Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 34: ist der Blick nach vorn. ------------------------------------ Beiläufig und ohne dem Getier einen Funken ehrlicher Aufmerksamkeit zu gönnen, schlug der Rappe seinen Schweif in aller Seelenruhe nach den Insekten, die sich erdreisteten, sein gepflegtes, nachtschwarzes Fell zu berühren. Dann tat er einen weiteren Schritt, um gemächlich die spärlichen Halme zu seinen Hufen abzuweiden, während seine Artgenossen missgünstig den Kopf hoben nur um im nächsten Augenblick mit angelegten Ohren vor ihm zurückzuweichen. Kōhei versuchte die frappierende Ähnlichkeit im Betragen dieses schwarzen Bastards von einem Hengst und dessen dämonischen Herrn zu ignorieren – und scheiterte zum wiederholten Male an diesem Abend. Der neue Erbe der südlichen Ländereien hatte ohne Umschweife an Ort und Stelle Lager aufschlagen lassen – ungeachtet der menschlichen Bevölkerung, die über die Ankunft einer Horde Kitsune wahlweise in eine beklemmende Schockstarre oder ausufernde Panik verfallen war. Das Lagerfeuer brannte durch das feuchte Holz schwelend vor sich hin und erleuchtete den sandigen Boden in einer Woge von Rot, das den Farbtönen der Sänfte entsprach, die mit vorgespannten, vielschwänzigen Ochsen auf dem Weg gehalten hatte. Das Tier, eindeutig ein Yōkai, wenn auch nicht weit von einem gewöhnlichen Rind entfernt, döste und ließ den Kopf entspannt gen Boden sinken. Nicht ein Geräusch war bisher aus dem Inneren der Sänfte nach außen gelangt und doch war das Flackern von Yōki, das aus jeder Ritze des Gefährtes hervordrang, deutlich zu spüren. Auch Shippō, der erstaunlich schweigsam in einiger Entfernung zu Kōhei auf dem Boden lag, hatte nicht nur einmal einen zweifelnden Blick auf den roten Lack geworfen, um sich dann möglichst schnell wieder abzuwenden. Zur Sänfte schauen bedeutete, an Saburō vorbeisehen zu müssen, der Kōhei im Rahmen aller Höflichkeit keine andere Wahl gelassen hatte, als ihm gegenüber Platz zu nehmen. Die Nacht hatte sich in ihrem bisherigen Verlauf angenehm ruhig dargestellt, doch wusste der General nur zu gut, wie schnell sich das Blatt wenden konnte. So sehr einige Menschen in den großen Städten wie Ōsaka und Kōbe über die Jahre auch in ihrer Selbstsicherheit die bedenkliche Vorstellung entwickelt haben mochten, dass Dämonen für sie keine ernstzunehmende Gefahr darstellten, hatte dieser Irrglaube insbesondere in den Fischerdörfern noch keinen Einzug halten können. Ein Großteil der Häuser in der nahegelegenen Stadt hatten bei Anbruch der Nacht nicht einmal gewagt, den Docht ihrer Öllampen zu entfachen, während die wenigen, die unwissend oder mutig genug waren, es doch zu tun, alsbald von ihren Nachbarn eines Besseren belehrt worden waren. Die Stadt wirkte wie ausgestorben; hielt den Atem an – und doch war es nur eine Frage der Zeit, bis es einen dieser schwachen Wesen nach einem Priester oder sonstigem Exorzismus verlangte. Saburō wusste das nur allzu genau und schien sich an der gedrückten Stimmung zu aalen wie eine Schlange in der heißen Mittagssonne. „Euch scheint meine Gegenwart nicht besonders zu behagen, General“, die bernsteinfarbenen Augen des Fuchses glommen im selben Feuer der Kohlen – ein gefährliches Flackern zwischen erheiternder Wärme und gefährlicher Verbrennung unbestimmten Grades. „Ihr irrt, Kōtaishi. Sollte ich jedoch den Eindruck erweckt haben, bitte ich Euch aufrichtig um Verzeihung.“ Im Geiste hatte er mehrere hundert Male versucht, die angemessene Anrede eines Erbprinzen mit Saburō in Einklang zu bringen, aber in Worte gefasst klang es immer noch abgrundtief falsch. Es war weiterhin Harus Gesicht, das er dabei vor sich sah und vermutlich würde es das noch lange Zeit bleiben. Augenblicklich umspielte ein schmales Lächeln die Lippen des dunkelhaarigen Kitsunes, dessen Klauen in ein ebenso tiefes Schwarz getaucht zu sein schienen wie sein kurzes Haar und der weiche Pelz, der den Kragen seines ebenfalls erstickend finsteren Kimonos zierte. Lediglich die herbstlich roten Motive, die sich in feinen Schlingen vom rechten Oberarm zum linken Saum rankten, brachen mit dem mitternächtlichen Einerlei, das auch seinen gesamten Charakter zu durchsetzen schien. „Lügner“, hauchte er gefährlich mild. „Ihr habt meine Gesellschaft bereits bei unserem letzten Zusammentreffen mit wenig Zuspruch begrüßt – dabei hatten wir nicht einmal ausreichend Zeit uns näher kennenzulernen. Dieser unsagbare Trubel muss uns wohl daran gehindert haben.