Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 59: dass du nun frei bist. ---------------------------------- „Einen Inugami erwecken?“ Zuerst war es nur ein Kratzen im Hals, das sich schwerfällig seinen Weg bahnte, ein Schnauben, noch eines, dann konnte er das Lachen nicht mehr zurückhalten. Prustend biss er die Zähne aufeinander, während Tōtōsais altersgraue Haut die Farbe von Kreide annahm. Der Gedanke war so grotesk! So absurd! War der Alte senil oder hörte er schlicht nicht zu? „Ich bitte Euch! Wenn meine Mutter einen Fluch gekannt hätte, jemandem Schluckauf an den Hals zu wünschen, hätte sie ihn mir nicht beigebracht, geschweige denn das!“ Der Schmied räusperte sich ausgiebig, nachdem er seine entgleiste Mimik in geordnete Bahnen gelenkt hatte: „Das ändert nichts daran, dass du gefährlich bist.“ Die Spannung in Minorus Gesichtsmuskeln floss dahin wie Schnee in der Frühlingssonne. Es war sonderbar, dass sich neuerdings die Auffassung breit machte, er sei aus dem ein oder anderem Grund mit Vorsicht zu genießen - ob nun als Partner für die behütete Tochter oder als eigenständige Person. War er eigentlich der einzige, der diese Ansicht nicht teilte? Gewiss, einen solchen Eindruck zu vermitteln, war letztlich erforderlich, wenn er als Sohn seines Vaters auftrat. Nicht zuletzt deswegen hatte er die neue Ausrüstung gewählt und im Heerlager erstmalig den Respekt eingefordert, der ihm durch seine Geburt Zustand. Doch die Einsicht, dass die Rolle des Erben nun einmal zu seinem Leben gehörte, und tatsächlich als Bedrohung wahrgenommen zu werden, waren zweierlei Dinge. Er hatte bislang nicht viel getan, um diesen Anschein zu decken. Was zu tun wäre, wenn sich jemand nicht von dieser Fassade einschüchtern ließe, stand noch offen. Der Schmied betrachtete ihn eindringlich. „Wenn das jetzt Bescheidenheit ist, habe ich wirklich alles gesehen. Aber in deinem Fall wohl eher… Unsicherheit?“ „Und Ihr glaubt hoffentlich nicht, auf derartige Anmaßungen auch noch Antworten zu bekommen.“ „Behagt es dir nicht, wenn man dich als gefährlich bezeichnet?“ Minoru zog die schwefelige Luft tief in die Lungen und spürte ihrer Hitze nach, während er die Hände auf den Oberschenkeln ablegte. Da waren sie also wieder an diesem einen Punkt angekommen. Selbst wenn er nicht gewusst hätte, dass Tōtōsai ein Freund seines Großvaters gewesen war und eine Vielzahl seiner Ideale teilte, wäre ihm spätestens nun die Parallele aufgefallen. Der Schmied war zwar längst nicht so provokant oder geschickt darin, seine Motive zu ergründen - und das hing sicherlich damit zusammen, dass er sich nur halb so viel Mühe gab, den Fokus des Gespräches zu lenken wie sein Großvater es getan hatte -, dennoch wollten sie beide offensichtlich auf dasselbe hinaus. „Ich sollte mich wohl damit abfinden, dass die Ansichten des Erben eines Großreiches für viele von besonderem Interesse sind. Lasst mich das also abkürzen und Euch das mühselige Herumstochern in den Abgründen meiner Ideale ersparen: Meine Herkunft hätte auch ohne meine Mutter zur Vorsicht geraten, aber bisweilen sehe ich mich nicht als Gefahr für andere. An den Drachen beißt sich selbst mein Vater seit vier Jahren die Zähne aus, meine Mutter ist unerreichbar und Kōhei nicht meine Kragenweite. Der Rest ist mir gleichgültig. Was Ihr seht und befürchtet, ist, was alle sehen: Ich bin der Sohn meines Vaters und damit allem voran eine Spiegelung all jener Angst und Ehrfurcht, die andere für ihn empfinden. Habt ihr mich etwa gefürchtet, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind? Wohl kaum. Eure Sorge hat also nichts mit mir zu tun.“ „Vollidiot“, knurrte Kaito von der Seite, ehe Tōtōsai eine ähnliche Erwiderung hervorbringen konnte. „Du kannst nicht mehr in einem Erdloch hocken und dich vor jeder Gefahr wegducken wie früher. Deine Aura verheißt auf mehrere hundert Meter Tod und Verderben, merkst du das nicht? Du solltest dankbar sein, früher dieses Korallendings getragen zu haben, sonst hätte dir jeder dahergelaufene Oni das Fell abgezogen, um damit vor seinen hirnlosen Kumpeln anzugeben. Natürlich stehst du in seinem Schatten und hattest eine beschissene Ausbildung, aber außer dir ist niemand so dumm, das Biest hinter dem Kind zu verleugnen.“ Minoru weigerte sich, ihn anzusehen und betrachtete stattdessen Tōtōsai, der immer noch den Mund geöffnet hatte, ihn jedoch alsbald schloss und sich geräuschvoll räusperte: „Was er gesagt hat.“ Nun wandte er sich doch seinem Vetter zu: „Ich leugne gar nichts.“ „Wie kann man so verflucht blind sein? Nur weil dir gerade die Lust fehlt, jemandem die Kehle herauszureißen, bist du doch nicht harmlos. Im Vergleich zu deinem Vater ist jeder ein Lamm, aber das kann doch nicht dein einziger Richtwert sein!“ „Er ist mein einziger Richtwert. Weil ich nicht seine Möglichkeiten, aber trotzdem dieselben Feinde habe. Wenn man mich jetzt noch öffentlich als Gefahr wahrnimmt-“ „Dann was? Das macht den Braten doch nicht mehr fett! Im Gegenteil. Wie überlebe ich wohl? Glaubst du nicht, dem ein oder anderen Dämon würde es gefallen, selbst das verwaschenste Blut aus Tōgas Linie an eine Wand zu schmieren? Niemand wird dich schonen, weil du einen auf handzahm machst. Lass sie vor dir in den Staub fallen, wo sie hingehören, verdammt!“ „Wo ist das kuschende Hundchen, das den Zwillingen Narrenfreiheit gelassen hat?“ Kaito bleckte die Zähne. „Gib mir zwei Minuten mit ihnen. Dann können die Narren ihre Freiheit haben.“ „Dein Dorf-“ „Scheiß auf das Dorf. Sie können die Überreste dieser Gören haben und damit ihre Felder düngen, wenn sie Bock drauf haben.