Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 45: wie Schicksal predigen ---------------------------------- „Was verschafft mir die Ehre Eures hohen Besuches, Kōtaishi?“ Masukos süßliche Stimme förderte Kōheis Abneigung mit jedem neuen Satz. So war es immer schon gewesen. Es hatte ihm ohnehin nie nach einer Partnerin verlangt, aber sollte sie eines Tages die letzte Frau der Welt sein, würde er den Dingen liebend gern ihren Lauf lassen und sich in sein eigenes Schwert stürzen, bevor er sie auch nur mit der Zange berührte. Die Sonne war erst im Begriff über bewaldeten Berghänge zu kriechen, während sie bereits in mehrere Lagen feiner Seide gekleidet an dem kleinen Lacktisch saß, als erwarte sie jeden Tag solch ,hohen Besuch' wie den Erben eines ganzen Reiches. Neben ihr wirkte Saburō in seinem mitternachtschwarzen Kimono mit den feinen, herbstlichen Ranken bestenfalls wie ein mittelklassiger Soldat auf Fronturlaub. Goldener Brokat zierte die oberste Lage ihrer Kleidung und griff die Farbe ihrer Augen auf, während die darunterliegenden, schlichten Seidenstoffe das Apricot der schmalen Wellenlinien auf ihren Wangen wiederspiegelten. Selbst ihre langen Nägel, die betont langsam über das Porzellan der Teekanne strichen, schimmerten im selben Farbton sommerreifer Früchte, während sie Saburōs Tasse füllte. Der Erbe des Südens lächelte matt und zog den Tee näher an sich heran, wobei er tunlichst darauf achtete, die von Natur aus schwarzen Klauen melodisch-sanft auf der Töpferware tanzen zu lassen. Ihre höfische Eleganz, mit der sie sich mühelos in jedem Palast des Landes hätte behaupten können, war nichts im Vergleich zu der Selbstverständlichkeit, mit der Saburō Räume und Personen einzunehmen pflegte und gemessen dem Fall, dass er in der Regel dazu neigte, jede Auffälligkeit direkt zu benennen, wäre Kōhei eigentlich lieber gewesen, er hätte ihr die verdammten Klauen gleich in den Hals gerammt, statt ein Gespräch zu beginnen – aber was machte er sich vor? Saburō würde sich eine solche Unterhaltung nicht einmal im Beisein seines Vaters entgehen lassen. „Ich fürchte, wir kommen mit unangenehmen Neuigkeiten für Euch“, meinte der Erbe des Südens schließlich. „Euer Schützling ist an den westlichen Hof zurückgekehrt und für uns unerreichbar. Außerdem scheint es in den Reihen meines hohen Vaters einen Verräter zu geben. Ihr seid hier nicht mehr sicher.“ Kōhei lehnte mit verschränkten Armen an der Wand – eine legere Haltung, die er sich Masuko gegenüber erlauben würde, solange es ihm beliebte – und musterte Saburō aus den Augenwinkeln. Nicht mehr sicher? Nun, wenn man davon ausging, dass sie ihr längst den Kopf von den Schultern getrennt haben sollten, war das eine frivole Untertreibung. Masuko gab sich wie erwartet erschüttert: „Wie schrecklich! Aber Euer Vater wird doch sicher ausreichend Maßnahmen anstreben, die Person zu finden und zu bestrafen?“ „Gewiss. Wir nehmen Verrat sehr ernst“, Saburōs Unterton war so subtil, dass Kōhei mehrfach überlegen musste, ob er ihn tatsächlich wahrgenommen hatte. „Nichtsdestotrotz könnt Ihr nicht hier verweilen. Mein Vater hat Euch für Euer Vertrauen und Eure Verdienste einst Sicherheit versprochen. Ich bin hier, um Eure Unversehrtheit sicherzustellen.“ „Wie muss ich mir das vorstellen?“, fragte sie zweifelnd und nahm ihren Fächer vom Tisch. Den Tee ließ sie unangetastet. „Ich weiß, es wird Euch schmerzen, dieses Haus zu verlassen, das Ihr allen Widrigkeiten zum Trotze in einem tadellosen Zustand haltet, aber der Junge kennt den Weg hierher – und wer weiß, wer noch. Meine hohe Mutter hat mich nach dem Tod meines Bruder an den Hof begleitet. Unsere Residenz wird seither nur vom nötigsten Dienstpersonal bewohnt. Vorwiegend ältere Damen und Krieger zu Eurem Schutz, die Eure Anwesenheit nicht hinterfragen werden. Ich möchte Euch bitten, dort einzukehren und – sofern es Euch beliebt – die Instandhaltung für meine Mutter zu überwachen, solange sie bei Hofe verweilt.“ „Eine Bitte oder eine Order?“, hakte sie gefährlich aufmerksam nach. Saburō lächelte versöhnlich: „Eine dringliche Bitte in unser aller Interesse, Masuko-sama. Ich würde nicht wagen, eine redliche Dame derart grob zu befehligen.“ Es war schwer zu übersehen, wie sehr Masuko der Gedanke gefiel, diesen Bretterverschlag, den sie seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten ihr Heim nannte, gegen eine herrschaftliche Bleibe einzutauschen. Sie schlug ihren Fächer aus dem Handgelenk auf. Goldverzierte Pfirsichbäume überzogen die bespannte Seide, mit der sie sich betont gelangweilt Luft zufächerte. Der Widerspruch in diesem Traumgeflecht war ihr jedoch nicht entgangen:„Euer Vater war bemüht, möglichst wenige Personen einzuweihen – und dennoch ist nun Wort von meiner Anwesenheit nach außen gelangt. Haltet Ihr es für klug, dass ich mich wieder in Gesellschaft begebe?“ „Eure Anwesenheit ist, soweit ich es beurteilen kann, noch nicht publik geworden.“ Kōhei stellte missmutig fest, dass diese Feststellung zurecht das Maß aller Dinge war. Wenn Saburō von einem Gerücht noch nicht Wind bekommen hatte, so war es noch ein wohl gehütetes Geheimnis – wenn man davon absah, dass Minoru sehr wohl wusste, wo sich seine vermeintliche Mutter befand. Das konnte ihr durchaus zum Verhängnis werden und das wussten sie alle, auch wenn Saburō es nun nochmals explizit betonen musste: „Dennoch kennt der Junge Euren Aufenthaltsort und dessen Vater wird bei Bedarf schneller hier sein, als unsere Truppen sein Eindringen bemerken könnten. Er sinnt ohnehin auf Krieg. Dass er ihn damit unweigerlich auslösen würde, kümmert ihn sicher wenig im Vergleich zu Eurem Kopf.“ Sie strich sich eine einzelne Strähne schneeweißen Haares sittsam hinter die spitzen Ohren und senkte den Blick auf ihren Tee. Ein Außenstehender hätte vermutlich sogar Mitleid für sie empfinden mögen, wie sie die Vorstellung, dass man danach trachten könnte, ihren schlanken Hals vom Rumpf zu trennen, mit sichtlichem Unwohlsein aufnahm – wenn man davon absah, dass dieser Gedanke ihr seit zwanzig Jahren so vertraut sein sollte wie die aufgehende Morgensonne. Niemand spuckte Sesshōmaru derart unverfroren ins Gesicht und kam mit einer Rüge davon. Wenn er sie in die Finger bekam, wäre ihr Tod vermutlich ihre geringste Sorge. Auch Saburō nahm den betroffenen Ausdruck mit Interesse auf und lehnte sich ein Stück weit zu ihr vor: „Darf ich Euch in dieser Hinsicht eine persönliche Frage stellen?“ Sie sah zu ihm auf und blinzelte sichtlich verwirrt in seine bernsteinfarbenen Augen. „Kōtaishi?“ „Wozu das alles?“ „Das geht Euch nichts an.“ Er hob ob der scharfen Stimme die Brauen und bedachte sie umgehend mit einem gefährlich seidigen Lächeln: „Es war offensichtlich, dass diese Frage einen Nerv treffen würde.“ Sie lief auf der Stelle puterrot an – ein Zustand, der, wie Kōhei nur zu gut wusste, bei ihr sowohl Scham als auch Wut bedeuten konnte, abhängig davon, welchen Tonfall sie danach anschlug. Doch Saburō ließ sie gar nicht dazu kommen, lehnte sich selbstgefällig wieder zurück und nippte wissend an seiner Tasse: „Also doch Rache.