“ Kōhei musterte ihn kommentarlos und überlegte nur einen Augenblick lang, wie angemessen es wohl wäre, ihn auf die Zuständigkeiten für diesen „Trubel“ zu verweisen, bevor er entschied, dass das keine besonders kluge Idee darstellte. „Fürst Hayato hätte ein wenig Mitleid mit Euch zeigen und jemand anderen entsenden können, um mich abzuholen, wenn Ihr Euch derart unwohl fühlt. Aber ich schätze, er vertraut nur Euch genug, um Informationen einzuholen, nicht wahr?“ Er lächelte süffisant und überschlug die Beine, ehe er in gelangweilter Manier tief ausatmete. „Warum beenden wir diese Farce nicht wie erwachsene Männer und sorgen dafür, dass Ihr Euch nicht weiterhin vor Unbehagen windet – geschweige denn, ich mir die Laune an diesem Anblick verderben muss. Was will der Fürst über mich wissen? Sagt es gerade heraus, damit ich mich nicht bereits mit der höfischen Hinterlist herumplagen muss, ehe ich überhaupt angekommen bin.“ Kōhei ließ seinen Blick einen Moment auf Saburō ruhen, nur um feststellen zu müssen, dass dieser es genauso hielt. Wie er bereits vor einigen Jahrhunderten bewiesen hatte, war dieser in Abgeschiedenheit aufgewachsene Sprössling des Fürsten bedauerlich geschickt darin, Situationen zu erfassen und sein Gegenüber mit diesem Wissen zu konfrontieren – etwas, mit dem niemand bei Hofe wirklich umgehen konnte. Wenn man von den Intrigen des Anderen wusste, sprach man sie nicht aus, sondern versuchte sie gegen ihn zu verwenden. Nicht so er. Und was hatte es da noch für einen Sinn, Unwissenheit zu beteuern? „Nun?“, hakte Saburō schließlich mit einem Hauch von Ungeduld nach. „Nun, es ist nur verständlich, dass Euer Vater Interesse an Euch hegt, wenn Ihr ihn beerben sollt.“ Kōhei war bewusst, dass er damit in die Vermutungen seines neuen Prinzen einstimmte, aber anstelle eines triumphalen Grinsens verschränkte dieser die Hände nachdenklich unter dem Kinn und wirkte mit einem Mal ernst. „Dann ist Haru tatsächlich tot. Wir haben Gerüchte gehört, aber nie Definitives. Es wäre ebenso möglich gewesen, dass mein Erzeuger mich nur an den Hof ruft, um sich meiner zu entledigen. Das, oder es blieb ihm nichts anderes übrig.“ Kōhei biss die Zähne zusammen: „Ich dachte, Ihr wäret über den Tod Eures Bruders informiert. Verzeiht die grobsinnige Nachricht.“ Nun huschte abermals ein mildes Lächeln über die Züge des schwarzen Fuchses. „Ihr könnt Euch das Bedauern sparen. Ich sollte Euch mein Beileid aussprechen. Haru war mein älterer Halbbruder. Ich kannte weder ihn noch die Angehörigen seiner Familie. Ihr hingegen schon. Sein Tod kümmert mich nicht. Er macht lediglich Probleme.“ Er schloss die Augen, verharrte nachdenklich und still, dann schlug er sie wieder auf. „Wodurch ist er gestorben?“ „Euer Vater versicherte mir, dass Ihr alles Nötige von ihm erfahren würdet.“ „Mit anderen Worten: Er ist nicht im Kampf gefallen und Ihr dürft über die Umstände kein Wort verlieren.“ „Das darf ich in der Tat nicht“, räumte Kōhei zumindest einen Teil der Aussage ein. Dass Haru nicht im Kampf gefallen war, wäre eine Lüge gewesen, aber wenn er Saburō auch nur im Entferntesten verriete, wer den Erben der Füchse auf dem Gewissen hatte, könnte jedermann in einigen Tagen sein herbstrotes Fell an den Palastmauern bewundern. „Dieses Intrigenspiel ist bedauerlich und teilweise viel zu offensichtlich“, merkte Saburō schließlich an und straffte die Schultern. „Er ist entweder sehr dumm oder außergewöhnlich schlecht beraten. Wenn er Kriege vermeiden will, wäre es sinnvoll gewesen, den Tod seines Erben öffentlich zu betrauern, anstatt die Angelegenheit hinter verschlossenen Türen auszusitzen. Es wird Gerüchte geben – und auf kurz oder lang wird sich jemand fragen, warum er Harus Tod vertuschen wollte.