“ Tōtōsai betrachtete Kaito mit einem Anflug von Unglauben, schwieg jedoch. Minorus Miene hingegen blieb ausdruckslos. Er hatte immer geahnt, dass in Kaito entgegen aller Blutanteile mehr Yōkai steckte als in dessen Vater. Spätestens seit Ryouichi von seiner Kriegsbeteiligung erzählt hatte, war er sicher gewesen. Die Zwillinge hatten nur deswegen überlebt, weil Kaito zu loyal war, um sich gegen die Freunde seiner Eltern zu wenden. Eine Loyalität, die offenbar ihre Grenzen erreicht hatte. „Außerdem geht es hier nicht um mich“, fügte Kaito hinzu, „sondern darum, dass du mich wahnsinnig machst!“ „Ich glaube kaum, dass das der Grund für dieses Gespräch ist.“ „Ach, verreck doch.“ „Sind wir jetzt wieder beim Neid angekommen, ja? Ich habe verdammt nochmal nicht darum gebeten, ‘bei der Verteilung von Potential ganz vorn zu stehen’, wie du es nennst und würde es auch nicht. Was hat es mir schon eingebracht? Eine Kindheit als politischer Spielstein. Geerbte Feinde, deren Namen ich nicht einmal kenne. Wie erstrebenswert Ansehen und Macht erscheinen muss, wenn man sich nicht um die Konsequenzen schert.“ „Wollen wir nochmal darüber sprechen, wer hier wohl in Selbstmitleid versinkt?“ „Das ist kein Selbstmitleid, das sind Fakten! Die Drachen im Palast, die Zwillinge - da ging es doch nicht um mich!“ „Oh, ich glaube, den Zwillingen ging es sehr wohl um dich.“ „Ach, dann muss man wohl zum Teil Mensch sein, um zu begreifen, was in diesen Spatzenhirnen vor sich geht?“ „Jungs.“ „Kannst du dir mal aussuchen, ob du auf alle Welt herabsiehst oder dem Druck deiner Situation nicht gewachsen bist?“ „Kannst du dir endlich aussuchen, ob du mich für arrogant oder schwach hältst?“ „Jungs!“ Tōtōsai drosch mit dem Hammer derart heftig auf den Amboss, dass der Ton in Minorus Knochen hinauf bis in die Zähne vibrierte. Fluchend presste er die Hände auf die Ohren und grub die Krallen in Kopfhaut, um den Schmerz zu bändigen, der durch seinen Schädel schoss. Kaito erging es keinen Deut besser - nur dass seine Flüche lauter und weniger verhalten ausfielen. Als Minoru sich zwang, zum Schmied zu sehen, klopfte der gerade in aller Seelenruhe auf seinem Ohr herum, als müsse er ein lästiges Piepen verscheuchen. „‘Schaff’ dir keine Kinder an’, hat man mir geraten. Warum hat keiner erwähnt, dass man dann auch alle Freunde aussortieren muss, die Kinder bekommen, wenn man nicht deren Brut hüten will? Aber hier sitzen wir nun.“ Er seufzte. „Wahrlich, der Floh hat sich geschickt aus der Affäre gezogen.“ „Was sollte das?!“ Kaito war bereits auf den Beinen und ebenso schnell wieder am Boden, als Tōtōsai erneut den Hammer zu heben drohte. „Es reicht, wenn ihr euch einmal am Tag umbringen wollt. Zumal ihr beide viel mehr davon hättet, aufeinander zu hören. Die Einschätzung über die Vielzahl der Feinde des westlichen Erben und die eingeschränkten Möglichkeiten der Jugend sind realistisch. Das musst du auch sein, wenn du so lange allein überlebt hast. Vermutlich war es dabei sogar hilfreich, dass du dich chronisch unterschätzt hast. Du hast mich jedoch missverstanden. Ich sagte, du seist gefährlich. Das ist etwas anderes als eine Gefahr zu sein.“ Minoru rieb sich immer noch mit einer Hand die Schläfe, um das Dröhnen zu vertreiben. „Wo ist der Unterschied?“ „Auch Tōga war gefährlich und musste es sein. Die Drachen hingegen sind eine Gefahr - für das Land, für die Stabilität, für den Frieden. Der Bengel hat recht, dass sie dich fürchten sollten. Das würde dir nicht schaden. Schon gar nicht mit deinen Ambitionen.“ „Meinen Ambitionen.“ „Wegen eines Versprechens zwischen eine dreiteilige Kriegsfront zu laufen. Eine Übung verlassen, um ein paar Halbdämonen zu helfen. Zwei Kinder in einem Palast beschützen, der von Drachen und Panthern überrannt wird - soll ich weitermachen? Das war nicht der Schatten deines Vaters oder ‘geerbte Feinde’. Das alles hast du dir eingebrockt.“ Minoru knirschte hörbar mit den Zähnen und wusste nur zu genau, woher diese ausführlichen Informationen stammen mochten. Tōtōsai las ihm den Unmut von den Augen ab und bestätigte seine Annahme: „Ich hatte Myōga hier und der hörte sich gern selbst reden - insbesondere über dich. Ich weiß außerdem um die Unterhaltung zwischen dir und Chizuru. Dass du dich der Gesamtsituation eher widerwillig gebeugt hast und dein Vater eine dürftige Hilfe gewesen ist. Der Vergleich zwischen dir und Tōga wurde oft genug gezogen und auch wenn ich längst nicht so viel von ihm in dir sehe wie Myōga es getan hat, sind da Ähnlichkeiten in euren Denkweisen und Handlungen: Er ist gestorben, weil er das Leben einer Menschenfrau und seines halbblütigen Sohnes über sein eigenes gesetzt hat. Das war kein kopfloser Fehler, sondern eine bewusste Entscheidung. Du teilst manche seiner Ideale, aber längst nicht seine Weitsicht. Wenn du in Lebensgefahr gerätst, dann weil du kopflos warst; die Konsequenzen nicht abgewogen hast. Was du tust, kostet, Junge. Wenn du nicht bald anfängst, diese überstürzte Selbstlosigkeit mit Macht aufzuwiegen, wirst du sterben. Jünger als er.“ Mit einem tiefen Atemzug ließ Minoru eine Hand durch seine Haare gleiten. Tōtōsais Argument war schlecht von der Hand zu weisen. Jede der genannten Entscheidungen hätte ihn töten können und einige hatten es sehr effizient versucht. Hatte er seinem Großvater nicht gesagt, Macht sei zu gefährlich, um sie ohne Zweck anzuhäufen? Nun, ein Zweck war das immer noch nicht. Eher eine dumme Angewohnheit. Aber wie kam es, dass seine Weigerung, nach Macht zu streben, Tōga derart amüsiert hatte, während Tōtōsai und Kaito beide den Fehler in der Logik erkannten? Weil Tōga sich nicht im Klaren gewesen war, was für närrische Entscheidungen sein Enkel bereits getroffen hatte? Weil er in erster Linie den Vergleich mit dem Fürsten gezogen hatte und die bloße Kluft Grund genug zur Erheiterung bot? Minoru wusste es nicht und so sehr er sich auch mühte, sein Verstand wollte keine klaren Schlüsse mehr zulassen. „Ich bin müde“, sagte er schließlich und ließ die Hände sinken. „Wird das hier noch lange so weitergehen? Ihr scheint ausreichend im Bilde, um mir Ratschläge zu geben. Das sollte doch genügen.