“ Es wäre doch sehr übertrieben gewesen, ihn für diese Eingebung zu bewundern. ,Rache' war immer die korrekte Antwort, sofern jemand nach dem Motiv eines Inus fragte. Ebenso wie bei den Kitsune unterm Strich nicht selten Schadenfreude einen sehr hohen Stellenwert einnahm. „Ich habe mich bereits ausführlich mit Eurem Vater unterhalten“, blockte sie erneut, wenn auch deutlich höflicher als zuvor. „Mein Vater schenkt Frauen nicht mehr Gehör, als er für eine grobe Einschätzung als nötig erachtet – ganz zum Leidwesen seiner Gemahlinnen. Mich hingegen interessiert sehr, was Euch zu diesem Extrem getrieben hat.“ „Ihr versteht Euch wohl nicht besonders gut mit Eurem Vater, nicht wahr?“, über Masukos Lippen huschte ein vernichtendes Grinsen, welches sie prompt hinter dem Fächer verbarg, ganz als habe sie das innerste Dunkel in Saburōs Seele nach außen gekehrt, statt lediglich bemerkt zu haben, was ohnehin alle wussten, die Vater und Sohn in einem Raum erlebt hatten. Als er nicht sofort antwortete legte sie den Kopf genüsslich etwas schief, wobei das offene Haar über ihre Schulter glitt. „Ist Euch die Frage zu persönlich?“ Der schwarze Fuchs überging die Gehässigkeit und ließ den Blick fallen, als würde der Zwist mit seinem Vater ihn in irgendeiner Weise berühren: „Meine Mutter hätte mich im Kindbett erdrosseln können. Ich bin ein ewiges Andenken an den Mann, der ihre Familie abgeschlachtet und ihre Heimat unterworfen hat – sie unterworfen hat. Ihr wisst, wie es ist, einem Kind in die Augen zu sehen, das aus einer verhassten Verbindung entstanden ist – Abneigung wäre nur natürlich gewesen. Stattdessen hat sie für mich gesorgt, mich aufgezogen und ertragen. Mein Vater hat sich stets einen Dreck um uns geschert. Für ihn ist sie eine Trophäe, die er nach Belieben besteigen und unterdrücken kann. Er behandelt sie wie Vieh. Nein, ich verstehe mich nicht besonders gut mit meinem Vater. War Euch die Antwort persönlich genug?“ Die Stille des Raumes ließ den morgendlichen Vogelgesang mit der Lautstärke eines Schlachtrufes durch die Holzfassade dringen. Kōhei starrte seinen Rücken an, bemerkte, wie Masukos Blick den seinen traf, um sich zu versichern, dass sie beide dasselbe vernommen hatten. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Niemand sprach so offen über derart persönliche Angelegenheiten! Erst recht nicht bei Hofe und schon gar nicht über die ehrwürdige Familie des Hauses – ausgenommen von Saburō. Kōhei konnte mit Mühe ein entrüstetes Kopfschütteln vermeiden. Es war wirklich erstaunlich. Saburō war bekanntermaßen der einzige, der sein Gegenüber mit dessen eigenen Intentionen und unausgesprochenen Gedanken konfrontierte und es genoss, wie derjenige anschließend um Fassung rang oder vor Wut zu bersten drohte. Nie hatte jemand versucht, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und anscheinend war das auch nicht möglich. Er legte in eigenen Angelegenheiten dieselbe Offenheit an den Tag, die er anderen aufzwang – und hinterließ damit noch mehr Scherben. War es wirklich so einfach, diesen Fuchs zu begreifen? Indem man ihn ebenso dreist fragte, wie auch er anderen Salz in die Wunden streute? Vielleicht. Doch es war eine Sache zu fragen und eine andere, danach mit den Antworten leben zu müssen. „Entschuldigt... ich hätte Euch das nicht fragen dürfen. Das war unangemessen und geziemt sich nicht.“ „Oh, aber Ihr habt es getan und nun habt Ihr Eure Antwort.“ Sie war sichtlich bestrebt, etwas Angemessenes zu erwidern, doch gab es für eine solche Situation kein Protokoll. Ihre Lippen glätteten sich erneut, als sie den Versuch begrub. Ihre Rechte hielt den Fächer mittlerweile derart fest umschlossen, als hoffe sie, darin einen Ankerpunkt zu finden. „Warum interessiert es Euch?“, fragte Masuko schließlich, nachdem er sich mehrere Minuten geweigert hatte, das Gespräch wieder aufzunehmen. „Ich begreife es nicht. Ihr kommt aus einer einflussreichen Familie und lebt unterhalb jeden Standards in einer Berghütte, um das Kind Eurer Schwester aufzuziehen. Werdet durch den Jungen jeden Tag an sie erinnert, während Ihr für diesen Verrat Euren Kopf riskiert. Warum?“ „Weil dieses Leben trotz allem erfüllter ist als jenes, welches meine Schwester mir zurückließ. Ich lebe lieber vereinsamt auf einem Berg, als in Gesellschaft einer verdorrten Leiche unter der Erde.“ Sie sah an ihm vorbei zur Tür hinaus. Es verging eine Weile, in der er schwieg und ihr die Möglichkeit ließ, freiwillig fortzufahren. Dann endlich riss sie sich vom Anblick der morgendlichen Wiese los und musterte stattdessen den dunklen Kitsune vor sich: „Die Familie des Fürsten und meine sind zwei Seiten einer Münze; wie Drache und Phönix einer alten Dynastie. Unsere beider Linien lassen sich unmittelbar auf Akaya selbst zurückführen. War Euch das bewusst?“ „Ich wurde darüber in Kenntnis gesetzt. Das erklärt zumindest, warum Euer Fürst den Pfad des ewigen Junggesellen verlassen hat.“ Masuko war lediglich zu damenhaft und wohlerzogen, um nun abfällig zu schnauben. Stattdessen wurde ihr Tonfall empfindlich spitz: „Natürlich. Ob es um seine Fähigkeiten, seine Waffen oder seinen Nachwuchs geht: Er wird immer versuchen, nach mehr Stärke und Macht zu verlangen. Und in der Regel findet er dabei keine Grenzen. Ich habe viele Jungen aufwachsen sehen, darunter meinen jüngeren Bruder. Mächtig, fähig – aber alles in einem gewissen Rahmen. Sesshōmarus Sohn haben wir mit fünf Jahren Fuchskoralle umgelegt und er war dennoch in der Lage, die Form zu wandeln. Nur zu einem gewöhnlichen Straßenköter, ja, aber auch das sollte nicht möglich sein.“ „Beeindruckend“, erwiderte Saburō in einem Ton, der Kōhei wissen ließ, dass er nicht viel davon hielt, über dieses winzige Detail nicht bereits am Vortag aufgeklärt worden zu sein. „Jedenfalls bringt diese Abstammung noch mehr mit sich als nur Macht allein. Macht kommt stets nur mit Verantwortung, egal wie sehr man sich dagegen sträubt. So erbte der Vorfahr des Fürsten das Höllenschwert Sō'unga und übernahm die Führung über die Inu, während seine Schwester mit der Wache über Akayas Überreste betraut wurde.“ Hätte es Staub auf dem gepflegten Holzboden des Hauses gegeben, hätte man beobachten können, wie sich die Aura des Silberfuchses über den Untergrund schob, als dieser Name fiel. Doch Masuko schien es nicht zu bemerken. „Wir sind Schreinwächter – und es wäre an meiner Schwester gewesen, diese Aufgabe zu übernehmen. Reika ist als Älteste dafür aufgezogen worden, Akaya zu dienen wie unsere Mutter vor ihr. Als die Vorladung an den Hof kam, sollte ich dem Fürsten vorgestellt werden. Ich war die entbehrliche Tochter, nicht Reika. Es war ihr lediglich erlaubt, mich zu begleiten, weil meine Mutter eine Anstandsdame an meiner Seite verlangte und sie Reika einen einzigen Ausflug jenseits der Burgmauern zugestehen wollte. Das war ein Fehler. Vermutlich der größte, den wir je gemacht haben.