Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 51: Ich weiß, dass an dem Tag ------------------------------------- Die Sonne war aufgegangen, als sie das Lager erreichten, das verborgen in einer dicht bewaldeten Talsenke lag. Minoru hatte eine ähnliche Verteidigung erwartet wie auch Musashi sie errichtet hatte. Pfähle, Mauern, Bogenschützen, dahinter Unterkünfte. Doch nichts davon traf zu. Das gesamte Lager erstreckte sich über mehrere hundert Meter beidseits eines Flusses, der am tiefsten Punkt der Senke entlangfloss. Es gab keine klaren Grenzen, keinen Schutzwall, nicht einmal eine Brücke über den gut drei Meter breiten Fluss und nur wenige Zelte. Auf dem Weg hierher waren sie bereits einigen Wachen begegnet und auch wenn so gut wie jeder Inu eine Waffe an seiner Seite trug, so hatte man doch niemandem einen speziellen Posten zugeteilt. Vereinzelt waren Holzpallisaden errichtet worden, allerdings dienten sie willkürlich innerhalb des Lagers nicht dem unmittelbaren Schutz einer Gruppe. „Untersteh' dich“, knurrte Minoru, als seine ganz persönliche Begleitung ihn mit dem Speer zu einem schnelleren Gang antreiben wollte. Nur mit Nachdruck der Anführerin hatte der schwarzviolett maskierte Soldat die Waffe aus seinem Gesicht genommen und war dennoch mit seiner Bewachung beauftragt worden. Eine Aufgabe, die er offensichtlich äußerst ernst nahm, denn auf dem gesamten Weg zum Lager war ihm dieser nervige Kerl nicht von der Seite gewichen. Offenbar war das der Lauf der Dinge, wenn er auf irgendeine Weise abhanden kam: Ob Kappa oder Inu – irgendein Suchtrupp schliff ihn in unsichtbaren Ketten zu seinem Vater. Der einzige, den man unbehelligt gelassen hatte, war Ichirou, der seit Stunden selbstgefällig seine Beute mit sich schleppte. Der Affe sah mittlerweile recht rampuniert und zerbissen aus. Inuyasha entwickelte unterdessen vermutlich Mordgelüste für den Sadoaner, der ihm wie ein Schatten auf dem Fuße folgte und gerade erneut ein warnendes Knurren erntete, weil er zu nah an den Han'yō herangetreten war. Als seine Hand über Tessaigas Schwertscheide fuhr, trat Minoru geräuschvoll auf einen Ast und warf seinem Onkel einen mahnenden Blick zu. Der spuckte aus, ließ aber die Hand sinken. „Dieser Akaya und sein drecks Abkommen interessieren mich einen Scheiß“, zischte er wütend. „Wer soll das überhaupt sein?!“ Der Inu hinter ihm vergaß für einen Moment, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und schnaubte verächtlich. Was hatten sie erwartet? Dass ein halbblütiger Mann, der nicht einmal genug Verbindungen zu seiner dämonischen Familie besaß, um am wichtigsten Krieg der letzten hundert Jahre teilzunehmen, wusste, was vor mehreren tausend Jahreswechseln geschehen war? Wenn sie auch nur den Hauch einer Ahnung davon hätten, dass Minoru erst kürzlich von einem alten Lehrer, der nicht einmal ein Inu gewesen war und nun im Magen irgendeines Drachen ruhte, in diesen Belangen Unterweisung erhalten hatte, würde er sich vermutlich augenblicklich als Erbe disqualifizieren. „Er war einer der Inugami. So etwas wie der Stammvater unserer Familie“, Minoru überging Inuyashas herablassendes Schnauben, das wohl von Desinteresse künden sollte. „Es gab noch andere. Der Nichtangriffspakt mit ihnen ist uralt.“ „Dämlicher Blödsinn“, brummte sein Onkel genervt, schob die Hände in die weit ausfallenden Ärmel seines roten Suikans und beendete damit das Gespräch. Minoru ließ ihn gewähren und wandte sich wieder dem Lager zu, dessen Zentrum sie mittlerweile erreicht haben mussten. Es wimmelte von Inu unterschiedlichster Zugehörigkeit. Höfisches Schwarz und die in dunkelgrün gekleideten Soldaten seiner Großmutter, noch mehr Inu der Insel Sado, vereinzelte rote Rüstungen und weitere Embleme, die er nicht kannte. Darunter Kinder, junge Mädchen, Frauen ohne Stahl, Alte, Hunde. Es war eine Ansammlung, wie man sie von Wölfen erwartet hätte – wild, archaisch, jenseits der sonst klaren, westlichen Strukturen. Die vielen Familien ließen Minoru für einen Moment innehalten. War von der Festung wirklich gar nichts übrig? Und die Sitze der Ratsmitglieder, deren langatmige Berichte ihm unnütze Zahlen von Versorgungsgütern ins Gedächtnis gezwungen hatten? Schon beim Anblick der Sadoaner war ihm bewusst geworden, wie schlecht es tatsächlich um sie stehen musste. Doch das hier – diese Ansammlung verstreuter Reste – war ein schreiendes Zugeständnis zum Untergang. Die Frau unter Petrol warf ihren Gefangenen noch einen knappen Blick zu, dann gebot sie ihnen, ihr zu folgen und steuerte auf eines der Zelte zu, die man auf den weniger abschüssigen Flächen des Hanges an den Baumstämmen aufgespannt hatte. Aus dem Innern drang eine unbekannte Männerstimme aufgebracht durch die dünnen Zeltwände: „Was Ihr verlangt ist vollkommen ausgeschlossen. Ich habe Euch mehr Soldaten zur Verfügung gestellt, als in jedem anderen Krieg zuvor. Die Aufgabe unserer Streitmacht ist die Verteidigung Echizens. Seit tausenden von Jahren! Ich erwarte nicht, dass ausgerechnet Ihr zentralwestliche Kultur begreift.