Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 42: Es obliegt uns allein --------------------------------- Die warme Nachtluft schmeckte nach Schweiß und Sommerhitze. Menschen säumten auch nach Sonnenuntergang die Straßen und Gassen sowie den zentralen Dorfplatz und sammelten sich am über allem gelegenen Schrein. Wie verlorene Schiffchen trieben sie von einem Gespräch zum anderen oder dümpelten voll trüber Stimmung auf der Stelle. Was ein Jahrhundert voller Bürgerkriege nicht vermocht hatte, schafften Drachen binnen Monaten: Seit dem letzten Halbmond vor gut zwei Wochen flohen Bauern aus den höheren Lagen in die Ebenen. Verließen Höfe, Vieh und Felder, um ihre nackte Haut zu retten. „Versprechen kann ich nichts, aber es sollte möglich sein, wenigstens ein paar der Flüchtlinge im Tempel unterzubringen. Die Hilfsgüter haben die Ältesten schließlich auch zur Verfügung gestellt.“ Bosatsu zog zum wiederholten Male am Kragen seines Kesas, um sich Abkühlung zu verschaffen. Doch die Hitze war auch bei Nacht noch zu unnachgiebig für einen Menschen und staute sich zudem innerhalb der engen, überfüllten Straßen. Mirokus einziger Sohn war bereits vor Jahren dem väterlichen Erbe seiner Familie gefolgt und Mönch geworden, wie schon viele Generationen vor ihm. Sein Orden lag gut vier Tagesmärsche südwestlich von Musashi und ohne Kaitos drängend verfasstes Schreiben wäre er der Situation in seiner alten Heimat kaum gewahr geworden. „Oder sie sehen ihre Pflicht damit als getan an“, erwiderte Kaito trocken, während er abermals einen prüfenden Blick zum entfernten Waldrand hinübergleiten ließ. Sie waren dort draußen, daran bestand kein Zweifel. Sobald man sich dem Unterholz näherte, krochen unkontrollierte Nuancen Yōki wie lästige Mückenschwärme über die bloße Haut. Schwache Wesen einfacher Gestalt, doch ausreichend, um eine Gruppe Menschen hinzuschlachten. Sie folgten ihnen wie Mäuse dem Speck und mit jedem ankommenden Flüchtling schienen ihre Reihen dichter zu werden. Im Verborgenen der Wälder wimmelte es bereits von ihnen, während sich das übrige Leben im Dorf zusammenpferchte und der Handel beinahe zum Erliegen gekommen war. Die wenigen Waren, die durch den Geleitschutz von Inuyashas und Mirokus Familien Musashi erreichten, waren kaum der Rede wert und auch die Lieferung des Mönchsordens, die Bosatsu auf Kaitos Bitte hin herangeschafft hatte, war in dieser Hinsicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn sich nicht bald etwas änderte, würden sie noch vor der kommenden Ernte hungern – und wie die bei dieser anhaltenden Hitze aussehen würde, blieb vorsichtig abzuwarten. Der einzige Vorteil, den ein so harter Sommer barg, bestand in diesen Tagen darin, dass die sonst hüfthohe Grasfläche, die über einige Kilometer bis an den Waldrand heranreichte, so trocken und vergilbt war, dass sie kaum die Schuhe bedeckte. Nicht einmal eine einfache Schlange hätte sich bei dieser Vegetation unbemerkt an das Dorf heranschlängeln können – zumindest nicht bei Tage. Kaito brummte und schloss für einen Moment angestrengt die Augen. Das rege Treiben störte und das Licht der hell erleuchteten Häuser erschwerte die Sicht in dieser mondlosen Nacht. Er konnte es sich nicht leisten, einen Fehler zu machen. Nicht heute. Er war damit aufgewachsen, dass das Dämonenblut seines Vaters in den mondlosen Nächten den Dienst versagte und er zu einem Menschen wurde. Als Kaito noch klein gewesen war, hatte sein Vater ihn in diesen Stunden zur Seite genommen und Geschichten über die Abenteuer erzählt, die einst die Gruppe zusammengeschweißt hatten: Der Halbdämonen Naraku, die Shinchinintai, Sō'ungas Untergang, die Insel Hōrai, das Mädchen und der böse Wolf und viele andere. Er hatte diese Abende geliebt und sie herbeigesehnt. Doch seitdem er zu alt geworden war, um mit großen, staunenden Augen zu seinem Vater aufzusehen und schließlich in seinem Schoß einzuschlafen, ging er ihm bei Neumond lieber aus dem Weg. Inuyasha gab sich während dieser schwachen Tage insbesondere seinem Sohn gegenüber zusehends gereizt. Kaito war alt genug seine eigenen Schlachten zu schlagen, älter sogar als seine Eltern es während ihrer Reisen gewesen waren, und es missfiel Inuyasha offenbar, in solchen Nächten im Schatten seines Sohnes zu stehen. Bis zu einem gewissen Grad konnte Kaito das nachvollziehen. Gleich zweimal im Monat schwand seine eigene dämonische Aura und ließ ihn wehrlos zurück bis der Morgen graute. Es gab kaum etwas Grausigeres, als die sonst so scharfen Sinne einzubüßen und sich für die Zeit einem kleinen Kind gleich auf jemand anderen verlassen zu müssen – und er wollte sich lieber nicht vorstellen, wie es sich anfühlen musste, wenn dieser Jemand der eigene Nachwuchs war, den man lieber sicher Zuhause wüsste. Doch Unwillen half nicht. Bei Neumond war Inuyasha als gewöhnlicher Mensch keine verlässliche Hilfe und auch Tessaiga schickte sich in diesen Nächten nicht an, mehr zu sein als eine alte, rostige Klinge. „Ich werde dem Abt schreiben und um weitere Hilfe bitten“, erklärte Bosatsu, sobald Kaito nicht mehr in die Ferne starrte und sich stattdessen angestrengt die Augen rieb. „Solange ich auf Antwort warte, habt ihr sicher den ein oder anderen Bedarf an helfenden Händen.“ „Braucht man dich nicht im Kloster?“ Der junge Mönch fuhr verlegen mit der Hand durch seinen Nacken. „Die Überfälle scheinen sich auf den Osten zu beschränken und in den Ebenen kommen die Flüchtlinge deutlich besser voran. Damit bleiben die meisten wohl hier hängen. Von den östlichen Orden haben wir allerdings seit einer ganzen Weile schon nichts mehr gehört... .“ Er hielt inne und Kaito bedachte seinen Freund mit einem mitfühlenden Blick, während sie ihren Weg am Dorfrand entlang fortsetzten. Es dauerte einen Moment, bis Bosatsu sich von dem Gedanken an seine verlorenen Ordensbrüder lösen konnte. „Ich sollte damit besser umgehen können, das weiß ich. Aber es liegt mir einfach nicht. Wir sollten diesen Krieg schnell beenden. Es ist das eine, wenn Dämonen Menschen nachstellen, aber wenn sie Krieg gegen sie führen...