Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 47: Denn wir vergessen allzu oft ---------------------------------------- Als das Dōjō erneut an ihn herangetreten war, um ihm einen anderen Kurs anzubieten, hatte Minoru Kendō ad acta gelegt – nicht ohne Widerstand seitens seiner Gastfamilie, den er jedoch in einigen anstrengenden Diskussionen hatte zerschlagen können. Seine Durchsetzungsfähigkeit litt beachtlich, solange er seine Argumente nicht mit allerlei Drohungen spicken konnte. Es gehörte verboten, einen Daiyōkai in solch eine Lage zu bringen. Menschen diskutierten für ihr Leben gern und fanden die abstrusesten Umwege, um ihre Meinung zu begründen – eine Situation, die ihm außerhalb der Neuzeit vermutlich nicht mehr allzu oft begegnen würde. Gleichgestellte, mit denen man sich auf solche Gespräche einließ, gab es nicht allzu viele, nach unten wurde kommandiert und nach oben – nun, die Annahme, er könne seinen Vater mit guten Argumenten von einer Sache überzeugen war schlichtweg lachhaft. „Die unter Hand an den Mund, die obere näher an das Ohr. Dreh den Oberkörper in der Hüfte weiter zum Schwert.“ Minoru korrigierte die Haltung um wenige Millimeter und erntete ein zufriedenes Brummen seines Lehrmeisters – zumeist die einzige Form von Lob, die Lehrer aller Arten gewährten. Die neuen Schüler, die sich erst vor zwei Wochen dem Kurs angeschlossen hatten, versuchten es nachzuahmen. Die Niten Ichiryū, die 'eine Schule der zwei Himmel', war weitaus brutaler und offensiver als das streng reglementierte Kendō, das er vorher trainiert hatte. Man trug weder Rüstung noch Helm, nur einfache Baumwolloberteile und Hakama, und führte das Katana vorwiegend in einer Hand, um die zweite für das Wakizashi als Paradewaffe frei zu haben. Grundlegend ging es darum, dem Gegner die Klingenspitze in das ungeschützte Gesicht zu treiben. Misslang der Erstschlag oder hatte man das Gegenüber dazu gebracht, mit Kopf oder Körper auszuweichen, griffen andere Bewegungsabläufe, um sich seiner zu entledigen. Wer zurückwich galt als verloren und nur, wer seinen Gegner auch töten wollte, sollte die Waffe aus der Scheide lösen. Der Kampfstil ähnelte damit den Lektionen, die Ryouichi ihm in den wenigen Monaten bei Hof eingehämmert hatte – wobei man westlichen Hof gemeinhin auf die zweite Waffe verzichtete und weniger einer genauen Reihenfolge an Bewegungen nachging. Im Mittelalter war diese Technik dem einfachen Volk verwehrt geblieben, da es nur der Klasse der Samurai gestattet gewesen war, zwei Schwerter zu führen. In dieser Sporthalle fragte heute niemand mehr nach den familiären Verbindungen zu einstigen Samuraifamilien. Ebenso wie es verboten war, das Gelernte auf offener Straße anzuwenden. Die Menschen der Neuzeit neigten dazu, das Alte um der Tradition Willen zu bewahren. Die Praktiken des Mittelalters hochzuhalten war für das Überleben in dieser Epoche auch nicht relevant. Zu Zeiten des unter seinesgleichen legendären Shinmen Musashi Fujiwara no Genshin – bekannt als Miyamoto Musashi – hingegen schon. Der 1584 geborene Begründer der Niten Ichiryū war jünger als Minoru, zumindest dem Geburtsjahr nach, und unter Umständen aufgewachsen, die dem Inu nur allzu geläufig waren. Er hatte seine Heimat mit sechzehn Jahren verlassen, um eine Kriegerwallfahrt zu beginnen, deren einziger Zweck die Perfektion seiner Kampfkunst durch Herausforderung der vielversprechendsten Gegner gewesen war. Nebenbei hatte sich der gute Mann als Künstler und Autor verdingt – eine Kombination, die Menschen verwirrenderweise als zusammenhängend betrachteten – und durch seine Lehren einen Kampfstil publik gemacht, der aufgrund seiner Aggressivität nach dem zweiten Weltkrieg durch die Siegermächte verboten worden war. Musashis Lehren über die Kriegskunst kamen denen der Yōkai so nah, dass man meinen mochte, er müsse von einem solchen herangezogen