Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 60: Dass du lebst ------------------------- Kōhei hatte die extravagante Kurodadrossel in den Wind geschossen und die Gestalt eines heimischen Bergadlers angenommen, dem niemand einem zweiten Blick schenkte. Saburō hing in Form eines Spatzen zwischen seinen todbringenden Klauen und schlief mit einer Ruhe, die an Unverschämtheit grenzte. Unter ihnen erstreckten sich in endlosen Wäldern, Bergketten und Tälern die Westlande. Geographisch begann auf halber Strecke zwischen Biwa-See und Zentralebenen der Osten Japans. Doch die Gebietsbezeichnungen der Dämonen richteten sich nach den aktuellen Besatzern und nicht nach der Himmelsrichtung. Das Reich der Inu hatte zwar in Echizen begonnen, am westlichen Rand Zentraljapans, ragte heute jedoch weit in den geographischen Osten hinein. Dennoch war dieses Gebiet ‘der Westen’. So wie auch das heutige Reich der Füchse 'Westen' werden mochte, wenn sie nicht demnächst von untoten Schuppenbestien überrannt wurden oder sich wie durch ein Wunder beider Schicksalen erwehrten. Kartographie war eine jener Lektionen gewesen, die Kōhei Minoru nicht hätte beibringen müssen – vom Dürfen ganz zu schweigen. Es war ein schmaler Grat unter Masukos missbilligender Aufmerksamkeit gewesen, den Kōhei nur um Minorus Willen gewandert war. Hätte sich der Zorn dieser Hündin nur gegen ihn selbst gerichtet, hätte er auf ihre Meinung gepfiffen und die Unterweisungen des Jungen nach Belieben vorgenommen. Natürlich mit Rücksichtnahme auf die Anordnungen seines Fürsten, aber ganz sicher nicht im Einklang mit dieser pikierten Schreckschraube. Hätte sie doch toben und wüten sollen und mit allem werfen, wonach ihr der Sinn stand. Doch sie hätte all die Frustration unweigerlich an Minoru ausgelassen. Also lieber Kartographie, Arithmetik, Literatur, Allgemeinbildung. So verschult wie nötig, so unverfänglich wie möglich. Jeder Gedanke an Minoru versetzte ihm einen Stich, wie bereits bei der Besprechung der Route am Vorabend, als er die Karten für Shippō aufgezeichnet hatte. Kōhei zwang sich mühsam, die Vergangenheit ruhen zu lassen und seine Aufmerksamkeit auf das Land unter ihnen zu richten. Shippō flog ihnen als Späher voraus. Bisher gab es keinerlei Anzeichen größerer Truppenbewegungen. Die Bergketten waren sonnenbeschienen, die Täler dünn mit Menschen besiedelt und was die Wälder anging, waren sie wie andernorts auch: Dicht bewachsen und undurchdringlich, voller Getier und dem Yōki niederer Dämonen - viele Marschstunden unwegsamer und unwirtlicher Wildnis, die den Vorstoß ihrer Armeen verzögern würden. Doch immerhin war das Gelände ruhig. Die Aufmerksamkeit des Westens schien sich gänzlich auf die Frontlinien zu konzentrieren. Und warum auch nicht? Die Drachen hatten den Fürstensitz schon vor Jahren niedergebrannt. Die Demütigung hatte also längst stattgefunden – und mehr war es auch nicht gewesen: Wer glaubte, Sesshōmaru würde dem Schutz seines Palastes nachtrauern, kannte die Hunde nicht. Sie waren erst vor wenigen Jahrtausenden sesshaft geworden und gaben im Ernstfall ebenso wenig auf Festungsmauern wie auf Bodenverlust. Von einem Moment auf den nächsten wurden sie zu einem heimatlos vagabundierenden Schlachtenverbund; einer Meute, die kämpfte, wo sie stand und berüchtigt dafür war, Feinde zu hetzen und zu stellen. Wer glaubte, auf das Vakuum, das sie während solcher Hetzjagden hinterließen, Anspruch erheben zu können, glaubte vermutlich bei Ebbe auch, dem Meer Land abgewonnen zu haben. Strategisch waren sie damit für jeden Gegner ein Albtraum. Kōhei wäre ein Narr gewesen, wäre er der augenscheinlichen Stille nicht mit Misstrauen begegnet. Auch in friedlicheren Zeiten tat man gut daran, den Westen zu meiden und nun, da die Hunde in die Enge getrieben worden waren und Sesshōmaru persönliche Gründe hatte, seinen Kopf von den Schultern zu lösen, behagte es ihm erst recht nicht. Als sie auf den Chikuma stießen, der sich nahe seines Quellgebietes durch ein besiedeltes Tal schlängelte, folgte Kōhei dem Fluss stromaufwärts und überquerte die angrenzenden Gebirgszüge am Ende des Tals, bis auch der letzte Bergrücken überflogen war. Noch vor wenigen Jahrhunderten hatte der Anblick der weitläufigen Ebene Kōhei in Erstaunen versetzt. Von einen Moment zum nächsten endete das bewaldete Gebirge. Bis in weite Ferne erstreckten sich Dörfer und Felder, Wälder und Wiesen auf einem Boden, so glatt wie ein ruhiger See. Menschen, Vieh und Lärm füllten Straßen, die wie ein Wirrwarr aus Flüssen in alle Richtungen führten und am Horizont verliefen die Farben des Himmels weich ineinander. Der abrupte Übergang von Gebirge zu Ebenen war stets beeindruckend, aber heute überwog die Erleichterung, den Westen unbeschadet verlassen zu haben. Eine Erleichterung, die kaum mehr als eine halbe Stunde andauerte, als sie Shippō einholten. Der Junge stand auf einem Feldweg, umringt von einer Traube aus Personen und winkte so euphorisch in den Himmel, dass Kōhei prompt übel wurde. „Sensei! Saburō-sama! Hier drüben!“ Der Spatz in Kōheis Klauen erwachte und plusterte sich zu einer Kugel auf, aus deren Schnabel ein todbringendes Fauchen drang. Noch vor Abflug hatte Kōhei abgewogen, ob es klüger war, Shippō darin einzuweihen, dass Saburōs Abwesenheit am Hof nicht publik werden durfte - nun bereute er, sich dagegen entschieden zu haben. Der Junge war ein vielversprechendes Talent, aber in Sachen Diskretion und höfischen Grundlagen zu unbedarft. Ein Manko, welches auszumerzen mehr Zeit oder eine härtere Erziehung erfordert hätte. Von Letzteren hielt er wenig, aber wie es schien, würde Shippō nun unweigerlich mit den Konsequenzen seines Handelns konfrontiert werden. Kōhei hatte Saburō ausreichend in der Hand, um seinen Schüler zu schützen, aber dessen Freunde - denn genau das waren sie offensichtlich - würde er nicht retten können, wenn das hier schief ging. Würde und wollte nicht. Der Adler landete in einem Sturm smaragdgrüner Flammen, aus denen Kōhei mit ausdrucksloser Miene hervortrat. Ehe er den Spatz greifen und zwischen die Stofflagen schieben konnte, mischte sich bernsteinfarbenes Feuer unter seines, als Saburō neben ihm Form annahm. „Kōtaishi, seid Ihr sicher-“ „Zwecklos. Sie haben eine Miko.