“ „Ich würde das nicht als Krieg bezeichnen“, brummte Kaito und sah aus den Augenwinkeln zu einer Ansammlung geflüchteter Familien, denen nichts als die Kleidung an ihrem Leibern geblieben war. Die Frauen hielten ihre Kinder in ihrer Nähe, pressten sie wenn möglich an sich, um im Falle eines Angriffs vorbereitet zu sein – seit Tagen. Die älteren Generationen waren kaum vertreten. Flucht lohnte sich nur für jene, deren Füße sie ausreichend weit tragen konnten. So blieben die Alten zurück, wissend, was auf sie warten würde – und ebenso spiegelte die Situation in Musashi nur einen Splitter der Wahrheit. Das wahre Chaos lag im Osten. „Zum Krieg gehören zwei. Inu und Drachen, das mag ein Krieg sein. Dies hier ist ein Schlachtfest.“ Es war längst kein Geheimnis mehr, dass der Panther-Clan die Fähigkeit besaß, die Lebenden zu opfern, um die Toten ins Diesseits zurückzurufen. Auch Kagome war einst nur knapp dem Schicksal entgangen, im Austausch für einen längst verrotteten General der Katzen zu sterben. Mit den spirituellen Kräften einer Miko hatte sie ein begehrtes Ziel geboten, das viele gewöhnliche Menschenleben ersetzte. Selbiges galt für einige Mönche. In Anbetracht der stetig wachsenden Zahl von Drachen wollte Kaito lieber nicht darüber nachdenken, wie viele Bauern es wohl brauchen mochte, um auch nur eine der Echsen den Übertritt aus dem Jenseits zu gewähren – insbesondere, da sie mit jedem Zusammentreffen lebendiger wirkten. Selbst bei tiefen Verletzungen, die sie ihnen selten genug zufügen konnten, war kein Verwesungsgeruch mehr wahrnehmbar. Sie waren immer noch auferstandene Tote, aber wie oft man sie auch attackierte, sie starben nicht. Ihre Körperteile strebten zurück an ihren Platz und auch Feuer war unfähig sie zu zerstören. Mit anderen Worten: Der Kampf war aussichtslos. Noch vor einigen Monaten war Rins Predigt von Zusammenhalt und Vertrauen auf heftigen Widerstand gestoßen; auch seinerseits. Mittlerweile dachte er an diesen Abend mit gemischten Gefühlen zurück. Es war bedenklich, wie sehr sich die Stimmung seither gewandelt hatte. Waren am Anfang noch alle überzeugt gewesen, dass Musashi in Sicherheit sei und man sich nur Sorgen um andere Dörfer machen müsse, wusste man mittlerweile, dass man den Moment der Intervention verpasst hatte. Die meisten Dörfer im Osten waren den Drachen und Panthern zum Opfer gefallen und bisher hatte sich kein wirksames Mittel gegen diese Dämonen aufgetan, indes Musashi mit seinen steigenden Bevölkerungszahlen und der Nähe zum Osten unweigerlich in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte. Die Situation war verrannt. Jeder versuchte, Schadensbegrenzung zu betreiben, während das eigentliche Problem sie nach und nach einkreiste. Wie lange konnte das Dorf unbehelligt überstehen, wenn der Osten ausgebrannt war? Wie lange konnte es in sich bestehen, ohne dass ein Großteil der Bevölkerung verhungerte? Inuyasha, Sango und Miroku hatten mehrfach zugestanden, aktuell keine Lösung zu haben. Sesshōmarus Name war einige Male gefallen. Aber eher im Stillen. Nie im Ernst. Es war bekannt, dass der Inu no Taishō im Osten Krieg führte. Mit einer Truppenstärke, die keiner ihm zugetraut hatte. Nun, im Grunde hätte es auch niemanden gewundert, hätte er das Schlachtfeld im Alleingang betreten. Keiner sah ihn als Anführer ganzer Truppen, geschweige denn, dass einem der Erwachsenen bekannt gewesen wäre, dass er solche überhaupt besaß. Aber Kaito und Honoka wussten es besser. Sie hatten eine Nacht beim Generalleutnant dieser Armee verbracht, die Soldaten und Anlagen mit eigenen Augen gesehen. Anlagen, ausgelegt auf mehr Personal als tatsächlich dort im Dienst stand. Die Inu stellten eine handlungsfähige Kriegsmacht dar – und dennoch wog in diesem Krieg nur eine einzelne Waffe mehr als tausend Soldaten: Tenseiga. Das Schwert des Himmels, das mit einem Schlag einhundert Tote auf eine Weise wiederbeleben konnte, die auch den Panthern verwehrt blieb. Reiner, unverdorbener. Tenseiga sollte damit auch dazu fähig sein, einhundert dieser untoten Bestien zurück ins Jenseits zu befördern. Endgültig. Doch es schien, als sei diese Macht bisher nicht zu tragen gekommen – warum auch immer. Die Schlinge um Musashi zog sich mit jedem Tag enger und so sehr die Erwachsenen auch Durchhalteparolen predigten, wollte Kaito nicht daran glauben, dass alles sich so einfach zum Guten wenden würde. Sie waren handlungunsfähig, machtlos und auf ihre Weise damit auch ratlos. Inuyasha hatte viel auf die Hoffnung gesetzt, dass die Drachen wieder sterblich würden, wenn sie erst einmal ganz ins Leben zurückgekehrt waren. Ein Irrtum. Vielleicht hätten sie vor Jahren vehementer versucht, einen Ausweg zu finden. Hätten das Problem an der Wurzel gepackt. Doch bislang blieb es beim Auflesen der Scherben; beim Retten der fliehenden Massen in ein Dorf, das sich damit nur in den Mittelpunkt des Interesses rücken und selbst zersetzen würde. Eine taktische Sackgasse. Ein selbst geschaufeltes Grab. Kaito ließ den Gedanken fallen und wandte sich nachdenklich nach Nordwesten. Jenseits der verdorrten Wiesen und Felder lag der Wald dunkel und unergründlich unter dem schwachen Sternenlicht. Die Grenzen zwischen Baumkronen und Nachthimmel waren fließend; die Ruhe trügerisch. Es herrschte Windstille und dennoch war Kaito, als lege sich ein Hauch von Wärme über ihn. Das Gefühl trieb ihm Schauer über die Haut und fegte seinen Verstand frei von all den schwirrenden Gedanken. Er ließ Bosatsu am Dorfrand zurück und war mit einigen Sprüngen bereits über die Hausdächer auf den Aussichtsturm in der Mitte des belebten Dorfplatzes gelangt. Die meisten Flüchtlinge waren den Anblick eines Han'yōs nicht gewohnt und fuhren erschrocken zusammen oder schrien gar auf. Den alte Mann, der seit einigen Stunden im Aussichtsturm Wache hielt, ließ jedoch allein die böse Vorahnung erbleichen, als Kaito ihm wie aus dem Nichts gegenüberstand. Sekunden später dröhnte der alarmierende Gong durch die Ebene. Das gesamte Dorf geriet in Bewegung. Die Menge stob auseinander, Personen stürzten über ihre Füße und übereinander, drängten in die engen Gassen und warfen ängstliche Blicke in den Himmel oder auf das offene Feld. Männer bewaffneten sich mit Waffen und Werkzeug gleichermaßen und sammelten sich auf dem Dorfplatz zu Füßen des Turmes, als sie keinen Feind ausmachen konnten. Es war Honoka, die kurz darauf als erste an Kaitos Seite erschien. Ein wenig umständlicher als ihr Bruder überwand sie die zehn Höhenmeter, die die Plattform des Aussichtsturmes vom Erdboden trennten, und setzte neben ihm auf den Holzplanken auf. Ihre Hand fand seinen Rücken, krallte sich ob der Höhe in den blauen Stoff seines Hakamas, während sie seinem Blick zum Waldrand folgte. „Was hast du gehört?