“ „Er wollte Eure Schwester“, vermutete Saburō und trug dabei mit keiner Faser seines Körpers nach außen, was ihn derart verstörte, dass sein Yōki hinter seinem Rücken einem zischenden Natternnest glich. „Was Euch in die Lage brachte, sie ersetzen zu müssen.“ Masuko presste sichtlich verstimmt die Lippen zusammen, bis sie fast alle Farbe verloren: „Ja, der Fürst wollte sie. Vom ersten Moment an. Es war ihm gleich, dass sie überhaupt nicht zu ihm passte. Dass sie im Vergleich zu seiner hohen Mutter eine miserable Fürstin abgegeben hätte. Aber sie ist eine Daiyōkai – und mehr musste er nicht wissen. Mich hat er nicht einmal beachtet.“ Sie schlug den Fächer zu und legte beide Hände um das treue Accessoire, als wolle sie den letzten Rest Leben aus ihm herauspressen. „Mutter war außer sich. Er verlangte immerhin, dass sie freigab, was sie über Jahrhunderte hinweg herangezogen hatte. Dass sie mit Traditionen brach, die seit Tausenden von Jahren existierten. Aber mit dem Inu no Taishō verhandelt man nicht. Nicht mit diesem. Er schert sich nicht um Traditionen. Nur um die Erfüllung seines endlosen Strebens nach Herrschaft. Meine Mutter gab ihm offiziell nach. Nicht, dass er tatsächlich um Erlaubnis gebeten hätte. Nicht einmal gefordert. Jeder andere hätte nicht gewagt, meiner Familie Befehle zu geben – außer die Familie.“ „Und ich nehme an, Ihr habt alles daran gesetzt, nicht diesen Schrein bewachen zu müssen.“ „Ihn bewachen? Seid nicht albern, Kōtaishi. Ich bin eine Frau. Es ist die Aufgabe der Soldaten, die Festung zu verteidigen. Was denkt Ihr, ist sonst der Grund, dass die zweitgrößte Armee des Westens so gut wie niemals ihre Tore verlässt und wir dennoch die einflussreichste Familie neben der des Fürsten darstellen? Glaubt Ihr, wir Inu sind gewillt, eine untätige Armee allein aufgrund ihrer Größe zu respektieren?“ Sie lachte herb. „Nein, Kōtaishi. Mein Vater – oder mittlerweile mein Bruder – hat fünf dutzend Männer in Waffen. Männer, die stets am Hof verweilen. Nur wenn das, was sich hinter den Mauern befindet, für das gesamte Volk wichtiger ist als offener Krieg, wird solch scheinbare Untätigkeit respektiert.“ Elegant entließ Masuko den Fächer aus ihrem Würgegriff, um sich einen feinen Luftstrom zuzuarbeiten. Nun war Kōhei sich sicher, dass sie lediglich einen leichten Wärmehauch von dem Höllenfeuer bemerkte, das zu seinem Füßen schmorte. Wie schaffte es Saburō, sie von dem Ausbruch seiner Launen derart abzuriegeln, dass sie gänzlich auf sich selbst konzentriert fortfuhr? „Bis auf regelmäßige Feiern bei Hofe und gewisse öffentliche Fragestellungen hätte ich mein Dasein in den Katakomben dieser Festung gefristet und meine Tage damit zugebracht, einer Mumie aufzuwarten, die seit Jahrtausenden keine Klaue gekrümmt hat. Man hätte mir irgendwann einen Ehemann vorgesetzt, dem durch die Existenz meines Bruders jeglicher Einfluss auf das Heer verwehrt geblieben wäre. Er eine ansehnliche Galionsfigur ohne eine Stimme im Rat und ich dazu verdammt, meine zukünftige Tochter auf denselben unsinnigen Dienst vorzubereiten. Meine naive, treu-dumme Schwester war für dieses Leben wie geschaffen – bis sie sich von diesem stolzierenden Gockel schwängern ließ.“ „Eure Mutter hat Euch nicht umgehend zurückbeordert?“, erkundigte sich Saburō ungerührt. „Meine liebliche Schwester kam mit der Gesellschaft bei Hofe natürlich nicht zurecht und bat Mutter, mich vorerst nicht nach Hause zu holen. Da wir beide zur Sicherheit eine ähnliche Ausbildung genossen hatten, eilte meine Rückkehr nicht und Mutter war einverstanden. Und nachdem Reika das erste Kind verloren hatte und drohte, damit die ganze Familie zu blamieren, war ich an ihrer Seite natürlich unentbehrlich.“ „Wie passend für Euch“, erwiderte Saburō in seinem besten Höflingstonfall, der keinerlei Interpretationen neben der reinen Kernaussage zuließ. Masuko fiel eine Antwort daher sichtlich schwer. Sie rang sich schließlich ein vages Lächeln ab: „Auch ein schreckliches Unglück kann einen Lichtschein tragen.“ Kōhei hätte sie für diesen süffisanten Tonfall gerne auf der Stelle erdrosselt. Langsam, qualvoll und mit seinen eigenen, bloßen Händen. Reika hatte ihr vertraut, hatte dieses Biest geliebt und bis zum Schluss kein schlechtes Wort über sie verloren, während Masuko Freundlichkeit und Vertrauen ausgeschlachtet hatte wie eine fette Mastgans. Er hörte seine eigene Stimme, bevor sein Verstand ihm eines Besseren belehren konnte: „Ein Unglück geschieht von allein. Mit Hilfestellung bezeichnet man es in dem Fall gemeinhein als ,Mord'.“ Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie zu ihm aufsah: „Wie kannst du es wagen -“ Saburō ließ eine Klaue geräuschvoll auf den Lack des Tisches aufschlagen und bedachte die Dame vor ihm mit einer für seine Verhältnisse erschreckend ausdruckslosen Miene, während seine Aura Kōhei die Haut zu versengen drohte: „Ich muss Euch bitten, dem General den nötigen Respekt zu erweisen. Mir ist bewusst, dass Eure Beziehung zu ihm vor dem Jungen einen gewissen Anschein wahren musste, aber er ist nicht Euer einstiger Geliebter, sondern die rechte Hand meines Vaters. Ich erlaube nicht, dass Ihr ihn derart vertraulich behandelt.“ Sie starrte Saburō an, als habe der sie soeben auf offener Straße geohrfeigt und obwohl Kōhei wusste, dass sein Mangel an Selbstbeherrschung ein Nachspiel haben würde, war es wie Balsam für seine Seele, dass jemand dieser Schlange in die Parade fuhr – auch wenn es ausgerechnet Saburō war. „Ich danke Euch für Eure Offenheit und Gastfreundschaft, Masuko-sama“, sagte der schließlich, als sie keine Erwiderung fand, die sie ihm gefahrlos an den Kopf schmeißen konnte. Dann leerte er den Rest seines Tees in einem Zug und erhob sich. „In den kommenden Tagen werden meine Männer Euch abholen und sicher nach Shōdoshima geleiten. Packt doch bitte Eure Habseligkeiten zusammen, damit sie sich ihrer annehmen können. Die Insel Shōdo hat ein ausgezeichnetes Klima und ansehnliche Strände. Genießt den Ortswechsel.“ Er war zur Tür hinaus, ehe sie auch nur ein Wort des Protests vorbringen konnte. Kōhei folgte ihm umgehend, verschwendete keinen weiteren Augenblick an diese Frau und musste sich eilen, Saburō nicht zu verlieren, der sich unlängst in eine Flamme reiner Energie aufgelöst hatte. Vor dem heutigen Morgen hätte Kōhei all seinen Besitz darauf verwettet, dass das Yōki des Erben die Farbe einer mitternächtlichen Wolke annehmen würde, doch Saburō hatte ihn eines Besseren belehrt. Es war flüssiger Bernstein. Selbst bei Tageslicht loderte es weithin sichtbar auf, ehe die flammende Kugel aufstieg und einen langen Schweif hinter sich herzog. Kōhei fluchte stumm in sich hinein und tat es ihm gleich, gab die enge Beschaffenheit seines Körpers auf und setzte ihm hastig nach. Auf der Schwelle des Gasthauses manifestierte er sich und wedelte den letzten Hauch smaragdgrüner Aura mit der Hand fort, bevor er die Räumlichkeiten betrat, in denen sie über Nacht eingekehrt waren. Er wollte gerade den Anschein dumpfen, menschlichen Aussehens über sich fallen lassen, als er Saburō inmitten des Raumes erblickte – den pechschwarzen Schweif unruhig über den Boden schlagend. Der Erbe des Südens schwieg. Er begutachtete Kōhei, als betrachte er ihn zum ersten Mal. Die Konturen des Gesichtes eine hübsche, in Stein gemeißelte Maske seiner sonstigen Gelassenheit. Sein Schweigen und die Härte seines Blickes jagten Kōhei kalte Schauer über den Rücken und als schließlich ein vernichtendes Glühen in seine bernsteinfarbenen Augen trat, fühlte es sich an, als Schäle Saburō ihm das Fleisch von den Knochen. „Akaya“, wiederholte er tonlos den Namen. „Sie bewachen die Überreste dieses Ungeheuers aus grauer Vorzeit und wir sorgen uns um einen kleinen Jungen und seinen launischen Vater?