Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 56: für dich im Nebel liegt. ------------------------------------ „Er ist schon immer töricht gewesen. Ein Träumer. Ich habe ihm gesagt, dass es aussichtslos ist. Dass niemand lebendig verschwindet ohne dass die Inu ihn finden. Aber er wollte nicht zuhören. Tōgas früher Tod hat ihn zu viel gekostet. Uns alle. Und nochmals einen solchen Verlust zu durchleben war zu viel für sein Alter. Er hat sich geweigert, an deinen Tod zu glauben, solange man ihm keine Leiche vorlegen konnte. Bis zum Ende.“ Nach der Nachricht von Myōgas Ableben, waren Tōtōsais Worte nichts weiter als Abgesang, der um Minoru trieb wie Wellen um ein Schiff. Sie wogten um seinen Verstand, das ein oder andere scharf genug, um einen Stoß kalten Wassers über die Reling zu jagen, während der Großteil eine undefinierbare Masse blieb. Ohne Anfang, ohne Ende. Der Schmied, der ihn in abnormer Nähe umkreiste wie Aas, fortwährend in seinen Monolog vertieft, war kaum mehr als ein Schemen. Myōga hatte auf ihn gewartet und er war zu spät gekommen. Zu spät für ein Wiedersehen. Um Hoffnung und Vertrauen zu entlohnen. Zu spät für einen Abschied. Hätte er früher Einfluss auf den Brunnen nehmen können? An einem anderen Obon-Fest Jahre vorher um Hilfe bitten müssen? Möglicherweise. Er hätte sich verabschieden können, statt reumütig auf die letzte Unterhaltung zu blicken, die sie miteinander gehabt hatten. Eine Unterhaltung, in der er dem Flohgeist unterstellt hatte, sich seiner nur um Tōgas Willen anzunehmen. Noch nie im Leben hatte Minoru sich derart selbst verachtet. So machtlos gefühlt und so unsäglich dumm. Hatte er sich nicht tagein tagaus bewusst gemacht, dass sein Weg nach Hause eine Rückkehr zu Grabeserde und Knochen werden konnte? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich keine seiner Befürchtungen bestätigt. Sein Vater und Ryouichi waren wohlauf, das Dorf seines Onkels hatte sein Hilfegesuch halbwegs überstanden und selbst Kaito lebte. Wenn er sich all der möglichen Schrecken bewusst gewesen war, warum traf ihn eine einzelne Wahrheit mit einer solchen Härte? Einer Härte, die ihm den Atem raubte und nichts als ein beißendes Gefühl in seiner Kehle zurückließ, dass er nur mühsam herunterkämpfte. „Wie?“ „Oh, er ist hier gestorben. Gleich da vorn. In der Hütte, die ihr zerlegen musstet. Als der Sadoaner Tenseiga abgeholt hat, hat er den armen, alten Floh mitgebracht. Die Suche nach dir, die Schlachten des Fürsten und sicherlich auch Sesshōmarus unmittelbare Nähe selbst... sein altes Herz hat versagt. Einfach so aufgehört zu schlagen. Plopp.“ Wie eine Katze, die einem schlafenden Hund über die Pfoten schleicht, legte Tōtōsai die Hände behutsam an Minorus Oberarme. Seine langen Finger strichen spinnengleich über die feine Seide. „Bedauerlich, dass du nun erst kommst. Er war vernarrt in dich, Junge. Vielleicht hätte ihn das Wissen um dein Wohlergehen beruhigt. Zumindest wäre er friedlicher gestorben.“ „Tōtōsai, das reicht jetzt. Lass ihn in Ruhe“, zischte Kaito, der zu seinem Vetter aufgeschlossen hatte und die Zähne bleckte, während Minoru die Berührungen des Alten mit der Andeutung eines Stirnrunzelns wahrnahm und ihm schließlich in die großen, lauernden Kuhaugen blickte. „Nimm deine Hände von mir.“ Das Lächeln des Schmieds wurde abstrus breit, gelb und gierig. „Aber natürlich“, säuselte er selbstzufrieden, ließ ebenso vorsichtig von ihm ab, wie er sich genähert hatte – und strich im letzten Moment über Minorus Wange, ehe er augenblicklich aus der Gefahrenzone hechtete und den Inu perplex zurückließ. Der fuhr sich mit dem Handrücken durchs Gesicht und spürte ungläubig dem Gefühl von Feuchtigkeit auf bloßer Haut nach. Hatte er etwa -? „Hey. Entschuldige, was ich eben gesagt habe. Ich wusste nicht, dass er tot ist.