“ „Noch nichts“, Kaito legte einen Arm um ihre Hüfte, um ihr mehr Sicherheit zu geben. Höhe war nicht unbedingt ihre Stärke. „Es ist ein Gefühl. Eine Aura.“ „Die Wälder sind voll von Dämonen -“ „Für diese halben Portionen würde ich nicht Alarm schlagen lassen“, erwiderte er in einem Ton, der ihren Herzschlag in einen hastigen Rhythmus schickte und sie näher an ihn heranrücken ließ. Honoka hatte Angst. Sie war gefasster als die panischen Menschen zu ihren Füßen, aber dennoch fürchtete sie den nahenden Kampf von ganzem Herzen, während seines weiterhin demselben, dumpfen Takt folgte; seine Gedanken nur den Möglichkeiten galten. Aber was daran verwunderte ihn überhaupt? Während sie das Dorf nur äußerst selten verlassen und ihren einzig echten Kampf vor einigen Monaten bestritten hatte, brauchte es deutlich mehr als herannahende Dämonen, um ihn aus der Fassung zu bringen. Problematisch war jedoch die Masse an unkontrollierbaren Personen. Ganz gleich, was auf sie zukam: Sobald die Menschen auseinanderstoben, gar fluchtartig das Dorf verließen, wären die möglichen Fronten mannigfaltig und Opfer unausweichlich. Kaito ließ ein letztes Mal den Blick über die Ebene schweifen, dann sprang er mit seiner Schwester auf den festgetretenen Dorfplatz hinab, wo sich auch ihre Eltern unter die Bewaffneten gemischt hatten. Wenige Minuten später erzitterte der staubtrockene Boden zum wiederholten Mal. Die Dorfbevölkerung hielt für einen Moment den Atem an, während Kaito hörbar mit den Zähnen knirschte. Natürlich hatte der Dämon keinen anderen Weg gewählt – und zu allem Überfluss schien er nicht allein zu sein. Inuyasha hielt sich dicht neben seinem Sohn und lauschte mit seinem bedauernswert schwachen Gehör in die Finsternis hinein. In jeder anderen Nacht wäre seine Nähe beruhigend gewesen, hätte sein vertrauter Geruch und die ihn umgebende warme Aura Kaito daran erinnert, dass sie sicher waren, solange er nur an ihrer Seite blieb. Doch die eigentümlich fade Witterung, die nun von ihm ausging, das gänzlich fehlende Schwelen des allzu vertrauten Yōkis und Inuyashas eigener, stummer Ärger über seine Wehrlosigkeit, setzten Kaito zu. Er hatte keine Angst vor einem Kampf. Die hatte er bislang selten verspürt und vermisste dieses Gefühl auch nicht gerade. Doch allein die Sorge, eine falsche Entscheidung zu treffen und damit so viele Leben zu gefährden, wie das Dorf gerade beherbergte, schnürte ihm die Kehle zu. Natürlich war er nicht der Alleinverantwortliche für die bevorstehende Schlacht. Seine Mutter war mit Honoka zu gut vierzig Bogenschützen gestoßen, unter denen sich auch Saki und Mei befanden. Ihren Ältesten hatten Miroku und Sango mit in die Reihen der Nahkämpfer genommen, die sich bei Bedarf noch einmal aufteilen würden, um jene mit Wurfgeschossen, wie die Sutras es waren, in die hintere der beiden Frontreihen zu lassen. Bosatsu war derartige Situationen durch sein Leben im Kloster nicht gewohnt und sah dem nahenden Kampf dementsprechend blass entgegen. Immer wieder benetzte er seine Lippen mit der Zunge und sah sich so verstohlen und hilflos um, dass Kaito bereute, ihn zu einer so ungelegenen Zeit ins Dorf gebeten zu haben – gleich wie wichtig die gelieferten Güter auch gewesen sein mochten. Das einzig Gute war, dass niemand sonst wusste, dass diese Lieferung auf sein Erbitten hin vonstatten gegangen war. Andernfalls wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit jeder Kratzer, den sich der junge Mönch in dieser Nacht noch zuzog, ihm zur Last gelegt worden. Er biss sich auf die Unterlippe und verabscheute sich für diesen egozentrischen Gedanken. Gleich was mit Saki und Mei war – Bosatsu war sein Freund und er wollte natürlich nicht, dass man ihn in irgendeiner Form verletzte. Dennoch war da dieser stetig nagende Hintergedanke, dass man jedweden Fehler später bei ihm suchen würde. Entnervt rollte Kaito mit den Schultern. Er wusste, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Niemand würde wirklich die Schuld allein bei ihm suchen, doch er tat sich schwer damit, das auch zu glauben. War es nicht schon wieder Aussage genug, dass Saki und Mei lieber bei den Bogenschützen Stellung bezogen hatten, statt wie üblich mit Yari und Speer zu kämpfen – oder bildete er sich auch das nur ein? Im Grunde war er froh, nicht viel mit ihnen zu tun haben zu müssen, dennoch hatte er dieses Gefühl allmählich satt – und überhaupt lenkte diese Uneinigkeit nur ab! Er fuhr sichtlich zusammen, als Inuyasha ihm eine Hand auf den Rücken legte und die Fingerspitzen mit Nachdruck in seine Schulter grub. „Konzentration“, sagte er ernst und ließ die Hand entspannt auf Kaitos Schulterblatt liegen, sobald er dessen Aufmerksamkeit hatte. „Wo streunerst du herum, huh?“ „Ich bin hier.“ Seinem Vater entfuhr ein abfälliges Schnauben, dann senkte er die Stimme: „Keh! Dein Kopf jedenfalls nicht. Es wundert mich immer wieder, wie wenig Angst du hast. Aber wenn du die Zeit, die andere mit Schlottern verbringen, mit Grübelei vollstopfst, würde ich es vorziehen, wenn du den Kopf in den Sand steckst.“ Er nahm den Biss aus seinen Worten, als er fortfuhr. „In der Gegenwart kannst du etwas ändern. Nicht in Gedankenschlössern. Die fressen nur Zeit und Nerven.