Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 35: Es ist der leichte Weg ---------------------------------- Mit leisem Schnauben warf Minoru seinen nicht mehr allzu weißen Kimono in eine Zimmerecke, verschränkte die Arme vor der Brust und tippte mit den messerscharfen Klauen der Linken gereizt auf seinem bloßen Oberarm herum. Der Fürst hatte sich noch in dem Moment von ihm verabschiedet, als die Palasttüren hinter ihnen geschlossen worden waren, und Minoru befohlen, sich auszuruhen bis man nach ihm schicke, während er sich mit seiner Mutter unterhalten wolle. Minoru war alles andere als versessen darauf, diesem Treffen später am Tag beizuwohnen, aber wie es aussah, hatte er keine andere Wahl. So hatte er mit einem nicht geringen Anteil von Widerwillen Myōga nachgegeben und zumindest versucht, die wertvolle Kleidung mit Hilfe seines Yōkis in einen akzeptablen Zustand zu versetzen. Aber wem wollte er etwas vormachen? Seine Aura war seit Ablegen der Fuchskoralle zwar exponentiell an Macht angewachsen, aber kontrollieren konnte er sie deshalb noch lange nicht. „So beruhigt Euch doch!“ Myōga, der davon abgesehen hatte, auf Minorus bloßen Schultern herumzuspringen, hatte sich stattdessen auf dem kleinen Lacktisch in dessen Zimmer niedergelassen und versuchte mit größter Anstrengung, dem Drang zur Flucht zu widerstehen. „Solche Handgriffe gehören zur feineren Kunst. Ihr werdet es mit der Zeit lernen. Bis dahin gehe ich zum Schneider und bitte ihn, etwas für Euch herauszulegen. Er hat sicher etwas Passendes, das dem Treffen mit Eurer Großmutter zuträglicher ist. Es wird sicherlich noch eine Weile dauern, bis Euer Vater nach Euch schickt.“ Hätte es Minoru in dieser Form vermocht, er hätte die Ohren nach hinten gelegt und das Fell missgünstig gesträubt. Je öfter er sich die Situation vor Augen führte, desto übler wurde ihm. Seitdem er seiner Mutter den Rücken gekehrt hatte, war derlei Aufwand um sein Auftreten und Aussehen vollkommen hinfällig gewesen. Es widerstrebte ihm, nun in Muster zurückfallen zu müssen, die er bereits vor Jahren hinter sich gelassen hatte. Wenn er sich nun wieder für eine Frau verbiegen sollte –! Nun, was dann? Einmal abgesehen davon, dass jede Seele außerhalb des Westens darauf aus zu sein schien, dem Sohn des Inu no Taishōs das Fell über die Ohren zu ziehen, war fortlaufen ohnehin keine Lösung. Er konnte nicht sein Leben lang Erwartungen entfliehen, und seinem Vater und dem Hof nun den Rücken kehren zu wollen, weil er sich vor dem Protokoll scheute, war nicht recht. Immerhin hatte er zumindest in dieser Hinsicht geahnt, worauf er sich einlassen würde, als er vor einigen Monaten den Weg in den Westen angetreten war und außerdem erst vor gut zwei Wochen seinem Vater dargelegt, dass er nicht beabsichtige, weiteren Ärger zu verursachen. Zudem wusste er spätestens jetzt, dass der Fürst in der Vergangenheit ein hohes Maß an Rücksicht hatte walten lassen, um ihn nicht zu verschrecken. Der sonst so ruhige Palast schien unter der Aura all der Dämonen zu schwirren wie ein übergroßes Hornissennest und wenn er auch nur einen Moment die Gedanken fallen ließ und lauschte, hörte er wie auf den Gängen leise Schritte über die Holzdielen huschten und witterte eine ungeliebte Mischung aus vertrauten und vollkommen fremden Gerüchen der Anwesenden. Es war ein Albtraum – und fast hoffte er tatsächlich, dass es nur ein sehr klarer Teil der vielen, schlechten Stunden war, die er in den letzten Tagen im Schlaf zugebracht hatte und an den er sich später ebenso wenig erinnern konnte, wie an die übrigen. Doch je länger er dastand, desto unbarmherziger wurde ihm