“ Immer noch verwirrt wandte sich Minoru zu Kaito, der im angemessenen Höflichkeitsabstand herangetreten war und den direkten Blickkontakt mied. „Es tut mir leid, dass du ihn verloren hast.“ Minoru betrachtete Kaito schweigend. Hätte er nicht gerade eine neuzeitliche Reise voller menschlicher Anwandlungen hinter sich gebracht, hätte ihn das aufkommende Mitleid nun sicherlich den kläglichen Rest Selbstbeherrschung gestohlen. Doch die vergangenen Jahre hatten ihn gelehrt, dass Mitleid den Menschen keineswegs nur als Mittel diente, das Gegenüber herabzuwürdigen. Und so abweisend Kaito ihm gegenüber sonst verfuhr, war auch hier kein süffisanter Unterton zu hören. „Danke.“ Kaito, sichtlich verwirrt, dass sie darüber nicht aneinander geraten waren, hob nun doch den Blick. „Mir war nicht klar, dass der Floh dir etwas bedeutet. Wenn du allein sein willst, gehe ich.“ „Mit welchem Herzen hätte er mir auch was bedeuten sollen?“, erwiderte Minoru kraftlos. Ohne jeden Biss. Er rechnete damit, dass sein Vetter diese Wiederholung seiner eigenen Worte als Provokation auffassen und aus der Haut fahren würde. Stattdessen blieb der eine Weile stumm. „Wenn ich wütend bin, darf man mir manchmal nicht zuhören“, sagte er schließlich. „Vorsicht, Kaito, deine Menschlichkeit kommt durch. Man könnte meinen dein Mitleid lässt dich Fehler einräumen.“ Der knurrte angesäuert. „Nun werd' nicht gleich eingebildet. Sonst könnte man stattdessen annehmen, du seist nicht in der Lage, mit so etwas umzugehen.“ „Das bin ich auch nicht.“ Der Kopf seines Vetters schnellte ob der unerwarteten Wahrheit so abrupt herum, dass Minoru beinahe nach Lächeln zumute war. „Nicht gut jedenfalls. Ich behaupte, ich wurde im Vorfeld etwas abgehärtet. Oder weichgewaschen... wie du willst. Aber sei's drum. Danke. Ich weiß das zu schätzen.“ „Und du bist ganz sicher, dass sie dich nicht zwischendurch vertauscht haben, ja?“ „Ich-“ „He!“, gnarzte der Alte schließlich dazwischen und beide rissen die Köpfe zu ihm herum – Minoru im vagen Bewusstsein, dem Schmied für die Überschreitung gewisser Grenzen vor wenigen Augenblicken noch eine Reaktion schuldig geblieben zu sein und Kaito im Unglauben an den Wahn des Alten, die Aufmerksamkeit seines Vetters wieder auf sich zu ziehen, nachdem er ihm so bereitwillig den runzeligen Hintern gerettet hatte. „Hört auf zu tratschen und macht euch nützlich! Trockenes Zypressenholz, Quellwasser und rote Spinnenlilien. Na los, macht schon! Oder glaubt ihr so ein Schwert schmiedet sich von allein?“ 狐 Als Saburō lange nach Sonnenaufgang erwachte und auf die Schale mit Eintopf starrte, die ihm unvermittelt ins Gesicht gehalten wurde, hätte Kōhei viel dafür gegeben, den Gesichtsausdruck für die Nachwelt bewahren zu können. Nicht so sehr alles andere, denn Saburō sah weiterhin aus wie das erbarmungswürdige Elend persönlich. Wenigstens die Blutungen an seinem Hals waren unter der Wärme des Lagerfeuers zum Erliegen gekommen und auch der bläuliche Schimmer seiner Haut war gewichen. Ungläubig nahm der Fürstensohn den Eintopf entgegen. „Wann-?“ „Ich reise mit einem Haufen Akademieabsolventen. Essen aus dem Hut zu zaubern gehört zu meinen leichteren Übungen.