worden sein. Und wer wollte das schon ausschließen? Er hatte den offensiven Kampf verehrt, Gefühle wie Liebe und Lust von sich gewiesen und Tagträumerei sowie Beschäftigungen, die ihm seinem Ziel nicht näher brachten, verabscheut. Fokussiert auf Kampf und Perfektion; bestrebt, die eigene Grenze zu finden. Was für Menschen manisch wirken mochte, war für die Weltanschauung eines kriegerischen Daiyōkais selbstverständlich – zumindest, wenn man Ryouichi und Myōga glaubte. Minoru war vermutlich der einzige Inu, der nicht mit diesen Idealen aufgezogen worden war. Einige waren sicherlich erstrebenswert, wie etwa die Ablehnung fremder Mächte, andere hingegen konnte er nicht vertreten. ,Es gibt nichts außerhalb von dir, dass dich dazu bemächtigt, stärker, reicher, schneller oder klüger zu werden. Alles ist in dir.' Ein Zitat Musashis, das gleichsam seinem Vater hätte entspringen können. Von Tessaiga abgesehen, das er als sein Anrecht betrachtet hatte, war er diesem Vorsatz stets gefolgt. Das Shikon no Tama etwa, das von so vielen begehrt und umkämpft worden war, hatte ihn nie interessiert. Es widersprach seinem hohen Selbstbild, auf äußere Hilfsmittel angewiesen zu sein. Ein Gedankengang, den sich sicherlich nicht jeder Wald- und Wiesenyōkai erlauben konnte. Das innige Verlangen nach einer Odyssee für Perfektion und den nächsten rentablen Gegner ging Minoru jedoch vollends ab. Er konnte sich nicht vorstellen, Jahrhunderte oder auch nur Jahrzehnte seines Lebens damit zu verbringen, über Stock und Stein zu stapfen und dem nächstbesten Narren die Klauen ins Gesicht zu schlagen. Vermutlich jedoch verhielt es sich eher anders herum: Hatte man sich erst einmal einen Namen gemacht, krochen die Ruhmeifernden von allein aus ihren Löchern, um ihn zu ihren Ehren wieder auszulöschen. War es nicht Musashis Gegnern wie Shishido Baiken ebenso ergangen? Musashi hatte sie aufgesucht, sie geschlagen und sein Ansehen durch ihren Tod genährt. Nun waren sie nichts weiter als Namen auf einer Liste von Leichen, die sein Können bezeugten. Die eineinhalb Stunden des Kurses zogen sich aufgrund der Neuzugänge zäher dahin. Immer wieder marschierte der Altmeister um jeden herum, schob und drückte an dieser oder jener Hand, korrigierte die Fußstellungen und fuhr erst dann fort, wenn er zufrieden war. Auch wenn diese Schule Mobilität und Vorwärtsbewegungen predigte, wurde vergleichsweise viel Wert auf die Ausführung von Abläufen oder die passende Beugung von Armen und Beinen gelegt. Improvisation war unerwünscht und freie Kampfsimulation für den Ernstfall sehr selten. Da endeten die Paralleln zu westlichen Trainingsplätzen abrupt: Ryouichi warf seine Schüler nach den Grundlagen auf den Sandplatz und griff an. Später erläuterte er dann, wie man den ein oder anderen Bluterguss hätte vermeiden können – um Minuten später erneut auf die ohnehin schon schmerzende Stelle einzuschlagen. Man konnte ihm allerdings nicht vorwerfen, verroht mit seinen Schützlingen zu verfahren: Hätte er es darauf anlegen wollen, hätte jeder seiner Hiebe Knochen zerschmettert. Nach Ende des Trainings war Minoru der erste in den Umkleiden, faltete Hakama und Oberteil halbherzig zusammen und zog bereits den Gürtel durch die Jeans, als die Übrigen tratschend hereinströmten. Der junge Mann, der ihm am Ende in den Partnerübungen zugeteilt worden war, war der einzige, der keinen Gesprächspartner zu haben schien. Sein Blick streifte Minorus und ehe der sich demonstrativ hätte abwenden können, löste sich der Neue aus der Gruppe und steuerte geradewegs auf ihn zu. Na wunderbar. „Hey.“ Minoru stellte sich taub und streifte ein weißes T-Shirt über den Kopf. „Du warst gut. Kannst du – also, meinst du, wir könnten nächste Woche wieder zusammen üben?“ „Wir machen hier keine festen Paare.