“ „Es genügt. Mir fehlt allerdings noch eine Kleinigkeit.“ Der Schmied kramte nach etwas. „Ein Fangzahn ist mir bei dir zu heikel. Der Reißzahn sollte es tun.“ „Bezaubernd.“ Die überdimensionale Zange, die er hervorzog, hätte gewiss ein ungutes Gefühl hervorgerufen, wenn Minoru nicht mit einem Mal so unendlich erschöpft gewesen wäre. Zu erschöpft, um den Schmied darauf hinzuweisen, dass Fangzähne zwar beeindruckend wirken mochten, es aber die Reißzähne waren, die Muskeln durchtrennten und Knochen zermahlten. Der Alte wusste schon, was er tat. Seit Minoru nach draußen gegangen war, um seine seelischen und zahnbedingten Wunden zu lecken, hatte sich Kaito weiter von der Esse zurückgezogen und Shiokiri gewidmet. Tōtōsai war im Besitz von Utensilien und Pulvern, die den Reinigungsprozess um ein Vielfaches erleichterten und entgegen seiner sonst barschen Persönlichkeit war er hier freigiebig. Er hatte es stets begrüßt, wenn man Waffen pflegte und Shiokiris erbarmungswürdiger Zustand vergalt jeden Arbeitsschritt mit einer so deutlichen Verbesserung, dass der Schmied immer wieder zu ihm hinüber sah und zufrieden nickte oder ihm ein anderes Pulver hinüberwarf, das er mit Öl mischen und einarbeiten sollte. So ging es nun schon einige Stunden, in denen Tōtōsai das Unmögliche vollbracht und Tenseigas Mantelstahl vom flexibleren Kernstahl getrennt hatte, nur um anschließend mindestens zwei weitere Barren unterschiedlicher Güte aus den Anteilen herauszuarbeiten. Das war der Punkt, an dem Kaito keine Fragen mehr stellte und schlicht mit offenem Mund dasaß, während Tōtōsai die verschiedenen Schmelzpunkte im Gradbereich abzuwägen schien und die Klinge mit Zange, Meißel und Hammer zerlegte, wie manch anderer einen Fisch ausnehmen mochte. Ein Meister, wahrlich, und eine Handwerksfertigkeit, die das Vorstellungsvermögen eines menschlichen Zunftgenossen um Längen überstieg. Schließlich wischte sich sogar der Schmied den Schweiß von der Stirn, auch wenn dies sicher nichts mit der herrschenden Hitze zu tun hatte. Er zog das Zypressenholz heran und spaltete es in dünne Fasern, die er auf die Kohlen legte. Der Zitronengeruch des Holzes breitete sich mit dem Qualm in der Hütte aus. „Wirst du mit ihm gehen?“ „Ja. Einer muss schließlich dafür sorgen, dass Tenseiga auch heil ankommt.“ „Und danach?“ „Keine Ahnung. Die Drachen haben keinen Grund, ihre gesamten Truppen ins Feld zu führen. Nicht solange die Waage so deutlich in ihre Richtung neigt. Auch wenn wir überleben, wird der Krieg also kaum nach dieser einen Schlacht enden. Ich werde etwas zu tun finden, wenn es soweit ist.“ „Wieder Spähtrupps abfangen oder einzelne Panther töten?“ „Warum nicht? Das liegt mir.“ Tōtōsai legte einen Stahlbarren in das Nest aus Holzfasern und sah ihn an. „Seit wann siehst du deine Eltern nicht mehr?“ „Wie kommst du darauf, dass- ?“ „’Scheiß auf das Dorf’?“ Kaito rollte mit den Augen, dann zuckte er mit den Achseln. Was hatte er erwartet? Der Mann kannte ihn zu gut. „Eine Weile. Nach dem Drachenangriff habe ich mich erholt und bin gegangen. Stellte sich heraus, dass es nicht gut ankommt, wenn man einer Entführung untätig beiwohnt. Und da ich meinen Mund nicht halten kann, habe ich es mir mit meinen Eltern versaut, als ich die Entführung eines Mädchens als ‘kleineres Übel’ bezeichnet habe.“ „Ein hartes Urteil.“ „Die Wahrheit. Sesshōmaru hatte im Grunde schon den Befehl zur Vergeltung gegeben. Das Dorf war am Boden. Die Inu hätten auch den kläglichen Rest niedermachen können, wenn dieser Generalleutnant nicht eine sehr freie Deutung seiner Anordnung gewagt hätte.“ Tōtōsai seufzte. „Ich habe Inuyasha gesagt, dass das nicht ewig gut gehen würde. Das mit dir. Wäre es leicht, Han’yō bei Menschen unterzubringen, würde es doch jeder tun. Aber er wollte wie üblich nicht zuhören.“ „Es klappt besser als andernorts. Meine Eltern haben drei Kindern ohne viele Scherereien in einem Menschendorf aufziehen können, genießen ein gewisses Ansehen, haben ein Haus und es gibt genügend Landplagen, um alle durchzufüttern. Das ist mehr als man erwarten darf.“ Der Schmied betrachtete ihn eingehend, dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, holte den Stahl aus dem Feuer und faltete ihn unter stetigen Hammerschlägen. Kaito hatte sich längst wieder seinem Schwert gewidmet, als Tōtōsai nach einer langen, vom Dröhnen des Schmiedehammers unterbrochenen Stille, wieder das Wort ergriff: „Oni, Spähtrupps und vereinzelte Panther. Befriedigt es dich, am Rande der Schlachtfelder die Reste aufzulesen wie eine Aaskrähe?“ „Versuchst du mit mir jetzt denselben unterschwelligen Quatsch wie eben? Sag, was du zu sagen hast oder lass es bleiben.“ „Ich zweifle an deinen Beweggründen. Wenn du nur dort bist, um Stahl in lebendes Fleisch zu rammen, wird es wohl genügen. Aber um wirklich einen Unterschied zu machen, ist es doch sehr dürftig.“ „Und weiter?“ Der Alte blinzelte. „Wie bitte?“ „Du fängst nicht mit meinen Eltern an, um dann an der Wahl meiner Gegner herumzumäkeln, wenn es keinen Hintergedanken gäbe. Und du kennst mich zu gut, um wirklich zu glauben, dass ich das nur mache, um jemandem eine blutige Nase zu verpassen. Ich sage es noch ein letztes Mal: Lass diesen verschachtelten Scheiß.“ „Du weißt längst, worauf ich hinaus will.“ „Ich bin schließlich nicht blöd. Aber ich weigere mich, dieses Gehampel mitzumachen, das du mit ihm abgezogen hast.