“ Nachdem er die halbe Schale geleert hatte, schenkte Saburō ihm ein halbherziges Lächeln, das alles über die Komposition von Fisch und zerkochtem Reis aussagen mochte. Ehe er sich jedoch dem Seidenverband an seinem Hals zuwandte, verging auch nach dem Essen eine ganze Weile in Stille. Fahrig tastete er über die aufgeworfenen Wundränder der Krallenspuren, bevor er das von Kōhei bereitgestellte Wasser nutzte, um seinen Hals vom getrockneten Blut zu reinigen. Im Großen und Ganzen war Kōhei mit der Heilung der letzten Stunden zufrieden. Die Klauen hätten mehr Schaden anrichten können, doch Saburō war der Atemnot zu schnell erlegen, um während der Agonie wichtige Muskeln oder Gefäße zu durchtrennen. Ein paar Wunden waren tief genug, um im schlechtesten Fall Narben zu hinterlassen, doch alles in allem hatte er Glück gehabt. Dennoch legte sich beim Anblick der Wundfläche ein Schatten über Kōheis Miene, als er zwischen alledem im Schwinden begriffene Würgemale bemerkte. Saburō sah die Falten auf seiner Stirn und hielt inne, tastete erneut über seinen Hals. „Es verheilt gut“, wiegelte der General die Unsicherheit ab, die sein Ausdruck hervorgerufen haben musste. „Einen sauberen Seidenverband, etwas Spitzwegerich und Ruhe. Dann sollte Euch Eure Haut die grobe Behandlung vergeben.“ Und Schweigen. Schweigen war mit Sicherheit die beste Medizin für alle Beteiligten – Saburōs Hals eingeschlossen, wenn auch nicht vorrangig bedacht. Wobei dieses Mal fraglich war, ob die übliche Distanz sich nicht rächen würde. „Aber?“ „Ich begreife nicht, wie es überhaupt dazu gekommen ist. Und woher die Würgemale stammen.“ Saburō, der offenbar damit gerechnet hatte, dass Kōhei sich wie üblich desinteressiert gab, überkam zum ersten Mal so etwas wie Unbehagen, das Kōhei mit einer Mischung aus Genugtuung und böser Vorahnung wahrnahm. Er würde sich in dieser Situation nicht den Fallstricken von Fragen ergeben, die man für ihn sponn. Nicht, wenn die Gefahr bestand, dass sich das Drama in seinem Beisein wiederholte und er anschließend für den Tod des Erben verantwortlich gemacht werden konnte. Was der Fürst schlussendlich aus einem solchen Szenario machen würde, war wahrlich fraglich, doch Kōhei würde es noch in Jahrhunderten nachhängen, wenn er versäumte, den Fürstensohn am Leben zu halten, bis man ihm etwas anderes befahl. „Kugutsu.“ „Ein Puppenspiel? Geht das vielleicht auch etwas genauer? Und überspringt nicht den Teil, wo Ihr mir verkaufen wollt, Kugutsu schade seit neustem dem Anwender.“ Saburō gab ein kratziges Lachen von sich. „Fordernd, General.“ „Warum so ausweichend? Im Chūgoku habt Ihr mir Euer Schicksal noch achtlos vor die Füße geworfen.“ Die Miene des Silberfuchses verfinsterte sich, bis sie jeden Schimmer von Amüsement verloren hatte. „Es ist ein Puppenspiel“, versicherte er. „Im Grunde jedenfalls. Mein Vater weiß nicht, dass ich hier bin. Dass ich den Palast überhaupt verlassen habe und er darf es auch nicht erfahren. Deswegen reisen wir nicht mit dem Heer, dessen Gesellschaft Ihr so offenkundig nachtrauert. Es sind zu viele Augen, die mich sehen, zu viele Fragen, die aufkommen würden. Aber den Fürsten des Südens zu täuschen ist kein Kinderspiel. Eine Puppe aus Yōki und Kleie allein könnte ihn nicht eine Minute glauben machen, dass ich in seiner Nähe bin. Deswegen liegt außerdem eine Doppelgänger-Technik über dem Golem.“ Einen Hehl aus seinem Unglauben zu machen, war verschwendete Liebesmüh. Lange sagte Kōhei nichts, bevor er sich schließlich vorlehnte: „Ihr wollt mir weismachen, dass Ihr ein Kugutsu über mehrere Tagesreisen Fußmarsch aufrechthalten könnt. Dass ein Doppelgänger im südlichen Palast nicht bei jedwedem Schaden in Rauch verpufft wäre und erklärt mir immer noch nicht, woher diese Würgemale stammen.