“ Das stimmte. Die dunkelhaarige Menschenfrau mit den ungewöhnlich blauen Augen bedachte sie mit einem Lächeln, das keiner von ihnen erwiderte. Natürlich wäre es für sie alle besser gewesen, wenn Saburō als Spatz, Maus oder gottverdammte Spinne in Kōheis Kimono verschwunden wäre, doch Shippō hatte seine Anwesenheit in die Welt hinausgeschrien und spätestens die Miko hätte die Aura des Erben bemerkt. Es war jedoch nicht die Priesterin, die Kōheis Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern das Mädchen an ihrer Seite und der Mann, der sich vor sie schob. Es waren Han’yō und beiden haftete eine Aura an, die Kōhei vage bekannt vorkam. Verwaschen, wie der Geruch von Wasser im Schlamm schwindet, aber dennoch vorhanden. Er kam nur nicht darauf, in welchem Zusammenhang er diese Aura setzen sollte. „Guten Tag“, grüßte die Frau und lächelte auch dann noch, als Kōhei den Blick zu Shippō wandte. Der stolperte nun endlich über die fehlende Wärme im Ausdruck seines Lehrers und suchte sich zu erklären: „Das sind meine Freunde. Kagome, Inuyasha und ihre Tochter Honoka. Sie sind auch auf dem Weg zur Front. Ihr alle, das ist Katō no Kōhei, General des südlichen Heeres und mein Lehrer, und das ist -“ „Shippō“, unterbrach ihn Kōhei, ehe er sich noch herausnahm, Saburō vorzustellen. „Was soll das?“ Betreten zog der den Fuß über den Boden. „Ich habe sie zufällig gesehen und da wir nun aus dem Westen raus sind, dachte ich, wäre es in Ordnung, anzuhalten.“ „Was soll das heißen ‘aus dem Westen raus’?“, fuhr der Han’yō auf und legte eine Hand an sein Katana. Kōhei begutachtete ihn ausgiebig. Auf den ersten Blick war er der einzig wehrhafte Gegner. Sein Temperament war scheußlich, aber immerhin war damit keine Hinterlist zu erwarten. Das Mädchen schien ebenso unbedarft wie Shippō und was die Mutter anging, sorgte er sich wenig. Eine Priesterin konnte Dämonen übel zusetzen, aber bei Kitsune war die Linie zwischen Kami und Yōkai verwaschener als bei anderen Dämonen und sie wirkte zu freundlich, um im Ernstfall schnell genug zu handeln. Kein Wunder, dass Shippō in dieser Gesellschaft etwas weltfremd geraten war. Als niemand antwortete, verbreiterte der Halbdämon seinen Stand und zog sein Schwert ein Stück aus der Scheide. „Arbeitet ihr mit den verfluchten Echsen zusammen oder warum schleicht ihr durch den Westen?“ Die Klinge war alt, schartig und verrostet, aber die Art wie er mit diesem Stück Altmetall eine Drohung hervorbrachte, ließ erahnen, dass mehr dahinter steckte. Wäre Saburō nicht derart angeschlagen gewesen, hätte Kōhei sich nicht die Mühe gemacht, auf diese Possen zu reagieren. So aber verlagerte er das Gewicht, hielt aber inne, als die Aura des Erben auf seiner Haut tanzte. Angeschlagen oder nicht - eine falsche Bewegung des Halbdämons und Saburō würde sie in Fetzen reißen. Es war jedoch Shippō, der zischte: „Natürlich nicht! Trotzdem können wir nicht einfach durch den Westen spazieren! Es gibt politische Spannungen. Grenzen. Wie oft soll ich dir das noch erklären?“ „’Politische Spannungen’, so ein Blödsinn! Was soll Sesshōmaru machen? Jemanden den Kopf abschlagen, weil er ungefragt an seinen Baum pisst? Als würde der noch Gründe brauchen, um unausstehlich zu sein.“ „Inuyasha!“ Die Priesterin sah ihn vorwurfsvoll an. Das kümmerte ihn jedoch wenig. „Und dann noch dieses Gerede, dass Shippō nicht mehr mit uns kommen kann, weil er irgendeinen politischen Schwachsinn auslöst! Sesshōmaru kennt ihn, auch wenn er immer so tun wird als ob nicht, und darüber hinaus kümmert ihn die kleine Made auch gar nicht.“ „Hey!“ Der Junge sah aus, als wolle er gleichzeitig vor Scham im Boden versinken und dem Halbdämonen an den Kragen gehen. Er tat jedoch nichts dergleichen und schrumpfte auf die Größe eines Käfers zusammen, sobald Saburō sich ihm mit aufgesetzter Freundlichkeit widmete: „Ich wusste gar nicht, dass du den Inu no Taishō persönlich kennst.“ „Ja“, sagte Kōhei. „Wie überaus spannend.“ Mit Genugtuung stellte er fest, dass der Junge sich noch mehr winden konnte. Wie gern hätte er ihn in diesem Moment geschüttelt, bis die Zähne unkontrollierbar aufeinander schlugen. Sein Unwohlsein war nichts im Vergleich zu dem Standgericht, das Saburō mit ihnen beiden abhalten würde. „’Kennen’ ist übertrieben“, verteidigte sich Shippō kleinlaut. „Vielleicht weiß er mich einzuordnen, aber meinen Namen kennt er sicher nicht. Außer mit Inuyasha redet er mit keinem von uns. Und selbst das ist eher… ich weiß nicht, was das genau ist. Jedenfalls keine brüderliche Nähe.“ „Scheiße.“ Kōhei war selbst derart vor den Kopf gestoßen, dass er Saburōs Fluch beinahe überhört hätte. Auf einen Schlag wusste er, woher er diese verdammte Aura kannte. Der Geruch von Magnolien und stahlblaue Stoffe sickerten in seine Erinnerung. Tōgas strenge Miene, die im Beisein seiner Vertrauten auftaute. Das schallende Gelächter des Wolfes an seiner Seite. Erfolglose Zusammenkünfte - Veranstaltungen, nach denen Fürst Hayato die Verbrüderung zwischen Inu und Dosanko immer mehr ein Dorn im Auge gewesen war. Sie isolierte ihn. Schon damals. Tōgas Interventionen in landesweite Ausschreitungen hatten den südlichen Fürsten gereizt. Der ambitionierte Erbe im Schatten des beliebten Vaters Befürchtungen befeuert. Zwar hatte Sesshōmaru nach dem Tod seines Vater alle Allianzen verloren, doch was hatte das genutzt? „Ich kann Euch beruhigen“, lenkte Kōhei ein und legte jede Feindseligkeit ab. „Ich habe keine Übereinkunft mit den Drachen. Dennoch würde Euer Bruder eine Reise durch seine Ländereien nicht billigen. Seine Grenzverläufe lassen mir jedoch keine andere Wahl.“ „Spar dir den höfischen Mist, Fuchs. Er und ich haben nichts miteinander zu schaffen.“ „Nun reicht es aber wirklich!