“ „Schön, dann direkt: Deine Zeit unter den Menschen ist abgelaufen. Selbst das an Dämonen gewöhnte Umfeld deiner Eltern ist nun voll Abneigung und Angst. Mit der Jagd auf Dämonen kannst du ein Auskommen als besserer Kammerjäger haben, aber Rattendämonen auszuräuchern, wird dich ebenso wenig zufriedenstellen wie Oni abzuschlachten. Das ist unter deiner Würde.“ „Wie schön, dass du weißt, wo meine Würde endet.“ „Ich kenne deinesgleichen lang genug.“ „Deine Historie von Han’yō-Bekanntschaften muss enorm sein.“ „Inu.“ „Wie bitte?“ „Diese kleinen Fische niederzustrecken, fordert dich nicht und was dich nicht fordert, frustriert. Die richtigen Gegner - die, die es wert sind das Schwert zu ziehen - stellen sich anderen, während du aus der Entfernung deine Chancen kalkulierst und dich überlegen wähnst. Im Gegensatz zu Sesshōmarus Jungen genießt du den Kampf. So warst du schon immer. Dieses Auflesen von Resten passt nicht zu dir.“ Kaitos Kiefer mahlten missmutig, während er das Nelkenöl von der Klinge strich, um sauberes aufzutragen. Er hätte dem Schmied gern widersprochen, aber jede Entkräftung, die ihm in den Sinn kam, wäre eine Lüge gewesen. Seine Mutter mochte Nachsicht mit ihm haben - er genoss es tatsächlich. In den vergangenen Jahren hatte er die Nähe der Schlachten nur verlassen, um andernorts Kopfgelder einzustreichen. Im Gegensatz zu den Dämonen musste er gelegentlich essen - von dem widerlichen Beerensaft ganz zu schweigen, ohne den seine Hände bis heute zitterten, während sein Schädel zu bersten drohte. Wahrlich, nur ein paar Minuten allein mit den Zwillingen und sie würden all das bekommen, was sie ihm immer nachgesagt hatten und noch mehr. Abermals stolperte er über den Rachegedanken, wie jedes Mal, wenn er sich darin verlor. Seine Meinung zu vertreten, hatte die Kluft zu seinen Eltern bereits erweitert. Er wusste, dass er ihnen nie wieder unter die Augen treten konnte, wenn er Rache vor Vergebung setzte und die Kinder ihrer besten Freunde tötete. Dass das seine einzige Hemmschwelle war, sagte vermutlich genug über ihn aus, um Tōtōsais Beurteilung zu stützen - und das, worauf er hinaus wollte. Es würde leicht, ein Auskommen zu haben, solange es Dörfer gab, die von Dämonen geplagt waren. Aber er kannte den Ausdruck in den Mienen, wenn jemand wie er Arbeit annahm oder gar seinen Lohn verlangte. Es wäre ein Leben voller Undank und Ablehnung. Kein Dorf würde ihm erlauben zu bleiben und auch in Städten würde er auffallen. Angst trieb Menschen zu irrationalen Handlungen und Andersartigkeit schürte Angst besser als ins Feuer gegossenes Öl. Irgendwann würden man einen Dämonenjäger auf ihn ansetzen, den er vermutlich töten würde, nur um damit alles noch schlimmer zu machen. „Du hättest mich wohl nicht für Tenseiga brauchen können.“ „Natürlich nicht. Du bist kein Yōkai.“ „Darüber hinaus.“ „Euch jungen Hunden tut der Frieden wohl nicht gut, was? Diese ganzen Selbstzweifel, Unsicherheiten und die Erwartungen anderer. Keiner von euch beiden scheint zu wissen, wo sein Platz ist. Geschweige denn, wer er ist.“ Tōtōsai hob den Blick und betrachtete ihn eingehend. „Andererseits… vielleicht ist das die Jugend.“ „Zu lange her bei dir?“ „Nun werd’ nicht frech!“ Rauch stob aus den Nasenlöchern des Alten. „Wenn Tessaiga eines Tages dir gehört, vergisst du hoffentlich nicht, wozu ich es erdacht habe.“ „Mir?“ Kaito starrte ihn an, witterte jedoch die Falle hinter den Worten. „Worauf willst du hinaus?“ „Ich habe Tessaiga nicht geschmiedet, damit es als Wandschmuck Flugrost ansetzt. Die Inu haben immer Verwendung für gute Schwerter.“ Und Männer, die sie führen?, Kaito schnaubte. „Für gute Schwerter mit Stammbaum.“ Wenn das nicht der sagenumwobene Wink mit dem Zaunpfahl gewesen war! Sehr plump - und absolut schwachsinnig. Allein die Vorstellung, wie er sich in den Reihen der westlichen Armee einfügen sollte, scheiterte im Grundsatz. Ebenso gut hätte man einem Schaf Schuppen auf die dichte Wolle malen können, ehe man es zum Ersaufen ins Meer warf. Die Verachtung der Inu war nicht minder verletzend als die Angst und Abscheu, die die Menschen ihm entgegenbrachten. Obgleich er zugeben musste, dass er Verachtung besser ertrug. Die Inu sahen ihn nicht als Bedrohung und so musste er sich zumindest keine Sorgen machen, dass man ihm des Nachts auflauerte. Hätten sie ihn töten wollen, dann in aller Öffentlichkeit, mit der Waffe in der Hand. Immerhin wollte sich niemand nachsagen lassen müssen, den fairen Kampf mit einem nichtigen Han’yō gescheut zu haben. Dulden würden sie ihn deswegen noch lange nicht und Kaito verspürte auch keinerlei Drang, sich ihnen anzubiedern wie ein Streuner auf der Suche nach einem warmen Herd. „Der Großteil der Dämonen hat Vorurteile. Der Großteil der Menschen ebenso. Aber der Großteil ist nichtig, wenn der Fürstenjunge beschließt, dass er dich an seiner Seite will.“ „Warum sollte ich in den Westen gehen?“ „Soll ich an deinen Stolz oder an dein Verantwortungsbewusstsein appellieren? „Überrasch mich.“ „Du bist belanglos. All dein Talent und deine Ambitionen verlaufen im Sand. Deine Aussichten, einen Unterschied zu machen, sind verschwindend gering. Die wahren Entscheidungen werden an anderen Tischen getroffen. In den Räten der Fürsten und auf den großen Schlachtfeldern. Blut hat den Jungen da draußen in eine Machtposition gebracht. Du solltest ihn und deine Abstammung nutzen. Finde einen Platz, der dir mehr Handhabe gibt als Oni und Spähtrupps, Ratten und Gesindel.“ „Dass du mich für derart arrogant hältst, schmerzt.“ „Dann geht es doch nur darum, ein paar Köpfe zur eigenen Erheiterung rollen zu lassen? Unsinn, Junge. Du bist nicht halb so verletzt wie du sein willst und meine Einschätzung deckt kaum einen Bruchteil deines Geltungsdrangs.“ „Ich werde nicht Minorus kleine Kuriosität, damit ich in seinem Schatten atmen darf, wie Rin es bei seinem Vater tut.