bewusst, dass diese Realität sich weit entfernt von jedem Traum bewegte. Für einen Moment schloss er die Augen, atmete tief durch und sah schließlich zu Myōga, dem ebenfalls das Unwohlsein ins Gesicht geschrieben stand. „Nein, keine neuen Sachen“, entschied er schließlich. „Schaff' die zu Yūsei und richte ihm aus, ich wäre ihm sehr dankbar, wenn er sie für mich herrichten könnte. Er meinte, solange ich dazu nicht in der Lage sei, könne er das für mich übernehmen. Ich kann darauf verzichten, mich nach einer Konfrontation mit einer Armee aus Fremden auch noch in neue Sachen zu zwängen.“ Myōga blinzelte einen Moment verblüfft, dann schien er über die ruhig vorgetragene Entscheidung seines Schützlings fast erleichtert. Mit zwei Sätzen war er an der Tür, schlüpfte mühelos durch einen nicht einmal sichtbaren Spalt und war verschwunden, um jemanden zu suchen, der ein wenig größer und in der Lage war, die Kleidung zum Schneider zu schaffen. Minoru atmete abermals besinnend durch, legte den Kimono mit der übrigen Kleidung sorgsam gefaltet auf den Flur und ließ sich schließlich, gehüllt in einen einfachen Yukata, auf seinen Futon sinken. Für einen kurzen Moment hätte er viel darum gegeben, wenn es einfach nur einen Augenblick lang wirklich still gewesen wäre, aber das würde ihm an diesem Tag nicht vergönnt sein. Wieder schlich Dienerschaft über einen entfernteren Flur und irgendwo klapperte Stahl und Geschirr. So musste sich eine Ameise in ihrem Bau fühlen – niemals Stillstand. Wenn er ehrlich war, hatte ihn das Gefolge der Fürstinmutter deutlich mehr aus der Bahn geworfen als die Kunde ihrer Anwesenheit. Mit ihrer Existenz hatte er sich dank Rins Anmerkung zumindest kurzfristig auseinandersetzen können – dass sie dabei jedoch ihren halben Hofstaat mitschleppen würde, war ihm nie in den Sinn gekommen. Aber waren es nicht immerhin Yōkai? Er hatte einige Zeit inmitten eines riesigen Wolfsrudels gelebt und sogar ein Menschendorf überstanden – da würde er jetzt doch nicht vor seinesgleichen zurückschrecken wie ein scheues Reh! Es war bereits Abend als man nach Minoru schickte, der indes recht erfolglos versucht hatte, die Umwelt für einige Augenblicke aus seiner Wahrnehmung zu verbannen. Doch das war einfacher gesagt als getan, wenn man wortwörtlich Flöhe husten hörte – und sein Floh gab sich mit derartigen Lautäußerungen sicherlich nicht zufrieden. „Schaut ihr nicht direkt ins Gesicht. Chizuru-sama schätzt derlei unschickliches und anmaßendes Verhalten gegenüber ihrer Person nicht. Verbeugt Euch. Gerne tief, aber kniet nicht vor ihr nieder. Als Sohn Eures Vaters ist es Euer gutes Recht in ihrer Anwesenheit auf eine gewisse Position zu bestehen – die müsst ihr jedoch im Nachhinein auch erhalten können: Vermeidet gereizte Reaktionen oder solche, die darauf hinweisen könnten, dass ihre Worte Euch berühren.“ Die letzten warmen Strahlen der versinkenden Sonne drangen durch die noch offenstehenden Regentüren des Westflügels und erhellten die Gänge in einem matten Rot. Minoru schwieg, während der Floh auf seiner Schulter seine Litanei unbeirrt fortsetzte. Um einige Dinge sorgte sich der Berater jedoch grundlos: Diese Frau würde ihn auch dann nicht berühren können, wenn sie ihn für vollkommen ungeeignet und unzumutbar hielt. Ihre Meinung war ihm schlicht egal, solange sein Vater sich nicht an ihr orientierte – und er konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass der seine Meinung verwarf und sich mit einem Mal gegen ihn wandte, weil seine Mutter es so wollte. Myōga hingegen schien anderer Ansicht. Mit einem winzigen Fetzen Tuch tupfte er den Schweiß von seiner