“ Seine Frau schob sich an ihm vorbei und verbeugte sich vor Kōhei und Saburō. „Entschuldigt meinen Mann. Wir freuen uns, Euch nach Shippōs vielen Erzählungen auch persönlich kennenzulernen zu dürfen. Auch wenn die Umstände derzeit sehr angespannt sind. Wir sind ebenfalls auf dem Weg zur Front, um unsere Hilfe anzubieten. Oder eher: Um sie ungefragt einzubringen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits“, erwiderte Kōhei und nutzte seine ausschweifende Übung, Abneigung herunterzuschlucken, um ein Lächeln zu erwidern. Hier waren sie also: Am Rande des Untergangs, konfrontiert mit der anderen Hälfte von Tōgas Nachkommenschaft, die zu töten ihnen den Hals brechen würde. Zu so viel Pech gehörte beinahe Talent. Über die letzten Stunden hatte sich Kōhei mit Saburō von Shippōs skurriler Familie Stück um Stück zurückfallen lassen, um nicht der Heimlichtuerei angeklagt zu werden. Der Köter traute ihnen nicht. Das Misstrauen gründete zwar allein in seinem Charakter, doch Kōhei wollte ihm keinen Anlass geben, ihnen persönlich abgeneigt zu sein. Zwar wäre auch eine Erläuterung der politischen Ränke sehr wahrscheinlich an seiner mauerdicken Ignoranz abgeprallt, aber warum das Risiko eingehen und es darauf ankommen lassen? Wenn die verrostete Waffe Tessaiga sein sollte, war ein Kampf nicht wünschenswert. Nicht, wenn er Shippō und Saburō heil aus der Situation bringen wollte. Deswegen hatte er gute Miene zum bösen Spiel gemacht und sich von der Priesterin in Gespräche verwickeln lassen. Sie und die Tochter waren gegenüber Fremden erschreckend zugänglich - wobei sie offenbar der Meinung waren, seine Verbindung zu Shippō mache Kōhei automatisch zu einem Freund der Familie. Erst als der Wind gegen Abend drehte und ihnen den Geruch der vorangehenden Gruppe unmittelbar ins Gesicht trieb, ergriff Saburō das Wort: „Können wir nochmal darüber sprechen, wie vertrauenswürdig dieser Junge ist? Und lügt mich nicht an, dass Ihr auch nur einen Schimmer von seinen Beziehungen hattet. Er ist Euch näher als all die anderen. Wie konnte Euch das entgehen?“ Kōhei biss die Zähne zusammen. „Das war ein Fehler. Zugegeben.“ „Ich will Euer zart gewachsenes Vertrauen in mich nicht im Nebel ersäufen, deswegen ganz offen: Das hier wirft Zweifel an seiner Loyalität und Diskretion auf, die ich mir nicht erlauben kann.“ Kōhei zog die Stirn kraus und sah Shippō nach, der mit dem Halbdämonen in einen Streit verwickelt war, der eher an spielende Kinder erinnerte. „Habt Dank für die Ehrlichkeit. Aber auch ich will Euch an unser vorangegangenes Gespräch erinnern. Shippō ist meine Verantwortung.“ „Ich schätze Euch. Sehr sogar. Ihr seid einer der fähigsten Männer, die mir je untergekommen sind und ich weiß, wie skrupellos Ihr mit Menschen und Feinden verfahrt. Aber ich sehe Euch nicht in der Lage, nach dem notwendigen Schlüssen zu handeln. Das ist Euer Manko, Kōhei. Euer Zwist zwischen Notwendigkeit und Gefühl. Ein Manko, das Euch im Allgemeinen mein Ansehen einbringt. In diesem Fall könnte Eure Zuneigung aber mein Untergang sein.“ „Diese Waffe ist im Kampf sicher nicht so rostig wie sie gerade vorgibt. Selbst wenn die Konsequenzen ihres Todes nicht unkalkulierbare wären, kann ich nicht garantieren, Euch in diesem Zustand-.“ „Ich rede nicht von diesem verwässerten Seitenarm der westlichen Monarchie, sondern von Eurem Schüler.“ Kōhei blieb stehen und wandte sich zu Saburō. „Ihr solltet Inari jeden Tag danken, dass ich bin wie ich bin. Sonst hättet Ihr nun nicht einmal die Chance, um Shippōs Loyalität zu bangen, sondern würdet längst auf irgendeinem Spieß verrotten.“ „Dessen bin ich mir bewusst.“ „Dann haltet Euch zurück!“ Saburō zuckte angesichts des harschen Tonfalls nicht einmal mit der Wimper. „Und reißt Euch zusammen! Gereizte Ausbrüche und Flüche! Von Euren Eigenheiten war mir Kalkül bislang eine der lieberen. Dass Ihr das nun vergesst, ist ein Umstand, an den ich mich nicht gewöhnen will!“ Die Augen des Silberfuchses hefteten sich auf ihn. Einige Sekunden sahen sie einander an, ehe Kōhei sich abwandte. Saburōs Gebarden und Worte waren seinem Vater so unähnlich wie es nur möglich war und doch waren da diese tiefen Seen glühenden Bernsteins, die Kōhei Schauer über den Rücken jagten und ihm in Erinnerung riefen, wer und was ihm gegenüberstand. „Verzeiht“, murmelte er. „Diese Reise, die Ungewissheit und all diese Zwischenfälle – ich vergesse mich.“ „Begraben wir diesen Selbstbetrug. Höfisches Benehmen ist ein guter Schild, aber im Ernstfall sind es doch nur Worte und wir sind beide über den Punkt hinweg, wo Worte uns vor dem anderen schützen.“ Saburō sah der Gruppe nach. „Der Junge bleibt. Ich kann ihn nicht töten und sehe keinen Gewinn darin, ihn fortzuschicken. Im Gegenteil. Er weiß zu viel und wie du richtig erkannt hast, ist das meinem mangelnden Kalkül geschuldet.“ Kōhei schauderte bei der distanzlosen Wortwahl. Die Annäherung behagte ihm nicht, auch wenn sie nur das widerspiegelte, was längst geschehen war. „Wir sollten bald einen guten Vorwand finden, und zu verabschieden, ohne dass Fragen aufkommen. Sesshōmarus Bruder ist ignorant genug, um nicht zu bemerken, wer Ihr seid.“ „Und wenn du dir abgewöhnen kannst, mich so herrschaftlich zu behandeln, bleibt er vielleicht auch blind. Wem sonst sollte der höchste General des Südens Respekt entgegenbringen, wenn nicht der Familie seines verfluchten Fürsten? Falls du es nicht bemerkt hast: Ich überlasse dir bereits das Reden.“ Kōhei knirschte mit den Zähnen. Ihm war schon aufgefallen, dass Saburō schwieg, um den Untergebenen zu markieren. „Einverstanden.“ „Du kannst dir einreden, dass du es nur der Tarnung wegen tust. Vielleicht beruhigt das deinen Schlaf, wenn du meine bisherigen Angebote schon so rüde ausschlägst.“ „Angebote?“, Kōhei schnaubte. „Auch das sind nur Worte. Gesellschaftlichen Stand kann man nicht nach Belieben ablegen. Wir werden dadurch nicht gleich und sollten es auch nicht sein.“ „Solche Weisheit kann nur von meinem Vater stammen.“ „Er regiert damit bislang ganz gut.“ „Er regiert. Von gut kann keine Rede sein. Außerdem hat er seinem Vetter wohl nicht erst aufgewartet, ehe er ihn in Stücke gehackt und den Süden an sich gerissen hat, oder? Fürst Hayato ist der Emporkömmling einer Seitenlinie, dessen Fehlentscheidungen und Grausamkeit aus seiner eigenen Unsicherheit hervorgehen. Wäre er so selbstbewusst wie er gern tut, hätte er all das nicht nötig.