“ Minoru nahm seinen Rucksack aus dem Fach und schlug die Spinttür zu. Als er sich jedoch drehte, stand der Junge genau vor ihm – einen ganzen Kopf kleiner, die Unsicherheit an der Nasenspitze ablesbar. „Oh. Ach so.“ Er blickte ihm ins Gesicht und dann doch wieder auf den Boden, machte jedoch keine Anstalten, den Weg freizuräumen. Wieder einmal erinnerte sich Minoru, warum ihm so viel daran lag, die Umkleide möglichst schnell zu verlassen. Er seufzte, warf den Rucksack über die Schulter und sah abwartend auf ihn herab. „Ist noch was?“ Wieder druckste er herum, vermied es, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen und studierte stattdessen dessen in Mitleidenschaft gezogenen Chucks. Minoru atmete tief durch, schickte ein Stoßgebet für innere Ruhe ins Nichts und machte einen bestimmten Schritt nach vorn. Erwartungsgemäß wich der Junge zurück und drückte sich, Entschuldigungen murmelnd, an die Schrankwand, während der Inu an ihm vorbei rauschte und mit einem leisen Fluch das Dōjō verließ. Ichirou, der wie üblich unter dem Ahorn gewartet und ihn längst gehört hatte, legte verdutzt den Kopf schief und trabte dann an seine Seite. „Nicht dein Tag?“ „Frag' bloß nicht.“ Der Akita erfüllte den Wunsch und begann gleich mit einem anderen Thema. „Weißt du, was toll an kleinen Kindern ist?“, fragte er, stolz auf seine neu gewonnene Erkenntnis. „Ihre Hände. Die sind ganz süß.“ Irritiert sah Minoru auf ihn herab. „Kinderhände.“ Er hatte doch nicht wirklich seine Zähne - „Ja. Erwachsene nicht so. Die waschen sie vermutlich zu oft. Aber die Kinder, die bekommen dauernd klebriges Zeug. Wenn sie mich streicheln wollen, lecke ich sie ab – und sie freuen sich auch noch darüber. Die meisten zumindest.“ Ein entnervtes Stöhnen entfleuchte Minorus Kehle. Im Alter von fast drei Jahren galten Hunde gemeinhin als ausgewachsen, aber das hinderte Ichirou offensichtlich nicht daran, Sōma in vielerlei Hinsicht den Rang abzulaufen – zumal ein echter Hund oftmals einen sehr skurrilen Blickwinkel auf die Welt zu haben schien. „Hauptsache du bleibst vorsichtig. Menschen können widerlich sein und ich will nicht, dass sie dir etwas antun oder anhängen. Eine kleine Wunde auf der Haut ihrer Gören und wir bekommen Probleme, wenn die Eltern sich anstellen.“ „Das hast du schon erklärt.“ „Ich erinnere dich lieber. Wir können uns hier keinen Ärger erlauben.“ Und dafür gab es viele Quellen. Mit Mühe hatte er Ichirou ausgeredet, auf Provokationen anderer Hunde einzusteigen – so unverschämt sich einige Exemplare auch benehmen mochten. Zumeist reichten sie Minoru kaum bis zum Knie und waren der Meinung, die ganze Welt gehöre ihnen, da niemand sich die Mühe gemacht hatte, sie eines Besseren zu belehren. Diese Aufgabe würden sie jedoch nicht übernehmen, denn Beißereien zogen in dieser Zeit oft Anzeigen nach sich und ein Akita, eine der größten Rassen, wurde dabei schnell die Schuld zugeschoben – allein aufgrund der größeren Zähne. Hinzu kam, dass die meisten Besitzer nicht in der Lage waren, das Verhalten ihres Vierbeiners auch nur im Grundsatz zu deuten. Ein warnendes Knurren des Akitas allein hatte schon eine ausreichende Anzahl an Hundebesitzern veranlasst, ihn zu beschimpfen und zu fordern, dass er seine vermeintliche Bestie an die Leine legen solle. Fehleinschätzungen, die ihm mittlerweile nur ein schmales Lächeln gebleckter Zähne entlockten. Ichirou war ein Lamm. Die Bestie hing am anderen Ende der Leine – aber das war bei fast allen Hunden der Fall. Neuzeitliche Hunde waren ohnehin einer der schockierenderen Eindrücke dieser Epoche gewesen. Die Higurashis hatten ihn aufgeklärt, dass es bereits vor zweitausend Jahren Privileg des chinesischen Kaisers gewesen sei, Möpse zu besitzen. Minoru waren in den ländlichen Regionen des feudalen Japan aber stets nur Hunden begegnet, die ihm selbst ähnlich sahen – mittelgroße, spitzähnliche Tiere aller Couleur, deren Wert nach ihrer Tauglichkeit für bestimmte Aufgaben bemessen