“ Zur Antwort atmete Kaito tief durch und nickte. „Wir sind bisher aus Situationen herausgekommen, die schlimmer waren als diese hier.“ „Mit einer gewaltigen Ansammlung scheuer Hühner im Hintergrund? Ohne Tessaiga?“, erkundigte sich Kaito schnippisch und warf einen Blick auf die alte Magnolienholzscheide an der Seite seines Vaters, in der das Katana die heutige Nacht im Tiefschlaf verbringen würde. Ohne Yōki war das Erbe des großen Inu no Taishōs nichts als eine rostige, mit tiefen Kerben übersäte Klinge, die vermutlich gerade noch einen Apfel auf Anhieb entzweischneiden konnte. Keine Waffe, nach der man sich am Straßenrand umgedreht hätte und sicherlich keine Hilfe. „Wenn die Panik das Dorf auseinandertreibt, sind sie so gut wie tot.“ „Ich sagte, ‚wir‘“, erwiderte sein Vater kalt und ließ die Hand von seinem Rücken gleiten, um sich das nachtschwarze Haar aus dem Gesicht zu streichen. Kaito warf ihm einen ungläubigen Blick zu, ließ diese Aussage jedoch unkommentiert, während Inuyasha gedankenversunken Tessaigas schäbige Klinge aus der Magnolienholzscheide zog. „Zieh‘ es bis zum Sonnenaufgang hinaus, wenn es sein muss“, raunte er leise. Ihre gefährlichste Offensivwaffe bis zum Sonnenaufgang nutzlos und die einzige Defensive der violett schimmernde Schutzschild seiner aus reiner Gutherzigkeit überarbeiteten Mutter. Es gab miserable Momente für einen Dämonenüberfall – und es gab diesen. Die Sekunden verstrichen und die Anspannung kroch an ihm empor wie eine kalte Schlange. Wand sich an seinem Körper hinauf bis zu seiner Kehle und schnürte sie zu. Prüfend betrachtete er den Schutzschild, der in der Dunkelheit sanft flackerte und verstärkte den Griff um sein Katana, bis der Druck sämtliches Blut aus seiner Hand gepresst hatte. „Sie kommen näher“, warnte Kagome leise, die die dämonischen Auren ebenso wahrnahm wie ihr Sohn. Noch ehe sie ausgesprochen hatte, war das Bersten von Holz über die gesamte Ebene zu hören. Die Bäume gaben nach und schlugen ächzend im nahen Wald auf. Wieder bebte die Erde, donnerte nach, als ein schwerer Körper auf den Boden aufschlug und eine Mischung aus Knurren und Kreischen die Nacht erfüllte. Dann kamen sie in Sicht. Äste wurden in alle Richtungen davon geschleudert und eine Buche schwankte bedrohlich, als ein Ungetüm von einem Hund zwischen den Stämmen hervorbrach und unvermittelt auf die Siedlung zuhielt. Die schweren, weißen Pfoten rissen mit ihren Klauen Erdbrocken aus der Hügelneigung und schleuderten sie mitsamt der vertrockneten Grasnarbe davon. Die spitzen Ohren angelegt und mit gesträubtem Schwanz- und Nackenfell, preschte der Inuyōkai in die Senke. Die Hunde im Dorf spielten verrückt, sobald sie ihn bemerkten. Sprangen in ihre Ketten. Kläfften, heulten, jaulten ohrenbetäubend, feuerten die Panik der Menschen an, die im Angesicht des Dämons schreiend auseinanderstoben und in ihrer Angst übereinander stolperten. „Sesshōmaru!“, verkündete Sango überrascht. „Was will er hier?“ „Das ist der Welpe“, stellte Inuyasha barsch fest. Der Hund war zwar sicherlich doppelt so groß wie ein ausgewachsenes Rind, aber im Vergleich zum Inu no Taishō kaum mehr als ein Halbwüchsiger. „Minoru…“, Kaito hatte die Ohren angelegt und knurrte; verkrampfte bis ins in den letzten Muskel, während sich seine Gedanken überschlugen. Wie konnte es dieser abgebrochene Zwerg wagen, einen Angriff auf sein Dorf anzuführen?! Daiyōkai hin oder her! Es war ausgeschlossen, dass Sesshōmaru um die Schwäche seines Vaters wusste! Es sei denn – nein. Die Art mit der sein Vetter auf das Dorf zuhielt, ließ Kaito innehalten. Er hatte keine Erfahrungen mit Hunden, doch etwas an ihm wirkte nicht weniger panisch als die schreiende Menschenmenge, die zwischen den Gebäuden Schutz suchte. Just im selben Moment fiel auch der Widerstand der alten Buche, die bereits unter Minorus massigem Körper gelitten hatte, und gab das fahl glänzende Schuppenkleid eines gewaltigen Drachen frei. Minoru warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und versuchte, das Tempo noch einmal anzuziehen. Der Drache stieß ein hämisches Schnauben aus seinen Nüstern, als er die schutzlose Ansammlung von Menschen und Halbdämonen bemerkte, dann nahm er erneut die Verfolgung auf, zog mit seinem langen Körper wenige Zentimeter über dem Boden entlang und gewann auf der freien Fläche schnell an Geschwindigkeit. Ihre Chancen witternd strömten nun auch die niederen Dämonen einer Flut gleich aus dem Unterholz hervor und stürmten im Windschatten des Drachen sowie über die Flanken auf das Dorf zu. Die Bogenschützen eröffneten umgehend das Feuer auf sämtliche Ziele. Pfeile sirrten durch die Luft und ergossen sich auf die Heranstürmenden. Schreie verwundeter Dämonen gellten in den Nachthimmel hinauf, dessen Finsternis den dunklen Drachen nahezu gänzlich schluckte. Die wenigen Pfeile, die ihn erreichten, prallten an seinen glänzenden Schuppen ab wie Fliegen. Als einziger gut sichtbar kostete es Minoru alle Mühe, im rechten Moment einen Haken zu schlagen, um der stählernen Schneise zu entgehen, von der sich der Großteil der Geschosse nutzlos in die karge Wiese bohrte. „Lasst den Köter“, donnerte Inuyasha lauthals über die Menge hinweg. „Kagome! Lass ihn durch die Barriere!“ Sangos Stimme knallte wie eine Peitsche, während sie voranstürmte: „Zielt auf die Oni! Nahkämpfer an den Drachen!