“ Es war Kōhei stets schwer gefallen, dem Fürsten zu widersprechen, wenn er kurz vor einem Wutanfall stand. Jetzt dieselbe tödliche Energie in dessen Sohn zu spüren, ließ ihm die Kehle austrocknen und seine Stimme leiser werden: „Er ist tot, Kōtaishi. Seit Jahrtausenden.“ „Natürlich ist er tot!“, irgendwo im Gebäude zerbarst Geschirr, als eine arme Angestellte über das Donnern in seiner Stimme zusammenschrak. „Er ist ein gottverdammter Inugami, Kōhei! Ein toter Straßenköter, eine entlaufene Marionette der Menschen. Außer Kontrolle und wahnsinnig. Er war auch schon tot, als er die menschliche Zivilisation dieser Inseln binnen Tagen in Asche aufgehen ließ und seine Hunde sich an den Kadavern satt gefressen haben. Wenn seine Überreste erhalten sind, ist er handlungsfähig. Das ist der ganze, schlechte Witz an einem Inugami!“ Er schnaubte. „Hier sitze ich und mache mir Sorgen, dass mein Schwachkopf von Vater uns wegen eines Inuyōkais ins Verderben gerissen hat! Aber Ihr wisst längst, dass uns etwas viel Schlimmeres auflauert!“ „Ich-“ „Erzählt mir nicht, Euch wäre die Gefahr nicht bewusst“, unterbrach Saburō ihn scharf. „So dumm seid Ihr nicht. Dass der Inugami nicht zu Staub zerfallen ist, ist schlimm genug. Aber statt ihn als ruhende Bedrohung wahrzunehmen, fällt dem südlichen Hof nichts besseres ein, als den Spross seiner beiden Familienzweige der Mutter zu entreißen und ihn gegen sein eigenes Volk wenden zu wollen? Ihr seid der General meines Vaters. Es wäre Eure Aufgabe gewesen, ihn von diesem Wahnsinn abzuraten!“ „Ich..“, Kōhei bemerkte, wie unsicher er klang und das machte Saburō nur noch wütender. „Was 'ich'?! Fürchtet Ihr, ich sei wie er? Dass ich Euer Gesicht über einer glühenden Kohlenpfanne zum Schmelzen bringe, sobald mir danach ist?“ „Hört auf damit!“ „Womit? Ihr wisst das dem nicht so ist, sonst hättet Ihr nicht gewagt, das Wort gegenüber dieser Schlampe zu erheben, obwohl ich Euch ausdrücklich befohlen hatte, Euch zurückzuhalten!“ Kōhei schnaubte herablassend: „Euer Vater hat Euch befohlen, sie umzubringen.“ „Wollt Ihr wissen, was ich auf die Befehle meines Vaters gebe?“, er schlug mit dem Schweif eine Vase von ihrem Podest. Einst mit großer Kunstfertigkeit gemalte Landschaftsmotive zerbarsten in dutzende Einzelteile. „Wem würdet Ihr das Ding noch schmackhaft machen wollen?“, fragte er bissig und deutete auf die Überreste der Töpferei. Als Kōhei nicht antwortete wischte ein erneuter Hieb seines Schweifes einige Scherben über den Tatami. „Tot nützt sie uns gar nichts!“ Kōhei starrte auf den Scherbenhaufen und hob nur langsam den Blick zu Saburō, der sich wütend durch das kurze, schwarze Haar fuhr. Was tat er da bloß? Ihm musste klar sein, dass er dazu verpflichtet war, diesen Ausbruch, die Äußerungen und auch die Befehlsverweigerung dem Fürsten zu melden. Das würde Saburō den Kopf kosten. Und wenn nicht das, dann zumindest eine Strafe nach sich ziehen, an deren Ende von diesem verhältnismäßig jungen Fuchs nichts mehr übrig bliebe. Hayato würde ihn vernichten. Würde - Auf dem Flur waren eilende Schritte zu hören. Als die Betreiberin des Gasthauses den Türrahmen durchquerte, flog ihr Kopf bereits losgelöst durch den Raum und rollte im Halbkreis vor die Füße ihrer Begleiter, die dem Aufruhr hatten auf den Grund gehen wollen. Wenn Saburō zuvor blass gewesen war, nahmen die zwei Samurai im Angesicht der Kitsune nun die ungesunde Hautfarbe verwesender Leichen an. Kōhei hielt ihnen zu Gute, dass sie im Angesicht des Todes nicht zurückwichen, sondern ihre Schwerter auch dann noch umklammert hielten, als er ihnen ein kurzes Ende bereitete. Er riss gerade einen ihrer schäbigen Yukata auseinander, um seine Klauen vom stinkenden Menschenblut zu befreien, als Saburō den Kopf der Frau vom Boden hob und das faltige Gesicht der Inhaberin dieser Lokalität in seinen Händen eine groteske Wandlung durchmachte: Innerhalb weniger Sekunden waren die Falten geglättet, vormals dunkles Haar erstrahlte in einem eisigen Weiß, während goldene Augen und apricotfarbenen Wangenzeichnungen die Täuschung perfekt machten. Kōhei glitt der Stofffetzen aus den Händen. Nicht einmal er hätte angezweifelt, dass es sich bei diesem Kopf um Masukos handelte – und er hatte sie jahrelang ertragen müssen. Saburō drehte sein Werk auf der Suche nach Makeln prüfend in alle Richtungen, dann wandte er sich an Kōhei. „Wie Ihr sicherlich bemerkt haben werdet, liege ich in Eurer Hand.“ „Das tut ihr“, bestätigte der leise und hielt weiterhin den Blick auf den Kopf in den Händen des Mannes gerichtet, der offenbar vermochte, eine tiefere Magie zu weben als er es bislang bei irgendjemandem gesehen hatte. Es war eine Sache, die Augen zu täuschen, doch von diesem abgetrennten Körperteil ging eine Aura aus, die unmöglich menschlich war und Masukos Yōki erschreckend nah kam. „Aber wir wissen beide, dass dem ohnehin so gewesen wäre. Was also macht Euch so sicher, dass ich Eurem Vater nicht umgehend von diesen Vorgängen berichte?“ Saburō lächelte gequält – ein miserabler Abklatsch dessen, was sich sonst über seine Lippen schlich: „Gäbe es denn etwas?“ Mit verspannten Kiefern zwang Kōhei sich dazu, nicht lauthals zu fluchen. Doch ehe er diese versteckte Drohung abschmettern konnte, schüttelte Saburō kaum merklich den Kopf: „Ich bin mir keinesfalls sicher.“ Er ging an Kōhei vorüber und wickelte den Kopf in die übrige Kleidung eines toten Samurai. Und allmählich begriff der General: Saburō würde nicht um sein Stillschweigen flehen. Er würde nicht betteln oder ihm drohen. Der Wahnsinnige ließ ihm die Wahl! Knirschend presste er die Zähne aufeinander. Verdammter Bastard! Glaubte er tatsächlich, Kōhei würde das Vertrauen seines Fürsten grundlos ausnutzen, ihn hintergehen? Für den Sohn lügen, der sich seinem Vater offenkundig als Feind gegenüberstellte? Warum warf er ihm sein Leben derart achtlos vor die Füße? „Herr!“ Saburō fuhr herum als die Außentür aufgerissen wurde und ein Menschenjunge in den Raum gestolpert kam. Nur wenige Schritte hielt sein Gleichgewicht ihn auf den Beinen, bevor er vor dem Erben des Südens auf die Knie fiel und nach Luft rang. Seine Lunge pfiff bei jedem Atemzug bedenklich scharf in seiner Brust und während er sich die Hand auf das Herz presste, wurden die stumpfen Nägel zu scharfen, schwarzen Klauen, die menschlichen Ohren spitz und das dumpfe Braun seiner Augen zu einem schimmernden, grauen Nebel. Kōhei blickte verstört auf den Kitsune, der kaum älter sein konnte als Shippō und vehement versuchte, einen vollständigen Satz hervorzustoßen: „Herr... ich bitte... es tut mir... .