“ Tōtōsai betrachtete ihn äußerst skeptisch. „Bist du sicher, dass du genau diesen Vergleich ziehen willst? Ihr streitet euch zwar wie ein altes Ehepaar, aber ich dachte nicht, dass ihr… nun-“ „Götter, nein! Nein!“ Der Alte zuckte mit den Achseln. „Trotzdem ein schlechter Vergleich. Das Menschenkind hat sicher ihre Berechtigung. Aber bis auf ein paar verstaubte Gefühlsregungen zu wecken, trägt sie wenig zur Stabilität des Landes bei.“ „Was, abgesehen davon, dass du ihre Auswirkungen verkennst, bei mir natürlich ganz anders wäre.“ „Das wäre jedenfalls wünschenswert.“ „Oh ja, ich sehe ihn schon vor mir, wie dieser arrogante Köter ganz heiß auf meinen Rat und meine Gesellschaft ist und seinen ohnehin schwierigen Stand damit untergräbt, jemanden wie mich in seiner Nähe zu haben.“ „Auf mich wirkt er nicht arrogant. Der einzige von euch, der dem anderen die Abstammung vorhält, bist du.“ Kaito erstarrte. „Das ist nicht wahr!“ „Er ist mit einem Wolf befreundet, trauert um einen Flohgeist und dachte sein halbes Leben lang, man würde ihn aufgrund seiner Abstammung hinrichten. Seine Stellung bedeutet ihm weniger als sie sollte und dir bringt er mehr als genug Respekt entgegen.“ „Respekt?“ „Er lässt sich wohl kaum von jedem einen Vollidioten nennen und denkt über Kritik nach, die ihm derart beleidigend um die Ohren gehauen wird. Ihr streitet auf Augenhöhe, vielmehr noch, er lässt dir sogar die Oberhand und spuckt nicht alle zwei Minuten Morddrohungen aus. Das will in eurer Familie etwas heißen.“ Während sich der Schmied daran machte, den noch blutigen Reißzahn in einem Mörser zu zerstoßen, mahlten in Kaitos Verstand die Gedanken. Respekt. So weit er sich erinnern konnte, hatten sie seit ihrer ersten Begegnung neben schweigen und streiten wenig anderes getan. Auf kurz oder lang endeten ihre Zusammentreffen in Provokationen und Zähnefletschen. Eine Unterhaltung hatte es nie gegeben und wenn Kaito an eine positive Situation zurückdenken sollte, kamen ihm trotz allen Hasses bessere Erinnerungen mit den Zwillingen in den Sinn. Vermutlich, weil er Minoru erst kennengelernt hatte, als sein Leben ohnehin schon drohte, den Bach hinunterzugehen. Eine hatte es allerdings gegeben. Verdrießlich blickte Kaito auf das Schwert hinab. Mit dem Wissen um die Fuchskoralle ergab es plötzlich Sinn, weshalb Minoru sich für ihn eingesetzt hatte, als Kaitos Eltern ihm mit der Halskette davon abgehalten hatten, sich zu verteidigen. Es überraschte Kaito nicht, dass Minoru demnach lediglich etwas angeprangert hatte, das ihm selbst widerfahren war. Dieses Maß an Egozentrik musste man bei einem Dämon wohl oder übel erwarten, doch das tat der Sache keinen Abbruch, dass Kaito sich in dem Moment ausnahmsweise nicht allein gefühlt hatte. Minoru hatte den Widerspruch erkannt: Während den Zwilligen freie Hand bei Provokationen und Handgreiflichkeit gelassen worden war, hatte man ihm jede Gegenwehr untersagt - weil sie menschlich waren und er nicht. Doch davon abgesehen hatte Minoru seine Missachtung stets offen zur Schau getragen. Er hatte sich bei den Mönchen eingemischt und auch noch Dank erwartet, dabei hätte Kaito die Situation mit weniger Blutvergießen selbst regeln können. Auf der Reise nach Musashi und im Dorf selbst hatte er kaum eine Handvoll Sätze hervorgewürgt und sich sonst von jedermann zurückgezogen, der zu weit unter seiner Würde war, und im Angesicht des ersten Drachen, hatte er sein Schwert an Kaito abgetreten, nur um anzugeben und - Kaito stockte. Nicht um anzugeben. Sondern weil er im Umgang mit der Waffe nicht ausgebildet worden war. Hatte er nicht sogar behauptet, das Schwert abzugeben, weil Kaito damit besser umgehen könne? Und wenn all das, was wie Arroganz aussah, nichts weiter gewesen war als die Distanz eines Jungen, den man von mütterlich grausamer Erziehung in väterlich hohe Ansprüche samt Hofprotokoll gestoßen hatte? Kaito brauchte einige Minuten, um zu verarbeiten, dass er nicht fair gewesen war. Dass er sich selbst der Voreingenommenheit schuldig gemacht hatte, die er anderen stets vorwarf. Mit keinem Wort hatte Minoru ihm je seine Herkunft vorgehalten. Er hingegen hatte freigiebig Salz in offene Wunden gerieben, wo immer sie auch geboten worden waren. Hatte er nicht geahnt, dass es um seinen Vetter längst nicht so sorgenfrei bestellt war, wie er ihm ständig unterstellte? Palastbengel. Verwöhntes Muttersöhnchen. Kaito biss sich auf die Wange. Allein. Neben all den unsinnigen Beleidigungen, die geworfenen Steinen gleichkamen, war die Letzte der Dolch gewesen und vermutlich die einzig richtige Einschätzung. Minorus bloße Existenz provozierte ihn wahrlich ausreichend, um ein richtiger Arsch zu sein - und doch stritten sie noch miteinander, als sei die Meinung des anderen mehr als Vorurteil und Geringschätzung. „Gut, fein. Er mag mich respektieren, aber es wäre dumm von ihm, ein Halbblut in seiner Nähe zu halten. Allein weil er nicht am Hof aufgewachsen ist, wird sein Vater bei jeder Gelegenheit drohend hinter ihm stehen müssen, um die Zweifler daran zu erinnern, dass er sein legitimer Nachfolger ist. Er sollte seine Sorge um die Feinde von außen lieber ganz schnell nach innen richten und da passe ich nicht hinein.“ Tōtōsai deutete mit einer alterskrummen Kralle auf ihn. „Und deswegen, mein Lieber, braucht er dich. Nicht, weil ihm das nicht selbst bewusst wäre, sondern weil du es auch siehst. Ich kenne den Hof seit einigen Generationen und wir wandeln hier auf sehr dünnem Eis. Sobald er als Erbe in die Öffentlichkeit tritt, beginnt der Sturm. Dutzende werden sich um ihn reißen, versuchen, ihn zu formen, ihm ihre Töchter anpreisen; werden Einfluss auf ihn nehmen, seine Gunst gewinnen und seine Freunde ersetzen wollen. Ich habe das einmal gesehen und obwohl Sesshōmaru den Erwartungen voll entsprochen hat, war es grausig. Tōga war selbst derart beunruhigt, dass er nach Sado gesegelt ist, um einen Jungen herzuschaffen, der seinem Sohn etwas anderes als Schwerter, Mord und Blut vermittelt. Was denkst du also, wird dieses Reich mit einem Erben machen, der moralischer ist als sein Vater? Eigensinniger und potentiell weitaus mächtiger?