“ Das alles ergab wenig Sinn. Puppenspieler mussten gemeinhin in einer kräfte- und aufmerksamkeitszehrenden Verbindung zur Marionette bleiben, um deren Bewegungen nicht übermäßig hölzern und die Interaktion mit anderen natürlich wirken zu lassen. Ein Haufen nasser Erde war allein ebenso wenig zu glaubhaften Konversationen fähig wie ein Doppelgänger, der wenigstens in Ansätzen selbstständig handeln konnte. Dass Saburō in der Lage war, eine täuschend echte Version seiner selbst mit einem Doppelgänger zu projizieren, stand nach dem, was er mit dem Menschenkopf vollbracht hatte, außer Frage. Doch es gab Grenzen der Magie, die für jeden galten. So mächtig er auch sein mochte, auch sein Doppelgänger hätte sich bei einer Verletzung unmittelbar aufgelöst. Und beides, weder der Angriff auf Doppelgänger noch Kugutsu, hatten Auswirkungen auf den Anwender. Es war nur Blendwerk; vergängliche Ablenkungsmanöver und genau deswegen kaum verlässlich. Es sei denn - „Denkt nicht so geradeaus, nur weil ich es bin, General. Die Kombination aus beidem macht die Illusion belastbar. Der Doppelgänger löst sich wegen des Kugutsu nicht auf und das Puppenspiel wird durch die Illusion echter und selbstständiger. Die Methode ist ausgiebig geprüft. Als Kind habe ich meine Mutter damit in den Wahnsinn getrieben. Zumal es die meiste Zeit wenig Aufwand kostet, die Illusion aufrechtzuerhalten. Ich bin nicht mehr so viel in Gesellschaft wie früher und bei Besprechungen ist lediglich meine körperliche Präsenz gewünscht. Es fällt nicht auf, wenn ich mein Zimmer lange nicht verlasse und für Kleinigkeiten übernimmt meine Mutter.“ „Takara weiß, dass Ihr fortgegangen seid? Dass sie bei dem Versuch, Euch zu decken-“ „Ihr Leben riskiert? Sie ist meine Mutter, Kōhei, und mein Vater ein Scheusal. Glaubt Ihr wirklich, sie würde mich verraten, um sich ein Leben als seine Hure zu erhalten? Ihm zu Diensten, wenn ihm der Sinn danach steht, während ihre Familie für ihre Unterwerfung am Abgrund des Todes tanzen muss? Kaum.“ Er atmete tief durch, rollte die Schultern nach hinten und hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln. „Das Manöver hat einwandfrei funktioniert. Bis ihn gestern Abend etwas verärgert hat und er einem seiner Wutanfälle erlegen ist, die ich Euch wohl nicht näher erläutern muss. Er hat zwar nur die Puppe angegriffen, nicht mich, aber in diesem Fall ist das beinahe dasselbe. Alles hat seinen Preis. Die Funktion des Kugutsu kann ich auf diese Entfernung nur sicherstellen, wenn ich in die Verbindung investiere. Er kann mich potentiell töten, wenn er die Puppe vernichtet. Das ist der Haken daran.“ „Ihr seid wahnsinnig“, beschloss Kōhei rundheraus, ohne ein weiteres Mal darüber nachzudenken, dass das allem widersagte, was er sich im Umgang mit dem Erben seines Herrn vorgenommen hatte; wieder einmal. Nur ein Irrer würde eine solche Verbindung zu einem Gegenstand überhaupt in Erwägung ziehen, wobei man vermutlich schon am Verstand desjenigen Zweifeln musste, der sich derart gegen den Fürsten stellte. Diese Kombination diverser Techniken allein hätte manch armen Narren mit dem Tod begrüßt. Aber noch dazu die Entfernung – zum wiederholten Mal wanderte Kōheis Blick über den schwarzen Pelz an Saburōs Kragen. Was würde ihm all die Macht am Ende seiner Intrigen nützen, wenn sein Vater ihn niederstreckte? Zumal es lächerlich einfach war, eine Puppe zu zerstören, die kaum Gegenwehr leisten konnte. So ausgeklügelt die Technik auch war, es machte ihn verwundbar wie keine zweite. Lediglich dass Saburō noch vor ihm saß, legte nahe, dass Hayato von ihm abgelassen hatte und das Spiel trotz der nötigen Wiederbelebungsmaßnahmen vergangene Nacht noch nicht aufgeflogen war. Die Selbstbeherrschung des Fürsten war dürftig und angesichts einer solchen Täuschung hätte er seinem Sohn ein schnelles Ende bereitet und sich die grausamen Methoden für dessen Mutter und Tochter aufgehoben. „Wozu das alles? Um mir einen falschen Marschbefehl aufzutischen?“ „Der Marschbefehl ist keineswegs eine Lüge. Er sollte nur nicht durch mich überbracht werden.