“ Als Kōhei etwas erwidern wollte, unterbrach ihn Saburō und nickte zu den anderen hinüber. Shippō hatte sich mit der Tochter zurückfallen lassen und ging nun zwischen ihnen und ihren Eltern. Ihm musste bewusst sein, dass der Wind die Worte somit immer noch zu Kōhei und dem Erben hinübertrug - zumindest wenn er Kōhei irgendwann einmal zugehört hatte. Doch seinen Blicken nach zu urteilen, ging es in erster Linie darum, ihre Eltern aus dem Gespräch herauszuhalten. „Hat dein Vater Kaito erwähnt, nachdem ich weg war?“ Sie wirkte irritiert. „Ja, wie kommst du darauf?“ „Ich dachte mir schon, dass er, wenn überhaupt, nur mit euch darüber redet. Geht es ihm gut?“ „Das weiß ich nicht. Papa ist nicht mehr so wütend auf ihn wie sonst. Ich hoffe, ihm ist nichts passiert.“ „Bestimmt nicht.“ „Ich weiß, es ist unwahrscheinlich, aber ich hoffe, dass wir ihn treffen und es ihm gut geht. Wenn du ihn siehst, pass bitte auf ihn auf… und sag ihm, dass er uns fehlt.“ „Er wird mir ein Ohr abbeißen, wenn ich auch nur andeute, dass er Hilfe braucht.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Vermutlich. Aber dann wissen wir, dass es ihm gut geht.“ Die Art, wie er die Arme verschränkte, ein Seufzen unterdrückte - es war absonderlich, ihn mit diesem Mädchen sprechen zu sehen. Viel erwachsener als er üblicherweise in Kōheis Nähe auftrat. In der Armee wirkte er entgegen all seiner Begabungen unsicherer als nötig, beschwichtigte mit Lächeln und Späßen, wo Zähne und Klauen angebracht gewesen wären und erschien so deutlich jünger als er eigentlich war. Ihr gegenüber wirkte er autoritärer. Mehr wie ein älterer Bruder. „Mach dir keine Sorgen um ihn. Kaito ist zäh und zu schlau, um sich in eine missliche Lage zu bringen.“ „Ist er. Aber er ist auch allein dort draußen. Er war nicht im Heerlager bei den Inu. Das zumindest habe ich rausgehört. Er hat keine Verbündeten, Shippō. Wenn er verletzt wird, ist er auf sich gestellt.“ „Wenn ich ihn sehe, versuche ich mit ihm zu reden. Versprochen.“ Sie senkte die Stimme und warf einen kurzen Blick zurück, wo zwei Füchse so taten, als hörten sie nicht jedes Wort. „Warum wollt ihr jetzt plötzlich doch zur Front? Ich dachte, der Süden sei neutral.“ Kōhei verspannte sich bei den Worten und hoffte inständig, dass Shippō nicht wirklich so närrisch war, wie er sich in den vergangenen Tagen gebärdet hatte. „Ich bin nur Soldat, Honoka. Ich erfahre längst nicht alles, auch wenn ich mit dem General reise. Das ist auch nicht nötig. Die Optionen sind doch wohl für jeden offensichtlich. Es geht bei diesem Krieg nicht um Landesgrenzen. Wir müssen diese Drachen loswerden.“ „Das weißt du oder das glaubst du?“ „Da gibt es doch nicht wirklich zwei Seiten, die man diskutieren müsste. Zugegeben: Ich hatte meine Sorgen, dass wir tatsächlich die Hände in den Schoß legen, um es uns mit niemandem zu verscherzen. Aber wir haben über Jahre aufgerüstet und nun, wo sich die Fronten verdichten, sind wir hier. Kōhei-sama würde nie untätig bleiben, wenn er den Ausgang zum Besseren wenden könnte. Er ist die Integrität in Person und viel zu umsichtig. Wenn er Schaden von uns abwenden kann, dann tut er das.“ Kōhei spürte, wie jedes einzelne Wort sich einer tonnenschweren Last gleich auf seine Schultern legte und von dort quälend langsam auf sein Gewissen herabsackte. Den durchdringenden Blick Saburōs, der auf seinem ohnehin glühenden Gesicht brannte, hätte er nicht gebraucht. „Kein Wort“, raunte er, aber es kam heiserer als beabsichtigt. „Oh, keine Sorge. Du brauchst mich nicht, um daran zu ersticken.“ Wie recht der Bastard hatte. Dieser dumme, leichtgläubige, blind loyale - „Eins noch…“, Shippō sah nach vorn, um sich zu vergewissern, dass die Eltern des Mädchens sie nicht beachteten, bevor er fortfuhr. „Wie geht es Shinju?“ „Erstaunlich gut. Sie hat noch Schwierigkeiten, sich wieder im Dorf einzufinden. Aber Ryouichi-sama hat Wort gehalten und sie gut behandelt.“ „Das ist wohl das Mindeste, nachdem er ein unbeteiligtes Kind seinen Eltern entrissen hat.“ „Stimmt. Trotzdem wusste niemand, wie es ihr ergehen würde. Als Mensch unter Inu. Aber das hat Ryouichi-sama sie wohl nicht spüren lassen. Er war auch zu uns freundlich, als wir dort waren.“ „Sango und Miroku sind trotzdem nicht mitgekommen.“ „Sie wollten das Dorf nicht schutzlos zurücklassen und bei Shinju bleiben. Yayoi ist auch bei ihnen. Das sind genug Gründe, zurückzubleiben, ohne die Wahrheit auszusprechen, dass sie mit den Inu nichts zu tun haben wollen. Kohaku und Bosatsu sind auch nach Hause gekommen. Für den Fall der Fälle.“ Shippō atmete auf. „Also kein böses Blut? “ „Nein. Sonst wäre Yayoi kaum bei ihnen. Sango und Mama sind zu gut befreundet, um sich wegen etwas zu zerstreiten, auf das beide keinen Einfluss hatten. Schließlich ist Sango selbst von der Einstellung ihrer Töchter schockiert und Mama konnte nichts für Shinjus Entführung. Trotzdem ist es nun nochmal entspannter geworden… ich hoffe, dass sich damit alles wieder zum Guten wendet. Auch mit meinem Onkel. Nun wo Minoru heil zurück ist, hat er schließlich keinen Grund mehr, das Dorf zu bedrohen, oder?“ Kōhei spürte, wie die Hitze mit einem Schlag aus seinen Wangen wich. Als hätte ihm jemand einen Dolch mitten in die Brust getrieben, war jeder Atemzug ein kalter Schmerz, der durch seine Lungen fuhr und jemand anderem zu gehören schien. Es war Saburōs Hand, die ihn zurück in die Wirklichkeit holte. Die sich so lange um seinen Arm schloss, bis der Schmerz den Knochen erreichte. „Beruhige dich“, flüsterte der Silberfuchs mit gesenkter Stimme. „Er lebt.“ „Er lebt“, bestätigte Kōhei rauh. Das waren gute Nachrichten. Die ersten seit Langem. „He!“, schallte es von vorn, als Inuyasha sich umwandte. „Geh gefälligst vorn, wo ich dich sehen kann und lass die Griffel von meiner Tochter!“ „Papa!“ Das Mädchen rief puterrot an und Shippōs Fluchen nach zu urteilen, fühlte er sich nicht nur bloßgestellt, sondern gleichermaßen ungerecht behandelt. Kōhei hörte, wie Saburō neben ihm tief einatmete. „Sie sind lauter als unsere ganze Armee.“ „Übersteigertes Selbstbewusstsein ist selten leise.