“ „Ganz im Gegenteil, Osamu-sama. Im Gegensatz zu Euch begreife ich, dass dieser Krieg nicht mit den vorangegangenen vergleichbar ist. Sado und der zentrale Westen haben zuletzt zu Beginn unserer Existenz zusammen gekämpft. Meine Leute sind hier – auf die Euren warte ich seit Monaten.“ Ohne weitere Meldung zog die Frau die Stoffbahnen zur Seite und betrat das Zelt, dessen Größe die vier darin sitzenden Männer zwang, ungewöhnlich dicht beisammen zu hocken. Einer von ihnen sah verbissen grummelnd auf und warf augenblicklich eine zweite Karte über die erste, auf der kleine Figuren die Truppenbewegungen nachstellten. Alle waren sie in schwere, wenngleich sehr individuelle Rüstungen gehüllt und musterten die Eindringlinge, die ihre Besprechung zu stören wagten. „Ohatsu.“ Die bekannte Stimme Ryouichis, die eben noch seinem Gegenüber fehlende Wahrnehmung vorgeworfen hatte, rutschte in milde Missgunst ab. „Du kommst unpassend.“ „Nicht grundlos“, erwiderte sie ungerührt. Ryouichis schwefelgelbe Augen huschten über Inuyasha und verweilten auf Minoru. Hätte er die Maske seines Volkes getragen, hätte seine Mimik nicht ausdrucksloser sein können. „Geht“, raunte er an die Ratsmitglieder gewandt. „Wir setzen das hier später fort.“ Ein Mann, dessen dunkelrote Rüstung an der linken Schulter mit einem Gewirr weißer Mondembleme verziert worden war, die in einem seltsamen Arrangement eine Art Vogel darstellen, erhob sich als erster. Er hatte eine Faust geballt, wandte sich schnaubend um und zwängte sich an einem deutlich älteren Inu vorbei, um als erster das Zelt zu verlassen – eine Welle seiner aufgebrachten Aura vor sich herschiebend. Minoru legte umgehend eine Hand an das Schwert, als er spürte, wie sie an seinem Beinen emporkroch und biss die Zähne zusammen, bis es schmerzte. Nach all den Jahren seit er die Hütte in den Bergen verlassen hatte, ja selbst nach vier Jahren in der Neuzeit, in der er sich weitestgehend von den dortigen Geschehnissen distanziert hatte, löste diese Art von Yōki, so ähnlich es seinem eigenen auch sein mochte, eine Abneigung in ihm aus, die körperliche Züge annahm. Ihm war auf Schlag übel und jeder Muskel musste mit viel Mühe zur Entspannung überredet werden. Osamu hielt auf seiner Höhe inne und schien seine Anwesenheit mit einem ähnlich Unbehagen zu bemerken – als Minoru ihm jedoch aus den Augenwinkeln einen vernichtenden Blick zuwarf, lag in den Augen des Bruders seiner Mutter eine Verwunderung, die nicht größer hätte sein können. Als er bemerkte, dass die übrigen Ratsmitglieder darauf warteten, dass er den Weg räumte, ging er wortlos vorüber. Als der Letzte hinausgegangen war, schob Ohatsu Inuyasha und Minoru weiter in das Zelt hinein. Ichirou schlängelte sich an ihr vorbei und ließ seinen Affen selbstzufrieden neben Minorus Füße fallen. Ryouichi nahm davon keinerlei Notiz und begann die Karten zu sorgfältigen Rollen zu verarbeiten. Minoru schloss für einen Moment die Augen und atmete durch. Er kannte das, was nun folgen würde, zur Genüge. Der Generalleutnant und sein Vater kannten sich eindeutig zu lange. In Fällen der Ablehnung eines Anliegens oder einer Person neigten offenbar beide zu ähnlich desinteressierten Verhaltensweisen. Das war so lange erträglich, wie sie nicht entschieden, dem Gespräch ein schnelles Ende zu bereiten und ihr Gegenüber in die Unterwelt zu schicken. „Warum also störst du mich, Schwester?“ „Wir haben sie aufgegriffen, als wir die Affendämonen verfolgten. Er behauptet der Sohn deines Taishōs zu sein und verlangt seinen Vater zu sehen.“ Deines Taishōs. Nicht unseres. „So. Tut er das.“ Er ließ die Steine in eine kleine Kiste fallen. „Wie anmaßend von ihm.“ Wie erwartet. Aber wer würde schon vor dem Generalleutnant zurückweichen, wenn er den Taishō selbst in solchen Situationen überstanden hatte? „Die Ignoranzspielchen meines Vaters stehen Euch nicht gut zu Gesicht, Chūyō. Allerdings putzt er zu solchen Gelegenheiten Waffen. Karten hingegen sind nicht besonders einschüchternd.