wurde. Diese Zeit hingegen war weniger praktisch veranlagt. Ein Akita hatte unter anderem Stehohren zu besitzen und einem gewissen Farbschlag zu entsprechen: Keine Schecken; an Gesicht, Brust und Innenschenkeln bitte weiß gefärbt. Keiko hatte sich diesbezüglich schlau gemacht und hielt es für durchaus möglich, dass Ichirou deswegen ausgesetzt worden war. Weil sein rechtes Ohr einen Knick hatte und halb herabhing. Weil die verlangten weißen Areale in seinem Fell zum Teil genauso schwarz-silbern gestromt waren wie der Rest. Trotz des Aussetzens war er damit einer der glücklicheren Pechvögel. Andere Welpen, die den Ansprüchen nicht gerecht wurden, wurden zuweilen von ihren Menschen ertränkt, erschlagen, eingeschläfert oder anderweitig entsorgt. Das Aussehen war in den Vordergrund gerückt und neben der Tatsache, dass es Hunde nun in allen Größen und Formen zu geben schien, hatten sie an Wahrnehmung eingebüßt. Nur die wenigsten drehten sich nach Minoru um und waren vollends überfordert, sobald er sprach und sie jedes seiner Worte begriffen als sei er einer der ihren. Als Yōkai erkannte ihn jedoch kaum einer. Das hatten Menschen und Hunde gemeinsam. In der Regel. Zumindest teilweise hatte er sich den Menschen dieser Zeit angepasst. Er trug ihre Kleidung, Schuhe und oftmals kamen ihm Kapuzen zu Gute. Nun aber, im Hochsommer, trug er das weiße Haar zu einem hohen Knoten. Das verkürzte es optisch, aber wer genau hinsah, konnte ahnen, wie lang es tatsächlich sein musste. Er hatte versucht, es zu tönen, doch auch die dunkleren Farben hielten nicht. Die gut sichtbaren, roten Markierungen an Augen, Wangen und Handgelenken waren mit etwas Make-Up leicht vertuscht. Menschen hätten sie, ihrer Realität zuliebe, als Tatöwierungen eingeordnet, die in Japan noch alles andere als toleriert waren. Unter Passanten fiel er damit in der Stadt nicht weiter auf. Hin und wieder blieb jemand stehen und sah ihm nach, aber angesprochen wurde er nie. Man hielt ihn vielleicht für extravagant, den Cosplayer irgendeiner in die Jahre gekommenen Anime-Serie, aber sicherlich nicht für unmenschlich. Daran konnten nicht einmal die Krallen etwas ändern. Sie zu kürzen wäre einer Entwaffnung und Verstümmelung gleich gekommen. Er hackte sich schließlich auch nicht die Ohren ab und es gab manche Frau, die deutlich längere Kunstnägel in allen erdenklichen Farben trug. Im Dojo war das anders. Weißes Haar, bernsteinfarbene Augen, spitz endende Ohren, scharfe Klauen. Aus nächster Nähe kam das sonst so klare Realitätsverständnis der Menschen ins Schleudern. Aus demselben Keim war sicherlich auch die Annäherung des Neuen entsprungen. Empfindsamere Seelen spürten eventuell sogar, dass etwas an ihm nicht stimmte. Dass er nicht zu ihnen gehörte. Aber das traf auf die wenigsten zu. Immerhin handelte es sich um eine Spezies, die zuweilen ihren Nachwuchs in das Zoogehege ausgewachsener Berggorillas hielt, weil die Tierchen so possierlich menschlich wirkten. Kurz: Gefahrengespür war nicht unbedingt ihre größte Stärke. Und so ließen sie sich auch mit rational klingenden Erklärungen abspeisen. Die Haare? Eine genetische Laune der Natur. Lag in der Familie. Albinismus? Ja. Daher auch die Kontaktlinsen, damit er nicht ständig eine Brille gegen die Sonneneinstrahlung tragen müsse und warum dann nicht dieser Farbton? Braun hatte schließlich jeder. Scharade ganz ohne Illusion – der verdammte Fuchs wäre stolz auf ihn gewesen. Das warme Augustwetter ließ die Menschen aus den Häusern auf das wenige Grün schwärmen, das sie sich selbst gelassen hatten. Die Rasenflächen waren voller Picknickdecken, herumtollender Kinder und umherfliegender Geschosse für Mensch und Tier. Ichirou sah sehnsüchtig einer Frisbee nach und setzte seinen Bettelblick auf, als er sich wieder an Minoru wandte. „Später vielleicht. Wenn wir Zuhause-“ Ehe er enden konnte, sprang ein Ball an ihnen vorbei – und Ichirou hinterher, verfolgt von einem bellenden Fellflausch, dessen Vorderende nur durch die Laufrichtung identifizierbar war. Gut, ja, der Park war eine Scheißidee gewesen. „Ichirou! Zurück, sofort!