“ Kaito konnte sich die Antwort an einer Hand abzählen, knurrte jedoch: „Warum sollte es mich kümmern, was mit ihm ist? Du irrst dich, wenn du denkst, wir wären Freunde und dass er mein Vetter ist, kümmert mich nicht.“ „Stolz und Verantwortungsbewusstsein, Kaito. Von Sentimentalitäten habe ich nie gesprochen.“ Der Alte lächelte schief, während er den Inhalt des Mörsers auf dem Mantelstahl verteilte. „Ich würde mir doch nicht anmaßen, derart menschlich zu argumentieren.“ Kaito zuckte zusammen und bleckte die Zähne. „Vorsicht, Schmied.“ Das Lächeln wurde breiter. „Du reitest dich nur tiefer hinein.“ Er hatte das dringende Bedürfnis, den Alten in seinem Kühlbottich zu ersäufen. Allerdings hätte allein der Versuch dessen Erheiterung ins Unermessliche gesteigert und weder gönnte Kaito ihm diesen Triumph noch wollte er solchen Impulsen nachgeben. Er schätzte Tōtōsai. Was er nicht schätzte, waren Anspielungen auf sein dämonisches Wesen. Nicht, weil er sie hätte von der Hand weisen können, sondern weil sie immer wieder aufs Neue jene Anschuldigungen zu bestätigen schienen, die Saki und Mei gegen ihn vorgebracht hatten. Anschuldigungen, die seine Schwester in den Westen und ihn in den Tod getrieben hatten. Tōtōsai musste sein Unbehagen bemerkt haben. Das Lächeln wich einer ernsten Miene, als er sämtliche Utensilien zur Seite legte und ihn ansah: „Es geht hier nicht um das Leidwesen eines jungen Inu. Es geht um den Erben einer militärischen Großmacht. Die großen Reiche sind ausschlaggebend für die Stabilität des gesamten Landes und beeinflussen das Leben von Dämonen und Menschen gleichermaßen. Den Zusammenhang sollte ich dir nach den Überfällen der Drachen auf menschliche Siedlungen und die Rekrutierung niederer Dämonen nicht mehr erläutern müssen: Westliche Menschendörfer sind deutlich besser davongekommen. Nicht weil Sesshōmaru sich um sie schert, sondern weil er keine untoten Echsen auf seinem Land will. Sie sind Nutznießer, aber immerhin lebendige. Die Entscheidungen des Fürsten sind bedeutsam. Und wie du schon bemerkt hast, wird das hier nicht der letzte Krieg bleiben. Auf der anderen Seite der Münze scheinen die Menschen ihre Auseinandersetzung zu beenden. Danach werden sie Wiederaufbau betreiben und sich ausbreiten wie sie es jedes Mal tun. Ihr Verhalten gegenüber den Dämonen ist heute schon respektloser als zu meiner Jugendzeit. Wer weiß, was die Zukunft bereit hält, wenn die Menschen ausnahmsweise geeint auftreten? Es wäre wünschenswert, Probleme und Herausforderungen auf eine Mauer treffen zu lassen und nicht auf Papiertüren. Dass jemand mit klarem Kopf und Weitsicht die Entscheidungen fällt, der nicht nur die unmittelbare Wirkung auf sich selbst oder seine tausend Mann in Waffen bedenkt, sondern das Gesamtbild im Auge behält. Du hast die Wahl: Du kannst weiter abseits gegen den Wind ankämpfen oder dich mit deinem Vetter ins Unwetter stellen und den Sturm beugen.“ Kaito betrachtete Tōtōsai. Die wachsamen Augen, das bewusst aufgesetzte Desinteresse und die dahinter lauernde Erwartung einer Reaktion, nun, da er all sein Pulver verschossen und das Anliegen dargebracht hatte, auf das er seit Stunden abzielte. „Das war doch nicht wirklich notwendig, oder? All das Gerede über die Seele der Waffe, die Feinabstimmung auf den Charakter. Das hat es nie gebraucht.“ Der Alte zuckte mit den Achseln. „Notwendig für was? Für Tenseiga? Oder damit ihr eure Fehde beendet? Du bist ein schlauer Junge, mach dir selbst einen Reim darauf.“ „Wenn er das je erfährt-!“ „Dann sag es ihm nicht.“ „Warum?“ „Weil mir der ach so harmlose Hund dann den Kopf abbeißen wird.“ „Nein, warum hast du ihn zu diesem Gespräch genötigt?“ „Aus demselben Grund, weshalb ich dich nicht habe gehen lassen: Ich bin die Feindschaft eurer Väter endgültig leid. Missgunst, Schuldzuweisungen, Neid - weißt du eigentlich, wie viel zusätzliche Arbeit mir das beschert hat? Ich werde meinen Lebensabend nicht damit zubringen, diesen Unfug in der nächsten Generation fortzuführen. Schon gar nicht ohne den Floh.“ Kaito schwieg, musterte erneut die ausgemergelten Züge des Alten, der abermals Gleichgültigkeit vorschützte und sich wieder dem Schwert zuwandte. Dann erhob er sich. Der Schmied blickte ihm nach, während er Shiokiri in die Schwertscheide schob und die Hütte wortlos verließ. Tōtōsai mochte die Lage dank seiner Erfahrung und Weitsicht gut einschätzen können. Einer Sache war er sich jedoch nicht bewusst: Dass der Auftakt bereits hinter ihnen lag und der Sturm längst begonnen hatte. Der Rat mochte noch nicht involviert sein, aber auch Tōtōsais Bestreben, Kaito an Minorus Seite zu drängen, war nichts anderes als Einflussnahme. Jeder würde versuchen den Erben zu lenken, zu umgarnen und wenn nötig zu unterdrücken, um seine Pläne durchzusetzen. Nach allem, was Kaito heute gehört hatte, würde sein Vetter dem kaum standhalten. Minoru war nicht schwach, keineswegs. Aber er war allein. Allein mit einer Flut von Erwartungen und Hoffnungen, die von allen Seiten an ihm zehrten, und ihn taub und blind für alle Anliegen zurücklassen würden - wenn sie ihn nicht schlussendlich zerrissen. Krieg allen Feinden, Friede um jeden Preis; schütze die Menschen, töte meine Feinde, achte dein Volk; sei mitfühlend, wenn es angebracht ist, sei gefährlich, wenn wir es wollen. Jeder. Kaito bleckte die Zähne. Warum dann nicht auch er? 