“ Wie befohlen ließ Kagome den frontalen Abschnitt ihres Schildes fallen. Kaito rollte mit den Schultern, zog sein Katana aus der Scheide und wollte gerade mit den anderen nach vorn sprinten, als ihn eine undefinierbare Aura aus den Reihen der Bogenschützen wie ein Eisregen überflutete. Atemlos warf er einen Blick zu seiner Schwester, die nicht minder schockiert in die Schützenreihe vor sich starrte. Etwas an dem Pfeil, den Saki dort soeben an die Sehne ihres Bogens legte, ließ Kaito instinktiv zurückweichen wie jedes vernünftige Lebewesen Abstand von den Flammen eines Großbrandes nehmen würde. Beim Anblick der schimmernden Spitze schien die Welt einen tiefen Atemzug zu tun. Das Grölen des Kampfes, das sich mit dem Adrenalin zu einem dumpfen Hintergrundrauschen formte, schwoll ab. Die langsam gespannte Ledersehne unter den schmalen Frauenfingern wie die Saiten eines Instrumentes... geübt… kontrolliert... Einatmen. Ein routiniert ausgedrehter Bogenarm, das sorgsam fixierte Ziel zwischen den Brustschuppen des schwarzen Drachen... Ausatmen. Ein abruptes Umschwenken der Waffe – und dann geschah alles auf einmal. Während der Pfeil von der Sehne schnellte, schlug Honoka der Dämonenjägerin ihren Bogen gegen den entblößten Hals und konnte doch nur mit ansehen, wie das Geschoss die Barriere ungehindert passierte und mit einem dumpfen Geräusch in die Brust des Hundes einschlug. Entgegen aller Erwartungen brachen Minoru augenblicklich die Beine weg. Eine Furche ziehend klappte der Inu zusammen, überschlug sich unheilvoll und blieb schließlich mitten auf der Fläche liegen. Kaito starrte einen Moment mit leerem Blick auf den regungslosen Hund. Aus den Augenwinkeln nahm er gedämpft war, wie Saki, Honoka und Mei von den umstehenden Bogenschützen auseinandergerissen wurden. Der Lärm, den sie damit verursachten, drang nicht mehr zu ihm vor. Seine Aufmerksamkeit galt dem Drachen, der ein donnerndes Grollen ausstieß, ehe er trotz der herannahenden Krieger an Geschwindigkeit zulegte – dann entriss Kaito seinem Vater die Schwertscheide, ehe dieser einen Ton des Unmuts hervorbringen konnte, ließ ihn mit der rostigen Waffe stehen und setzte durch den wieder erstarkenden Schutzschild hindurch zur Frontlinie. Die gellenden Schreie seiner Eltern flogen an ihm vorbei, während er mit Leichtigkeit Sango und die übrige erste Linie überholte, einigen entgegenkommenden Oni auswich und zu Minoru aufschloss. Der Staub, den der Drache aufwirbelte, schlug ihm ins Gesicht, als er über die Schnauze des Hundes hinwegsetzte und die Schwertscheide mit Wucht in den trockenen Boden rammte. Einen Atemzug später krachte die Echse ungebremst auf den Bannkreis, dass die Wucht des Aufpralls Kaito noch im Innern von den Füßen riss und gegen Minorus Kopf schleuderte. Fauchend zuckte der Drache zurück, ehe er kopflos nochmals auf sie niederfuhr. Seine Zähne, lang wie Männerarme, schabten knirschend über die unsichtbare Barriere, die die Magnolienholzscheide schützend über den beiden Jungen spannte. Der Bannkreis funkelte beim Aufschlag in einem grellen Blauviolett, die Schwertscheide in seinem Zentrum erzitterte – aber er hielt stand. In Kaitos Rücken regte sich der Inu. Weicher, weißer Pelz strich über die bloße Haut an seinem Nacken und jagte ihm eiskalte Schauer über den Rücken. Es bedurfte eines vollkommenen Idioten, um sich an der Seite eines verletzten, halbwüchsigen Daiyōkais innerhalb eines winzigen Bannkreises einzusperren. Kaito biss die Zähne aufeinander, bis es knirschte und verlagerte sein Gewicht sprungbereit auf die Beine – schuldig im Sinne der Anklage. Das Knurren, das hinter ihm kehliger zu werden drohte, wurde jäh übertönt. Der Knochenbumerang surrte laut über ihre Köpfe hinweg und traf den vor Wut speichelnden Drachen am beschuppten Hals. Dichter, schwarzer Qualm stieg von unzähligen Rauchbomben empor und presste sich in einer fahlen Wolke an die Kuppel des Bannkreises. Der Drache brüllte wütend und durchschlug blindlings den Rauch mit seinem Schwanz, während die Dorfbewohner ihn umstellten. Kaito zwang sich mühevoll den Kampf auszublenden und wandte sich zu Minoru um. Ein Ton der Erleichterung entfuhr ihm, als er sah, dass sich die monströse Gestalt des Hundes unter dem Bannkreis aufgelöst hatte. Zeitgleich jedoch drehte ihm das Elend den Magen um. Minorus lag zusammengerollt auf der Seite. Pfeile, die nicht tief genug durch sein Fell gedrungen waren, um in der Haut stecken zu bleiben, waren am Boden verteilt. Sein Atem ging zu flach und die burgunderfarbenen Muster seines Kimonos waren zwischen all dem Blut kaum noch zu erkennen. Es gab zahlreiche Wunden, die zu weit aufgerissen waren, um von den Pfeilen des Dorfes zu stammen. Der Drache hatte ihm ausreichend zugesetzt und Sakis Pfeil, der tief in seine rechte Schulter eingeschlagen war, das Übrige getan. Fluchtbereit ging Kaito an seiner Seite in die Hocke, rollte ihn grob auf den Rücken und riss sofort die Hände zurück, um einen etwaigen Angriff zu entgehen. Tiefes Rot hatte Minorus Augen durchsetzt, doch abgesehen von diesem Tanz am Abgrund der Verwandlung war sein Blick derart matt, dass Kaito sich sicher war, dass er ihn nicht einmal wirklich wahrnahm. „Meine Fresse, siehst du scheiße aus“, brummte er und betrachtete den Pfeil, der aus der rechten Schulter seines Vetters ragte, mit Skepsis. Er steckte bedenklich tief unmittelbar unterhalb seines Schlüsselbeines, war beim Sturz auf halber Länge abgebrochen und die bedrohliche Aura war nur noch verschwommen wahrnehmbar. Was blieb war ein mulmiges Gefühl, als Kaito sich dem Geschoss näherte. Einem Teil von ihm widerstrebte es bis zu einem Punkt, der an Ekel grenzte, dieses Ding überhaupt zu berühren. Als er es dennoch tat, stellten sich sämtliche Haare seines Körpers auf, während er sich zeitgleich fühlte, als versinke er metertief in schleimigem Morast. Er stieß ein wütendes Knurren aus, um das Gefühl zu vertreiben und zog beherzt an dem Holzschaft, der sich derart zwischen Muskulatur und Knochen verkeilt hatte, dass er sich kaum rührte. Der Han'yō knurrte genervt und stützte ein Knie auf Minorus blutdurchtränkter Brust ab, um ihn am Boden zu halten. Hier war Zärtlichkeit nicht das Mittel der Wahl. Für einen Moment taxierte er den Inu unter sich aufmerksam, dann riss er den Pfeil nach einer kurzen Drehbewegung mit aller Gewalt heraus. Ein hässliches Knacken begleitete das Geräusch zerreißenden Gewebes, als das Schlüsselbein brach. Mit einem schnellen Griff fing Kaito Minorus Hand am Gelenk ab, bevor der seinen Hals zerfetzen konnte. Dann war dieser auf einmal über ihm, hatte Kaito in einer einzigen Bewegung auf