kahlen Stirn und sah sich zum wiederholten Male schutzsuchend um – vergebens. Der Welpe war zu jung für ein sicheres, warmes Schulterfell, in dem der Flohgeist nun nur zu gern unauffällig verschwunden wäre. Was hätte er alles gegeben, Minoru anstelle dieser Situation zu dessen Großvater begleiten zu dürfen! Allein der Gedanke schnürte dem kleinen Berater die Kehle zu. Tōga-samas Reaktion auf seine Enkel, gleich welchen, hätte er sich an einer seiner vielen Hände abzählen können. Seinen jungen Schützling hätte das Verhalten des Meisters mit Sicherheit im ersten Augenblick verstört, doch selbst jemand wie Minoru wäre nicht umhingekommen, in der Nähe dieses Mannes ein wenig aufgeschlossener zu werden. Doch zu spät. Es war aussichtslos, die Toten zurück unter die Lebenden zu wünschen. Myōga ballte die Hände zu Fäusten und versuchte die niederschmetternden Bilder aus seinem Geist zu verdrängen. Doch das war leicht gesagt und schwer getan. Minoru nahm die Nervosität und das Unwohlsein des Flohs beunruhigt zur Kenntnis. Myōga kannte den Palast und seine Bewohner seit Jahrtausenden. Er würde deutlich besser wissen, wie die Situation einzuschätzen war. Andererseits war er ohnehin eine eher besorgte und ängstliche Person, sobald die Zeichen auf Konfrontation standen. Trotz allem wurde dem Inu die Panik langsam unangenehm. „Nun hol' mal tief Luft und beruhige dich endlich“, knurrte der Junge leise, während er lautlos über die Nachtigallenböden zum Empfangssaal schritt. „Aber junger Herr -“ „Du machst mich nervös.“ Myōga blinzelte einen Moment ungläubig, dann schüttelte er besinnend den Kopf. „Verzeiht“, flüsterte er angestrengt. „Versucht einfach bitte daran zu denken, nur dann zu antworten, wenn sie Euch unmittelbar anspricht und auch dann nur -“ „'So kurz wie nötig'“, nahm ihn Minoru den Satz vorweg und fluchte leise. „Zur Hölle, Myōga! Ich bin nicht taub! Ich habe dich die ersten achtzehn Mal schon deutlich verstanden!“ „I... Ihr habt mir zugehört?“, dem Flohgeist schwindelte mit einem Mal und er sich ein wenig tiefer in den Stoff des Kimonos krallen, um vor Verwunderung nicht von seinem Platz zu rutschen. Es gab doch einen Himmel! Kein Welpe hatte sich bisher die Mühe gemacht, seinen Ratschlägen zu lauschen – allen voran nicht der Großvater dieses Bengels! Sollte es doch noch Hoffnung auf seine alten Tage geben? „Junger Herr, ich... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ „Vielleicht hältst du dann einfach mal den Mund?“, fragte Minoru schnippisch. „Zumindest für fünf Minuten.“ Die Stirn so eng an die Tatami-Matten gepresst als beabsichtigten sie in Minorus Anwesenheit mit dem polierten Holzfußboden zu verschmelzen, kauerten die beiden Dienerinnen zu beiden Seiten der Fusuma. Die ausladenden Schiebeelemente, die den Eingang zur Empfangshalle bildeten, waren fest verschlossen und aus dem Innenraum entwich kaum mehr als die leisen, zusammenhanglosen Fetzen eines Gespräches, von dem kein klares Wort zu verstehen war. Minoru gab sich alle Mühe, die Dienerinnen seiner Großmutter nicht zu beachten und strich stattdessen abermals eine schwer sichtbare Falte aus seinem Kimono, den Yūsei wie erwartet in einen tadellosen Zustand versetzt hatte. Auf einen stillen Befehl hin zogen die Dienerinnen die schlichten Türen in einer unnatürlichen Synchronität auseinander und noch während der junge Erbe den Raum betrat, den vermutlich jeder mit etwas Verstand in diesen Stunden wohlweißlich gemieden hätte, schlug ihm die Witterung der Frau deutlich entgegen, die sich in Gegenwart des Fürsten anmaßend gelassen auf die Armlehne ihres opulenten Stuhles gestützt hatte. Chizuru, Mutter