“ „Die Leute werden immer reden“, hielt Kōhei ernst dagegen. Doch Saburō schüttelte den Kopf: „Man muss einer hungrigen Meute nicht noch das Stück Fleisch vor die Füße werfen. Die momentane Situation erlaubt das nicht. Habt Ihr verfolgt, wie hoch die Wellen aus dem Westen geschlagen sind? Keiner hat dieses Kind bisher gesehen und trotzdem spricht jeder darüber. Neunzig Prozent der Gerüchte sind hanebüchener Unsinn und es wird nicht mehr lange dauern, bis der Inu no Taishō seinen Sohn öffentlich präsentieren wird, um weiteres Gerede zu unterbinden. Dass er es noch nicht getan hat, sagt uns nur, dass er mit dem Jungen noch nicht den Eindruck erwecken kann, den er benötigt – und wir wissen alle, welchen Eindruck die Inu anstreben. Aber ich schätze, der Hof hat diese Angelegenheit aufmerksamer verfolgt als ich.“ Saburō hatte die glühenden Augen auf die Kohlen im Feuer gerichtet und tat als habe er gerade nichts Bedeutsames gesagt – während Kōhei heiß und kalt zugleich wurde. Er wusste nicht allzu viel über den dritten Sohn des Fürsten, aber für eine Erkenntnis hatte dieser vor vielen Jahren selbst gesorgt: Saburō war trotz seiner relativen Redseligkeit alles andere als einfältig – und wer so manipulativ war wie er, ließ solche Bemerkungen nicht zufällig oder unbedarft fallen. Er wusste mehr über die momentane Lage des Südens als zu erhoffen gewesen wäre. Nur wie weit reichte dieser Kenntnisstand? ☾ Es war späte Nacht. Der Mond stand hell am Himmel, an dem Wolken in Eile vorüberzogen und selbst zwischen den gewaltigen Bäumen des Waldes strich der Wind schneidend. Raureif hatte die Frühlingsblumen unter einem feinen, aber bedrohlichen Hauch von Eis begraben, sodass Gräser unter jeder Berührung knisterten, ja die schwächeren gar entzweibrachen. Der Winter führte einen letzten, aussichtslosen Schlachtzug gegen den unvermeidbaren Frühling. Der hohe Fürst des Westens hatte den Kopf auf das Schulterfell gebettet und seinen Nachwuchs zwischen sich und einem knorrigen Baumstamm in den Windschatten gebracht. Der Junge schlief immer noch tief und fest. Seine Wange lag eng an dem eisigen Moos, das unter seinem gleichmäßigen, warmen Atem an einigen Stellen schon vor langer Zeit geschmolzen war. Der Anblick seiner entspannten Gesichtszüge und die leicht gekrümmten Klauen, die nur hin und wieder zuckten, hätten etwas Beruhigendes haben können – doch nach nunmehr vier Tagen wurde diese Szene zusehends alarmierender. Minoru war nicht ein einziges Mal aufgewacht, nachdem er das Gebräu des Zeitdämons zu sich genommen hatte und während er zumindest anfangs noch von Albträumen gequält worden war, waren die letzten Tage in einem andauernden Tiefschlaf vergangen. Wenn sich der Junge selbst in diese Lage manövriert hätte, hätte Sesshōmaru wenigstens einen Grund gehabt, zu behaupten, sein Sohn müsse etwas aus seiner Leichtgläubigkeit lernen! Doch Minoru traf ausnahmsweise keinerlei Schuld. Im Gegenteil: Das Kind hatte ablehnen wollen, hatte vehement verwehrt, sich in die Hände eines Fremden zu begeben, als er nicht einmal gewusst hatte, dass dies absolute Passivität von ihm verlangen würde. Minoru hatte nur eingewilligt, weil er selbst ihn darum ersucht – ja, ihm sogar versichert hatte, dass jede Sorge unberechtigt sei. Kaum merklich zog der Taishō den Atem tiefer in die Lunge und ließ ihn angespannt entweichen. Nur ihren eigenen allumfassenden Interessen verpflichtet. Die Vorstellung, dass sein Vater sich zum ersten Mal geirrt haben musste, war absonderlich. Es war natürlich denkbar, dass Minoru das besagte „allumfassendes Interesse“ dieses Volkes durch spätere Taten empfindlich berührte, aber hatte ernsthaft jemand angenommen, er, Sesshōmaru, lasse sich von dahergelaufenen, drittklassigen Dämonen befehlen, zu töten? Gleichgültig wen und sicherlich nicht seinen