“ „Spielchen?“, Ryouichi hob eine Braue, sah ihn aber immer noch nicht an. „In diesen Belangen läge mir nichts ferner. Deine Rückkehr kommt allerdings unerwartet.“ „Diese Bürokratie muss Myōga vergessen haben, mich zu lehren. Erwartet Ihr in Zukunft einen Kurier, wenn ich mich erdreiste nach Hause zurückkehren zu wollen?“ Er schnaubte herablassend. „Ich habe nicht darum gebeten, vier Jahre lang auf einen Brunnen zu starren, unwissend, ob ich zu einem Friedhof heimkehren werde. Meine Abwesenheit war nicht meine Entscheidung – oder haltet Ihr mich für so grenzdebil, jahrelang zu verschwinden, nachdem er mich für wenige Stunden unangemeldeter Truppenentfernung fast erwürgt hat? Ich will ihn sprechen. Und händigt Inuyasha dieses Gör aus, das Ihr im Austausch für mich in seinem Dorf aufgesammelt habt – ich hoffe, Kaito war wenigstens annähernd dankbar für diesen Schachzug.“ Ryouichi erhob sich abrupt, was Inuyasha neben Minoru sofort in Alarmbereitschaft versetzte. Er hatte jedoch kaum sein Gewicht in einen kampfbereiten Stand verlagert, als das Yōki des Generalleutnants heiß an den Zeltwänden entlangstrich. „Habe ich meinen Standpunkt bei unserer letzten Begegnung nicht deutlich gemacht?“ „Pah! Du also? Ohne diese lächerliche Maske bist du ja noch hässlicher“, der Han'yō knackte mit den Fingerknöcheln und grinste hämisch. „Ich habe schon andere erledigt. Lass den Jungen in Ruhe. Wenn ihr ihn nicht mehr wollt, nehme ich eben ihn und das Mädchen mit.“ An seinen Kampferfolgen mochte viel Wahrheit sein, doch den Generalleutnant konnte eine solche Drohung nicht einschüchtern, ebenso wie die Schmähung ihn nicht berührte. Er ließ Inuyasha unbeachtet, trat an Minoru heran und baute sich zu voller Größe auf. Eine Handbreit lag zwischen ihnen – sowohl an Nähe als auch an Höhe. Seinem Geruch haftete etwas schweres, süßliches an. Wie Honig mit einer feinen Note Zitronengras, übertüncht von der allgegenwärtigen, metallischen Witterung getrockneten Blutes. Er war ihm auch in den Trainingsstunden nie so nahe gekommen, doch Minoru weigerte sich, vor der einschüchternden Präsenz seines Lehrmeisters zurückzuweichen und hob stattdessen den Blick in die schwefelgelben Augen. „Seid ihr meiner überdrüssig? Ist es das? Wenn ich hier nicht mehr willkommen bin, dann-“ Er brach ab. Die Worte schmerzten physisch als schlügen sie unsichtbare Krallen in seine Kehle. Das wäre sein Todesurteil. Wenn sein Vater tatsächlich keine Verwendung mehr für ihn hatte oder ihm wegen seiner Abwesenheit misstraute, würde der ihn beseitigen lassen, ehe er zukünftigen Erben im Wege stand. Mühevoll schluckte er das Gefühl in seiner Kehle herunter. „Dann weiß ich auch nicht weiter. Erspart mir die Drohungen und Prüfung. Ihr wisst, wer ich bin.“ Der Ausdruck seines Gegenübers blieb hart. „Du weißt, warum wir vorsichtig sind.“ „Natürlich.“ Die Listen der Panther blieben dieselben. Bei den Wölfen hatten sie mit derlei Täuschungen einen partiellen Erfolg feiern können und auch wenn sie schlussendlich doch versagt hatten, hinterließen sie damit Chaos und Verwundbarkeit. Mit einer vorgegaukelten Rückkehr des verschollenen Erben das Lager auszuspionieren oder Unruhe auszulösen war ein Zug, der ihnen zuzutrauen war. Aber er war dieses Vortasten so leid. Ein vertrautes Gesicht zu sehen, auch nur den Generalleutnant sicher zu wissen, war, als könnten Jahre der Anspannung von ihm abfallen – wenn man ihm nur erlaubte, anzukommen. Wenn man ihm nicht mit jedem Atemzug sein Ende in Aussicht stellte, ihm Misstrauen und Drohungen entgegenbrachte. „Sagt mir, was Ihr als Beweis wünscht. Es ist mir beinahe egal.“ Ryouichi sah ihn lange an und schaute dann neben sich zu Boden, wo Ichirou genüsslich an dem Arm des Affens knabberte. Der Akita spürte den Blick und wedelte arglos mit dem Schwanz, als er zwischen den Inu hin- und hersah. „Niemals“, knurrte Minoru, als er begriff, worauf der Generalleutnant hinauswollte. „Nicht in tausend Jahren und für kein Reich der Welt. Soll mein Vater von mir halten, was er will. Ichirou gehört zu mir.“ Ryouichi hob eine Braue. „Dein Erbe ist dir nicht einmal einen Hund wert?“ „Es geht hier nicht um ein Erbe!“ „Streitet ihr gerade allen Ernstes um einen Köter?“, Inuyasha hatte sich vorgelehnt und betrachtete die beiden Inu ungläubig. „Es ist nur ein Hund. Was soll das Theater?