des Inu no Taishōs und Herrin über eine gewaltige Himmelsfestung in der Provinz Hida. Auch außerhalb der Burgmauern hätte Minoru sie sicher als Familienmitglied zuordnen können. Zwar waren goldene Augen und weißes Haar unter Inuyōkai nicht unüblich, doch die auffällige Ähnlichkeit zu seinem Vater war nicht zu leugnen. Die abnehmende Mondsichel auf ihrer Stirn wies dieselbe violett-blaue Farbe auf wie die ihres Sohnes – und damit auch die der zuvor an der Burg gehissten Banner. Minoru musste zu seinem Unmut wahrnehmen, dass das Eis tatsächlich äußerst dünn war, wenn sie derartige Machtspiele wagte und weiterhin in der Nähe seines Vaters saß, während dieser zu ihrer Linken Stellung bezogen und die Hände in die Ärmel geschoben hatte. Es war diese ohne Umschweife in seiner Gegenwart präsentierte Selbstsicherheit, die deutlich machte, dass es sich bei dieser Frau nicht etwa um die Schwester des Taishōs handeln konnte. Die Fusuma hinter Minoru schlossen sich mit einem höhnisch endgültigen Aufeinanderschlagen der Holzrahmen. Myōga zuckte furchtsam zusammen und warf einen zaghaften Blick über die Schulter, nur um die Türen zu mustern. Dann schluckte er und zog den Kopf noch ein wenig mehr ein. Das Yōki der einstigen Fürstin tanzte unheilvoll an der Decke des Raumes entlang und verhängte Anspannung über jeden Winkel. Minoru hingegen ließ sich davon offensichtlich nicht beeindrucken, schritt geradewegs durch die ersten beiden Ebenen des Saales und blieb schließlich steif auf dem Absatz der zweiten Stufe stehen, um eine gebührend tiefe und an der Perfektion kratzende Verbeugung zu vollführen, über die Myōga nur staunen konnte. „Er ist reichlich klein“, stellte die hohe Dame spitz fest, stützte den Ellbogen ein wenig mehr auf die rot gepolsterte Armlehne zu ihrer Rechten und legte ihr Kinn in gespielt prüfender Haltung an ihre zarten Fingerknöchel. „Und hager.“ Sie schien einen Moment nachzudenken, dann bemerkte sie scharf: „Wenn ich nicht wüsste, dass er sich jahrelang von Aas ernährt haben muss, läge der Gedanke nahe, er schlage auch diesbezüglich nach seiner Mutter.“ Myōgas kleines Herz setzte für einen Moment aus, doch als er mit böser Vorahnung zu dem Jungen blickte, der gerade erst wieder eine aufrechte Haltung annahm, hatte sich ein Ausdruck über dessen Miene gelegt, der sogar im Vergleich zu seinem ohnehin ungerührten Blick distanziert war. Augenscheinlich nahm er sich dieser Provokationen nicht an – in Wahrheit hätte er jedoch liebend gern auf dem Absatz kehrtgemacht und diese Frau mit ihren offenkundigen Schmähungen sich selbst überlassen. Sie nahm sich deutlich zu viel heraus und insgeheim fragte sich Minoru, wie es ihr wohl schmecken würde, wenn er ihr die Meinung seiner Mutter, nach der er ja angeblich schlug, über derartiges Verhalten einer Dame näher erläutert hätte. Stattdessen gab er Myōgas Ratschlägen nach und blieb ungerührt. Wenn sein Vater dieses unverschämte Verhalten kommentarlos duldete, musste auch er damit leben. „Komm näher, Junge. Ich bin schließlich nicht gekommen, um meine Augen mehr anzustrengen als nötig.“ Mechanisch gehorchte Minoru und vermied es auch hierbei seine Abneigung deutlich nach außen zu tragen. Fast hatte er vergessen, wie wenig es ihm zusagte, unbekannten oder unliebsamen Stimmen Folge zu leisten und dass sie eine Frau war machte die Angelegenheit nicht gerade angenehmer. Auch als er lediglich gut zwei Meter von ihr entfernt innehielt, mied er ihren Blick. Ausgiebig taxierte sie die Linien seiner Züge und offenbar jeden einzelnen Faden seiner Kleidung, bevor sie schließlich abermals den Blick über die dunkelroten Zeichnungen an seinen Wangen schweifen ließ und grübelnd in ihrem Stuhl zurücksank. Der Lack auf ihren Klauen blitzte in der Farbe dunkler Pflaumen auf, als sie ihre Hände anmutig in ihren Schoß legte. „Wie alt bist du?