“ Auch die Priesterin massierte angestrengt ihre Schläfen, bevor sie den Nachzüglern entgegenging. „Vielleicht sollten wir hier rasten. Es wird bald dunkel und die nächste Stadt ist noch ein Stück entfernt. Ich habe genug Proviant für uns alle dabei. Ihr seid herzlich eingeladen, zu bleiben.“ Kōhei schickte seinen Dank ins Nichts. „Das ist ein sehr freundliches Angebot, aber wir müssen es leider ausschlagen. Dieser Fußweg war eine angenehme Abwechselung, aber ich fürchte, wir müssen in die Nacht reisen, um an unserem Lagerplatz anzukommen. Wir würden uns dann an dieser Stelle verabschieden.“ „Dann nehmt wenigstens etwas zum Essen mit, wenn wir Euch schon aufgehalten haben“, insistierte sie und nahm eine Tasche von ihrem Rücken, in der sie wild zu kramen begann. Es war ein sonderbares Ding, wie Kōhei es noch nie gesehen hatte und allmählich verstand er, dass all die sonderbaren Sachen, die Shippō erwähnt hatte, mit ihr zu tun hatten. Drahtesel. Suppen zum Aufbrühen. Süßigkeiten. Sie war schlau genug, den älteren Kitsune nichts aufzuzwingen, das sie ohnehin abgewiesen hätten und drückte stattdessen Shippō ein Büdel in die Hand, dessen Inhalt mit Sicherheit für alle ausreichte. Unerwartet berechnend von einer einfachen Menschenfrau. Dann verneigte sie sich vor Kōhei und der Höflichkeit wegen auch vor Saburō - nur um dann mit einem herzlichen Lächeln zu winken. „Es war uns eine Freude. Wenn Ihr mögt, kommt uns doch einmal besuchen. In schöneren Zeiten als diesen.“ Absonderlich. Dämonen in ein Dorf voller Menschen einzuladen. Fremde noch dazu. Übersteigertes Selbstbewusstsein in seiner Vollkommenheit. Allerdings konnte sich Kōhei nicht des Gedankens erwägen, dass selbst das eine willkommene Abwechslung zur derzeitigen Situation darstellen würde. Nicht, dass er Menschen neuerdings hätte leiden können. Wenn man von der eigenen Erheiterung absah, taugten sie zu wenig. Aber davon hätte er dringlichst etwas brauchen können. ☾ „Steh auf.“ Minoru betrachtete die Klinge, die wenige Zentimeter vor seinem Gesicht das Mondlicht reflektierte, und wandte sich wieder dem Feuer zu. Yōki wallte auf, peitschte die Flammen über den bratenden Hasen und Asche in sein Gesicht. Kalte Entschlossenheit, von der üblichen Cholerik keine Spur. „Steh auf.“ Seufzend hob er den Blick zu Kaito. „Was soll das?“ „Dasselbe könnte ich dich fragen. Sitzt hier wie ein selbstmitleidiges Häufchen Elend.“ Mit dem Handrücken schob Minoru das Schwert vor seiner Nase weg. Unbeirrt richtete Kaito die Waffe wieder auf ihn. Minoru runzelte die Stirn. „Manch einer würde das eine Beleidigung nennen.“ „Dann wehr’ dich.“ „Worum geht es hier? Den Streit eben? Gekränkten Stolz? Das ist lächerlich.“ Kaito zischte leise und schloss die Hand würgend um Shiokiris Griff. „Lächerlich ist nur dein fehlender Biss! Zum Mitschreiben: Myōga ist tot. Er war steinalt. Es ist nicht deine Schuld.“ Es war gnädig von Kaito, sich auf diesen Aspekt des Tages zu beschränken und nicht gleichermaßen seine familiäre Situation oder irgendeine andere Thematik mit der Kälte zu rationalisieren, die ihr zustand. Denn recht hatte er allemal: Weder war der Tod des Flohs seine Verfehlung noch war nun die Zeit, anderen Gedanken nachzuhängen. Sie hatten dringlichere, weltlichere Schlachten vor sich als jene, die im Geiste stattfanden oder sich in ferner Zukunft im Süden anbahnen könnten. Wenn sie die Drachen nicht überstanden, war auch die Zukunftsmusik verklungen und jeder emotionale Konflikt pure Zeitverschwendung. Dennoch ging Minoru die Tatsache nicht aus dem Kopf, dass Kōhei nicht irgendein bedeutungsloser Fußsoldat mit zweifelhaftem Frauengeschmack war. Er hatte angenommen, den Kitsune für seine Untätigkeit schon ausreichend zu verachten; zu hassen gar. Warum aber fühlte er sich dann, als habe man ihm einen Dolch in die Rippen gejagt? „Ich habe keinen Bedarf an Aufmunterung. Lass mich zufrieden.“ „Du hast Bedarf an vielem, Vetter. Andere werden sterben. Jüngere, Unbeteiligte, Fremde. Durch Eigenverschulden, dummen Zufall oder deine Fehler. Gewöhn’ dich also daran.“ Zweifelnd betrachtete Minoru sein Gegenüber. Man hätte annehmen sollen, dass Kaito zu dieser Sache schwieg, nachdem er zuvor noch an der Existenz dämonischer Gefühle im Allgemeinen gezweifelt hatte. „Habe ich was verpasst? Warst du nicht derjenige, der Distanz mit Arroganz gleichsetzt und eben noch der Meinung war, etwas weniger Kälte habe die Meinung des Schmieds geändert? Was willst du jetzt von mir?“ „Etwas weniger Kälte - kein Zusammenbruch deiner gesamten Haltung, verdammt. Erbärmlich, dass du dich von Tōtōsai so leicht manipulieren lässt, obwohl er er sich einmal Mühe gibt. Sein ganzes Getue heute morgen und die Gesprächsführung von eben. Du warst praktisch Butter in seinen Händen. Was ist bloß falsch mit dir?“ „Wenn ich das richtig sehe, hat er nicht nur mich ausgespielt.“ Kaitos Haltung entspannte sich. Er ließ die Waffe sinken. „Nun, immerhin ist es dir nicht entgangen.“ „Kaum. Aber er hat lange Loyalität bewiesen und ist eng mit der Familie verbunden. Außerdem hat er tot keinen Nutzen. Das alles weiß er selbst. Was hätte ich also tun sollen? Ihm weiter leere Drohungen an den Kopf werfen?“ Wie viel Wahrheit an den Behauptungen des Schmieds war, blieb unklar. Vielleicht brauchte er die Informationen für Tenseiga, vielleicht auch nicht. Ein großer Teil seiner Darbietung war sicherlich Neugier und das Ausspielen der Macht gewesen, die die Situation ihm verlieh. Fest stand jedoch, dass er Kaito nicht grundlos angewiesen hatte, zu bleiben und Minorus Geschichte zu hören. Minoru biss die Zähne zusammen und bereute es sofort, als die Wunde des gezogenen Reißzahnes ein Schmerzgewitter durch seinen Kopf jagte. Dass der Han’yō nun derart viel wusste und gegen ihn verwenden konnte, behagte ihm gar nicht. Ein paar Vorurteile beseitigt und ein ganzes, emotionales Waffenarsenal ausgehändigt - schlechter Tausch. Andererseits war da kein Spott in Kaitos Anklage. Zumindest noch nicht. Minoru nahm den Hasen vom Feuer, riss ihn entzwei und hielt Kaito beiläufig eine Hälfte hin. Nicht besonders höflich, aber daran würde er kaum Anstoß nehmen. Der beäugte ihn skeptisch, dann ließ er Shiokiri in die Scheide gleiten und zog Minoru mürrisch die Mahlzeit aus der Hand. Unwirsch nahm er in dier Asche Platz. „Stört es dich nicht, dich vor ihm derart nackt zu machen?