“ Nur um wieder abzubrechen. „Himmel, Yuu, beruhige dich“, sagte Saburō mit einem mal so geduldig, als hätten vorangegangene Gespräche nie stattgefunden. Der Junge schluckte einige Male. Leckte sich über die Lippen und sah gehetzt zu seinem Herrn auf: „Eure Mutter schickt mich. Er hat sie getötet. Der Fürst, meine ich. Er hat Hiromi-sama gestern Abend hinrichten lassen.“ Kōhei sah augenblicklich zu Saburō, der alle Farbe verlor und kein Wort hervorbrachte. Das tiefe Schwarz von Haar und Kleidung ließ ihn noch blasser wirken, während er eine Hand hinter sich an die Wand legte, um Halt zu finden. Er rang um Fassung, schien Worte auf der Zunge zu haben, die er nicht auszusprechen wagte. Kōheis Magen verkrampfte sich bei seinem Anblick. Er konnte zu deutlich nachempfinden, wie die blanke Gewissheit sich durch sein Gegenüber fraß, dass Frau und Kind verloren waren. Dass sein eigener Vater sie in seiner Abwesenheit hingerichtet hatte. Und warum? Sicherlich nicht, weil Hayato gefürchtet hätte, es vor seinen Augen zu tun. Nein. Dafür kannte Kōhei seinen Fürsten mittlerweile zu gut. Er hatte Saburō fortgeschickt, um seinem Sohn den letzten Funken nagenden Zweifels zu lassen, dass er etwas hätte ausrichten können, wenn er nur dort gewesen wäre. Ein unsinniger Gedanke. Er wäre machtlos gewesen, sobald sein Vater den Befehl auch nur ausgesprochen hätte. Das war eine Tatsache. Doch wessen Verstand wollte die Wahrheit wissen, wenn erst einmal Selbstzweifel gesät waren und die Realität zerfraßen? Wie oft hatte er schon den Tag ihres Todes in Gedanken rekonstruiert – hätte er sie retten können? Hätte sie auch ihn getötet? Wäre er gezwungen gewesen, ihr ein Ende zu bereiten? Und – hätte er gekonnt? „Akemi?“, hauchte Saburō schließlich tonlos. „Meine Mutter?“ „Sie sind wohlauf. Eure hohe Mutter versucht vergeblich Akemi-sama zu beruhigen. Sie gibt sich die Schuld den Handlungen Eures Vaters... .“ Saburō verengte die Augen. „Woran er sicherlich nicht unschuldig ist.“ „Er hat unmissverständliche Andeutungen in ihrem Beisein gemacht, dass es auch um ihretwillen geschehe“, erwiderte Yuu und zog den Kopf ein, als Saburō sich laut fauchend von der Wand abstieß. Er ging einige Schritte durch den Raum und wendete sich dann wieder an den Jungen. „Ruh dich aus und schaff dann die Pferde an den Hof zurück. Schick zwei Männer in die Berge. Sie sollen die Inuyōkai in der Hütte südöstlich des Kotobiki-Gipfels ungesehen nach Shōdo bringen.“ Der Junge nickte und huschte aus dem Zimmer. Nachdem er verschwunden war, wandte Saburō sich an langsam an Kōhei: „Ich muss zurück. Umgehend.“ Dessen Stimme war so tonlos, wie er es in Anbetracht dieser Nachrichten vermochte: „Ihr könnt unmöglich wollen, dass ich meinen Fürsten hintergehe – ein Amt, das ihr selbst einmal bekleiden wollt. Was würde Euch versichern, dass ich nicht auch Euch nach Belieben in den Rücken fiele?“ „Von dieser Position betrachtet, ist das ein Problem, Taishō. Allerdings nur ein Luxusproblem: Es wird keine Zukunft geben, in der ich Euch für die Loyalität gegenüber meinem Vater auf die Schulter klopfen kann. Ich werde tot sein. Oder etwas in der Art. Je nachdem, wie es um seine Laune bestellt ist. Ich werde Euch nicht vorschreiben, was richtig oder falsch ist oder Euch für die eine oder andere Entscheidung heimsuchen. Ihr riskiert auch Euren Kopf, sobald ihr einen Schritt in die falsche Richtung macht. Aber das wisst Ihr längst. Ich muss nicht zum Chor predigen.“ „Ihr werft mir Euer Leben vor die Füße.“ „Es liegt da schon eine Weile. Genau genommen schon seitdem mein Vater Euch als meinen Wachhund auserkoren hat. Ein Wort von Euch hätte genügt – ob wahr oder nicht. Diese Situation kommt nur viel zu verfrüht.“ Kōheis Nackenhaare stellten sich allmählich auf: „Ihr glaubt hoffentlich nicht, dass ausreichend Zeit an Eurer Seite meine Meinung ändern könnte.“ „Nicht?“, Saburō zog in üblicher Manier eine Braue empor und lächelte schließlich so erschöpft, dass Kōhei glaubte, zum ersten Mal den Mann hinter der Fassade zu sehen. „Dann muss ich mich im Anlass dieser Unterhaltung getäuscht haben.“ Kōhei blinzelte verdutzt, ehe er begriff, dass er gerade eiskalt Schachmatt gesetzt worden war. Die Öllampen fingen in ihren Fassungen am hellerlichten Tag Feuer, als sein Yōki durch den Raum schlug. „Ich würde Euch manchmal zu gern selbst erwürgen!“ „Ja. Ich weiß. Das höre ich erstaunlich oft.“ Saburō betrachtete eine der Lampen und stieß sie mit zwei Fingern aus ihrer Wandhalterung. Der Tatami schwelte einen Moment in schwarzem Dunst, dann fraß sich das Feuer lichterloh voran. Saburō trat über die Flammen und ging an Kōhei vorüber. „Ich will Euch in dieser Entscheidung auch im eigenen Sinne wirklich nicht drängen – aber ich habe keine Zeit. Er würde jeden töten, um mich leiden zu sehen. Ich muss zurück.“ Kōhei starrte in das Flammenmeer, das er hinterlassen hatte und wandte sich schließlich fluchend um, als das Feuer nach seinem grünen Kimono leckte, während es die Menschen längst verschlang. Dieser verdammte Bastard! ☾ Erneut drehte Tōtōsai die Klinge in den Händen. Der Griff war makellos, doch vom Klingenrücken zogen tiefe Scharten an die Schneide heran. Kratzer gabelten und verliehen dem Metall den gesplitterten Eindruck eines zerbrochenen Eis. An der Spitze war ein kleines Stück herausgebrochen und hatte eine scharfkantige Lücke im Stahl hinterlassen, die die Haut einriss, sobald man sie berührte. Vermutlich die ersten Tropfen von Blut, die Tenseiga jemals gefordert hatte. Dem Schmied setzte der Zustand der Waffe sichtlich zu. Er kämpfte mit den Tränen, während er wie betäubt auf sein Handwerk herabstarrte. Man mochte beinahe Mitleid mit ihm haben – auch wenn der Fürst das anders sah. „Ich habe einen Krieg zu führen, alter Mann. Kannst du es reparieren oder nicht?“ „Wie können mir seine Söhne das antun?“, murmelte er halblaut und schielte zur Myōga, der neben ihm saß. „Erst Tessaiga und nun auch noch Tenseiga. Es war sicherer, als es seiner Aufmerksamkeit noch nicht wert war!“ Sesshōmaru wurde ungeduldig: „Tōtōsai.“ Der richtete seine gewaltigen Augen auf den Fürsten und wurde so ernst, wie er es vermutlich nur in geschäftlichen Dingen vermochte, die seine eisernen Kinder betrafen: „Es ist nicht so einfach, wie du denkst. Das ist kein billiger Metallschrott, wie man ihn an jeder Ecke kaufen kann. Es braucht mehr als eine Esse und etwas Kitt, um eine solche Waffe neu zu schmieden – und auf nichts anderes läuft das hier hinaus. Du hättest bei den ersten Rissen kommen sollen, statt zu warten, bis es beinahe auseinanderbricht.“ „Es hält dem einzigen Zweck nicht stand, für den es taugt.“ „Es ist nicht für den Krieg gedacht, du Narr! Es ist fast nicht möglich, aber du bist bösartig genug, auch für diese Waffe einen Krieg zu finden, in dem du sie zerstören kannst! Hätte der alte Hund mich bei der Erbverteilung nach meiner Meinung gefragt, hätte ich ihm gleich gesagt, dass es in deinen Händen verschwendet ist! Aber wer fragt mich schon? Ich bin ja nur der Schöpfer!