. Er ist erstaunlich, nicht wahr? Immer wenn ich ihn sehe, wird mir schwer ums Herz. Er ist so begabt und freundlich und doch wirkt er immer auf eine so erschreckend subtile Weise traurig, dass ich weinen möchte. So alt zu werden mag vielleicht auf den ersten Blick verlockend sein, aber wenn ich ihn ansehe, denke ich immer, dass es auch Schattenseiten hat. Alles an sich vorbei ziehen zu sehen und als Einziger beständig den Wandel zu beobachten...“ Minoru warf ihr einen wenig verständnisvollen Blick zu. Musste sie so offen über das vermutete Gefühlsleben anderer Personen daherreden? Dass Yūsei nicht bis in Spitzen seines altersgrauen Haares vor Freude strotzte, konnte jeder sehen – auch ohne, dass ein Menschenmädchen nochmal den Finger in die Wunde legte. Sie blickte aus samtbraunen Augen zurück und lächelte lediglich freundlich, während sie ihren dunkelvioletten Yukata glättete, der am Saum mit so vielen feinen, weißen Blüten bestickt war, dass das Muster an Schnee erinnerte. „Kanae hat mir erzählt, was heute Morgen in der Küche passiert ist. Sehr nobel von dir, die Jungen zu schonen.“ Ihr Lächeln nahm anmaßend triumphierende Züge an. „Ich wusste immer, dass du nicht so kalt bist, wie du vorgibst, Minoru. Im Grunde bist du eine gute Seele. Ich verstehe nicht, warum du jemand anderes sein willst, als du bist.“ Diesmal spürte er selbst, wie sein Yōki eine wahrhaft erschreckende Wandlung vollführte, den brodelnden Teil übersprang und in einem explosionsartigen Lodern um ihn herum zu schwelen begann, dass selbst Myōga in seinem Haar einige Strähnen umklammerte und sich an so eng wie nur möglich zusammenzog. Niederes Menschenwesen, das sich anmaßte, über ihn zu urteilen! Was wusste sie schon von ihm? Nichts und noch weniger als das. Allein ihre immer noch ruhige Ausstrahlung machte ihn wahnsinnig. So unverschämt ruhig! Als Sesshōmaru ihn tonlos beim Namen nannte, warf er ruckartig den Kopf wieder herum und ließ sie stehen, bevor sein Temperament mit ihm noch ein verheerendes Spiel begann, das keiner von ihnen überleben würde. Er überbrückte die Entfernung zum Fürsten innerhalb weniger Sekunden mit erstaunlich gelassen wirkenden Schritten, während er immer noch vor Wut kochte. Sie war sich ihres Schutzes so bewusst, diese elende, überhebliche Frau, dass allein dies Minoru schon fast in den Wahnsinn trieb – dabei hatte sie nicht einmal gemerkt, dass ein Teil von ihm sie am liebsten auf der Stelle zerfetzt hätte! Die Krieger nahmen wieder Haltung an, doch als er den Fürsten erreichte, konnten sich Einige neugierige Seitenblicke tatsächlich nicht verbieten. „Ja, Herr?“ „Ryouichi wird sich deiner annehmen“, ließ der Taishō verlauten und nichts an ihm verriet ihm Mindesten, wie wenig begeistert er von der friedlosen Beziehung seiner beiden Schützlinge war. „Ich erwarte, dass du deinem Lehrer den gebührenden Respekt entgegen bringst und mir keine Schande bereitest.“ „Es wird mir eine Ehre sein, Euch zu unterweisen, junger Herr“, Ryouichi neigte den Kopf vor ihm und seine geübten, intensiv gelben Augen benötigen nicht mehr als die Zeit eines Wimpernschlages, um seinen Schüler zu begutachten. „Wenn es Euer Wunsch ist, führe ich Euch mit Freuden über die Trainingsplätze, an denen wir ab morgen mit den Stunden beginnen können.“ „Nicht heute“, fuhr sein Vater dazwischen und Ryouichi senkte augenblicklich das Haupt demütig ein Stückchen tiefer. „Er wird mich begleiten.“ Es bedurfte nicht viel Phantasie, sich zu überlegen, warum er ihn mitnehmen wollte und tatsächlich war es dem Fürsten ein tiefes Bedürfnis, die beiden nicht unbeaufsichtigt zurückzulassen. Unvorstellbar, was geschehen könnte, wenn er Rin mit ihrer sehr direkten, offenen Art mit seinem unkontrolliert reizbaren und impulsiven Sohn allein ließ. Seine Jugend machte ihn unberechenbar und Sesshōmaru wollte nicht nur einen Augenblick daran denken, wie er selbst noch vor kurzer Zeit auf eine derart anmaßende Unterstellung eines anderen – schon gar eines Menschen – reagiert hätte. Rin hatte hier lediglich der schützende Schatten vor Schlimmeren bewahrt, den er über sie warf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)