“ „Sechzehn“, entgegnete Minoru fest, auch wenn er sich dabei nicht allzu sicher war. Doch das wollte er sich nicht anmerken lassen. „Sechzehn“, wiederholte Chizuru in Gedanken versunken und ließ eine Hand über ihre mächtige Perlenkette wandern, an der ein großer, dunkel leuchtender Stein in goldener Fassung ruhte. „Sechzehn oder fünf – ein Welpe wird solch hohe Politik, auch seine eigene Person betreffend, kaum ausreichend begreifen können. Dennoch schließt das eine unfreiwillige Beteiligung nicht aus. Weißt du, Junge, etwas an deiner Geschichte will mir nicht ganz einleuchten: Angenommen du sagst die Wahrheit und hast die ersten Jahre deines Lebens mit deinem Wiesel von einer Mutter in irgendeiner schnöden Hütte gehaust: Wie erklärst du dir dann, dass die Frau, die mit deiner Verbergung nicht nur ihr eigenes Todesurteil gefällt hat, nicht bestrebt war, dich lebend zurückzubekommen? Ein kleiner, verletzlicher Welpe allein im Wald. Allein die Vorstellung bricht einer Mutter doch das Herz.“ Minoru starrte eine Weile wortlos auf den polierten Holzfußboden, in dem er sich teils spiegelte und bemerkte dabei nicht einmal den abfälligen Atemzug, der dem Fürsten soeben aus der Lunge entwichen war und den dessen Mutter gekonnt ignorierte. Er hatte sich stets vor dem Tag gefürchtet, an dem Kōhei oder seine Mutter ihn fanden und er in das kleine Haus zwischen den Hügel zurückkehren musste. Es war die richtige Entscheidung. Wenn sie mich finden, kann es nicht schlimmer werden. In den ersten Monaten hatte Minoru diese Worte wie ein Mantra verwendet bis er selbst davon überzeugt gewesen war, dass nichts schlimmer sein konnte, als weiterhin freiwillig dort zu leben. Kōhei hatte zwar behauptet, sie hätten ununterbrochen nach ihm gesucht, aber das war wenig glaubhaft. Der Fuchs war zwar niemand, zu dem er aufsah, aber auch er war in der Lage, ein ausgerissenes Kind auf einer Insel aufzuspüren. Sie hätten damit rechnen müssen, dass er früher oder später auf Inu traf – und die Folgen dieser Begegnung lagen auf der Hand. „Ich weiß es nicht.“ „Es ergibt keinen Sinn, nicht wahr? Zumindest nicht auf den ersten Blick.“ Sie lehnte sich gänzlich mit den Schultern an das Stuhlpolster und seufzte schließlich theatralisch. „Ich weiß, Männer neigen dazu, derartige Tatsachen von der Hand zu weisen, aber die prägenden Jahre im Leben eines Welpen sind nun einmal die ersten. Was in dieser Zeit versäumt oder verfehlt worden ist, wird stets nur mit Mühe in die rechten Bahnen zu lenken sein, aber niemals vollständig getilgt werden können. Äußerst bedauerlich, aber so zuträglich, wenn man eine Dynastie vernichten möchte. Nach allem was ich gehört habe nur allzu offensichtlich. Ein Pazifist! Man stelle sich das nur einmal vor: Ein Inu aus Akayas Linie, der nicht an die Waffe gewöhnt werden sollte; noch dazu schmächtig und gewöhnlich wie ein Streuner…“ Minoru schaltete ab. Er hatte den Blick allmählich vom Boden auf das opulente Bild im Rücken der Fürstin wandern lassen und hörte nicht weiter zu. Ein weitläufiges Schlachtfeld in satten Farben zierte die gesamte Breite der Wand, auf dem gewaltige Hunde mit Augen von Blattgold vielgestaltige Yōkai in einem wilden Kampf bezwangen. Einer seiner Vorfahren hatte gerade mit dem gesamten Gebiss einen eingespannten Ochsen im Rücken gepackt. Der muskulöse Körper des Hundes, über dem sich breit gefächert gleich mehrere Ruten aufrollten, war von