“ „Dann sagt mir, worum es hier geht. Wenn Euer Vater herausfindet, dass Ihr ihn mit einer Puppe zum Narren haltet, ist es Euer sicherer Tod.“ „Worum es immer ging: Den Süden. Wir werden untergehen, wenn meinem Vater weiterhin freie Hand gewährt wird. Er hat uns bereits mit dem Rücken an die Wand gestellt, nun verfüttert er uns an die Drachen. Ich habe keine Beweise, die ich Euch vorlegen kann, nur Vermutungen und gesunden Verstand. Aber kommt es Euch nicht auch absonderlich vor, dass uns der Osten nach vier Jahren immer noch nicht das Schwert an die Kehle gesetzt hat? Ihre Hilfegesuche haben wir mit halbherzigen Ausflüchten und Aufrüstung beantwortet – und sie tun nichts. Stattdessen Schweigen sie, spielen mit den Hunden Katz und Maus an den Grenzen und tun so, als seien wir nicht existent. Entweder überrennen sie uns mit aller Macht, wenn sie mit dem Westen fertig sind oder aber – nun, das könnt Ihr Euch selbst denken.“ „Oder der Fürst hat ein Abkommen mit den Drachen, das unser Verhalten billigt.“ Es war das erste Lächeln seit geraumer Zeit, das sich in die Mundwinkel des Erben schlich: „Ich sagte ja, ich vermisse Euch bei den Besprechungen. Ja, möglicherweise hat er ein Abkommen mit den Drachen, über das er niemanden in Kenntnis setzt. Das sähe ihm ähnlich. Aber was würde das bewirken? Eine schriftlich zugesicherte Loyalitätsbekundung meines Vaters ist das Papier nicht wert, auf dem sie verfasst wurde. Ebenso viel halte ich von Bündnissen mit Drachen. Das sind alles reine Luftschlösser, die sich nicht einmal die Mühe machen, solide zu wirken. Ich habe sämtliche Szenarien so lange durchgespielt, bis selbst ich es mir aufschreiben musste. Und das ernüchternde Fazit ist, dass selbst wenn keine der Parteien lügt – was so lächerlich unwahrscheinlich ist, dass ich mich selbst für den Gedanken auslachen will – die Drachen den Süden unter ihre Vorherrschaft stellen werden. Vielleicht nicht mit Krieg, dann aber durch ihre bloße, offenbar unsterbliche Existenz. Doch dazu müsste jemand erst einmal den Westen in die Knie zwingen.“ Kōhei betrachtete den Silberfuchs eine Weile, dann wandte er sich dem Feuer zu, das unter dem Suppentopf knisterte. 'Ein Herr, der niemals sterben wird', hatte Saburō die Drachen auf der ersten Besprechung genannt. Die Meinungen des Rates hatten wie erwartet zwischen Enthaltung und einem Bündnis mit der wahrscheinlichen Siegerseite geschwankt. Kōhei selbst war bislang immer zu demselben Schluss gekommen, den auch Saburō gezogen hatte: Siegten die Drachen, würden sie ganz Japan unterjochen – und das zeitnah. Dabei machte es keinen großen Unterschied, ob sich der Süden nach einem verlustreichen und aussichtslosen Kampf in den Staub warf oder für eine Weile vorgab im Bündnisverhältnis auf Augenhöhe zu existieren – eine Augenhöhe auf der sich sicherlich auch die Panther gewähnt hatten. Die waren nun nichts weiter als Fußvolk und so naiv wie überheblich, wenn sie wirklich gedacht hatten, mit der Totenerweckung der Drachen irgendwelche Sympathiepunkte einzuheimsen. Nein, wer heute vom Osten sprach, sprach von Drachen. Die einzige Chance des Südens, der Vorherrschaft der Echsen zu entgehen, war ein Sieg der Inu und der brachte andere Probleme mit sich: Auch wenn Sesshōmaru nach vier entbehrungsreichen Jahren die Eroberung hinter einem Wiederaufbau zurückstellen würde, war es nur eine Frage der Zeit, wann er seine Expansionspläne und Rachefeldzüge wieder aufnahm. Damit wären sie erneut auf dem altbekannten Status quo, der vor der Wiederkehr der Drachen geherrscht hatte: Einem unausstehlichen, äußerst nachtragenden Hund. „So weit waren wir schon mal“, entschied Kōhei schließlich. „Wir drehen uns stetig im Kreis. Nach einem Sieg gegen die Drachen könnte man versuchen, die Schwäche des Westens auszunutzen. Aber ihr Sieg ist ohnehin unwahrscheinlich und selbst wenn -“ „Dann wäre da immer noch Akaya, nicht wahr?