“ Er kam umgehend. Natürlich mit dem zugesabberten Ball und vor Glück strahlend. Der kleinere Hund sprang aufgebracht herum, wollte ihm das Spielzeug aus dem Maul klauen und kam doch nicht hoch genug – nicht zuletzt, weil Ichirou den Hals überstreckte. Minoru zog ihm den Ball aus dem Maul und übergab ihn dem Kleinen. „Entschuldige. Manchmal vergisst er seine Manieren.“ Dem gerade noch freudigen Pekinesen fiel jegliche Mimik aus dem Gesicht. Er starrte Minoru geschockt an, der ihm den Ball vor die Füße legte und Ichirou am Halsband weiterzog. „Drei Jahre“, murmelte er. „Drei Jahre und du benimmst dich schlimmer als ein Welpe vor dem Zahnwechsel.“ „Ich wollte doch nur spielen! Er hätte mich mitmachen lassen!“ Minoru schnaubte, doch bevor er seine Litanei fortsetzen konnte, hielt ihn das Weinen eines Kindes auf, das gerade von seiner Mutter aufs Schärfste zurechtgewiesen wurde. Er hasste dieses Geräusch mehr als er jemals offen zugeben würde. Als trete man einem dutzend Katzen gleichzeitig auf den Schwanz. Manchmal entging ihm, dass er Ichirou übermäßig bevormundete und dabei vergaß, dass auch all seine Sorge um den Hund nicht unbedingt mit dessen Wohlbefinden gleichzusetzen war. Fast zwei Stunden hatte der Akita klaglos vor dem Dōjō auf ihn gewartet – und er dankte es ihm mit Unverständnis? „Wir spielen heute Nacht, wenn es kühler ist und die anderen zum Wasser gehen, um die Laternen zu zünden“, versicherte er und ließ das Halsband lockerer, strich ihm versöhnlich über den Rücken. „Versprochen.“ Dann würde es am Schrein auch ruhiger sein. Ichirou machte einen Satz und wedelte mit der gerade noch herabhängenden Rute. Im Gegensatz zu all den Festen, die die Menschen das Jahr hindurch feierten, war Obon, das Fest der Toten, auch den Dämonen geläufig. Die Auslegung jedoch variierte empfindlich. In den Augen der Menschen diente das Fest der Vereinigung mit verstorbenen Familienmitgliedern, deren Geister an diesen Tagen die Unterwelt und ihr Leiden verließen, um bei ihren Liebsten Trost zu suchen und schlussendlich wieder ins Jenseits geleitet zu werden. Für Yōkai war es jene Zeit im Jahr, an der die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits verschwamm. Da die Familienbande gemeinhin weniger von Liebe und Fürsorge geprägt waren und man für gewöhnlich den ein oder anderen Verwandten selbst ins Jenseits befördert hatte, war es eine Zeit erhöhter Wachsamkeit. Lichter, für die Heimkehr eines Vorfahren, stellte nur auf, wer mutig oder ausgesprochen verzweifelt war. Denn Verwandtschaft allein brachte nicht unbedingt Wohlwollen mit sich und nur die wenigsten Yōkai empfanden es als angemessen, von ihren Nachfahren aus der ewigen Ruhe gerissen zu werden, weil diese in irgendeiner Krise steckten. Dementsprechend hatte Minoru bislang davon abgesehen, in den Ruinen der westlichen Festung eine Laterne zu entzünden. Auch wenn er dort gewesen war; gezwungenermaßen: Obon wurde als Familienfest begangen, bei dem die Menschen an ihren Stammsitz zurückkehrten. Da das bei den Higurashis nun einmal der Schrein war, wimmelte es an jenen Tagen auf dem Gelände von entfernten Verwandten und familienfremden Shintoisten, die den eigentlich buddhistischen Feiertag auf ihre Weise begehen wollten. Mit Kendō in der Sommerpause und dem gesamten Schrein voller Menschen, hatte ihn wenig in Tokio gehalten. In diesem Jahr lagen die Dinge jedoch anders: Ichirou war in der vergangenen Woche an einem Magen-Darm-Virus erkrankt und hatte erst am Vortag aufgehört, sich die Seele aus dem Leib zu kotzen, sodass Minoru ihn noch schonen wollte. Zudem fand das Training im neuen Kurs ungeachtet der Feiertage statt. So