den Rücken geworfen und die messerscharfen Klauen in seine Schultern getrieben. Blut rann aus Minorus zahlreichen Wunden, klatschte Kaito heiß und klebrig ins Gesicht, während der Inu wütend knurrend über ihm kauerte, mit Augen von leuchtendem Rot. Er fletschte bis die langen Fangzähne deutlich sichtbar hervortraten. Die Konturen um Augen und Mundwinkel verzogen sich, die sonst so gradlinigen dunkelroten Abzeichen auf seinen Wangen erschienen verschwommen. Ein erneutes Knurren, wieder ein tödlicher Angriff auf den ungeschützten Hals. Kaito zwang seine Hände frei, während seine Schultern vor Schmerz brannten, riss sie hoch und um die Kehle des Dämons, hielt seine tödlichen Zähne mit Mühe auf Abstand und fluchte lauthals über seine eigene Dummheit und seinen Vetter, der zwischen Freund und Feind nicht zu unterscheiden wusste. „Hör auf, du Vollidiot! Ich will dir helfen! Minoru! Minoru, hör auf!“ Kaitos hörte seine eigene Stimme in den Ohren widerhallen, vermischt mit dem Geräusch vor Adrenalin rauschenden Blutes. Er biss die Zähne zusammen, versuchte sich zu befreien, fand aber nicht genug Schwung ohne die Kehle seines Gegenübers locker zu lassen. Der riss röchelnd die Krallen aus Kaitos Schultern – was diesem einen gellenden Schrei entlockte – nur um damit nach seinem Gesicht zu schlagen, das er nur deshalb verfehlte, weil Kaito einen Arm in den Weg bekam. Der blaue Stoff seines Hakamas gab nach wie Seidenpapier, verfärbte sich schlagartig dunkelviolett, als Haut und Muskel zerrissen. Er schluckte den Schrei mühevoll herunter. „Lass es, verdammte Scheiße! Du tust mir weh! Minoru! Bitte!“ Die Mordlust wich aus seinem Blick wie der röchelnde Atemzug seiner Lunge entfuhr. Minoru riss die Klauen zurück, als habe er sich gerade an ihm verbrannt und starrte ihn verständnislos an. Dann legte er die blutverklebten Hände über Kaitos, die weiterhin seine Kehle umschlungen hielten, und versuchte, den Griff zaghaft zu lockern. Kaito tat ihm den Gefallen und ließ die Arme kraftlos zu Boden fallen. Das stachelige Gras der Ebene bohrte sich in seinen zerrissenen Unterarm und ließ ihn schmerzlich das Gesicht verziehen. „… dafür bist du mir was schuldig, Hund. Nicht, weil ich dir gerade den Arsch gerettet habe, sondern weil du mich dafür zu Gulasch verarbeiten wolltest. Undankbarer Köter.“ Minoru sagte nichts. Sein Blick ruhte weiterhin verständnislos auf Kaito, als begreife er nicht, was er hier verloren hatte und vermutlich tat er das tatsächlich nicht. Ein lautes, eisernes Brüllen ließ sie beide zusammenfahren. Einem Sturzregen gleich brach der Lärm der Schlacht über ihnen herein. Zuvor ausgeblendet schien er nun umso tosender, gewaltiger und allumfassend. Der Geruch von Blut erfüllte die heiße Nachtluft, war mitsamt des wertvollen Lebens in den Boden eingesickert und als der Drache ein weiteres Mal seine Wut in den Himmel hinaufschrie, nur um einen Moment später erneut die Barriere anzugreifen, sah Kaito zum ersten Mal so etwas wie Angst in einem Yōkai. Minoru sprang augenblicklich zur Seite, rollte ein Stück und stob auf das Ende der durchscheinenden Kuppel zu. Kaito war sofort auf den Beinen, hechtete ihm nach und warf sich mit vollem Gewicht auf seinen Vetter, um ihn zu Boden zu pressen. Unmittelbar vor dem violetten Schimmer der Barriere schlugen sie gemeinsam auf der harten Erde auf. Der heiße Atem des Drachen brandete aus seinen Nüstern und ließ den Bannkreis wenige Zentimeter vor ihren Augen grau beschlagen. Der Unterkiefer des Ungetüms war in einem bedenklichen Winkel zur Seite verschoben, empfindlichere Schuppenbereiche dicht mit Pfeilen gespickt und eine klaffende Wunde auf seiner Schnauze gab den Blick auf die darunter liegenden, von Blut verklebten Nasengänge frei. „Fliegen unter dem Glas“, hob der Drache mit einem Knurren an, indes die sprechende Maske auf seiner Stirn allmählich die Geduld verlor. „Ich reiße euch jedes Glied einzeln aus, Inu. Eure Zeit ist abgelaufen. Euer lächerlicher Palast ausgebrannt. Wohin willst du schon laufen, kleiner Hund? Zu Knochen und Asche?“ Minoru, der sich eben erst kaum merklich aufgestützt hatte, zuckte sichtlich zusammen und wich zurück, während Kaito die Zähne bleckte und den schwarzen Blick des Drachen furchtlos erwiderte: „Große Worte für eine Echse, die seit Jahrhunderten nichts als Erde und Würmer zwischen den Zähnen hatte.“ Der Drache peitschte wütend mit dem Schwanz und öffnete das Maul nur einen Spalt breit. Ausreichend weit, um das helle Schimmern in seinem Rachen zu entblößen, in dem sich Yōki zu einer soliden Kugel formte. Kaito fluchte laut, sprang wieder auf und zog Minoru auf die Beine, um ihn zurück zur Magnolienholzscheide zu reißen, die tapfer den Schild aufrecht hielt. Dort angekommen ließ er sich erneut zu Boden fallen, umfasste das verzierte Holz und trieb es sicherheitshalber noch einmal tiefer in die Erde, ehe der Energieball auf die Kuppel aufschlug. Die Druckwelle riss die Grasnarbe davon, Schlug eine Schneise in die dichte Rauchwand und presste die Jungen innerhalb der erzitternden Barriere an den Boden. Die Energie des Angriffs ließ jedweden Grashalm im Umkreis von hundert Metern in Flammen aufgehen und erhitzte die ableitende Schwertscheide, dass es Kaito die Handflächen versengte. Von aufgewirbelter Erde bedeckt wagte er erst den Blick zu heben, als das Beben nachgelassen hatte. Das bläuliche Schimmern des Bannkreises über ihnen wirkte schwach und brüchig, aber er hielt. So verwunderlich das auch war, war gleichsam sicher, dass ein weiterer Angriff ihnen den Garaus machen würde. Kaitos Hand brannte und roch abstoßend nach garem Fleisch, als er sie mit zusammengebissenen Zähnen vom Holz losriss. Sie konnten unmöglich länger auf dem Präsentierteller herumsitzen. Über ihnen ertönte erneut das tiefe Grollen des Drachen, während Kaito seinen Vetter unter Schultern und Kniekehlen packte und vom Boden anhob. Minoru war erschreckend leicht, kaum schwerer als Honoka, und in Kaitos Armen auch nicht viel weniger zierlich. Ein