“ Kōhei zischte leise. Immer wieder weigerte sich sein Verstand dieses Variable aus dem Raum von Legenden in die Wirklichkeit einzubeziehen. Es hätte bedeutet, sich einer Situation zu stellen, die jede Hoffnung zerschmetterte. Der Inugami mochte in Anbetracht untoter Drachen keinen Mehrwert haben – sonst hätte man ihn sicherlich mittlerweile auf den Plan gerufen –, aber dass er den Lebenden verheerenden Schaden zufügen konnte, hatte er im Laufe der Geschichte mindestens einmal bewiesen. Es blieb natürlich die Möglichkeit, dass ihn die Nöte seiner Nachkommenschaft nicht im Geringsten interessierten, aber darauf wollte nun wirklich niemand eine Strategie gründen. Allmählich begriff Kōhei, warum Saburō die Information über Akayas Fortbestand im Chūgoku-Gebirge derart aus der Fassung gebracht hatte. Die Lage des Südens war nicht einfach kritisch, sie war die Entscheidung zwischen zwei Abgründen. Die Frage war lediglich, ob man lieber zwischen Fell oder Schuppen zugrunde ging. Unruhig raffte sich Kōhei auf, verschränkte die Arme vor der Brust und begann mit schlagenden Schweifen durch das Lager zu streifen. Auf den ersten Blick erschien Fell als die angenehmere Variante. Mit dem Stolz der Inu konnte man kalkulieren und wenn man ihnen nicht gleich nach einem gemeinsamen Kampf gegen die Drachen in den Rücken fiel, würde genau dieser Stolz vermutlich dazu führen, dass sie von Akayas Beschwörung absahen und einen Krieg gegen den Süden nur aus eigener Kraft anstrebten. Das verschaffte Zeit. Sesshōmaru war allerdings ein Problem: Er hielt nichts von Bündnissen und es war nicht anzunehmen, dass sein bevorstehender Untergang seine Meinung ändern würde. Sicherlich konnten sie ohne seine Zustimmung eingreifen, aber Kōhei ahnte, dass dem Mann auch hier Stolz vor Verstand kam und er womöglich eher einen Zweifrontenkrieg gegen seine ungebetene Unterstützung beginnen würde als Hilfe anzunehmen. Vor allem solange es da noch diese eine Rechnung zu begleichen gab. Ernüchtert hielt er inne. „Es bleibt also dabei, den Sündenbock zu opfern.“ „Endlich sprechen wir dieselbe Sprache.“ Über Saburōs Züge lege sich eine gefährliche Niedertracht. „Wir müssen allerdings noch dringend an der Grammatik arbeiten: Es sind Sündenböcke und Ihr gehört nicht dazu. Ganz im Gegenteil: Ihr seid meine einzige Hoffnung, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.“ Da war sie. Jene offene Einladung zu Verrat, die Kōhei seit geraumer Zeit gewittert hatte. Andeutungen waren mit jeder erzwungenen Zusammenkunft ausreichend gefallen und Saburō hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Schlinge zu verbergen, die er allmählich um Kōheis Hals zugezogen hatte. „Ich wusste, es war ein Fehler, mit Euch zu reden.“ „Mit mir zu reden war die beste Entscheidung, die Ihr treffen konntet“, erwiderte der Schwarze bar jeden Lächelns, das Zweifel an seinen Worten genährt hätte. „Diese Unterhaltung ist überfällig, seitdem wir uns in Akashi begegnet sind. Wenngleich mir bewusst ist, dass Ihr mir damals zu feindselig gegenüberstandet, um mir Gehör zu schenken.“ „Und nun seid Ihr der Meinung, meine Einstellung habe sich in irgendeiner Form geändert.“ „Grundlegend“, erwiderte Saburō prompt und überging den abfälligen Ton der Aussage mit einer Selbstverständlichkeit, die Kōheis Spott dumm und kindisch wirken ließ. „Das ist lächerlich.“ „Oh, Ihr liebt mich nicht gerade.