狐 In der Dämmerung brieten zwei fette Kaninchen über einem Lagerfeuer und ein sichtlich angespannter Kadett warf dem Erben des Reiches verstohlene Blicke zu, die Saburō schließlich mit einem einnehmenden Lächeln beantwortete, welches Shippō die Haare zu Berge stehen ließ. Kōhei seufzte und schnippte vor dem Gesicht des Jungen mit den Fingern. Irritiert blinzelnd wandte sich Shippō ihm zu. „Wenn du genug gestarrt hast, hast du vielleicht einen Augenblick deiner geschätzten Aufmerksamkeit für mich übrig.“ „Ich... ja, sicherlich. Entschuldigung.“ „Gewährt“, bemerkte Saburō trocken. „Hast du beim Flug über den Westen irgendwelche Truppen gesehen? Auffällige Auren?“ „Nun ja, da waren schon die üblichen Dämonen in den Wäldern und eine menschliche Armee bei einer größeren Stadt, aber nichts ungewöhnliches. Es war ruhig. Truppen sind vermutlich alle auf wem Weg… woandershin.“ Kōheis Miene blieb ausdruckslos, während er seinen Schüler studierte. Woher wusste ausgerechnet er, der die letzten Wochen in irgendeinem abgelegenem Kuhdorf in den Ebenen verbracht hatte, von der bevorstehenden Schlacht? Saburōs Stimme wurde seidig: „Und dieses 'woanders' liegt nicht zufällig an der Frontlinie zum Osten?“ Unwohl rutschte der Junge auf dem Baumstamm umher, während er verstohlen zu Kōhei sah. Der erwiderte das Gesuch mit einem mahnenden Blick: „Der Kōtaishi redet mit dir, Junge.“ Höfisches Protokoll gebot, dass er seinem Vorgesetzten ohne Umschweife, und im Idealfall auch ohne Blickkontakt, jede Frage beantwortete und Befehle ohne Zögern ausführte - von Verbeugungen mal ganz abgesehen. Ja, sogar die banalen Grundlagen akzeptablen Benehmens hätten vorgesehen, dass er einer älteren Respektperson keine Antwort schuldig blieb oder sein Unbehagen so unverfroren zur Schau stellte. Hatte dieser Bengel in den paar Wochen Freizeit alles vergessen? Wäre die sonst so solide Mauer der Standesunterschiede nicht schon seit geraumer Zeit dem Verfall preisgegeben, hätte Kōhei in Anbetracht dieser Glanzleistung an Erziehung und Ausbildung nun einen mittelschweren Nervenzusammenbruch erlitten. „Ihr seid Eurem Schüler wahrlich in allen Aspekten ein Vorbild, General. Er spricht offensichtlich genauso ungern mit mir wie Ihr.“ Kōhei hob den Blick und betrachtete Saburō, der ihn mit einer solchen Verachtung ansah, dass man ihm die Darbietung beinahe abgekauft hätte - wäre da nicht das verräterische Zucken in seinem Mundwinkel gewesen, das darauf hindeutete, wie köstlich sich der Erbe amüsierte. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn Saburō diese Situation nicht zu Vollendung ausgeschlachtet hätte! Immerhin war somit sicher, dass er sich auf dem Weg der Besserung befand und Shippō konnte eine Lektion wahrlich gut vertragen. „Ich bitte um Verzeihung, Kōtaishi. Ich weiß nicht, was in den Jungen gefahren ist.“ „Ist das nicht offensichtlich oder seid Ihr Euch tatsächlich nicht darüber im Klaren, wie Eure offene Abneigung gegen meine Person Eure Untergebenen kompromittiert?“ Shippō wurde leichenblass. Er hatte schon mehrfach darüber geklagt, dem hochgestochenen Wortwechsel mancher Erwachsener nicht gänzlich gewachsen zu sein, doch Kōhei nahm an, dass diese Andeutung jede Verständnisbarriere durchbrochen hatte. „Ihr verwechselt Abneigung mit Respekt.“ „Ihr müsst mich für einen seltenen Narren halten. Der Junge ist Euer Schüler und wie Ihr bereits so deutlich herausgestellt habt, unterliegt er Eurer Verantwortung. Nennt mir einen Grund, warum ich diese überdeutliche Zurschaustellung Eurer Einflussnahme auf die Truppen ohne weiteres hinnehmen soll? Dieselbe Unverschämtheit gegenüber meinem Vater und nicht nur der Kadett würde seinen Kopf verlieren!“ Da hatte er trotz all der aufgesetzten Theatralik recht. Doch ehe Kōhei den Spuck beenden konnte, rutschte Shippō vom Baumstamm auf die Knie. „Es - es tut mir leid! Bitte! Ich wollte Euch nicht beleidigen! Eure Gegenwart ist nur - schweigen ist das eine, aber doch nicht sprechen! Kōhei hat nie etwas schlechtes über Euch gesagt!“ „Dennoch scheinst du der Auffassung, militärische Informationen an mich weiterzuleiten, sei ein Risiko, das mit dem General abgesprochen werden müsse! Das ist Hochverrat! Hat er dir das beigebracht?“ Shippō zuckte zusammen und krallte die Finger in den Boden. Er schien den Tränen nahe. „Nein!“ „Das reicht.“ Kōhei legte Shippō eine Hand auf die Schulter und drückte sacht zu, als er bemerkte, wie der Junge zitterte. „Er wird mir nichts tun, Shippō.“ Saburō schnalzte enttäuscht mit der Zunge. „Ihr seid schrecklich langweilig, General, habe ich Euch das schon einmal gesagt?“ „Mindestens einmal. Gefällt es Euch, meine Kadetten zu verschrecken?“ „Ich finde es faszinierend.“ „Faszinierend“, wiederholte Kōhei hohl. Der schwarze Fuchs zuckte mit den Achseln: „Ihr wart nicht ganz unschuldig, oder? Außerdem verrät mir ja irgendeiner dieser halbgaren Krieger vielleicht eines Tages, was ihnen die Angst in die Knochen treibt, sobald sie mich sehen. Ich kann mich nicht entsinnen, einen von ihnen vor heute auch nur scharf angesprochen zu haben. Was ist es also?“ Kōhei sah davon ab, den ersten Gedanken, der ihm durch den Kopf schoß, laut auszusprechen. Er war zu persönlich, zu abfällig und vor Shippō wollte er dies nicht wagen. Er gab sich Mühe, sein Gegenüber möglichst wertfrei zu betrachten. Seine Anschuldigungen im Bezug auf Shippōs Verhalten hatten Berechtigung. Davon konnte Kōhei sich nicht freisprechen. Aber warum alle vor dem Erben zurückwichen, war einfach: Weil er ein Daiyōkai war. Konnte Saburō das wirklich nicht sehen? Selbst wenn er der gutmütigste Mann unter der Sonne gewesen wäre, wäre man vor ihm zurückgewichen wie vor den Flammen eines Großbrandes. Die Jungen wussten nicht, was es war, aber sie spürten die Gefahr. Womit sie klüger waren als Kōhei selbst. Er hatte sein Unbehagen allein auf seine brenzlige Situation und Saburōs schwierigen Charakter zurückgeführt - was deswegen nicht weniger wahr war. Doch derlei kundzutun, wenn niemand sonst es aussprach, war töricht. Stattdessen sagte er: „Ihr pflegt den Ruf, der Euch vorauseilt.