eigenen Sohn. Er hatte nicht umsonst auf den anderen Zweig der Familie zurückgegriffen und Reika gewählt, um seinen Erben auszutragen. Wenn er einen zahmen Schoßhund zum Nachfolger gewollt hätte, hätte er auch mit jeder beliebigen Inu das Lager teilen können – ganz davon ab, dass er der Letzte war, den es betroffen stimmte, wenn sein Welpe in einigen Jahrhunderten ganze Völker auslöschte. Die entsprechenden Züge hatte er an dem Jungen bereits zur Kenntnis genommen. Minoru war im Grunde zu jung, um beim Töten vollkommen emotionslos zu agieren und konnte von Glück sprechen, dass diese Abgeklärtheit bei seinem Vater auf mehr Gleichgültigkeit und vielleicht auch Verständnis stieß als es bei seinem Großvater der Fall gewesen wäre. Gedankenversunken schob er einige lose Strähnen aus dem blassen Gesicht des Welpen; ein wenig gröber als Rin es vermutlich getan hätte. Minoru zuckte unter der Geste zusammen und schmiegte sich erneut enger an das Moos. Sesshōmaru machte sich nichts vor: Wäre es dem Jungen möglich gewesen, hätte er spätestens bei einer Berührung die Augen aufgeschlagen und sich zurückgezogen. Aber selbst diese kleine Reaktion war ein großer Fortschritt im Vergleich zu vergangenen Tagen. Allmählich verließ er den Tiefschlaf. Die scharfen Klauen des Jungen zuckten kurz, dann lag er wieder still. Eine Bewegung in seinem Rücken ließ den Fürsten die Hand augenblicklich wieder an sich nehmen, aber es war nur Rin, die zwischen seinem Schulterfell auf die andere Seite rollte und sich tiefer in den weichen Pelz kuschelte. Sesshōmaru schloss die Augen. Er hatte seit Tagen nicht geschlafen und obwohl er sonst keinen Schlaf benötigte, fühlte er sich durch diese Visionen erschöpfter als nach so manchem Feldzug, den er als Halbwüchsiger an der Seite seines Vaters bestritten hatte. Kinder waren offensichtlich anstrengender als jeder Krieg der letzten tausend Jahre – insbesondere unstete Daiyōkai-Welpen und ganz besonders dann, wenn sie ihre Eltern in Weitsicht übertrafen. Sesshōmaru unterdrückte ein Seufzen. Ein Leben lang hatte er sich auf die Einschätzungen seines Vaters verlassen können – selbst dann, wenn er sie Jahrhunderte lang angezweifelt hatte –, während er für seinen eigenen Jungen kaum in der Lage war, eine einzige, gefahrlose Entscheidung zu treffen. Selbst die Schonzeit, die er ihm im Palast abseits von Dienern und höfischen Protokoll ermöglicht hatte, barg Risiken. Irgendwann würde er Minoru mit seinem späteren Leben konfrontieren und ihn weniger versöhnlich behandeln müssen – wenn der Tag kam, würde sich zeigen, wie es um den Charakter seines Sohnes tatsächlich bestellt war. Sesshōmaru war nicht besonders geübt darin, Kompromisse einzugehen und durch geschickte Leitung Einsichten zu bewirken, die auf wahrem Verständnis fußten. Kurzum: Er war nicht sein Vater. Im Grunde fühlte er sich in der Rolle des unbarmherzigen Eroberers deutlich wohler als in der, die Minorus bloße Existenz ihm abverlangte. Wäre das Kind mit ihm aufgewachsen, wäre die Grundlage vermutlich eine andere gewesen. Nun waren fünfzehn Jahre alles andere als ein hohes Alter, aber dennoch fehlten wichtige, prägende Zeitabschnitte, in denen er – insbesondere nach der Einsicht in die Vergangenheit – den Jungen lieber an seiner Seite gewusst hätte. Das Zusammentreffen mit Jikan hatte zumindest dazu geführt, dass er einige Züge des Kindes besser verstand. Aber würde das ausreichen, um ihn wider seiner Vorerfahrungen zu seinem Erben zu erziehen? Die Zukunft sprach dafür. Aber zwischen dem jungen Welpen an seiner Seite und dem Daiyōkai der Visionen lagen Welten. „Stimmt... etwas nicht?“ Der Fürst schlug die magentafarben gezeichneten Lider auf und starrte ob der unvermittelten Ansprache mit einem Anflug von Überraschung auf seinen Sohn herab. Dessen goldene Augen waren matt und abwesend, aber in ihnen lag dennoch eine gewisse Sorge. „Du bist wach“, stellte der Taishō schließlich mit üblich kalter Stimme fest, nachdem er sich einige Sekunden hatte ordnen müssen, um zu einer gewohnt unbeteiligten Miene zurückzukehren und sich nicht allzu ertappt zu zeigen. Minoru jedoch gähnte nur lang und streckte die Glieder aus, bevor er sich wieder auf der Seite zusammendrehte und seinen Vater verschlafen betrachtete. Erwidern wollte er jedoch nichts. „Wie fühlst du dich?