leises Sirren hinter ihnen ließ Kaito jeden Muskel anspannen. Wenn der Drache sie ein weiteres Mal mit dieser Technik angriff, waren sie verloren. Ein wohl gesetzter Schlag mit Tessaiga hätte dem Biest diesen Angriff bis in alle Zeiten verleiden können, wenn ihm erst einmal das eigene Yōki durch das Bakuryūha seines Vaters um die Ohren geflogen wäre – aber das fiel aus gegebenen Gründen aus. Selbst wenn Kaito die Waffe geführt hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen, diese Technik zu benutzen. Er hatte schon seinen lieben Kummer mit der Windnarbe, die ihm alle Jubeljahre halbwegs gelungen von der Hand ging. Das Sirren wurde lauter, wurde zum Dröhnen – und brach jäh in ein metallisches Kreischen ab, als einer von Kagomes Pfeilen, einen violetten Schweif hinter sich herziehend, in den aufgerissenen Nasenrücken des Drachens einschlug. Kaito wartete keine Sekunde länger, rannte aus dem Bannkreis hinaus in die sich wieder verdichtenden Nebelschwaden, die ihm augenblicklich jedweden Sinn nahmen. Der Rauch trieb ihm die Tränen in die Augen und reizte seine Atemwege zu einem ständigen Husten. Er roch nichts als den beißenden Gestank von Ölen und Kräutern und rannte blindlings fast in einen Krieger des Dorfes hinein, der ihn glücklicherweise als Verbündeten erkannte. Der Weg war übersät mit gefallenen Dämonen. Verwirrte Yōkai preschten durch die Reihen der Menschen, fielen über die Kadaver ihrer Artgenossen oder machten sich über sie her. Kaito setzte über sie hinweg oder wich ihnen weiträumig aus und versuchte dabei die Orientierung nicht zu verlieren. Menschen kamen mit diesen vermaledeiten Rauchbomben besser zurecht und auch wenn er ihren Einsatz in einer solchen Situation nachvollziehen konnte, hasste er diese Methoden. Hasste es herumzuirren, wenn um ihn herum die Schlacht tobte. Doch das hier war seine Heimat. Er wusste, in welche Richtung er lief – auch ohne Witterung oder Sicht – und atmete tief den faden Geruch trockenen Unterholzes ein, als er den Waldrand erreichte. Es war ihre einzige Möglichkeit dem Kampf zu entkommen. Minoru ins Dorf zu bringen war hingegen ausgeschlossen. Der Drache würde ihm bei der ersten Gelegenheit folgen und alles auf seinem Weg vernichten. In der Nähe schwelte ein Brand. Durch die Trockenheit hatte das entzündete Gras das Feuer einer Welle gleich bis an den Wald getragen, wo es sich nun durch die Bäume fraß. Wie auch immer das hier ausgehen würde – die Folgen waren nun schon verheerend. Kaito sprang zur Seite, als er neben sich ein Zischen vernahm und trat dem Schlangendämon unverhohlen, wenn auch etwas ungeschickt, in das langgezogene Gesicht. Die mehrreihig besetzten Zähne splitterten und bevor sich das niedere Biest beschweren konnte, machte Kaito einige Sätze in den Wald hinein und hielt erst am Brunnen inne. Die Lichtung war weitläufig und gut einsehbar – für beide Seiten. Doch Kaito zog es vor, seinen Gegner zu sehen, bevor er sich dem trügerischen Schutz des Unterholzes hingab, wo jeder Busch einen Überraschungsangriff bergen konnte. Er setzte Minoru auf dem Boden ab. Der sackte plump wie ein Sack Reis ins Gras der Lichtung und blieb schwer atmend liegen. Die stille Hoffnung, den Kampf mit seiner Hilfe zu ihren Gunsten zu drehen, schwand mit jedem Moment mehr. Doch selbst wenn er anfänglich noch in der Lage gewesen war, das Dorf zu verteidigen, so hatte Saki dieser Aussicht endgültig ein Ende bereitet. Kaito biss mit einem Seufzen in den Stoff seiner weiten Ärmel und riss ein langes Stück heraus, das er notdürftig um Minorus Schulter band. Er war bei den Lektionen seiner Mutter zwar nicht unaufmerksam gewesen, doch so einfühlsam und geschickt wie die Frauen war er mit Verbänden dennoch nie geworden. Er scheiterte zweimal daran, den Fetzen ausreichend sicher an der Schulter zu befestigen und zog beim dritten Mal den Knoten so fest, dass Minoru aufschrie. „Na immerhin lebst du noch“, brummte Kaito genervt und rieb seine Hände am trockenen Gras, um einen Teil des klebrigen Blutes von den Händen abzustreifen. „Ich will nicht wissen, was Rin mit mir anstellt, wenn du unter meinen Händen das Zeitliche segnest – oder gar dein Alter! Dann kann ich mich gleich selbst ins Schwert werfen. Wo steckt der eigentlich schon wieder? Es sollte ihm doch wohl möglich sein, einen Drachen von dir fernzuhalten.“ Minoru erwiderte nichts. In seinem Kopf hämmerte es wie in einer Schmiede und seine Schulter fühlte sich an, als habe man ihm den Arm abgerissen. Er wandte sich um, um sich aufsetzen, doch Kaitos Hände hielten ihn bestimmt am Boden. „Bleib liegen“, murmelte er. „Im Wald wimmelt es von Yōkai. Für mich ist es leichter, einen starren Punkt zu verteidigen, als wenn du noch hier herumwankst. Also halt den Kopf unten und sei still.“ Minoru starrte seinen Vetter an. Kaitos Gesichts und Hals waren zerkratzt und auch sein Unterarm schwer zugerichtet worden; der dunkelblaue Stoff des darüberliegenden Hakama blutdurchtränkt. Und dennoch stammte das meiste Blut nicht von ihm. Ein Gemisch aus Witterungen diverser Yōkai, Menschen und Oni umgab ihn; dazu Drache und Minorus eigenes Blut. Er kam unmittelbar von einem Schlachtfeld, ramponiert und blutüberströmt und derart gefasst, dass Minoru sich ob seiner Panik vor dem Drachen aufrichtig schämte. „Was tust du hier?“ Kaito zog eine Braue hoch und musterte ihn, als habe er soeben die dämlichste Frage überhaupt gestellt. „Wonach sieht das für dich aus? Ich rette deinen eingebildeten Arsch, du Idiot! Du kannst mir später ausführlich danken.“ „Nachdem das Dorf dir dafür gedankt hat, dass wir nun endlich wissen, wo deine Treue liegt, hm?“, tönte eine Frauenstimme schnippisch aus dem Unterholz. Als Saki und Mei zwischen den Bäumen hervortraten, war Kaito augenblicklich auf den Beinen und stellte sich mit gezogener Waffe vor Minoru auf. „Was wollt ihr von ihm?