“ Er schnaubte wütend und stieß dabei dicke Rauchwolken aus seinen Nasenlöchern aus, die sämtliche Haare auf ihrem Weg versengten. Ryouichi bemerkte aus den Augenwinkeln, wie der Fürst die Kiefer aufeinander presste und schwieg. Wenn es so weiter ging, würde sich der Schmied um Kopf und Kragen reden und Tenseigas auf ewig verloren sein. „Ich bin sicher, dass Tōga-sama ausreichend Gründe für diese Entscheidung hatte, die anzuzweifeln uns nicht zusteht“, sagte er ruhig und bemerkte, wie Sesshōmaru ihm vernichtende Blicke zuwarf. „Sicherlich habt Ihr es nicht mit der Absicht geschmiedet, gegen eine Armee untoter Drachen zu bestehen. Keiner konnte diesen Wahnsinn erahnen. Aber nun stehen wir vor dem Problem und müssen es irgendwie lösen – und Tenseiga ist das einzige Mittel, das uns dieser Plage wieder entledigen kann. Sie haben den Westen angegriffen, den Palast zerstört und scharen neben den Panthern unzählige Mitläufer um sich. Wir sind auf Eure Hilfe angewiesen.“ „Und du bist?“ „Ryouichi ist der Generalleutnant des Fürsten“, murmelte Myōga seinem Freund zu, der unlängst begonnen hatte, seine Ohren akribisch mit den Fingernägeln zu säubern. „Ah. Was ist mit diesem anderen Kerl? Der Unausstehliche mit den Opalaugen.“ Der Flohgeist räusperte sich angestrengt und versuchte vehement, die Antwort möglichst gedrückt zu halten: „Ich fürchte, auch Yūsei-sama ist gegen das Alter genauso wenig gefeit wie wir. Er ist schon vor Jahrzehnten in den Ruhestand gegangen.“ „Tze. Absehbar. Er hatte damals schon mehr Haare auf den Zähnen als auf dem Kopf.“ Myōga wurde kreidebleich und warf einen panischen Blick in Ryouichis Richtung. Der blieb jedoch entgegen aller Erwartungen gelassen: „Da habt ihr offensichtlich etwas gemeinsam.“ Tōtōsai stockte über den Witz und begutachtete den Generalleutnant, als nehme er seine Anwesenheit erstmalig wirklich wahr, studierte die dunkelgrüne Maske und das Schwert in seinem Obi: „Ich dachte, die Inu von Sado verlassen ihre Insel in der Regel nicht?“ „Ich bin die Ausnahme der Regel.“ Der Alte blieb still, maß ihn nachdenklichen Blickes und lehnte sich schließlich ein Stück zu ihm vor: „Darf ich Euer Schwert sehen?“ Erst als Sesshōmaru mit einem knappen Nicken eingewilligt hatte, reicht Ryouichi die Waffe über das knisternde Feuer. Der Schmied zog es mit geübter Hand aus der Scheide und hielt es nah an die Flammen, die im tiefen Schwarz der Klinge ohne jede Spiegelung verschwanden. „Außergewöhnlich“, bemerkte er mit einer Spur von Ehrfurcht. „Habt Ihr eine Vorstellung davon, wie viele Jahrtausende an Fehlversuchen es gebraucht hat, bis jemand in der Lage war, ein zerbrechliches Material wie Obsidian in eine taugliche Waffe zu schmieden? Man könnte gleichsam mit Glas arbeiten. Es ist über alle Maßen erhabene Handwerkskunst... Ihr kennt nicht zufällig das Geheimnis dahinter? “ Ryouichi lachte hell auf. „Nein, Schmied. Ich fürchte, auch auf Sado ist es kein Allgemeinwissen.“ „Ihr arbeitet es auch in diese Masken ein, nicht wahr?“ „Ihr seid sehr scharfsinnig.“ „Aus dem zerbrechlichsten Material das wohl widerstandsfähigste zu formen... irgendwie müssen sie es dichter schmieden... bis es kein Licht mehr spiegelt...“ „Wenn es Euch derart interessiert, werde ich gern versuchen, Euch eine Speerspitze oder einen Dolch zukommen zu lassen“, Ryouichi legte die Hände auf den Oberschenkeln ab und lehnte sich ebenfalls vor. „Zumindest wenn Ihr uns nun die Ehre erweisen würdet, auf das Anliegen meines Herrn zurückzukommen.“ Tōtōsai sah auf und blinzelte von einem Hundedämon zum anderen, als habe er vergessen, dass sie da waren. Dann kratzte er sich am Kopf, bis einige Altersschuppen herunter rieselten und studierte ausweichend die Innenwände des Skelettes. „Ach...Tenseiga, ja... . Ich könnte es reparieren. Natürlich. Man müsste sich nicht einmal Gedanken darum machen, dass er damit ganze Landstriche verwüstet...“ „Wie lange?“, Sesshōmaru tat sich sichtlich schwer im Angesicht der Lage Geduld an den Tag zu legen. „Oh nein, so einfach ist das nicht. Warum glaubt diese Familie ständig, diese Dinge fielen vom Himmel? Erwartet ihr, dass ich es zweimal im Feuer wende und die Sache damit gegessen ist?“ „Du hast Tessaiga neu geschmiedet“, warf Myōga empört ein. „Ich war selbst dabei!“ „Ja“, schnarrte der Schmied höhnisch. „Danach war es etliche Kilo schwerer und kaum zu handhaben. Was denkst du wohl, was bei Tenseiga alles schief gehen kann? Inuyashas Fangzahn war bereits dürftiges Ersatzmaterial für das Schwert – dabei funktionieren Inuyasha und Tessaiga auf einer Wellenlänge. Tenseiga und er hier hingegen... .“ Er warf einen knappen Blick auf Sesshōmaru und zuckte sichtlich zusammen, als er das tödliche Gewitter bemerkte, das in dessen goldenen Augen tobte. „Ich... ich meinte nur... Ihr werdet mir kaum widersprechen können, dass das Retten von Leben nicht zwingend Eure größte Stärke ist. Ihr mögt über die Jahre an den Aufgaben Eures Vaters gewachsen sein und Sorge und Leid auch für andere empfinden, aber zwischen Euch und dem Zweck dieser Waffe liegen Welten. Würde ich versuchen, Tenseiga mit Teilen Eures Körpers zu retten, würde ich es dabei vernichten.“ „Ich verstehe“, Myōga zupfte nachdenklich an seinem ergrauten Schnurrbart. „Du brauchst einen selbstlosen Charakter... jemanden wie Tōga-sama... .“ Tōtōsai winkte ab. „Bist du senil? 'Jemanden wie' wird es nicht geben. Der alte Hund hatte beides: Die Entschlossenheit und Stärke, seine Feinde zu töten, und Züge wie Verantwortungsbewusstsein und Milde, die es braucht, die Schwächeren zu schützen. Eigenes Leben und Macht nicht über alles zu setzen. Einen Dämon zu finden, der nur dem Letzteren entspricht, ist unmöglich. Vermutlich findet man auch bei den Menschen so jemanden nicht und das würde uns ohnehin nicht weiter bringen. Es braucht einen Yōkai. Derjenige muss kein Heiliger sein, aber er sollte den inneren Werten der Waffe eher entsprechen als ihr derzeitiger Besitzer. Sonst ist es nachher doch nur ein Haufen wertloser Stahl.“ Ryouichi bemerkte, wie der Fürst sich neben ihm sichtlich verspannte. Er konnte die Worte des Schmieds unmöglich als Beleidigung aufgefasst haben, entsprachen sie doch nur dem Selbstbild, das er ohnehin von sich hatte und schätzte. Die für Tenseiga erforderlichen Charakterzüge hatte er an seinem Vater zwar nie direkt verurteilt, das hätte er niemals gewagt, doch machte er sie für dessen frühen und unehrenhaften Tod verantwortlich. Zumindest dann, wenn er nicht gerade versuchte, diese Schuld auf Inuyasha abzuwälzen, den zu beschuldigen ihm offenkundig leichter fiel, als die Unfehlbarkeit seines hohen Vaters anzuzweifeln. Sein Zorn galt daher eher weniger Tōtōsais Einschätzung gegenüber seiner Person als vielmehr der Tatsache, dass sich Tenseigas Wiederherstellung schwieriger gestaltete als erhofft. Ryouichi sah ihn aus den Augenwinkeln an und schluckte. Die derzeitige Situation setzte dem Fürsten ungemein zu. In Krieg allein ging er auf. Er hatte niemals einen Kampf gescheut, nie an sich gezweifelt, wenn es um seine Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld ging. Doch diese Gegner starben nicht. Sein Sohn war spurlos verschwunden, vermutlich bereits tot. Seine Mutter schwer verletzt. Der Palast der Familie zerstört. Und nun hing alles an der Waffe, die er stets verachtet hatte. „Was ist mit Euch, Chūyō?