“ „Ich hasse es. Aber irgendwie habe ich ein Talent, mich fortwährend für alles rechtfertigen zu müssen.“ „Du solltest dringend damit aufhören.“ „So wie jetzt?“ „Das ist was anderes.“ „Wenn du das sagst.“ Sie schwiegen. Kaito riss das Fleisch mit den Zähnen herunter. Der Hase war vom Sommer fett und mit Kräutern gefüllt. Nachdenklich zog er Shiso-Blätter und wilde Petersilie von dem Fleisch, schob sie in den Mund und hob anerkennend die Brauen. Den erneuten Kommentar über Botanik verkniff er sich. „Ist was dran an diesen Wächterkram?“ Minoru zuckte mit den Achseln. „Mein Lehrer für Geschichte hat nichts dergleichen gesagt, aber der war auch kein Inu. Myōga hat in unserem letzten Gespräch eine Totenwache erwähnt, wegen der die Familie meiner Mutter früher sesshaft geworden ist als die anderen.“ „Die zweitgrößte Streitmacht, eine Totenwache und einen Phönix zum Wappen? Die Drohung ist verdammt offensichtlich.“ Es dauerte einen Moment, bis Minoru die Bausteine geordnet hatte. Totenwache über einen Inugami und ein Zeichen der Wiedergeburt deuteten gewiss die Möglichkeit an, dieses Unheil erneut in die Welt zu rufen. Die Soldaten jedoch - er schüttelte den Kopf. „Eine untätige Streitmacht. Das passt nicht ins Bild.“ „Bitte was?“ „Wäre Tenseigas Reparatur gescheitert, hätte ich nach Echizen reisen und meinen Onkel dazu bewegen sollen, seine Truppen zu entsenden. Er war im Heerlager bei einer Besprechung mit Ryouichi und weigert sich standhaft, sein Heer zu mobilisieren. Sie haben darüber gestritten, dass die Truppen seit Jahrtausenden zur Verteidigung Echizens dienen und nichts sonst. Die sind jedenfalls keine Drohung.“ „Ziemlich lebensmüde, wenn dein Vater davon erfährt. Das heißt, das wäre es… .“ „Wenn Osamu einfach stur wäre. Was aber, wenn er mit seiner Weigerung im Recht ist? Ryouichi hat in Abwesenheit meines Vaters die Inu geführt. Er würde Ungehorsam nicht hinnehmen und seine Hoffnung abermals in Tenseiga setzen, wenn er Osamu einfach den Kopf abschlagen könnte. Sie lassen also zähneknirschend einen Großteil der Truppen in Echizen. Trotz allem ist das kein Heer für den Angriff. Dann ist das keine Drohung. Eher ein Schutzwall.“ Kaito kaute schweigend auf einem Knochen herum. Schließlich ließ er ihn zwischen den Reißzähnen bersten und schluckte die Splitter. „Nein. Ein verdammt gut bewachter Kerker - und Tōtōsai weiß das. Es war seine erste Sorge, als er erfahren hat, dass du aus dieser Linie stammst. Dass du diesen Inugami-“, er hielt inne und betrachtete Minoru finster. „Du warst es, der es ‘erwecken’ genannt hat.“ „Weil er genau das angedeutet hat: Dass ich etwas rezitieren gelernt habe, das gefährlich ist.“ „Und? Hast du?“ Minorus Gesichtsausdruck musste Kaito Antwort genug gewesen sein. Er ließ die Schultern sinken und atmete durch. „Gut. Also nicht. Trotzdem gefällt mir nicht, dass die Reise nach Echizen der Ersatzplan war." „Weil es nach letztem Ausweg riecht?“ „Woher soll ich das wissen? Du bist der mit Zugang zu Strategiebesprechungen.“ Mit einem matten Lächeln kugelte Minoru seiner Hasenhälfte die Hüfte aus. „Nein. Ich bin nur der Erbe. Soweit ich das bisher verstanden habe, besteht meine Pflicht darin, zu überleben und dabei eine gute Figur zu machen.“ „Eine gute Figur in der hintersten Reihe?“ Ein Muskel in Kaitos Mundwinkel zuckte. „Die wissen aber schon, dass ich kaum älter bin? Aber ich bin wohl nicht wichtig genug.“ Sein Lächeln wurde bitter. Nicht wie früher, als er Bitterkeit mit Spott überzogen hatte, um sie leichter herunterzuwürgen. Auch sein Sarkasmus hatte die letzten Jahre nicht unbeschadet überstanden. Das war verständlich, wenn man bedachte, dass er zwar das Risiko der anderen in den Kämpfen teilte, jedoch nicht den Respekt. „Dem Generalleutnant ist deine Beteiligung nicht entgangen. Allerdings würde er wohl auch sagen, dass dieses Risiko deine Entscheidung ist - eine Freiheit, die er mir nie zugesteht.“ „Ryouichi? Der ist auch etwas überempfindlich, wenn es um deine Sicherheit geht“, bemerkte Kaito trocken, dann plötzlich hielt er inne. Sein Blick wanderte über Minoru, ernst und gedankenverloren, schwang zur Seite und ruhte schließlich auf dem Feuer. „Stimmt etwas nicht?“ „Nein. Alles bestens.“ „Du bist ein miserabler Lügner.“ „Weiß ich.“ Schwerfällig raffte sich Kaito auf und legte eine Hand an Shiokiris Griff. „Macht aber nichts. Tote Gegner stellen keine Fragen. Deine Schwachpunkte machen mir da mehr Sorgen. Also beweg’ endlich deinen hochgeborenen Hintern und zieh den Stahl. Ich setzte keinen Fuß mit dir auf ein Schlachtfeld, wenn ich nicht weiß, wen ich im Kampf neben mir habe.“ „Wer sagt, dass das der Fall sein wird?“ „Das lässt sich nicht vermeiden. Du schuldest mir was für die Hilfe hier. Also wirst du mich mit zur Front nehmen. Auf A-Un. Das erspart mir unnötigen Marsch.“ „Gut.“ Wenn Kaito seine Schuldigkeit auf diese Weise einforderte, sollte es ihm recht sein. „Und damit du mir da nicht wegstirbst, ‘Kōtaishi’“, er zog Shiokiri mit einer Präzision, die vermuten ließ, dass er mit Schwertern dieser Länge ausreichend vertraut war, „zeigst du mir jetzt, wie schlecht du wirklich bist.“ Kaito brauchte nur wenige Minuten, um zu entscheiden, dass Minoru bei Weitem nicht so schlecht war, wie er sich darstellte. Seine Fußarbeit war tadellos, die Schläge kamen schnell und präzise und er ließ sich auch bei starker Bedrängnis nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Allerdings war er wenig intuitiv, seine Bewegungsabläufe mustergültig, makellos und damit vorhersehbar. Es wirkte wie ein einstudierter Tanz, in dem er eher reagierte als nach Führung zu streben. Stahl kratzte unmelodisch, als Shiokiris Parade an dem namenlosen Katana entlang glitt. „Für die gute Figur haben deine Tanzstunden schon mal geholfen“, bemerkte er schnippisch und sprang zurück, ehe Minoru ihm das Grinsen aus dem Gesicht schlagen konnte. Heißblütig konnte man ihn nicht gerade nennen. Seine Aura war für den Bruchteil einer Sekunde aufgeflackert - ein Gefühlsausbruch, den er gerade sicherlich verdammte - aber er blieb auf Abstand. Kalkulierte. „Bei der Sache mit dem Überleben bin ich mir aber nicht sicher. Du bist schrecklich durchschaubar. Und du nimmst mich nicht für voll.