“, hakte der schließlich nach, als ihm bereits die Augen wieder zufielen. „Fürchterlich“, gestand Minoru leise. „Als hätte ich seit Wochen nicht geschlafen. Ist Jikan fort?“ „Ist er.“ Endgültig. Minoru atmete erleichtert aus und schmiegte sich enger an den weichen Untergrund. „Ruh' dich aus“, gebot der Fürst knapp, während der Atem des Jungen allmählich wieder tiefer ging. „Im Morgengrauen brechen wir auf.“ Minoru schien zunächst bereits im Halbschlaf versunken, als er unter erneutem Gähnen tödlich scharfe Fangzähne entblößte und schwer vernehmlich Worte murmelte, die seinen Vater für einen Moment in Fassungslosigkeit erstarren ließen. „Nach Hause...?“ Das Fell des Fürsten hatte sich ob dieser unbedarften Frage bis in die feinen Haare am Nacken aufgestellt und er hatte alle Mühe, diese Regung samt ungewöhnlich beklemmenden Gefühl in seiner Brust in geordnete Bahnen zu lenken. Bestimmt strich er die letzten aufmüpfigen Haare seines Pelzes mit flacher Hand glatt. „Nach Hause“, bestätigte er schließlich gepresster als beabsichtigt. Minoru versenkte die Klauen im seidenen Ärmelsaum des Fürsten und knurrte ein letztes Mal in einem beruhigten Ton, bevor er wieder einschlief und seinen ungläubigen Vater sich selbst überließ. „Und du kannst dich wirklich an gar nichts erinnern?“ „Was ist an 'nein' eigentlich so schwer zu verstehen?“ Rin schaute verdrießlich drein und zog zum wiederholten Mal die von der Nacht verknoteten Strähnen ihres Haares mit den bloßen Fingern auseinander. „Das ist auch wirklich zu schade! Aber Sesshōmaru-sama weiß doch sicher alles! Bist du denn gar nicht neugierig, was einmal aus dir werden wird?“ „Nein.“ „Und wenn du Dinge jetzt noch ändern könntest, weil du sie voraussiehst?“ „Nein.“ „Was hat dir das alles gebracht, wenn du jetzt nicht einmal einen Teil davon wissen willst?“ „Nein.“ Sie schnaubte angesäuert. „'Nein' ergibt da überhaupt keinen Sinn!“ Minoru verdrehte die Augen und fragte sich nicht zum ersten Mal in den letzten Stunden, warum um Himmels Willen er nicht einfach weitergeschlafen hatte. Konnte die Welt so grausam sein? Nun, andererseits sollten vier Tage Ruhe durchaus reichen und allein der Gedanke, dass sein Vater ihn den ganzen Weg über hatte tragen müssen, behagte ihm gar nicht. Dieser schritt unbeteiligt einige Meter weiter vorn durch den westlichen Wald und dachte offensichtlich gar nicht daran, Rin das Wort zu verbieten – und selbst wenn er sich dazu herabgelassen hätte, wäre der Erfolg nicht garantiert gewesen. Wenigstens hatte Myōga mittlerweile einen Platz auf Minorus Schulter eingenommen und die Beteuerungen eingestellt, wie unfassbar beruhigend es doch sei, dass der junge Herr endlich erwacht war. Ein Umstand, der Minoru deutlich zu verstehen gab, dass vier Tage Dauerschlaf nach einem derartigen Unterfangen nicht üblich waren. Er hatte dem Flohgeist seine Geschwätzigkeit gegenüber der Familie seines Onkels zwar noch nicht gänzlich vergeben, aber ebenso sah er keinen Gewinn darin, dem alten Hasenfuß mehr als nötig nachzutragen. Immerhin hatte er sich für ihn gegen Inuyasha wenden wollen und das rechnete er ihm hoch an – so aussichtlos der Versuch auch gewesen war. „Vielleicht vertreibt es dir auch einige Sorgen. Das wäre doch beruhigend“, hob Rin erneut an und diesmal knurrte Minoru so laut, dass sie es noch in ihrem Zwerchfell spürte. „Wenn dich dieser Unfug so sehr interessiert, dann hol dir die Informationen woanders. Ich bin eindeutig die falsche Anlaufstelle – aber wenn ich nur ein Wort darüber aus deinem Mund höre, reiße ich dir alle Fingerglieder einzeln aus!“ „Dann darf ich?“, sie überging die in den Raum gestellte Warnung, die er ohnehin nicht hätte wahr machen können und wandte sich an den Fürsten. „Sesshōmaru-sama!