“ Aus den Gedanken gerissen fuhr Ryouichi zu dem Flohgeist herum. „Was soll mit mir sein?“ „Es ist taktlos von mir, als Außenstehender darüber zu sprechen, aber im Angesicht der Umstände...“, der alte Flohgeist nestelte an seinem Ärmel herum. „Ich war bei meinem Meister, als er Euch in den Katakomben der Drachenfeste gefunden hat. Niemand wird sich je anmaßen, das, was Euch dort widerfahren ist, zu bemessen, doch hätte es den Rahmen der Loyalität bei den meisten gesprengt. Eure jedoch ist ungebrochen. Ihr seid selbst danach noch im Dienst verblieben, habt die Festung im Namen des Fürsten geführt und sie umgehend wieder abgetreten, als er zurückkehrte. Ihr nehmt sogar erneut den Kampf gegen diese Bestien auf, wenn man es von Euch verlangt. Ihr und der Fürst -“ „Ich diene, Myōga. Das ist alles.“ Es war ihm härter über die Lippen gekommen, als er es beabsichtigt hatte, doch zumindest schrumpfte der Flohgeist ein wenig zusammen und brachte seine Ausführung nicht zum Ende. Er wollte nicht mehr hören, wie andere sein Handeln einordneten. War die Spekulationen und das Gerede leid. War es leid, dass sich Bilder ungefragt in seinen Geist schlichen wie winzige Parasiten, sobald jemand diese Ereignisse auch nur andeutete. Nein, sie konnten sich nicht vorstellen, was passiert war. Und sie sollten es auch nicht. Es war seine Entscheidung gewesen und es war vergangen. Lange vergangen und wert, endlich vergessen zu werden. Er hatte keine Ruhm gewollt, kein Mitleid, keinen Dank. Nichts davon. All das zählte im Tode nicht. Und nur dessen war er sich sicher gewesen – sicher bis zu dem Moment, als Sesshōmarus Vater ihn des Todes entrissen hatte. Er hatte nie ahnen können, dass es nicht sein Ende sein würde. Und nun war es vorbei. Lag viele Jahrhunderte zurück und gehörte einem anderen, fernen Leben an, das mit dem Jetzt nichts mehr zu tun hatte. Absolut gar nichts! Nie wieder - „Chūyō.“ Er stockte, als der Fürst ihn ansprach und hatte einige Mühe, sich im Raum zurechtzufinden. Seine Hände legte er im Schoß zusammen, um das Zittern zu unterbinden, das sich in seine Nerven geschlichen hatte. Das hatte gerade noch gefehlt. „Du bist der Junge, den Tōga an die Drachen verloren hat“, folgerte Tōtōsai und seine ohnehin schon großen Augen nahmen noch an Umfang zu. „Er hat sich jahrelang Vorwürfe gemacht, überhaupt auf diesen Handel eingegangen zu sein. Aber ich dachte, der Junge sei wahnsinnig geworden? Und auch der Name war lächerlich passend zu so viel Selbstaufgabe... wie war das noch gleich? Irgendwas mit 'Hilfe'.“ „Daisuke“, half Myōga ihm aus und blickte umgehend entschuldigend zum Generalleutnant. Der Name klang weiterhin falsch in seinen Ohren und auch dem Flohgeist schien er nur schleppend über die Lippen zu kommen. Sesshōmaru hatte ihn vor einigen Monden benutzt und sich gleichsam schwer getan, als sei der Name allein ausreichend, um all das wieder hervorzubringen, das längst in die Vergangenheit verbannt gehörte. „So heiße ich schon lange nicht mehr.“ Ryouichi hatte einige Mühe, seine Stimme zu festigen und sämtliche Gedanken aus seinem Verstand zu fegen, die mit dem Anlass ihres Besuches nichts zu tun hatten. „Sollte ich aber irgendwie dienlich sein können, nehmt von mir, was Ihr braucht.“ „In angemessenem Maße“, korrigierte der Fürst hart und sah Ryouichi warnend an. Dem stellten sich umgehend die Nackenhaare auf: „Du brauchst dieses Schwert, Sess!“ „Wag' es nicht, dich mir zu widersetzen!“ Die Flammen im Feuer loderten auf und schlugen unter dem peitschenden Yōki achtlos um sich, versengten Tōtōsai den Bart und zerfraßen einige kleinere Holzscheite in Sekundenbruchteilen zu Glut. „Es wird nicht funktionieren.“ Augenblicklich kehrte Ruhe ein. Die beiden Männer betrachteten den Schmied mehr oder weniger irritiert, während er beiläufig die Funken aus seinem Barthaar schnippte. „Wie auch immer er sich nun nennen mag, er ist derselbe wie damals. Heißt, er war bereits tot und weilt nur durch Tenseiga unter uns. Damit ist er für dieses Unterfangen wertlos.“ Sesshōmaru erkannte gleich den Kern der Problematik: „Gibt es eine Verbindung?“ „Natürlich. Gäbe es keine Verbindung zwischen Tenseiga und denen, die es rettet, könnte man sie vermutlich unendlich oft wiederbeleben“, schnarrte Tōtōsai, als müsse er gerade jemandem erklären, dass Feuer Luft zum Brennen benötigte. Der Fürst überging den Ton erstaunlich anstoßlos: „Was also, wenn Tenseiga gänzlich zerbricht?“ „Fraglich. Vielleicht stirbt er. Nichts, was man testen wollen würde.“ „Was schlussendlich bedeutet, dass wir es gar nicht mehr einsetzen können, wenn wir nicht alle gefährden wollen, die durch dieses Schwert noch leben“, folgerte Ryouichi und schob die Maske zurück, um sich mit der Hand durch das pechschwarze Haar zu fahren. „Ihr solltet es vermutlich besser nicht mehr bei Euch tragen. Jeder weiß, dass Ihr diese Waffe besitzt und die Drachen werden versuchen, sie um jeden Preis zu vernichten.“ „Tenseiga wird hier bleiben“, entschied der Fürst und musterte den Schmied. „Repariere es notdürftig, solange wir nach einem passenden Yōkai suchen.“ Tōtōsai, der eben noch fasziniert in Ryouichis Gesicht gestarrt hatte, fuhr aufgebracht herum: „Hier? Bist du wahnsinnig? Sie machen mir den Garaus, wenn sie hier auftauchen!“ „Werden sie nicht. Ihr behaltet nur die Waffe selbst und wir bestücken die Scheide mit einem einfachen Schwert aus dem Arsenal. Sie werden sich bereits jetzt fragen, warum Sesshōmaru-sama die Waffe nicht mehr benutzt, aber Euch kennen sie nicht. Solange sie glauben, dass er Tenseiga trägt, gehen wir kein zusätzliches Risiko ein. Dann ist es hier erst einmal sicher.“ „Ausgeschlossen –.“ „Tōga-sama hat stets nur Krieg geführt, wenn es unerlässlich war – und die Drachen hat er mit aller Macht verfolgt. Er wusste, wie gefährlich sie für das ganze Land waren. Wollt Ihr das Werk Eures Freundes mit Füßen treten?“ „Grah!“, Tōtōsai schlug mit der Faust auf den warmen Gesteinsboden. „Ist ja schon gut! Das ist ein ganz mieser Trick, Inu! Völlig unangebracht. Aber ich mache es. Ich behalte Tenseiga hier. Denkt nur nicht, dass ich mich von hier fort bewegen werde. Sicherlich nicht, solange untote Drachen durch die Gegend streifen! Ihr werdet mich mit Material versorgen – und mit allem, was ich sonst noch benötige. Egal, was ich verlange.“ „Was sicherlich nicht nur Schmiedematerial umfassen wird“, riet Myōga spitz. „Worauf du Gift nehmen kannst, Floh. Ich habe meinen Hals schon oft genug für Tōga riskiert – eingeschlossen der etlichen Male seit er tot ist. Ich werde zu alt für diese Spielchen.