“ „Das ist nicht wahr.“ „Du kämpfst wie meine Schwester. Muss ich dir erst ins Gesicht spucken, damit du ernst machst?“ „Ernst? Das sind scharfe Waffen. Soll ich dir etwa den Kopf abschlagen?“ „Könntest du das denn?“ Minoru schnaubte. „Vermutlich nicht. Aber ich dachte, das hier sei eine Übung. Du brauchst den Versuch hoffentlich nicht, um zu wissen, dass ich mit Feinden anders verfahre.“ Kaitos Miene verlor an Glanz, als seine Erinnerung das Bild eines verendenden Mönchs Zutage förderte. Minoru mochte ihm im Schwertkampf unterlegen sein und jüngst durch Tōtōsais Spielchen und Myōgas Verlust verletzlich gewirkt haben, aber was das Töten anbelangte, war er nicht weniger hemmungslos als sein Vater. Das änderte jedoch nichts daran, dass er sich nun zurücknahm. Kaitos nächste Schlagserie ging unerbittlich nach vorn. Doch statt die Waffe zur Parade zu heben, ließ Minoru seine Angriffe ins Leere laufen. Er zog sein Katana erst nach einigen Ausfallschritten über eine Drehung, die ihn unter dem Schlag hinweg in Kaitos Nähe brachte - so nah, dass der zurückwich und Shiokiri senkrecht zur Parade führte, bevor Minorus Katana ihm der Hüfte bis zur Schulter aufschlitzen konnte. „Ha, das ist besser!“ Mit einem weiteren Hieb zwang er Minoru erneut auf Abstand. Wie erwartet war Shiokiris Länge ein Nachteil, wenn sein Gegner erst einmal zu nah an ihn herangekommen war. Für solche Momente gab es jedoch noch das deutlich kürzere Wakizashi oder seine Klauen. Bis dahin hatte er mit der großen Reichweite - wenn richtig ausgespielt - einen spürbaren Vorteil. Nun, es wurde Zeit, den Stahl über seine Erscheinung hinaus zu prüfen. Kaito lockerte das Handgelenk, spürte dem Gewicht der Waffe nach, der Balance. Dann verbreiterte er den Stand, hob das Schwert und schickte das Yōki über die Klinge. Die Lederbindungen des Griffs blieben kühl, als die Energie den Stahl durchsetze. Eine sanfte Vibration schwang durch die Waffe, sobald die Aura den Kernstahl erreichte, und schwappte einer Welle gleich über die gesamte Länge der Waffe und - Kaito griff um, als die fremde Aura auf ihn zuschoss. Der Geruch von Leder und kalten Winden kam in der schwefeligen Luft kaum durch. Sobald er die Witterung aufnahm, wusste er, dass es zu spät war. Er wollte gerade einen Fluch ausstoßen, als etwas Weißes an ihm vorbeipreschte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Minoru den Gegner im Sprung zu Boden riss. Ein Gewirr aus Braun und Weiß schlug in der Asche auf, wälzte über den Boden. Zähne schnappten aufeinander, fanden Pelz und Fleisch. So schnell wie es begonnen hatte, war es vorbei. Knurrend lag der Wolf am Boden, das braune Fell gesträubt, die grünen Augen wütend auf Kaito gerichtet. Minoru stand über ihm, hatte seine Kehle gepackt und presste ihn erbarmungslos in die Asche. Leises, drohendes Knurren des Hundes, ein Nachbeißen, gefolgt von einem Fiepen, dann wandte der Wolf den Blick von Kaito ab und entspannte sich. Minoru ließ von ihm ab, machte einen Satz zurück und landete in einem so fließenden Übergang auf zwei Beinen, dass Kaito nicht begreifen konnte, was er eigentlich gesehen hatte. Ein Schleier aus Weiß, der gleichermaßen Fell oder Kleidung hätte sein mögen. Der Übergang war viel zu schnell. Sein Vetter wischte sich über den Mund, leckte anschließend das Blut von seinem Handrücken und betrachtete den Wolf, den er mit Leichtigkeit hätte töten können. Den Kehlkopf zertrümmern, die Kehle herausreißen, das Genick brechen. Der Wolf war ihm in Sekundenbruchteilen ausgeliefert gewesen. So viel zum Thema „harmlos“. Brummend spuckte Wolf ein weißes Fellbüschel aus - das einzige, das er von Minoru zu fassen bekommen hatte - und wandelte sich zu Kaitos Überraschung zu einem jungen Mann. Kaum älter als sie, schlank, breitschultrig und sonnengebräunt. Der stieß ein wütendes Knurren aus: „Bist du bescheuert?!“ „Ah, gut“, bemerkte Minoru trocken. „Du hast mich also doch erkannt. Ich hatte schon Sorge du verwechselst mich mit einem hilfsbedürftigen Kleinkind. Warum sonst solltest du dich einmischen?“ Der Fremde packte in die Asche und schleuderte einen Stein in Minorus Richtung. „Du eingebildetes Stück Hundefleisch! Ist das alles, was ich nach all den Jahren kriege? Zähne und Abweisung?“ „’Nach all den Jahren’? Mein Beileid, Takeru. Vergeht die Zeit mit deinem Schwiegervater so langsam?“ Minoru lachte. Ein herbes, aber warmes Lachen, das Kaito irritiert blinzeln ließ. Dann streckte Minoru dem Wolf die Hand entgegen und half ihm auf die Beine. Dass sein Vetter einen halbverwilderten Wolfsdämonen kannte, hätte Kaito nach allen Erkenntnissen der vergangenen Nacht nicht mehr wundern sollen. Doch die pure Diskrepanz ihrer Erscheinungen war grotesk. Wenn Kaito seine eigene Kleidung für schlicht gehalten hatte, war die dieses Dämons bestenfalls rudimentär: Ein zerkratzter Brustpanzer über einem langärmeligen Hemd aus Naturfasern, Unterarmschienen, Katana und Wildlederhosen. Die bloßen Füße von Staub und Dreck schwarz. Minoru hingegen sah aus, als habe die Fürstinmutter ihm gerade noch persönlich einen Falte aus der Seide gestreichelt. Dennoch legte der Wolf die Arme wie selbstverständlich um ihn; zog ihn an sich als seien sie lang vermisste Brüder. Als Minoru die Geste erwiderte, hätte Kaito beinahe hysterisch gelacht. Doch sein Vetter machte sich kurz darauf los und brachte wieder angemessenen Abstand zwischen sie. Takeru jedoch hielt dessen Unterarm in einem eisernen Griff. Blut rann am Hals des Wolfes herab und sickerte in den dichten Pelz, der von seiner Schulter über den Rücken fiel. Er beachtete es nicht weiter und ließ seinen Blick über Minoru schweifen. Langsam. Distanzlos. Wiederholt rief sich Kaito in Erinnerung, dass die beiden einander offenbar kannten. Dass keine unmittelbare Gefahr von dem Wolf ausging. Doch die Art, wie er Minoru inspizierte; die aufgezwungene Nähe, die der ohne ersichtlichen Grund duldete… er bemerkte, wie sich seine Hand fester um Shiokiris Griff schloss. Schließlich ließ dieser Takeru den Stoff des Kimonos durch zwei Finger gleiten, fischte eines seiner dunklen Haare von dem makellosen Weiß und ließ es nachdenklich zu Boden fallen. Dann ein zweites. „Stattlich“, sagte der Ōkami schließlich, ehe Kaito die Situation endgültig als bedrohlich einstufen konnte. „Wie ein richtiger, schnöseliger Inu. Du siehst gut aus. Nicht nur die Kleidung… du weißt, was ich meine.