dichtem Fell bedeckt, das in der Farbe der Wolken strahlte, zwischen denen weitere Inu dem Kampf schwebend entgegeneilten. Insgesamt annähernd zwanzig ausgewachsene Inuyōkai mit breiten Schultern und scharfen Klauen, zwischen deren Fangzähnen die Leiber der Zugtiere kaum größer wirkten als die von Kaninchen. Einer so unbekannt wie der andere. Minoru zwang sich zur Gelassenheit und schluckte ein Murren ungeäußert herunter. Krieg und Kampf waren nicht seine Welt, doch wie viel lieber wäre er in ihrer Gesellschaft durch die Wälder gestreift als auf zwei Beinen vor einem derartigen Tribunal sein Urteil zu vernehmen, das auf Kriterien fußte, die aus derartigen Prunkdarstellungen einfach nicht hervorgingen. „Oh lieber Junge, versteh' mich nicht falsch: Das alles ist nicht deine Schuld“, beendete seine Großmutter gerade ihren Monolog, als Minoru ihr erneut Aufmerksamkeit widmete. „Du kannst eben nicht anders handeln als man es dir eingebläut hat. Aber du musst einsehen, dass du uns schadest. Einsehen, wie erniedrigend es für deinen Vater wäre, ein so geartetes Kind der Öffentlichkeit vorzustellen. Wir sind alle froh, dass du uns gefunden hast und deinen Vater davon überzeugen konntest, sein Sohn zu sein, jedoch -“ „Nein.“ Das Wort war ihm in einer Endgültigkeit entwichen, die für einen Moment unangetastet im Raum stand. Auf seiner Schulter schnappte ein schockierter Flohgeist hörbar nach Luft und drückte sich enger an den seidigen Stoff des Kimonos, als Yōki wie eine Dürreperiode über sie hinwegfegte. „Wie war das?“, hakte Chizuru gefährlich leise nach. Ihre Klauen hatten sich bedrohlich gekrümmt, die Linien um die feinen, sonst so gehässig wirkenden Züge ihrer Lippen verhärtet. „Ich sagte, nein. Ich habe niemals behauptet, irgendjemandes Familienmitglied zu sein. Mein Vater sagte, ich sei sein Sohn. Daher bin ich hier. Es war sein Angebot, dem ich gefolgt bin. Nichts weiter.“ Sie schien alles andere als begeistert, hinsichtlich dieser Feinheit korrigiert worden zu sein, überspielte es jedoch beiläufig, indem sie tödlichen Klauen harmlosen Schiffchen gleich über den stahlblauen Stoff ihres Kimonos wandern ließ und einzelne Falten glättete wie Wellen in einem Meer. Das Kleidungsstück, das die darunterliegende Schicht aus weiß-violetter Seide verdeckte, fiel ihr lose über die Schultern und schien an Saum und Kragen mit einem dicken, weißen Pelz besetzt, der sie größer wirken ließ als sie es in Wahrheit war. „Es obliegt natürlich meinem Sohn allein, einen Welpen anzuerkennen“, lenkte sie schließlich ein und machte sich nicht einmal die Mühe, den Taishō anzuschauen. „Ausgeschlossen, dass er einen beliebigen Streuner in die Familie einführt, nur um sich seiner ungeliebten Pflichten zu entledigen.“ Sie lächelte süffisant und dieses Mal war es am Fürsten selbst, sie mit einem zornigen Blick zu bedenken. „Mutter. Genug.“ Abermals seufzte sie gedehnt und wedelte seine Worte mit einer Handbewegung fort als handle es sich um lästige Fliegen. Dennoch ging sie dieses Mal auf ihn ein und gab sich alle Mühe, verletzt zu klingen: „Musst du deiner armen Mutter bei jeder Äußerung Hintergedanken vorwerfen, Sesshōmaru? Das ist äußerst unhöflich von dir.“ „Euer Zynismus ist unangebracht.“ Er klang wie Eis. „Ist er das?