biss er dieses Jahr also erstmalig in den sauren Apfel und blieb in der Hauptstadt. Am Vorabend waren sie erst nach Mitternacht zurückgekehrt, um den Menschen aus dem Weg zu gehen, und auch heute nach dem Training waren sie ungesehen davongekommen und hatten seither einen ruhigen Nachmittag im Brunnenhäuschen verbracht. Die Verwandtschaft wusste zwar schon seit Jahren, dass der Sohn von Kagomes Schwager für ein Studium in Japan verweilte, zu Gesicht bekommen hatte ihn bislang aber noch niemand, war er doch für Obon immer nach Hause, ins angebliche Ausland verreist. Studium. So konnte man das Desaster auch bezeichnen. Minoru hatte jedes verfluchte Buch in der Stadtbibliothek gelesen, das auch nur im Entferntesten hilfreiche Informationen versprach. Sagen, Mythen, Kuriositäten, geschichtliche Abhandlungen. Diese Zeit war außergewöhnlich gut darin, eine Realität zu schaffen, die keine Abweichungen duldete. Dementsprechend erfolglos waren seine Nachforschungen ausgefallen. Es gab keinen Hinweis darauf, wie man diesen maroden Holzhaufen in eine Pforte zwischen den Epochen umfunktionierte. Rituale vieler Kulturen dieser Welt erforderten Blutopfer. Vermutlich nicht die schlechteste Idee für einen Brunnen, der sich „Knochenfresser“ schimpfte und einen Versuch wert, sobald er irgendwie an eine Ziege oder ein Schaf herankam. Tot und tiefgefroren waren die recht einfach zu beschaffen, aber lebendige Tiere zu erwerben gestaltete sich bislang schwierig. Zudem hatte der laute Gedanke, ihnen am Brunnen die Kehle durchzuschneiden, zu heftigem Protest der Higurashis geführt, den Minoru immer noch nicht begreifen konnte. Offensichtlich hatten Menschen kein Problem damit, Pakete aus dem Regal zu nehmen, während der Gedanke, die Nahrung selbst zu töten, sie auf mehreren Ebenen abstieß. Wo da die verdammte Logik lag, war ihm immer noch schleierhaft. Dem Brunnen jedenfalls mundeten abgepackte Knochen nicht: Lamm, Ziege, Schwein, Rind, Huhn, Wild – zu Ichirous Verzweiflung hatte Minoru alle erdenklichen Körperpartien verschiedenster Tiere hinabgeworfen, einschließlich der überfahrenen Katze des Nachbarn, und zum Teil sein eigenes Blut über diesem Mist verteilt. Natürlich erfolglos. Keinerlei Reaktion seitens des Brunnens und umso lautere Aufschreie Ichirous, der immer noch dem Oberschenkelknochen des Rindes nachtrauerte, ganz gleich wie oft Minoru ihm einschärfte, dass Knochen im Generellen nichts auf dem Speiseplan verloren hatten. Die Sonne war schon seit einer guten Stunde versunken und auch das spärliche Licht der Kerze versagte den Dienst und beleuchtete die Zeilen des Buches nur noch halbherzig. Ichirou schlief schon lange, den Kopf auf Minorus Bein gelegt, den restlichen Körper in grotesker Weise auf den Rücken gedreht. Als es an der Tür klopfte, sprang er jedoch augenblicklich auf und hätte knurrend alles umgerissen, wenn Minoru nicht längst die Kerze zur Seite geschoben und das Buch hochgehalten hätte. „Bist du da?“, drang Keikos Stimme dünn von der Tür her. „Ja, aber ich möchte wirklich nicht mitkommen.“ Die vielen Lichter auf dem nahegelegenen See waren zwar hübsch anzusehen, aber die Verabschiedung tausender Familiengeister musste er dennoch nicht miterleben. „In Ordnung. Habt noch eine gute Nacht.“ Minoru wartete, bis die vielen Stimmen verklungen waren und sie das Gelände für sich hatten. Dann warf er die Jacke über und löschte die Kerzenflamme. Die Nachtluft war angenehmer als am Tage, aber immer noch schwül und voller Abgase, die sich durch den Reiseverkehr der Feiertage und den Luftdruck dicht in der Stadt hielten. Neben der Tür hatte Keiko eine Laterne abgestellt, deren Flamme hinter dem orangefarbenen Papier flackerte. Als ob er es sich anders überlegen würde! Ärger über die fürsorgliche Ader dieser Frau war sinnlos. Unter Menschen sah man derlei gemeinhin als Freundlichkeit und weniger als Angriff