“ „Nein.“ Kalt, eintönig, endgültig. Sie biss die Zähne zusammen und brummte unzufrieden. „Man sollte meinen, solche Angewohnheiten könnten sich gar nicht vererben.“ Sie sah Minoru schmollend ins Gesicht und stellte mit Entsetzen fest, dass seine Lippen von einem schmalen, fast unsichtbaren aber definitiv triumphalen Lächeln umspielt wurden. Mit einem Anflug von Genugtuung nahm er ihre Verwirrung wahr und wandte sich wieder ab. Bereits seit den frühen Morgenstunden hackte sie auf seinem offensichtlichen Desinteresse herum und versuchte ihn davon zu überzeugen, wie sinnvoll und spannend es doch sei, zumindest Züge der Zukunft zu kennen. Er würde seine Meinung diesbezüglich sicher nicht mehr ändern. Wenn er am nächsten Tag von einem beliebigen Oni gefressen werden würde, dann war das nun einmal so – und er würde sich sicher nicht den Kopf über Theorie zerbrechen, ob Zukunft änderbar war oder nicht. Er traute den Zeitdämonen immer noch nicht über den Weg – ganz zu schweigen von der Zuverlässigkeit ihrer vermeintlichen Kunst. Das einzige, das ihm dieses Unterfangen beschert hatte, waren vier Tage Schlaf, die sich rückblickend eher anfühlten, als habe er eine ebenso lange, erfolglose Hetzjagd hinter sich, bei der er schlussendlich nur im Kreis gelaufen war. Abermals reckte er sich ausgiebig und das ungesund anmutende Knacken in seinem Nacken, das sich dabei löste, zwickte zu allem Überfluss noch unangenehm. Wenn sie bei der Festung ankamen, würde er freiwillig ein möglichst heißes Bad nehmen, um dieses widerliche Gefühl loszuwerden, das sich mühevoll als Mischung aus Erschöpfung und Fremdeinwirkung definieren ließ. Er konnte immer noch die scheußliche Süße dieses Gebräus auf seiner Zunge schmecken, wenn er sich nur darauf konzentrierte und so sehr er sich auch bemüht hatte, den Geruch dieses Zeitdämonen an einem eiskalten Bachlauf loszuwerden, schien er doch an seinem Körper zu haften. Abstoßend. Aber dies hier waren bereits bekannte Wälder und aus einigen Kilometern Entfernung wehte der Wind den Geruch von Feuern, Hunden und Schmiedeöfen heran. Die Kirschen hatten an Witterung verloren; waren sicher bereits verblüht. Augenblicke später blitzte zwischen dem frischen Blattwerk einiger Erlen bereits das klare Wasser des Sotoboris in der Morgensonne auf. Aus dieser Entfernung mutete der mächtige Graben wie ein Rinnsal an. Dann hielt Minoru mit einem Mal inne. Stutzig geworden musterte er die schwarzen Seidenbanner auf den Wehrgängen, die im wechselnden Takt des Windes mit jeder Böe eine abnehmende Mondsichel in kräftigem violett-blau entblößten. Schließlich blieb auch Rin neben ihm stehen und sah ihn fragend an. „Ist alles in Ordnung?“ Er zog die Brauen zusammen, sah noch einmal hin und wandte sich schließlich an seinen Vater: „Es wäre mir sehr unangenehm, wenn ich mich nun irrte, aber sollte das Banner nicht eine silberne Mondsichel auf schwarzem Grund zeigen?“ Rin sah verwirrt in Richtung der Festung, verengte die Augen für einen Moment, dann gab sie auf. „Ich seh' nicht einmal die Banner...“ Der Fürst war währenddessen stehen geblieben und betrachtete nun selbst die entfernten Zinnen. „Mhm“, gab er ein wenig zerknirscht zurück, dann setzte er seinen Weg fort als sei nichts geschehen. Rin ließ unsicher die Hand aus den Haaren sinken, dann folgte sie ihm kopfschüttelnd, während Minoru einen letzten Blick zu den Bannern warf. Nein, er war sich sicher. Silber auf Schwarz. Es wäre ihm aufgefallen, wenn der Mond in derselben Farbe abgebildet worden wäre wie die Zeichnung auf der Stirn des Fürsten – der missgünstige Laut seines Vaters war demnach kaum an ihn gerichtet gewesen. Etwas stimmte nicht. Das Haupttor schwang langsam und schwerfällig auf, knarrte in den Angeln und gab den Weg in die Burg frei. Die Soldaten nahmen Haltung an, als ihr Fürst an ihnen vorüberging. Minoru hatte die Wachen schon öfter bei dieser Respektbekundung aus den Augenwinkeln betrachtet. Mit den exakt parallel zum Körper abgestellten