“ „Und welcher Ruf sollte das sein? Geht es immer noch um Sōsukes Genpuku? Die Feier war sterbenslangweilig.“ „Sterbenslangweilig, oh ja“, murmelte Shippō, der sich von Kōhei hatte aufhelfen lassen und nun mit einigem Abstand zu ihm wieder auf dem Baumstamm Platz nahm - offensichtlich gekränkt, dass man ihn derart vorgeführt hatte. Saburō nahm die plötzliche Kühnheit des Jungen mit einem gefährlichen Lächeln wahr. „Ich hatte kein Blut an meinen Händen.“ „Ihr habt sie aber auch nicht in Unschuld gewaschen.“ „Shippō!“ Kōhei starrte ihn fassungslos an. Der Kadett fuhr zusammen und sah zur Seite. „Verzeihung, Kōtaishi.“ Der grinste hämisch: „Sieh mal einer an! Je mehr du redest, desto interessanter wirst du. Die meisten halten es bedauerlicherweise anders herum.“ „Weshalb du dich jetzt verdammt nochmal zusammenreißen wirst“, zischte Kōhei. „Falls du das gerade falsch interpretiert haben solltest: Das war eine Warnung. Der Kōtaishi hat recht. Ich bin nur dein Lehrer und General. Du dienst der Fürstenfamilie, nicht mir und du solltest ihnen dein Höchstmaß an Respekt entgegenbringen. Wenn Fürst Hayato dieselben Vorwürfe fallen ließe, würde das nicht gut ausgehen. Für keinen von uns. Hast du mich verstanden?“ „Ja, Kōhei.“ „Versuch es nochmal.“ „Ja, Taishō.“ „Und jetzt raffst du den Rest Anstand zusammen und beantwortest ihm seine gottverdammte Frage!“ Shippō studierte eingehend die bratenden Kaninchenkadaver. „Ja, ich nehme an, sie sind auf dem Weg zur Ostfront. Die Inu ziehen dort ihre Truppen zusammen.“ Das schwarze Unheil zeigte erstmalig so etwas wie Erbarmen und beschränkte sich auf das Thema, statt den Jungen erneut in ein offenes Messer laufen zu lassen, von denen er sicher ausreichend zur Verfügung hatte: „Woher weißt du davon?“ „Freude von mir hatten Kontakt zum westlichen Heerlager und wollen sich nun selbst dem Krieg anschließen. Deswegen bin ich früher zurückgekehrt als geplant. Sie wollten, dass ich mit ihnen gehe wie damals, aber das kann ich schlecht machen. Wir haben darüber gestritten, dass ich die Zustimmung meines Vorgesetzten brauche und es ein politisches Problem wäre, wenn ich als Angehöriger eines höfischen Heeres in die Schlachten anderer involviert werde.“ Kōhei seufzte. „Ich sollte wohl dankbar sein, dass du da zumindest den Kopf angeschaltet hast.“ „Solche Sachen sind mir klar. Ich weiß nur nicht, wie ich-“, Shippō warf einen kurzen Blick auf Saburō und sah schnell wieder woandershin. „Wie ich mit alledem umgehen soll.“ Saburō lächelte matt: „Das ist eine häufige Klage. Solltest du das je herausfinden, wäre dein Lehrer sicher für jede Hilfe dankbar.“ Die schnippische Erwiderung, die Kōhei auf die Zunge kriechen wollte, schluckte er schnellstmöglich wieder hinunter, als der Silberfuchs sich ihm zuwandte: „Es macht mir nichts aus. Zumindest nicht, solange niemand sonst Zeuge dieses Verhaltens wird. Euer Schüler war nicht lange genug bei Hofe, um die Katzbuckelei angenommen zu haben, die Personen wie ihm eine Anleitung an die Hand gibt, mit jemandem wie mir gefahrlos zu verkehren.“ „Woran mancher Höfling ebenso scheitert“, murmelte Kōhei und Saburō vergalt es ihm mit einem erneuten Lächeln. „Er ist Euer Schüler und wird auf Gedeih und Verderb in Eurer Nähe sein. Lasst ihn also gewähren, damit ich mir nicht rund um die Uhr ansehen muss, wie er versucht über eine ohnehin zu dünne Eisfläche zu manövrieren. Ich ergötze mich am Scheitern anderer, aber das wäre zu viel des Guten. Außerdem ist es so viel unterhaltsamer. Ich meine… habt Ihr Euch wirklich nie über mich beklagt? Kein Wunder, dass Eure Zähne bei jeder Begegnung lauter knirschen, wenn Ihr den Frust so in Euch hinein fresst.“ Sein Blick wanderte von Kōhei zu dem Jungen und zurück. „Außerdem: ‘Kōhei’? Was muss ich anstellen, damit ich Euch beim Vornamen nennen darf?“ „Ihr seid der Erbe meines Herrn. Euch steht zu, was immer Ihr verlangt.“ „Nun, nicht alles, nicht wahr? Direkte Antworten Eures Schülers jedenfalls nicht.“ Kōhei knirschte mit den Zähnen und trieb Saburōs Lächeln zu unerhörter Süffisanz. Er hatte bereits geahnt, dass der Silberfuchs sich mit einer einfachen Lektion an einen Kadetten nicht zufrieden geben würde. Dass er jedoch eine Situation sponn, die all seine Theorien des Nachmittags binnen Sekunden stützte, war beängstigend - sowohl das Vorgehen als auch die Erkenntnis. Es war beschämend, sich eingestehen zu müssen, dass er das Offensichtliche bewusst verdrängt hatte. Shippō war erst wenige Jahre bei ihm und dennoch würde er Saburōs Anweisungen niemals ohne einen Seitenblick auf ihn ausführen. Andere unterstanden ihm seit Jahrhunderten. Wem folgte das Heer? Wem galt ihre Loyalität? Nicht Saburō - und genauso wenig seinem Vater, wenn Kōhei nur den Schneid besäße, der dafür nötig war. Dieser verdammte Bastard! Er hatte nicht einfach nur einen Jungen auf seinen Platz verwiesen, nein, er hatte einen General einen Realitätsabgleich zukommen lassen, der ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Wissend, dass seine Botschaft angekommen war, strich der fleischgewordene Untergang des Fürsten ein paar pechschwarzer Fellbüschel zurück in den Kragen, die sich bei seiner Darbietung künstlich aufgebauscht hatten und wirkte für einen Moment so erhaben wie eh und je - trotz der Verbände und schäbigen Kleidung. „Aber ich fürchte, Shippō und ich haben Euch von Eurem Gedankengang abgebracht. Weshalb interessierten Euch die westlichen Wälder noch gleich so sehr?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)