“ Sesshōmaru ließ die aufkochende Diskussion kalt: „Du bekommst, was du brauchst. Solltest du mich jedoch hintergehen oder warten lassen, streiche ich die Wände dieser Hütte mit deinem Innenleben.“ „Ganz ohne Morddrohung konnte das hier nicht enden, eh?“, gnarzte der Alte abfällig. „Ich werde tun, was ich kann. Aber wem ich nun einen Zahn ausreiße, ist allein meine Entscheidung. Eine Fehleinschätzung würde niemandem nützen.“ „Gut.“ „Das werden wir sehen“, murmelte Tōtōsai, dem man die Gewissheit, eine ziemlich dumme Entscheidung getroffen zu haben, deutlich im Gesicht ablesen konnte. Es hätte Ryouichi kaum gewundert, wenn er vor Verzweiflung in Tränen ausgebrochen wäre. Vor einigen Jahrtausenden hätte er es vielleicht noch aufregend gefunden und wäre mit Elan an die Arbeit gegangen, doch er schien müde. Ein wenig wie Yūsei, den er so offenkundig verschmähte. Sie hatten zu viele Kriege erlebt, zu viele Mitstreiter verloren. Der Schmied wandte sich an den einzigen, der ihm geblieben war: „Was ist mit dir, Floh?“ Der kleine Mann wich dem Blick aus. „Ich werde Sesshōmaru-sama begleiten.“ „In den Krieg?!“, Tōtōsai machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Schock zu verbergen. „Du? Du bist das feigste Insekt dieses Planeten. Warum solltest du das wollen?“ „Ich werde auf den Jungen warten...“, er rang mit seinen vielen Händen. Seine Stimme war dünn. „Wenn er zurückkommt und ich bin nicht da, wird er denken, ich hätte ihn bei der ersten Gelegenheit verlassen. Das kann ich ihm nicht antun.“ „Was für ein – Moment. Du begleitest doch wohl nicht diesen ausgemergelten Wildfang vom letzten Frühjahr? Ich dachte, der wäre mit seiner Einstellung längst tot! Für ein Versprechen zwischen die Fronten! Pah!“ „Er – ist – nicht – tot!“, fauchte der Flohgeist wütend und lief puterrot an. „Wir haben ihn nur noch nicht gefunden, verstanden? Sieh' zu, dass du Tenseiga in Stand setzt, alter Mann! Ich werde diesen Jungen nicht verlieren, mir egal, was es kostet!“ „Grundgütiger, Myōga!“, der Schmied fächerte ein wenig mit den Händen vor ihm herum. „Hol Luft. Du siehst schon aus wie eine vollgesogene Zecke. Außerdem bist du zu alt, dich wegen eines so jungen Hundes -.“ Er hielt inne als sei ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen und sah aus den Augenwinkeln zum Fürsten empor, dessen Aura wie ein Unwetter unter der Zimmerdecke zuckte und die ohnehin schon stickige Luft bedrohlich drückend werden ließ. „Oh, scheiße...“ „Lass mich nicht warten, Tōtōsai“, mahnte Sesshōmaru abermals. „Ich brauche diese Waffe.“ „Ich verstehe“, erwiderte der knapp. Offenbar hatte er begriffen. Damit ging der Fürst hinaus. Myōga folgte ihm auf dem Fuße und ließ sich wie selbstverständlich auf seiner Schulter nieder. Die feinen Haare des Fells mied er dabei weiträumig und warf einen letzten, fast entschuldigenden Blick zu seinem alten Freund, der ihm mit offenem Mund nachstarrte – sicherlich da er nicht fassen konnte, was er gerade erlebte, aber auch, weil er sich fragte, welche Frau wohl wahnsinnig genug sein mochte, sich mit dem Fürsten des Westens einzulassen. Ryouichi nahm sein Schwert aus dem Schoß des perplexen Greises und verabschiedete sich, ehe er dem Fürsten nachging, der draußen auf ihn wartete. Die trockenen Windböen außerhalb der Hütte waren durch die Sommersonne noch wärmer und wirbelten die dichte Vulkanasche auf. Im Haar und auf der hellen Kleidung des Fürsten war sie kaum zu sehen. „Ich will, dass Ihr nach Sado zurückkehrt.“ Es war, als hätte man Ryouichi ein Fass voll Eiswasser über den Rücken geschüttet. Er hatte den Tag gefürchtet, an dem er für den Fürsten nicht mehr tragbar war. An dem er wieder an den Ort geschickt werden würde, der niemals eine Zukunft für ihn bereitgehalten hatte und nicht als sein Grab werden würde. Im Grunde war es verwunderlich, dass dieser Zeitpunkt nicht schon vor Jahrhunderten gekommen war. Das machte ihn aber nicht weniger schmerzlich. „Wie Ihr wünscht, Herr.“ Er versuchte standhaft zu sein, doch klang er dennoch betrübt. Er hatte kein Recht, diese Entscheidung anzuzweifeln, hatte er doch seine Eignung oft genug selbst in Frage gestellt. Es war richtig so. Der Fürst konnte in diesen Zeiten niemanden gebrauchen, auf den er sich nicht in allen Situationen verlassen konnte. „Narr. Du missverstehst mich. Ich brauche dich auf Sado. Natürlich könnte ich Jaken schicken, aber sie würden ihn vermutlich auf einen Spieß stecken und über dem Feuer rösten, ehe er den Mund aufmachen kann. Die Krieger von Sado hören nur auf ihresgleichen. Wenn du Takanao bittest, dem Westen im Kampf beizustehen, werden sie dem Ruf folgen.“ „Ich war nicht mehr auf Sado, seit Ihr und Euer Vater mich damals mit an den Hof genommen habt. Das ist über fünfhundert Jahre her. Eine vollkommen andere Zeit. Ein ganz anderes Leben. Ihr überschätzt meinen Einfluss maßlos.“ „Genug davon! Fünfhundert Jahre und du fürchtest dich vor dir selbst wie am ersten Tag. Ich habe damals nicht begriffen, warum dein Volk seine eigene Stärke fürchtet und will es auch gar nicht. Wären sie der Vernunft zugänglich, würdest du sie führen. Niemand sonst!“ Er hielt inne, als er selbst bemerkte, dass er unangemessen laut geworden war und sprach erst nach einiger Zeit weiter, in der keiner der beiden sich auch nur rührte. „Aber nun bist du Generalleutnant des Westens und als solcher kehrst du nach Hause zurück. Nicht als Untergebener deines Bruders. Mach ihnen klar, dass uns ein Krieg bevorsteht, der auch ihr Ende sein wird, wenn wir ihn verlieren. Ich brauche diese Krieger. Jeden einzelnen.“ „Ich verstehe. Ich werde gehen“, versicherte Ryouichi. „Ich fürchte nur, dass sie auch mit einem Bindeglied schwer zu überzeugen sind. Sie haben die Insel seit Akayas Zeiten nie verlassen. Aber ich werde tun, was immer nötig ist, um sie dazu zu bringen.“ „Davon bin ich überzeugt.“ Sesshōmaru lächelte schmal genug, um dem Flohgeist auf seiner Schulter das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Der Fürst wusste sehr genau, wie weit Ryouichi für ihn gehen würde. Entweder die Inu Sados erklärten sich bereit, Ryouichis Ruf zu folgen oder ihre Schauergeschichten würden nach Jahrtausenden erneut wahr werden, wenn erst einmal ihr eigener Daiyōkai die Insel in Schutt und Asche gelegt hatte. „Denk an den Suchtrupp, bevor du aufbrichst und schick mir bei deiner Rückkehr umgehend einen Boten. Ich werde noch einmal selbst nach ihm suchen.“ Sesshōmaru strich mit der Hand durch seinen Nacken und versuchte die Muskeln zu lockern. Es war schwer zu übersehen, wie ihm die Situation zusetzte. Dass er nun die Inu über die Küstengrenze hinweg zusammenzog, verdeutlichte, wie nah sie am Abgrund standen. „Wir werden ihn finden“, versicherte Ryouichi. „Selbst wenn sie ihn getötet haben. Die Frage ist nur wann. Vielleicht solltet Ihr Euch einen Moment ausruhen und andere für Euch suchen lassen. Ihr seht müde aus.“ „Sei nicht albern. Es ist Hōnshu“, konstatierte der Fürst glatt. „Tot oder lebendig – wie lange kann es schon dauern?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)