“ „Halt dich da raus!“, fuhr Minoru ihn an und sah augenblicklich wieder zu Ryouichi, um ihn mit wütendem Blick anzufunkeln. Der hatte jedoch schon die Hand um seinen Nacken gelegt und ihn abrupt an sich gezogen. Er schloss Minoru in die Arme und quetschte ihm beinahe die Luft aus den Lungen. Honig und Blut und Asche. „Du stinkst nach Minze“, knurrte er versöhnlich an Minorus Ohr, als habe er einen ähnlichen Gedanken gehabt. Das Schmunzeln war sogar in seiner Stimme zu hören. „Er wird dich tagelang baden lassen.“ Es war als hätte jemand schwere Lasten von ihm gehoben und ihm gleichzeitig alle Kraft geraubt. Wortlos sank Minoru gegen ihn und atmete lang aus. Es war ihm egal, wie unangemessen das sein mochte. Ob Inuyasha und die Sadoanerin anwesend waren oder sonst wer. Das war es ihm bei Honoka bereits gewesen und bei Ryouichi erst recht. Vielleicht wurde er zu menschlich. Vielleicht hatten in die vergangenen Jahre verdorben und schwach gemacht, dass er derlei Nähe plötzlich duldete. Aber das kümmerte ihn jetzt gerade nicht. „Du wirst ja richtig anhänglich.“ „Sicher nicht von Dauer.“ Belustigt schnaubend gab Ryouichi ihn frei. „Was hat Euch überzeugt?“, fragte Minoru tonlos, während sein Lehrer sich offenbar weigerte, die Hände von seinen Schultern zu nehmen und seinen Schützling zu mustern, als habe er ihn nicht längst auf Herz und Nieren geprüft. „Einiges. Aber nur du selbst kommst auf die abstruse Idee, dass wir deiner überdrüssig werden könnten. Das kann sich kein noch so hinterlistiger Panther ausdenken.“ Er lachte, als Minoru das Gesicht verzog. Dann zupfte er an dem nassen Stoff. „Du brauchst neue Kleidung. Stahl. Ausgeschlossen, dass du ohne Rüstung herumläufst. Yūsei wird fluchen, dass er für dich nun ganze Stoffbahnen verwenden muss. Wie erwachsen du geworden bist...“ Inuyasha unterbrach die Unterhaltung brummend: „Euer Wiedersehen ist ja herzallerliebst. Wo ist Shinju?“ Ryouichi ließ eine Hand auf Minorus Schulter liegen und betrachtete den Halbdämon abschätzig, während er das Wort an die Soldatin wandte. „Ohatsu, such doch bitte das Mädchen. Eine Eskorte aus zwei Personen sollte reichen.“ „Behalt' deine Männer, Hund. Ich bin nicht auf deine Hilfe angewiesen.“ „Umso besser“, die Miene des Inus rutschte in undeutbare Gefilde. „Schließlich kommt es auf jeden Einzelnen an.“ Es war ein Vorwurf, den Inuyasha nur zu deutlich heraushörte – sicherlich auch, weil er schon mit dieser Einstellung gerechnet hatte und selbst darüber nachdachte, dass es nicht gut aussah, wenn Tessaigas Herr in einem Menschendorf in Musashi die Tür hinter sich schloss, während das Volk seines Vaters in einem fortwährenden Krieg um sein Überleben rang. Er biss die Zähne zusammen, ließ die Aussage jedoch unangetastet im Raum stehen, während die Frau mit der petrolfarbenen Maske das Zelt verließ. Mit einer Geste bedeutete der Generalleutnant auch Minoru, ihr zu folgen und wandte sich nochmals an Inuyasha: „Wartet hier. Man wird Euch das Mädchen bringen. Meine Absichten Euer Dorf betreffend bleiben bestehen. Solltet Ihr den Schwestern Obdach bieten, reiße ich es persönlich nieder.“ Inuyasha verschränkte die Arme vor der Brust. „Behalt' deine Drohungen für dich. Die Mädchen sind nicht nur euer Problem.“ Ryouichis Lächeln wurde schmaler. „Späte Einsicht ist vermutlich besser als gar keine.“ Damit schob er Minoru hinaus, der Inuyasha lediglich knapp zunicken konnte und dann schon im Freien auf dem Präsentierteller stand. Dutzende Augenpaare hefteten sich auf sie und warteten wohl, dass der Generalleutnant den vermeintlichen Panther-Illusionisten in Stücken über den Hang verteilte. Das Erstaunen war groß, als er stattdessen hinter Minoru aus dem Zelt trat und den Umstehenden einen mahnenden Blick zuwarf. Es war grotesk wie deutlich zu sehen war, wer von den Anwesenden unmittelbar unter dem Generalleutnant gedient hatte: Angehörige der Palastwache, ob nun gerüstet oder in Zivil gekleidet, lasen Ryouichi die Anweisung von den Augen ab und nahmen umgehend Haltung an. Die übrigen Umstehenden schienen die Situation erst zu begreifen, als das Aufsstellen der Yari einen einheitlich dumpfen Ton durch das Lager schickte. Sie besannen sich des Protokolls, legten die Hände an die Waffen und verbeugten sich umgehend. Ein Krieger der Inu kniete nicht. Weder vor der Fürstenfamilie noch vor dem Taishō selbst und schon gar nicht vor irgendjemand anderem. Wer sein Anliegen unterstreichen wollte, dem stand dies