auf die Selbstbestimmung des anderen. Er trug die Laterne von der Holzverkleidung des Brunnenhauses fort und stellte sie auf eine steinerne Bank in der Nähe. Ein Windstoß aus der falschen Richtung konnte ausreichen, um ein Lichtermeer der anderen Art zu entfachen und er hatte für die nächsten Jahre ausreichend brennende Gebäude gesehen. Ichirou tollte bereits mit seinem Ball über den Platz, als Minoru sich umwandte, um mit ihm zu spielen. Er hatte immer angenommen, Hunde besser zu verstehen als Menschen und das entsprach auch der Wahrheit, aber das bedeutete längst nicht, dass er alle Gedankengänge und Verhaltensweisen der Tiere nachvollziehen konnte. Das Verlangen, einen geworfenen Ball zurückzubringen, hatte sich ihm nie erschlossen, aber solange es den Akita glücklich machte, würde er diesen Unsinn alle paar Tage über sich ergehen lassen. Ein ums andere Mal preschte Ichirou über den Kies, überholte mehrfach den springenden Ball und brachte ihn zurück, während sie über das verlassene Geländes des Schreins spazierten. Die jetzt bebaute Fläche war einst dicht bewaldet gewesen. Vor vier Jahren hatte Minoru im Haus von Kaitos Familie auf dem Engawa gestanden und durch den Regen zu dieser Anhöhe hinauf gesehen, die nun mit steinernen Stufen begehbar gemacht worden war. Vom Haus war nichts geblieben. Eine dicke Asphaltdecke war unten an der Straße über den Grundriss gezogen, Pflaster auf dem Gehsteig verlegt, wo einst die Wäsche im Garten zum Trocknen gehangen hatte. Vier Jahre für ihn, fünfhundert für diesen Hügel. Das kleine Dorf in Musashi war Teil der größten Stadt der Welt geworden. Hatte den Wald bis tief in die Ebenen hinein verschlungen und war bis an das östliche Meer gewachsen. Eine Welt, die allein den Menschen gehörte – über Japan hinaus. Jedes urbare Tal war besiedelt worden. Die japanischen Wölfe hatte man ausgerottet; Takerus Stamm in einem bloßen Augenblick der Geschichte von Antlitz der Welt gefegt. Das Letzte, das in diesem Umbruch hätte überdauern sollen, waren Menschen. Und doch bewachten die Higurashis den Schrein, der bereits unter Kagomes Obhut gestanden hatte. Ein halbes Jahrtausend hatte sie nur dreihundert Meter von ihrem Familiensitz einen kaum nennenswerten Hügel hinaufgetrieben, während der Rest der Welt nicht wiederzuerkennen war. In Gedanken versunken warf Minoru den vor Sabber triefenden Ball von einer Hand in die andere. Es machte den Anschein, als hätte die Menschheit alle Gefahren in die Schranken gewiesen. Wilde Tiere wurden eingezäunt, weggesperrt oder getötet, gegen viele Krankheiten hatte man Heilmittel gefunden oder konnte sie von vorn herein unschädlich machen, über Dämonen sprach man eher scherzhaft oder gab ihnen die Schuld an kleinen Missgeschicken. Lebensmittel konnte man über Jahre konservieren und selbst die Haustiere waren zum Schutz von Öffentlichkeit und Besitz reglementiert worden. So sah man streunende Hunde in großen Städten äußerst selten. Abgesehen von den unbeugsamen Naturgewalten und ihren eigenen Artgenossen, waren die Menschen sicher, auch wenn sie oftmals das Gegenteil behaupteten. Die Informationsflut war auch schlicht überwältigend. Er erinnerte sich dunkel, dass Kōhei ihm einst Bilder in den Boden gemalt hatte. Karten, die verdeutlichten, dass Japan nichts als eine Inselgruppe vor der Küste eines viel größeren Festlandes war. Die Welt war gewaltig – so gewaltig, dass den Menschen zwischenzeitig ein ganzer Kontinent abhanden gekommen war – und jede Nachricht konnte sich binnen Sekunden über den Globus verteilen. Ein Terroranschlag am anderen Ende der Welt, ein grausamer Mord in einer entfernten Stadt, Erdbeben und Vulkanausbrüche, Flugzeugabstürze hunderte und tausende Tagesreisen entfernt. Auf eine Art war es beruhigend, dass das Mittelalter keine Fernseher gekannt hatte. Eine minutiösen Berichterstattung all der Schlachten um die