“ Die Brauen des Silberfuchses wanderten ein Stück in die Höhe, während er das Kinn auf die verschränkten Hände vor sich stützte und wissend zu Kōhei aufsah. „Ich kann Euch das Unbehagen ansehen; das Widerstreben, wenn ich in Eurer Nähe bin, das Wort an Euch wende und im schlimmsten Fall auch noch Antworten verlange. Weil Ihr mir nicht vertraut – was Euer gutes Recht ist – und ich die Dreistigkeit besitze, den Finger in Wunden und verbotene Gedanken zu legen. Weil ich Euch den Spiegel vorhalte und Ihr darin all die Dinge seht, die meinen Vater reizen könnten. Ihr habt gelernt seine Launen vorauszuahnen, den Kopf im rechten Moment einzuziehen, zu überleben... ein Talent, das mir offensichtlich abgeht und um dessen Notwendigkeit ich Euch auch nicht beneide. Bei diesem Drahtseilakt bin ich nicht nur unbequem, sondern gefährlich, und Bedrohungen liebt niemand. Aber Ihr habt keine Angst vor mir persönlich. Deswegen unterlaufen Euch schnippische Ausbrüche oder Drohungen wie gestern, als ich Euch auf Euren Jungen angesprochen habe. Eine Anmaßung, die ich begrüße. Es ist mir recht, wenn ich Euch unbequem bin, Ihr mich nicht leiden könnt und Euch mir gleichstellt. Ich nehme lieber Wut und Spott als Eure furchtsame Demut. Unterdrückung und Angst bilden keine sichere Basis. Weder für Herrschaft noch für Kooperation. Und manchmal braucht die keine Sympathie, sondern nur einen einzelnen gemeinsamen Nenner.“ Kōhei starrte ihn an. Was keinen Haarriss hätte aufweisen dürfen, lag nicht etwa nur als niedergerissene Mauer am Boden, sondern war in alle Winde zerstreut. Es gab keine Hierarchie mehr zwischen ihnen. Keine sichere Zone höfischer Floskeln und Gepflogenheiten. Nichts als freies Feld – und Kōhei ahnte bereits ehe Saburō erneut den Mund aufmachte, dass es von hier aus nur einen Weg gab: Nach unten. „Ich will ganz offen sein: Ihr habt zwei Probleme, Kōhei. Zwei Probleme, die Euch zu Fehlschlüssen führen und bei all Eurer Auffassungsgabe nicht klar sehen lassen: Angst vor meinem Vater und die absolute Verkennung des eigenen Wertes. Vor unserem Treffen, als ich noch allein auf Berichte angewiesen war, hatte ich Sorge, Machterhalt könne Euch zu viel bedeuten. Eine Position als General, rechte Hand des Fürsten, ein Sitz am Tisch des Rates, öffentliches Ansehen. Ich war erleichtert und entsetzt wie gleichgültig, ja sogar unbewusst Euch diese Umstände sind. Ihr seht Euch nicht als erhabenen Heerführer neben meinem Vater. Benehmt Euch auf den Ratsversammlungen wie ein Beisitzer, dem man nur aus reiner Güte erlaubt, dem Treffen der Obrigkeit beizuwohnen. Das Gehabe von Überlegenheit geht Euch gänzlich ab. Mit einem solchen Hoffnungsschimmer hatte ich nie gerechnet.“ „Was auch immer Ihr Euch über mich zurecht reimt, ist bedeutungslos. Ich bin es nicht, der Euch einsperrt wie Vieh und nach Belieben das Fleisch von den Knochen und Eure Rippen auseinanderreißt. Sorgt Euch um Euren Vater.“ „Mein Vater war nie das Problem. Seine Leute folgen ihm aus Furcht, Ihr folgt ihm aus Gründen, die sich mir darüber hinaus nicht erschließen. Er ist ein lästiger Platzhalter ohne Rückhalt. Erst recht seitdem meine Halbgeschwister sich gegen ihn gewandt haben. Er hat sich selbst ins Fleisch geschnitten, als er mich gezwungen hat, Akemi so ungebührlich zu behandeln. Ich hatte ihn für unbedacht gehalten, aber das übertraf all meine Erwartungen, auch wenn ich sehr wohl weiß, was er sich aus dieser Verbindung erhofft. Nein, General. Das wirkliche Problem seid immer Ihr gewesen.“ „Was für ein absoluter Unsinn.“ „Verkennung des eigenen Wertes“, wiederholte Saburō in einem so vorwurfsvollen Ton, dass man annehmen mochte, es kränke ihn persönlich. „Wessen Befehl folgt das Heer? Wem gehört ihre Treue? Behandelt der Fürst seine Akademieabsolventen wie die Kinder, die sie sind? Schlägt er sich die Nächte um die Ohren, um jeden von ihnen nur zum höchstmöglichen Preis an die Feinde zu opfern oder ist er damit beschäftigt, ihre seelischen und körperlichen Wunden zu lecken? Wem würden Jirō, Shippō und all die anderen wirklich folgen, wenn sie sich entscheiden müssten? Wenn ihr glaubt, sie sähen nicht, wer in ihrem Sinne handelt und wer der Fremde ist, seid Ihr so blind. Wir sind Kitsune, mein Freund. Überlasst den ehrenvollen Gehorsam dem Westen. Wenn Ihr gewollt hättet, wäre der Süden seit Jahrhunderten Euer.