frei, doch kein Herr des Westens hatte bislang von seinen Männern verlangt, in den Staub zu gehen. Doch auch wenn der Westen von dem kriecherischen Gebarden absah, das manch ein Fürst seinen Untertanen abverlangte, bedeutete dass längst nicht, dass sie auf Respekt keinen Wert legten. Im Gegenteil. Missmutig bemerkte Minoru einige Männer in dunkelroter Rüstung deren Blicke immer wieder Ryouichi musterten, als misstrauten sie seinem Urteil zu sehr, um ihren Respekt an einen Fremden zu verschwenden. Dass es ausgerechnet Soldaten seines Onkels waren, ließ sie nicht gerade in Minorus Gunst steigen. Er ignorierte Ryouichis Hand in seinem Rücken, die ihm mit seichten Druck aus der Situation dirigieren wollte, fixierte die drei und blieb still. So abwegig ihm das Gehabe noch vor einiger Zeit vorgekommen war, wusste er doch, dass er sich außerhalb der Palastmauern und gerade zu Kriegszeiten keinen lapidaren Fehltritt erlauben durfte. Das hier war nicht die eingeschworenen Palastwache, die jedwedem Spross seines Vaters wohlwollend gegenüberstand. Es war ein politisches Spiel, in dem jedermann von dem Jungen gehört hatte, der aus dem Nirgendwo aufgetaucht war, um den Titel des Erben zu beanspruchen. Von seiner verräterischen Mutter ausgeschickt, um die Dynastie durch seine Inkompetenz zu Fall zu bringen. Ein wildes Tier ohne Rückhalt am Hofe, das jahrelang im Wald gehaust hatte. Barbarisch und unwürdig, diesen Weg zu gehen. Ein Narr, wer nicht begriff, dass ihn das gefährlicher machte als die behütet aufgewachsenen Söhne und Töchter der hohen Familien. Mit einem gelangweilten Blick beobachtete er die Soldaten, die seiner Aufmerksamkeit erst nach und nach Gewahr wurden und allmählich stockten. Der unterkühlte Ausdruck des Fürsten ging ihm erschreckend einfach von der Hand, während er die immer steifer werdenden Männer musterte, als überlege er sich, wie genau er ihnen das Fleisch von den Knochen schälen sollte. Es war auch wirklich ihr Pech, ausgerechnet seinem Onkel unterstellt zu sein, der dermaßen nach seiner Mutter stank, dass es ihm fast die Galle in den Hals trieb. Als auch die Palastwache seinem Blick folgte und die Männer ein wenig zu genau betrachtete, die mittlerweile immerhin Haltung angenommen hatten, neigten sie endlich die Häupter. Minoru gab dem Druck der Hand in seinem Rücken nach und ging wortlos vorüber. Die Menge teilte sich augenblicklich vor ihm und er hätte schwören können, dass Ryouichi hinter ihm gerade ein triumphierendes Grinsen aufgesetzt hatte, sobald sie den anderen den Rücken gekehrt hatten. „Also?“ „'Also?“ Minoru sah zum Generalleutnant auf, der neben ihm aufgeschlossen hatte und ihn aufmerksam betrachtete. „Verrätst du mir, wo du gesteckt hast? Vier Jahre lang hat dich niemand finden können und du siehst nicht danach aus, als seist du in der Zeit in einem Kerker verrottet.“ Der Frage würde er sich noch häufig stellen müssen und er war froh, dass er sie zuerst jemandem beantworten sollte, der ihm wohlgesonnen war. Skeptischere Personen hätten ihn lediglich für den schlechtesten Lügner der letzten tausend Jahre gehalten – Fuchseinfluss hin oder her. Man verließ eine grausame Gefangenschaft des Feindes nicht in neuer Kleidung, gut versorgt und ohne sichtbare Narben. Der Überfluss der Neuzeit hatte den Mangel vorangegangener Jahre sogar partiell ausmerzen können. Die hohe Statur des Fürsten würde er vermutlich nicht mehr erreichen und auch Kaitos Kimono war an den Schultern weiter geschnitten als es für seine Statur nötig gewesen wäre, doch damit war er immer noch größer geworden als die meisten und bei Weitem nicht mehr der hagere Junge, der seinem Vater nur widerwillig in den Westen gefolgt war. Wie man es auch betrachtete: Er wirkte nicht wie jemand, der gegen seinen Willen festgehalten worden war. „Jeder, der es wagt, das Wort an mich zu richten, wird mich in den kommenden Wochen danach fragen“, erwiderte er bitter, weil er nicht wusste, wo er beginnen sollte. „Gewiss. Aber nur ich werde unmittelbar mit dem Fürsten sprechen und das Vergnügen haben, ihn davon abzuhalten, gute Wachmänner in Stücke zu reißen, die es ein halbes Jahrzehnt verpasst haben, seinen Sohn zu finden.“ „Mein Vater ist nicht jähzornig genug, in Kriegszeiten brauchbare Soldaten zu verschwenden.“ Ryouichis Braue hob sich kaum merklich an. „Er ist nicht jähzornig. Will heißen, dass er sie nicht für jeden einzelnen Tag leiden lassen wird. Aber es wird kein schöner Anblick, so viel kann ich dir versprechen. Also – was meintest du damit, du hättest einen Brunnen angestarrt?