“, fragte sie und hob die Augenbrauen in aufgesetzter Überraschung. Der Tonfall des Taishōs schreckte sie nicht im Geringsten ab. Minoru, der mit dem Einschreiten seines Vaters davon abgesehen hatte, seine gesamte Aufmerksamkeit erneut der Wandmalerei zuzuwenden, um die drohende nächste Welle an Schmähungen auszublenden, musterte die Frau erstmalig. Er wurde das Gefühl nicht los, sich zwischen den Klauen einer spielenden Katze zu befinden, die ihn mühelos wie einen Ball bearbeitete, jedoch nie dazu überging, die Krallen tief hineinzuschlagen. „Was bleibt mir außer Zynismus? Nach hunderten von Jahren, in denen ich dich ständig daran erinnern musste, dass ein männlicher Erbe unerlässlich ist, präsentierst du mir ihn. Ist das deine Art von Humor, Sesshōmaru, oder möchtest du deine Mutter tatsächlich kränken?“ Sie sah ihren Sohn mit funkelnden Augen an. „Die Dienerschaft zerreißt sich das Maul und du erwartest, dass ich diesem unterwürfigen Welpen freundliche Worte widme?“ „Ihr könnt Euch Eure Mühen sparen“, hob Minoru in ruhigem Ton an, noch ehe sein Vater etwas erwidern konnte. „Ich gebe weder etwas auf das Geschwätz der Leute noch auf Eure Meinung. Das einzige Urteil, das mich interessiert, ist das meines Vaters.“ Sowohl der Fürst als auch dessen Mutter hatten sich ihm zugewandt und musterten ihn wahlweise unergründlich ernsthaft oder wenig erfreut. „Wie pathetisch!“, entfuhr es Chizuru schließlich stöhnend, als sie die ausgedehnte Stille durchbrach. Sie stützte die Elle abermals auf ihrer Lehne und warf ihm einen gelangweilten Blick zu. „Nicht einmal annähernd“, gab Minoru ungerührt zurück und fing mit einer Hand Myōga auf, der soeben ohnmächtig von seiner Schulter gefallen war. „Wie Ihr schon sagtet, obliegt die Entscheidung, mich in der Familie aufzunehmen, meinem Vater allein. Ebenso, ob ich ihm nachfolgen werde oder er mich für einen anderen aus dem Weg schaffen muss. Nennt mir also einen Grund, warum ich mich um Eure Ansichten scheren oder mir auch nur eine weitere Beleidigung anhören sollte.“ „Du wirst unverschämt.“ „Ihr irrt, wenn Ihr denkt, dass ich für meine Zufriedenheit anstrebe, mich allerorts lieb Kind zu machen.“ Für einige Augenblicke sah sie ihn schweigsam an, dann breitete sich ein Lächeln auf ihren Zügen aus und sie wandte sich unversehens an ihren Sohn. „Weißt du nun, was du wissen wolltest, Sesshōmaru?“ Sie legte ihre Wange in die eine Hand, während die andere mit zwei Fingern erhaben Worte von sich wedelte, die niemals gefallen waren. „Du brauchst mir natürlich nicht zu danken – auch wenn ich darauf bestehen muss, dass du in Zukunft derartige Unklarheiten frühzeitig aus der Welt schaffst.“ Minoru blickte fragend von ihr zu seinem Vater und verstand beim besten Willen nicht, woher der unerwartete Themenwechsel rührte. Doch der Fürst stand da, schweigend und mit einem eigenartigen Blick auf seinen Sohn, dass es schien, als habe der ihm etwas vollkommen Sonderbares eröffnet. Minoru hatte einen Weltuntergang erwartet – doch sicherlich nicht das. Sollte Myōga sich in seinen Einschätzungen geirrt haben? „Dein Vater“, hob seine Großmutter ernst an, „war der Meinung, ich solle mich nicht darauf verlassen, dass du in Anbetracht der Umstände gewillt bist, das Leben zu führen, das für dich vorgesehen war.“ Sie gab einen aufmüpfigen Ton von sich und musterte ihren Sohn scharf. „Da präsentiert er mir nach hunderten von Jahren einen Enkel und wagt es, solchen Unsinn in den Raum zu stellen.“ Als sie Minoru erneut ansah, wurde ihr Blick deutlich zufriedener. „Du scheinst mir jedoch sehr sicher zu sein.“ Minoru stockte. „Wie muss ich das verstehen? Was ist mit dem ganzen Gerede über den Einfluss meiner Mutter und meine Unzulänglichkeiten?“ „Also wirklich, Kind! Glaubst du tatsächlich ihr niederes Wesen könnte sich mehr in dir niedergeschlagen haben als mein Sohn? Was für ein kurioser Gedanke!“ Sie lächelte versöhnlich und legte die Hände anmutig zurück in ihren Schoß. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)