Yari, dem durchdringenden Blick und ohne jegliche Regung in der Miene schien die gerüstete Wachmannschaft stets wie eine Reihe von Statuen. Nie wäre ihnen eingefallen, sich mit ihren Waffen vor den Füßen der Herrschaft in den Staub zu werfen wie es die Palastdiener pflegten. Ihre Ankunft musste sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben: Die Wegesränder waren gesäumt von knienden Inuyōkai. Alte Soldaten, der Gewohnheit wegen auch ohne entsprechende Rüstung salutierend, während Hunde aufgeregt zwischen den Dämonen umherstreunten. Junge, strebsame Männer mit kaltem Blick und einige wenige Mütter mit ihren Kindern, die als einzige wagten, die Stille zu durchbrechen. Minoru schloss möglichst unauffällig zu seinem Vater auf, hielt sich nur zwei Schritte hinter ihm und nahm mit unangenehmer Regung zur Kenntnis, wovor der Fürst ihn während der letzten Monate bewahrt hatte. Niemand wagte, sie direkt anzusehen und auch die Wachen schienen, dem steinernen Erscheinungsbild entsprechend, durch sie hindurchzuschauen. Aber Minoru fühlte sich im Zentrum so vieler Personen dennoch beobachtet. Er kämpfte das Gefühl weitestgehend herunter, straffte die Schultern und war zum ersten Mal froh, am Morgen zumindest den gröbsten Schmutz heruntergewaschen und die Haare neu gerichtet zu haben. Als sie die Treppen nahmen, die durch die Wehrkreise zum Palast führten, hatte die Kirschblüte nichts weiter hinterlassen als einige verloren wirkende Blütenblätter, die nicht den Gärtnern zum Opfer gefallen waren. Es waren zwar kaum drei Wochen gewesen, die sie sich vom Palast entfernt hatten - und Zierkirschen verblühten schnell -, doch ließ dieses Detail die Zeit wie eine kleine Ewigkeit wirken. Je näher sie dem Honmaru kamen, desto bekannter wurden die Gesichter. Zukünftige und ehemalige Soldaten wurden zu Palastwachen und Dienerschaft. Als Minoru jedoch die eleganten Frauen sah, die sich tief verneigten und verstohlene Blicke durch den dünnen Stoff ihrer Fächer warfen, war er versucht, stehen zu bleiben. Diese Damen hatte er noch nie gesehen und auch ihr Geruch mutete ihm sonderbar unbekannt an. Sie gehörten nicht hierher. Der Fürst ließ die Ansammlung jedoch vollkommen unbeachtet über sich ergehen und tat, als schreite er ohnehin allein den Weg zum Palast empor. Minoru folgte ihm schweigsam und auch Rin hatte seit ihrer Ankunft kein Wort fallen lassen. Beunruhigt bemerkte Minoru, wie auch sie den fremden Inuyōkai einen misstrauischen Blick zuwarf und schlicht einige Strähnen über ihre Schulter zurückstrich, als eine der Frauen bei ihrem Anblick ein empörtes Gesicht machte. Nun, natürlich. Sehr wahrscheinlich war nicht jeder Inu mit Rins Anwesenheit im Palast einverstanden. Aber wenn sein Vater es so wünschte, sollten sie besser nicht daran denken, diese Meinung offen zu äußern. Rin schien das Gehabe jedenfalls nicht sonderlich zu verletzen. Minoru hätte es ihr und seinem Vater gern gleichgetan, aber derartig abgebrühte Verhaltensweisen fehlten ihm schlicht. Als eine andere Dame viel zu offensichtlich ihre unverhohlene Neugier preisgab und ihn über den Rand ihres Fächers mit blitzenden Augen betrachtete, knurrte er so kehlig, dass sämtliche Farbe aus ihrem ohnehin schon blassen Gesicht wich. Prompt schlug ihr eine andere unsanft auf den Kopf und drückte die Jüngere unbarmherzig tiefer an den Boden. Minorus Laune sankt mit jedem Meter, den er neue Unbekannte aus den Augenwinkeln wahrnahm, gegen den Gefrierpunkt. Ihm war nicht entgangen, dass von Ryouichi jede Spur fehlte. Niemand hatte es gewagt, seinen Platz einzunehmen, um den Fürsten auf dem Vorplatz des Palastes in Empfang zu nehmen, welcher nicht minder von Fremden bevölkert schien: Unter dem Vordach des Engawa nahmen Wachen in dunkelgrünem Yukata augenblicklich Haltung an, weitere Frauen knieten auf dem Pflaster, die Hände formvollendet vor ihren niedergepressten Köpfen und runden Rücken ausgestreckt. Spätestens nun begann Minoru sich in die Enge gedrängt zu fühlen. Wäre sein Vater nicht so gelassen gewesen, wäre seine Stimmung angesichts der Personen längst umgeschlagen. Ein wenig verwundert nahm er wahr, dass die Luft über den steinernen Platten zu seinen Füßen allmählich zu schwelen begann und bekam seinen Unmut gerade noch rechtzeitig in den Griff, bevor die erste Frau auf die Idee kam, sie müsse sich aufgrund dieser Warnung deutlich zurückziehen. Er hatte nicht vor, seinem Vater einen Grund zu geben, sich um seine Stabilität zu sorgen. „Sesshōmaru-sama!