“ „Kaito und ich wurden an einem Brunnen bei Musashi von den Taijiya-Zwillingen angegriffen.“ „Ja, wir haben den Bengel dort gefunden. Dich allerdings nicht.“ Minoru holte tief Luft. „Ich bin durch den Brunnen gefallen.“ „Auf dem Grund des Brunnens war -“ „Ich bin durch den Brunnen gefallen.“ Sobald er es laut aussprach, war es, als liefen vier Jahre Neuzeit an ihm vorbei. Vier Jahre Ungewissheit, vier Jahre Hoffnung. „Er ist ein Durchgang in eine andere Epoche, der offensichtlich nur alle Jubeljahre nach Lust und Laune öffnet. Kaitos Mutter ist auf diesem Weg hierher gekommen. Ihre Familie lebt noch auf der anderen Seite, in der anderen Zeit. Ich habe bei ihnen gelebt, in einer gewaltigen Menschenstadt, und versucht den Durchgang wieder zu öffnen. Ich konnte nicht zurück. Glaubt mir, ich habe es versucht, habe gehofft, dass dieses elende Stück Holz sich erbarmt und in der Zwischenzeit hier nicht alles zum Friedhof geworden ist. Es klingt irrsinnig und an den Haaren herbeigezogen und-“ „Ich glaube dir.“ Wie angewurzelt blieb Minoru stehen und wandte sich seinem Lehrer ungläubig zu: „Ihr lasst mich auf Kohlen laufen, ehe Ihr glaubt, wer ich bin – aber diese Geschichte nehmt Ihr mir ab, ohne mit der Wimper zu zucken?“ „Es erklärt, warum wir dich nicht finden konnten. Warum weder Spuren noch Witterung vom Brunnen weg führten, weshalb das Halbblut dort war und auch die sonderbaren Gerüche, die du an dir trägst. Wenn man nur einen Moment in Erwägung zieht, dass du die Wahrheit sagst.“ Er setzte den Weg fort, während er weitersprach und Minoru folgte ihm umgehend. „Und ich bin erleichtert. Du bist in Sicherheit gewesen. Es geht dir gut. Kannst du dir vorstellen, was für Szenarien wir uns ausgemalt haben? Die ersten Monate haben wir täglich auf den Boten gewartet, der deinen Kopf bringen würde. Als klar war, dass das nicht geschehen würde, kommt man auf andere Ideen...“ Er verzog schmerzlich das Gesicht. „Außer Euch wird mir das niemand so bedingungslos abnehmen.“ „Es geschehen abstrusere Dinge als das. Und außerdem -“, er lächelte schmal, „ist es nicht bedingungslos, wenn dein Vater dir glaubt.“ „Wohin führt Ihr mich?“ „Zum Schneider. Deine derzeitige Garderobe ist kaum eine passende Ausstattung, wohingegen Yūseis Stoffe vielen Rüstungen ebenbürtig sind.“ Rüstungen gleichzusetzen und ohne Zweifel eindrucksvoll, doch Minoru hatte sich eine andere Antwort erhofft. Wenn Ryouichi jedoch eine Ratssitzung in einem Feldlager leitete, war sein Vater kaum in der Nähe und für die kommende Zeit brauchte er tatsächlich strapazierfähige Ausrüstung, die nicht bei jedem Schwerthieb oder nach jeder Wandlung in Fetzen hing. Ihm waren auch die neuen Stoffe nicht entgangen, die sich eng an Ryouichis Körper schmiegten. Nachdem er seine vorherige Ausstattung im Kampf zunichte gemacht und der Fürst selbst beim gekränkten Schneider hatte vorstellig werden müssen, um für seinen Stellvertreter neue, standesgemäße Kleidung zu erhalten, hatte Minoru wetten wollen, dass Yūsei diesem aus Trotz etwas auf den Leib schneiderte, das auch in hundert Metern Entfernung noch lächerlich aussah. Stattdessen hatte er sich selbst übertroffen: Von einem tiefen Dunkelgrün und so genau angepasst, dass sich das Zusammenspiel der Muskeln bei jeder Bewegung deutlich unter dem Stoff abzeichnete, verliehen Hakama und Kimono ihm den Ausdruck eines tödlich geschmeidigen Raubtieres. Dem Goldton der floralen Muster gelang die schwierige Balance zwischen dem Dunkelgrün des Stoffes und dem sonderbaren Schwefelgelb seiner Augen. Gerade ausreichend hell für einen weichen Übergang. Für einen Unwissenden waren es die teuren Kleider eines gefährlichen Mannes. Wer jedoch zwischen den Zeilen zu lesen vermochte, begriff, dass Yūsei seinem ehemaligen Schüler Mahnung und Wertschätzung gleichermaßen vor Augen geführt und ihm seine Vergänglichkeit unverhohlen ins Gesicht gespuckt hatte. Durch die Erziehung seiner Mutter hatte sich Minoru ausreichend mit sinnlosem Geplänkel wie der Bedeutung diverser Blumen auseinandersetzen müssen, um zu verstehen, was die Camelien und Spinnenlilien ausdrücken sollten, die im samtig schimmernden Gold den langen Kimono bedeckten: Ehrenvoller Tod und Abschied. Als wolle er der klaren Botschaft seines Lehrmeisters mit Hohn begegnen hatte Ryouichi das Obergewand zur Antwort rechts über links gefaltet – eine Kleidungsordnung, die bei Menschen wie auch Dämonen für das Totenbett reserviert war. Es war ein grotesker Humor, den Minoru dem Generalleutnant nicht zugetraut hatte. „Solltet Ihr nicht zugegen sein, wenn man meinem Onkel das Mädchen übergibt?