Vorherrschaft im Land und die Abgründe menschlichen Daseins hätte sicher nicht zum allgemeinen Wohlgefühl beigetragen. Als Ichirou vor ihm erstarrte und sein ungeduldiges Brummen in ein Knurren abrutschte, hielt auch Minoru inne. Dem Akita stand das gestromte Fell in alle Himmelsrichtungen ab, während er einen Punkt hinter Minoru fixierte. Von dem sonst so verspielten Wesen war hinter den gefletschten Zähnen nichts zu erahnen. Dann preschte er los. Minoru ließ den Ball fallen, machte einen Satz nach vorn, der ihn mühelos vor den Hund brachte, und schnitt ihm den Weg ab. Der Akita bremste, rutschte in ihn hinein und schüttelte sich, während Minoru ihm mit ausgestreckter Hand bedeutete, hinter ihm zu bleiben. Er hatte einen närrischen Menschen erwartet, der die Feierlichkeiten am Fluss nutzte, um den ein oder anderen Wertgegenstand am Schrein abzugreifen. Stattdessen saß dort ein Hund vor der Bank. Der dünne Papierschirm der Obon-Laterne tauchte sein weißes Fell in ein warmes Orangerot, während er sie regungslos beobachtete. Dann wanderte sein Blick von Ichirou, welcher weiterhin die Zähne fletschte, zu Minoru, der dem Akita schließlich ins Halsband griff. „Gib Ruhe.“ Mit einem Schnauben setzte sich das gewaltige Tier hinter seinem Herrn auf die Hinterläufe und lehnte seine Schulter an Minorus Bein. Der legte eine Hand auf seinen Kopf und erwiderte den Blick des fremden Hundes. Sein Fell war schneeweiß, an den Seiten etwas länger und auch die Rute deutlich buschig über dem Rücken aufgerollt. Auf den ersten Blick ein typisch japanischer Spitz, doch mit jedem verstreichenden Moment stachen Abweichungen mehr hervor: Herabhängende Ohren, ungleich verteilte Felllänge, ein Ausdruck in den gelblichen Augen, der weit jenseits caniner Einfalt lag. Doch Minoru zögerte, den notwendigen Schluss aus diesem Anblick zu ziehen. Die vergangenen Jahre hatten deutlich gezeigt, dass ein Yōkai kein gewöhnlicher Anblick in dieser Epoche war und dem Hund, der sie abwartend und regungslos musterte, fehlte jedwede Aura. Als er sich jedoch von ihnen abwandte, wurde Minoru speiübel. Die Rute war nicht durch langes Fell aufgebauscht – es waren zwei! Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete er die Lampe hinter dem Dämon, deren Flamme unschuldig vor sich hinflackert. Mit Sicherheit hatte er niemanden aus dem Totenreich gerufen! Reichte es etwa aus, das verdammte Ding zu berühren? Der Daiyōkai verschwand mit einem Wimpernschlag und tauchte auf dem Absatz der steinernen Treppe wieder auf. Er warf einen Blick über die Schulter, als wolle er sichergehen, dass man ihn auch gesehen habe, dann trabte er die Stufen hinab. Ehe Minoru nur einen Schritt machen konnte, hatte Ichirou bereits sein Hosenbein im Maul. „Wir gehen nicht hinterher!“ Gröber als üblich griff er dem Akita zwischen die Zähne und befreite wortlos seine Kleidung, ehe er erneut perplex zu den Treppen hinüberstarrte. Er bezweifelte stark, dass es jemals jemanden in seiner Familie gegeben hatte, der sich mit Heimtücke abgab, wenn er auf der Stelle hätte töten können. War dieser Hund ihm tatsächlich nicht so feindlich gesonnen, wie er es von einem Dämonengeist erwartet hatte? Das ergab absolut keinen Sinn, solange das gerade nicht sein Vater gewesen war. Doch der wiederum hätte entgegen aller Vorsicht eher in seiner wahren Gestalt auf dem Hofplatz Panik verbreitet, statt sich in die enge Form eines gewöhnlichen Haushundes zu zwängen – zwei Ruten hin oder her. „Mino... lass uns bitte reingehen. Ich möchte nicht mehr spielen.“ „Geh rein und warte. Wenn ich bei Sonnenaufgang nicht zurück bin, gehst du zu Keiko. Sie wird sich um dich kümmern.“ „Mino! Nein!“ Ichirou sträubte das Fell, doch der Inu war längst an der Treppe angelangt und warf ihm einen mahnenden, letzten Blick zu, der keine Widerrede duldete. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)