“ „Wagt es nicht, mich einer Revolte zu bezichtigen!“ „Ich wünschte, ich könnte!“, Saburō warf verzweifelt die Hände in die Luft. „Ich wünschte, Ihr hättet mehr Ambitionen, so viel Selbstvertrauen wie Selbstlosigkeit! Dann wären wir nicht in dieser ausweglosen Situation. Gestraft mit einem Fürsten, der nicht einmal eine Familie führen sollte, geschweige denn ein ganzes Reich! Aber ich könnte Euch den Süden auf einem Silbertablett präsentieren, von all meinen Ansprüchen zurücktreten und Euch öffentlich anflehen, seinen Platz einzunehmen und wüsste dennoch, was die Antwort wäre.“ „Nein.“ Laut stöhnend fiel der Silberfuchs ins Gras zurück, presste die Hände an die Schläfen und verzog angesichts des schmerzenden Körpers das Gesicht. „Manchmal hasse ich Euch. Hasse Euch so sehr, dass es mir die Kehle verbrennt.“ „Ratet Ihr mir als nächstes, stattdessen Euren Anspruch zu bestärken und die Armee an Eure Seite zu stellen über die ich angeblich so frei verfüge? Das wäre doch etwas platt, findet Ihr nicht?“ Saburō schnalzte abfällig mit der Zunge, machte sich aber nicht die Mühe, sich wieder aufzurichten, sondern starrte stattdessen geschlagen in den blauen Morgenhimmel. „Da sind wir noch lange nicht. Zunächst sollten wir und dringend klar werden, wie wir dieses Pseudoabkommen mit dem Osten nutzen, um die Drachen auszuschalten ohne die Inu dabei gleich Anlass zum nächsten Krieg zu geben. Wir brauchen ihre Einwilligung für einen Kriegseintritt an ihrer Seite – oder zumindest eine Akzeptanz im Nachhinein.“ „Ihr werdet weder das eine noch das andere erhalten.“ „Glaubt Ihr, ich habe das Leben dieser missratenen Hündin aus reiner Provokation verschont? Nicht weit hergeholt, wenn ich recht bedenke, aber nein.“ „Sesshōmaru wird Eure kleine Aufmerksamkeit nicht einmal dann eines Blickes würdigen, wenn Ihr Masuko ein Schleifchen um den Hals bindet.“ Saburō schnaubte. „Ich habe noch ein, zwei andere Geschenke für ihn, aber nein, natürlich wird er nicht. Der unerbittlicher Starrsinn dieses Mannes wird nur durch seinen Stolz übertroffen. Er wird niemals mit sich reden lassen, ehe die Kränkung beglichen ist. Aber um ihn geht es auch gar nicht. Es geht um den Jungen.“ Kōhei lachte heiser. „Um Minoru? Ihr scherzt. Er ist der Sohn seines Vaters.“ „Ja. Eben das“, erwiderte Saburō trocken. „Wie erbarmungslos und bestialisch kann er also schon sein?“ Kōhei schickte Dank in die Leere, dass Saburō weiterhin den Morgenhimmel studierte und nichts von dem Schlag mitbekam, den er ihm damit versetzt hatte. Sein Mund war so trocken geworden, dass er die Zunge pappend vom Gaumen lösen musste. „Wisst Ihr, wo er ist? Ist es das?“ Das brachte Saburō nun doch wieder auf die Beine. Er starrte Kōhei an, schien zu begreifen, was er mit seinen Überlegungen neben dem geplanten Seitenhieb noch angedeutet hatte und holte tief Luft, ehe er den Kopf schüttelte. „Nein, entschuldigt. Weder bin ich für sein Verschwinden verantwortlich, noch weiß ich, wo er ist.“ „Dann sind all Eure Überlegungen hinfällig. Nur ein Narr würde nach vier Jahren noch hoffen, wenn nicht einmal die Inu ihn gefunden haben.“ „Dann kann ich einen Narren beruhigen.“ „Ihr sagtet -“ „Dass ich nicht weiß, wo er ist. Jedenfalls nicht genau. Ich habe nie behauptet, dass ich ihn für tot halte.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)