“ Ryouichi schnaubte leise und schloss am Ende des Trampelpfades an seine Seite auf. „Ich verschwende meine Zeit nicht an Narren“, knurrte er grimmig und Minoru hätte beinahe darauf wetten wollen, dass dieses Maß an Abneigung für beide seiner Onkel reichte. „Ich nehme an, du hast ihm erzählt, was mit seinem Sohn passiert ist.“ „In groben Zügen. Soweit ich es wusste.“ „Der Junge hat mehr Mut und Voraussicht als manch erfahrener Krieger, aber im privaten Umfeld kneift er den Schwanz ein wie ein verängstigter Welpe. Es war absehbar, dass er ihnen die Wahrheit verschweigt.“ „Das ist deren Problem. Nicht meines“, erwiderte Minoru glatt. „Ich begreife die Dynamik ihrer Gemeinschaft nicht und beabsichtige auch nicht, mich weiter damit auseinanderzusetzen als nötig. Kaito scheint ihnen den Rücken gekehrt zu haben und vermutlich ist das für ihn die beste Lösung. Habt Ihr ihn gesehen?“ „Zuletzt vor einigen Monaten. Er beteiligt sich nicht an den Schlachten und meidet unsere direkte Nähe, aber er fängt sehr effektiv kleinere Spähtrupps des Gegners ab. Wie Oni oder die Affen, denen ihr begegnet seid.“ Er sah mit schwer definierbarem Blick zu Ichirou, der während der vorangegangenen Unterhaltung den Arm des Affen zur Hälfte verspeist hatte. Minoru war bewusst, warum der Anblick dem Generalleutnant zu denken gab. Kein Hund wagte es, einen Yōkai zu fressen – auch nicht, wenn er ihn selbst umgebracht hatte. Doch Minoru hatte dem Akita dieses unbedeutende Detail bewusst nicht beigebracht. Es war unsinnig, ihm derlei Nahrungsquellen aus Ansprüchen zu verweigern, die sich nur mit der Zugehörigkeit zu einer Lebensform begründeten. Wenn er es selbst töten konnte, warum sollte er es dann nicht auch fressen dürfen? Ob nun Yōkai, Mensch oder Tier war dabei gänzlich unerheblich. Zumal ein Dämon sich kaum auf seine hohe Stellung berufen konnte, wenn er sich von einem gewöhnlichen Hund abschlachten ließ. Doch er war nicht hier, um sich über die Fressgewohnheiten des Hundes zu streiten. „Gut. Zu Yūsei also“, erwiderte Minoru schließlich, der insgeheim ein wenig Bedenken hatte, was der Veteran dazu sagen würde, dass die Erstausstattung, die er Minoru hatte zukommen lassen, bei irgendeinem verschrobenen Sammler antiquierter Waren in der Neuzeit gestrandet war, weil er sonst nichts hatte veräußern können als die Kleider an seinem Leib. „Anschließend?“ „Zum Schmied. Es ist Krieg. Du solltest dementsprechend auftreten.“ „Wann kann ich den Fürsten sprechen?“ „Dein Vater ist mit dem Großteil der Soldaten im Feld. Ich werde in einigen Tagen mit den hier versammelten Truppen und – so irgendein verdammter Gott denn Erbarmen mit mir hat – den Soldaten aus Echizen zu ihm stoßen und ihm von deiner Rückkehr berichten. Wenn ich vorab einen Kurier schickte, riskierte ich nur, einen Mann mehr zu verlieren.“ „Die Frauen und Kinder?“ „Schicke ich morgen bei Sonnenaufgang mit Osamu nach Echizen. Die Festung ist auch mit der halben Besatzung schwer einnehmbar und die sicherste Zuflucht, die wir bieten können.“ Missmutig sah Minoru zu ihm auf. „Ihr erwartet hoffentlich nicht, dass ich mich mit den Kindern, Frauen und Alten hinter hohen Mauern verstecke und auf bessere Zeiten warte. Das war beim letzten Mal schon eine bescheidene Idee und ist nun nichts als politischer Selbstmord. Mit Rüstung oder ohne: Niemand wird mir danach noch einen Funken Respekt gönnen – und Ihr wisst, dass sowohl meine Kindheit als auch die letzten vier Jahre meine Außenwahrnehmung nicht unbedingt gefestigt haben.“ „Respekt wird dir nichts nützen, wenn du deinen Kopf verloren hast. Und meinen gleich mit. Das ist kein Kampf für dich, Minoru.“ „Eure Besorgnis um meine Person blendet Euer Urteilsvermögen und das wisst Ihr. Verweigert mir niemals etwas aus emotionalen Beweggründen, bei dem Ihr sehr wohl wisst, dass die Logik es gebietet. Ich bin nicht gekommen, um mich wie ein Kind behandeln zu lassen, Chūyō.“ Ryouichi bedachte ihn mit einem Stirnrunzeln. „Aber du bist -“ „Ich bin der Erbe des Westens. Nach Stammbaum und auf Wunsch meines Vaters – Papier und Worte. Sobald er fällt, bin ich nur noch der Sohn einer Abtrünnigen und Zögling eines Fuchses. Ein Niemand bestenfalls, ein Hindernis im schlechtesten. Wie Ihr bereits selbst hervorgehoben habt, existiert kein Höllenschwert, das meine Position festigen und meinen Anspruch legitimieren könnte. Ich muss es also selbst tun.