“ Diese verflixten Rauchbomben! Er witterte sie nicht einmal, obwohl er die Zwillinge bereits sah! „Die wichtigere Frage ist doch, was du dir von ihm erhoffst, dass du das Dorf um seinetwillen im Stich lässt“, erwiderte Saki gelassen und drehte ihren Yari auffällig in der Hand. Ihre Stimme klang durch die Maske gedämpft, die sie gegen den Rauch trugen. „Meinst du, sie würden dich mit offenen Armen empfangen, nur weil du ihren kleinen Prinzen rettest? So funktioniert diese Welt nicht, Kaito. Du kannst nicht ändern, was du bist. Bei ihnen am allerwenigsten. Sie wittern den Menschen dreißig Meilen gegen den Wind.“ „Vielen Dank für die Unterweisung in dämonischer Hofpolitik, Saki“, schnappte Kaito gereizt. „Kannst du dir auch ausmalen, wie sie Angriffe werten, wenn ihnen Hilfe schon gleichgültig ist?“ „Du solltest im Dorf sein und deine Familie und Freunde beschützen“, erwiderte Mei niedergeschlagen, während sie ihren Blick über Kaito wandern ließ. Dieser schnaubte abfällig: „Dasselbe gilt für euch.“ „Genau das tun wir“, Saki senkte den Yari und bedeutete Kaito, zur Seite zu treten. „Sei vernünftig und geh aus dem Weg.“ „Ihr werdet das hier nicht überleben“, warnte Kaito leise. „Warum? Glaubst du, sein Vater wittere hier mehr als Rauch und Öle? Honoka wird kaum ausplaudern, was passiert ist. Und du sicherlich auch nicht. Wer würde dich dann noch im Dorf haben wollen, wo du ohnehin schon eher geduldet als gewollt bist?“ „Kaito –.“ „Du halt dich da raus!“, fauchte er Minoru an und umklammerte den gebundenen Griff seines Katanas, bis er die einzelnen Riemen in der ohnehin verbrannten Handfläche spürte. Saki wurde ungeduldig. „Nochmal: Geh zur Seite und überlass ihn uns!“ Kaito spuckte aus und knurrte tief. „Dann holt ihn euch doch.“ Das war nicht die Art von Kampf, die er erwartet hatte und keiner, den er zu führen wusste. Er hatte nicht vor, die beiden zu töten, konnte sie aber auch nicht behandeln wie in einem Übungskampf. Wie also zwei Dämonenjäger auf Abstand halten, die ihr Ziel ins Auge gefasst hatten? Ihre Kleidung aus schwarzem Dämonenleder verschmolz katzengleich mit der Dunkelheit, sobald sie sich bewegten, und lediglich die geschmiedeten Ränder der eng anliegenden Rüstungsstücke und Waffen glänzten vereinzelt auf. Kaito machte einen Schritt zurück, um näher an Minoru zu bleiben und fixierte die Bewegungen der Schwestern, die selbstverständlich versuchten, sie einzukreisen. Minoru hatte sich hinter ihm mit dem Rücken an den Brunnen gelehnt und beobachtete die jungen Frauen gleichermaßen. Kein Zweifel, dass er sie deutlich besser sah und auch eher dazu bereit war, sie in Stücke zu reißen, sobald sie ihm zu nah kamen. Aber weder wollte Kaito es darauf ankommen lassen, noch sah er Minoru in der Verfassung, sich tatsächlich allein zu verteidigen. Wie dumm konnten sie nur sein? Wenn der Inu no Taishō auch nur in Ansätzen erfuhr, was hier passierte, wäre der Drache ihr geringstes Problem. Der erste Vorstoß kam nur Augenblicke später. Kaito atmete tief aus, parierte Meis Schwerthieb hoch genug, um ihre Klinge an seiner entlangrutschen zu lassen und sie ihr aus der Hand zu drehen. Mit einem gezielten Tritt in den ungeschützten Magen schickte er sie zu Boden und konnte Sakis Yari gerade noch mit der Rückhand kontern. Die Lanze traf sein Katana zu nah an der Klingenspitze. Die lädierten Muskeln seines Unterarms brannten und brachten schwerlich den nötigen Gegendruck auf, um sie auszuhebeln. Verbissen hielt er gegen und überlegte angestrengt, wie er sie aus dieser Position loswerden sollte, ohne sie mit Yōki zu zerreißen, wie er es in der Regel getan hätte, als zu seiner Linken Mei erneut auf die Beine kam und das Wakizashi zog. Zeitgleich schoss etwas Weißes unmittelbar hinter ihm hervor und stieß auf Saki zu. Ohne jedwedes Geräusch verbiss sich Minoru in ihrem Oberschenkel und ließ erst los, als sie den Yari aufgab und mit einem Dolch nach seiner Kehle stach. Sie streifte ihn entlang der Schnauze, ehe er wieder hinter Kaito sprang und sich breit aufstellen musste, um nicht umzufallen. Dieser nutzte die Unsicherheit in Sakis Stand und Minorus Positionswechsel und riss sein Katana zur Seite. Der Yari fuhr krachend in die Erde und zwang Saki zu einem Ausgleichsschritt nach vorn, der ihr den Schmerz ins Gesicht und das Blut am Bein heruntertrieb. Kaito schlug mit Wucht in der Nähe ihrer Hände gegen die Lanze, was Saki endgültig entwaffnete und auch Mei abbremsen ließ. Sie waren zu durchschaubar. Die wichtigen Züge führte stets Saki aus, wohingegen ihre Schwester ohne sie verloren schien. Zu spät bemerkte Kaito jedoch die runden Kugeln zu seinen Füßen, die ihm beim bloßen Anblick die Kälte in die Knochen trieben. Instinktiv war ihm das Ausmaß der Gefahr bewusst, doch war er außer Stande sie wirklich zu begreifen. Er trat eine der Kugeln weit von sich, schrie Minoru an und wollte sich zu dem am Boden liegenden Hund umwenden, ihn und sich in Sicherheit bringen, als giftiges Gas und Rauch mit leisem Zischen aus den Kugeln strömte. Augenblicklich tanzte es auf seiner Haut wie loderndes Feuer, biss sich in seinen Atemwegen fest und ließ ihn taumeln. Kaito hielt die Luft an, zwang sich zur Ruhe und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Einen Fluchtweg zu finden. Seine Augen tränten und brannten, die gesamte Lichtung war erfüllt von Rauch, die Giftgaskugeln der Dämonenjäger über die gesamte Wiese verteilt. Warum musste es nur so dunkel sein? Wie hatte er ihnen derart in die Falle laufen können? Er machte einen Schritt nach vorn und taumelte zurück, stolperte über Minoru und schlug unglücklich gegen den morschen Bretterverschlag des Brunnens. Seine Muskeln zitterten unkontrollierbar, die Lunge verkrampfte mit jedem erzwungenen Atemzug. Er spürte, wie jemand seinen Kragen packte und ihn über den staubigen Boden zu zerren versuchte, ihn wiederholt beim Namen rief, anschrie und fluchte. Irgendwo in der Ferne. Das Klirren von Metall, erneutes Geschrei und schließlich eine Taubheit und erstickende Leere so schwarz wie der mondlose Nachthimmel selbst, der unerbittlich über alledem thronte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)