“, tönte eine quakige Stimme in die Stille hinein. Jaken schlüpfte zwischen den Inu hervor, unter denen er allein schon wegen seiner geringen Körpergröße unsichtbar geworden war. Minoru warf er einen kurzen Blick zu, verneigte sich hastig mehrmals und schien dabei darauf bedacht, dass der Fürst dies auch unbedingt zur Kenntnis nahm, bevor er in eine Endlosschleife aus Lobpreisungen verfiel. Der Flohgeist auf Minorus Schulter bemerkte das mit Mühe im Zaum gehaltene Yōki seines Schützlings und nutze die überschwänglichen Bekundungen des Kappa, um sich unbemerkt näher an das Ohr des Jungen zu schieben. „Dies sind Leibgarde und Hofdienerinnen Eurer verehrten Großmutter“, flüsterte er eindringlich, während Minoru die sonderbaren Wachen unauffällig taxierte. Dann glitt die Stimme des alten Beraters unter der Erkenntnis in ein gequältes Quietschen ab. „Sie ist hier! I... ich hatte keine Ahnung, dass sie bereits einen Besuch in Erwägung zieht! Andererseits... sie wartet seit Jahrhunderten auf einen Enkel und die Kunde von Eurer Heimkehr in den Westen wird sich sicher herumgesprochen haben.“ Er schnappte abermals piepsend nach Luft, dann drängte er sich näher an einige der weißen Strähnen, um Halt zu finden. Warum er? Er wurde eindeutig zu alt für solcherlei Verwegenheiten! Dieser Hündin gegenüberzutreten hatte ihm stets einige hundert Jahre seiner Lebensspanne gekostet – selbst dann, wenn er lediglich Tōga-sama begleitet hatte! Aber der war tot und seine Frau sowie sein wenig charmanter Sohn an einem Platz versammelt! Abwägend betrachtete er Minoru, aber was sollte dieser Welpe schon im Ernstfall für ihn tun können? Ganz zu schweigen davon, dass die Fürstinmutter nicht davon absehen würde, ihm an dem unsäglichen Verhalten ihres Enkels zumindest eine Teilschuld zuzuschieben – und die würde reichen, um ihn genüsslich in einzelne Scheibchen zu filetieren. Dennoch... wenn er ihn nun verließ, würde der Junge es ihm vermutlich nie vergeben. Er konnte ihn nicht sehenden Auges ins Verderben laufen lassen. „Hört mir zu“, bettelte er angestrengt, während Minoru seinem Vater in das Gebäude folgte. „Wenn Ihr irgendwann auch nur den Hauch einer angemessenen Erziehung erhalten haben solltet, wäre nun die Zeit, davon Gebrauch zu machen. Wenn nicht für Euch, dann zumindest für Euren Vater. Sie wird sich nicht nehmen lassen, Euch zu sehen – und jeden Schwachpunkt nutzen, wenn Ihr der Sinn danach steht. Euer Vater hat sie warten lassen. Sie wird demnach nicht allzu glücklich sein.“ „Er ist Inu no Taishō“, hauchte Minoru so leise, dass es vermutlich nur sein Vater hätte hören können. Myōga brach in Anbetracht dieser kühnen Einschätzung der Lage der Schweiß aus. Was machte er sich eigentlich vor? Dass einer dieser verfluchten Hunde seinen wohlgemeinten Ratschlägen auch nur mehr als einen Wimpernschlag widmen würde? Lächerlich! Er hatte sich an Tōga versucht – Jahrhunderte, nein, Jahrtausende lang hatte er versucht diesem schlichtweg beratungsresistenten Hund die Tollheit auszutreiben und war daran ebenso gescheitert wie später an Inuyashas unbesonnenen Gemüt. Was hatte ihn nur geritten, diesen mehr als grünen Jungspund unter seine Fittiche nehmen zu wollen, der ohnehin keinerlei Gespür für Umgangsformen hatte und stattdessen mit Vorliebe Wildschweine und anderes Getier erlegte. Das war doch nicht auszuhalten! „So glaubt mir doch! Ich flehe Euch an: Macht nicht den Fehler, Meinung und Einfluss Eurer hohen Großmutter zu unterschätzen!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)