“ „Indem du dich abschlachten lässt? Märtyrer geben miserable Fürsten ab, Minoru.“ Der musterte seinen Lehrer ernst. „Glaubt Ihr nicht, ich wüsste, wie größenwahnsinnig das klingt? Ich bin mir meiner Nichtigkeit bewusst. Blind bin ich jedoch nicht. Sado-Inu. Eure Bemühungen, meinen sturen Onkel dazu zu bewegen, seine Streitmacht an die Front zu verlegen. Die wenige Zivilbevölkerung auf dem Weg hinter sichere Mauern. Der Westen hat mit Sicherheit nicht die Oberhand und wenn wir verlieren, sterben wir alle. Ganz gleich, wie sehr Ihr mich nun schützen wollt.“ Er machte eine verwerfende Handbewegung. „Natürlich kann ich mich weder mit Euch, noch meinem Vater oder den erfahrenen Soldaten messen. Aber ich bin kein schutzbedürftiges, naives Kleinkind. Andernfalls wäre ich schon vor Jahren gefressen worden. Findet mir also eine angemessene Aufgabe. Bevor mein nicht einmal halbblütiger, kaum älterer Vetter mehr zu diesem Krieg beigetragen hat als ich. Das macht sich nicht gut in meinem ohnehin dürftigen Resumé.“ Ryouichi musterte ihn kritisch, sagte jedoch kein Wort. Er war ein wenig zu bemitleiden, dass die Entscheidung über das weitere Vorgehen in Abwesenheit des Fürsten nun bei ihm lag. Die Abwägung ob nun das Leben oder das Ansehen des Erben zu wahren sei, war sicher kein Vergnügen, wenngleich eine Frage, die sich objektiv gar nicht stellen dürfte. Auch Minoru nahm das Gespräch nicht wieder auf und sah stattdessen Ichirou nach. Der lief voraus und streunerte am Flussufer entlang, inspizierte eine Leine, die man über die ganze Breite des Flusses gespannt hatte. Stoffe verschiedener Farben waren an ihr aufgereiht und wurden in der Strömung des vorbeieilenden Gebirgswasser gesäubert. Ein nahegelegenes Zelt war von weiteren Stoffbahnen umgeben, die in der Sonne an den Ästen trockneten. Ein alter, krummer Mann mit nur einem Bein saß auf einem Baumstumpf und war bemüht, mit seinen knöchrigen Fingern den Riss in einem Yukata zu nähen. „Yūsei-sama!“, Minoru hob die Hand zum Gruß. „Es tut gut, Euch wohlauf zu sehen.“ Der Alte nahm einige Nadeln zwischen seinen Lippen weg, auf denen er abwesend herumgekaut hatte, und wollte gerade eine abfällige Bemerkung machen, als er sah, wer dort auf ihn zukam. Hastig räumte er sein Werk zur Seite, griff dabei in die Nadel und ließ fluchend den Stoff fallen. Dann angelte er nach seinen Krücken und raffte sich mühevoll auf. Vor Anstrengung zitternd vollführte er eine abgehackte Verbeugung und suchte Worte, ehe Ryouichi ihm die Aufgabe abnahm, den Gruß zu erwidern. „Wenn du ihn zu Tode erschrecken wolltest, war das sehr nah dran“, meinte er, als hätte es den vorangegangenen Disput nicht gegeben. Der Alte knurrte und warf seinem ehemaligen Schüler einen vernichtenden Blick zu: „Ich höre dich noch sehr gut, Junge.“ „Offenbar nicht gut genug, um meiner Bitte nachzukommen und an der Besprechung teilzunehmen.“ Yūsei, einstmals selbst Generalleutnant unter Tōga, verzog keine Miene: „Auch da habe ich dich gehört.“ Dann wandte er sich an Minoru. „Verzeiht. Der Chūyō neigt dazu, erfolgreich mehr Aufmerksamkeit einfordern, als ihm zusteht. Ich bin hocherfreut, Euch zu sehen. In einer außerordentlich guten Verfassung.“ Der Alte warf einen flüchtigen Seitenblick zu Ryouichi, der Bände sprach. Der Generalleutnant quittierte ihn sogleich mit einem Schnauben: „Er ist es.“ „Keine Zweifel?“ „Keine.“ Der Veteran betrachtete Minoru und senkte schließlich den Blick vor ihm: „Vergebt mir. Mein Pessimismus hatte mir diesen Tagtraum längst verboten.“ „Vielleicht überdenkt Ihr Eure Meinung noch einmal, wenn ich Euch erst gebeichtet habe, was mit der Kleidung passiert ist, die Ihr mir gegeben habt. Einige unangenehme Umstände haben mich dazu gebracht, sie zu veräußern. Ich wollte sie Euch ursprünglich zurückgeben, bevor ich um etwas Neues bitte.“ „Ihr beliebt zu scherzen. Der Verbleib meiner Arbeit könnte niemals meine Meinung über Euch beeinflussen“, beteuerte der Alte und ignorierte das verächtliche Husten des Generalleutnants. „Ihr bekommt natürlich umgehend, was immer Ihr wünscht – sofern ich es derzeit veranlassen kann. Erlaubt mir Maß zu nehmen. Die wenigen Stücke, die ich retten konnte, entsprechend zu ändern, wird nur einige Stunden dauern.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)