“ „Weniger abgewetzt?“ „Weniger abgewetzt. Weniger mager. Und deine Aura - ich habe dich kaum erkannt. Allgemein besser eben. Der Westen scheint dir gut zu bekommen.“ Als Minoru nichts erwiderte, senkte der Wolf die Stimme: „Täuscht das?“ „Das es besser scheint?“ „Ja.“ „Ich weiß nicht.“ Takeru schwieg, betrachtete Minorus aufwendigen Obi, das Schwert darin und mit einem Mal sah er niedergeschlagen aus. „Ich hatte gehofft, du kommst zurück, wenn der Westen dir nicht zusagt. Zu mir. Oder Nobu. Er hätte Platz für dich. Er würde sich darum reißen.“ „Ich weiß.“ „Ach ja? Schon vor Jahren hieß es, du seist verschwunden. Warum bist du dann immer noch hier und nicht im Norden?“ „Du glaubst, ich sei weggelaufen?“ „Bist du nicht?“ „Nein.“ Nach einer Weile der Stille, stieß Minoru ein Schnaufen aus, das bei anderen wohl ein Lächeln geworden wäre. „Dachtest du wirklich, ich würde etwas so dummes tun? Allein der Versuch vor meinem Vater davonzulaufen ist töricht. Und ein sicheres Todesurteil.“ „Nobu hat etwas ähnliches gesagt. Dass niemand so lange westlichen Häschern ausweichen kann. Aber er kennt dich nicht wie ich.“ „Du überschätzt mich -“ „Nein. Wie üblich unterschätzt du dich. Wäre ich nicht gewesen, wärst du heute noch im Nantai. Etwas mehr abgewetzt und mager, aber sehr lebendig.“ „Egal. Ich hatte die Wahl und habe entschieden. Ich bin lange über den Punkt hinweg, mich nach einer anderen Realität zu sehnen.“ Ehe Takeru nachhaken konnte, knirschte Kaito hörbar mit den Zähnen: „Ich unterbreche eure - was auch immer das da ist - nur ungern, aber vielleicht könnten wir erst klären, was dieser Wolf hier treibt?“ Der fuhr herum. Von einem Moment auf den nächsten eher Furie als sentimentaler Anhang. „Das geht dich einen Dreck an!“ Eine Hand an der Waffe und die Muskeln drohend gespannt kam er auf Kaito zu. „Aber da wir gerade beim Klären sind, Han’yō: Ich weiß ja nicht, ob es jemandem wie dir bewusst ist, aber wenn du einen Übungskampf anleierst, steht nicht dir der erste Angriff mit Aura zu, sondern ihm!“ „Sagt wer?!“ „Die verdammte Höflichkeit!“ „Seit wann schert sich ein dahergelaufener Bettvorleger um Höflichkeit?!“ „Seit wann erlaubt man einem halben Köter-?“ „Genug.“ Die Endgültigkeit in Minorus Stimme ließ Takeru verstummen. „Kaito ist Familie. Was auch immer du gerade sagen wolltest, will ich nie aus deinem Mund hören.“ Verdutzt sah Kaito zu seinem Vetter. Der verzog zwar keine Miene, aber es war zu deutlich, dass er seinen Blick mied und stattdessen Takeru fixierte, der unschlüssig an seinem Schwertgriff spielte. „Familie, hm?“ Die grünen Augen des Wolfs hefteten sich erneut auf Kaito, taxierten ihn ausgiebig. Dann zuckte er mit den Achseln. „Wie du meinst.“ Zum Dank schenkte Kaito beiden die Andeutung gefletschter Zähne. Das würde ein Nachspiel haben, so viel war sicher. Dass die Verachtung des Ōkami so leicht auszubremsen war - insbesondere mit dieser Begründung - war zwar überraschend, änderte jedoch nichts daran, dass Minoru offenbar meinte, ihn vor etwaigen Anfeindungen schützen zu müssen. Als könnte er seine gesellschaftlichen Schlachten nicht mehr selbst ausfechten! Als wäre er auf die Gnade eines anderen angewiesen! „Darüber hinaus“, fuhr Minoru fort und seine Stimme hatte nun den üblich kühlen Klang, „hat mein Vetter nicht unrecht, wenn er deine Anwesenheit hinterfragt. Was also tust du hier?“ Takeru, der den Unterton nicht herausgehört hatte, zuckte mit den Achseln. „Was erledigen.“ „Du hast ihn nicht verstanden.“ Kaito trat näher an den Wolf heran. „Er will wissen, was du auf dieser Seite der Grenze verloren hast.“ „So ein Unsinn! Minoru würde nie-“ „Doch. Ziemlich genau das will ich wissen. Das ist westlicher Boden und du bist garantiert nicht allein.“ Takeru fuhr herum. Seine Miene eine unverhohlene Darstellung von Unglauben und Schock. „Mino, ich bin’s! Ich darf ja wohl durch den Westen laufen, wenn es mir passt!“ „Nein. Keineswegs.“ „Das kann nicht dein Ernst sein! Was soll das? Meine Familie hätte dich aufgenommen, wenn dein Vater nicht aufgetaucht wäre. Und selbst dann -! Du bist nicht wie sie!“ Im Gegensatz zu Takeru war Minorus Gesicht eine Maske. Wenn diese Anschuldigungen ihn berührten, konnte er es gut verbergen. „Ihr seid es gewesen, die aus der Grenzüberschreitung meines Vaters vor vier Jahren ein Machtspiel inszeniert haben. Eines, das er vermutlich nur meinetwegen ohne Blutvergießen erduldet hat. Und nun bist du hier, hunderte Kilometer von Zuhause entfernt auf westlichem Boden. Der vermutlich einzige Ōkami, den Nobu nicht aus den Augen lassen würde, nachdem du seiner Tochter schon einmal durchgebrannt bist. Du bist garantiert nicht allein. Also: Wo ist Nobu und wie viele marschieren mit ihm?“ „Warum sollte ich dir das sagen?“ Takerus Hand hatte sein Schwert noch nicht erreicht, da war Shiokiri bereits drohend auf ihn gerichtet. Er ignorierte die Waffe als existiere Kaito gar nicht, betrachtete den Fürstensohn und zögerte, als der sich nicht rührte. „Freunde tun so etwas nicht, Minoru.“ „Doch. Freunde tun genau das. Vertraust du mir noch oder nicht?“ Der Wolf spuckte aus. „Zweihundert. Südwestlich von hier. An der Grenze von Echigo zu den Ebenen.“ „Dann lauf zurück und sag Nobu, dass er zu weit nordöstlich ist. Der Generalleutnant wird sich zurückfallen lassen und die Front ins westliche Inland ziehen. In die Waldgebiete um das Takatsuma-Gebirge.“ „Für wie dumm hältst du mich? Niemand tritt freiwillig Boden ab.“ Minoru schnaubte. „Der Himmel bewahre uns vor so etwas banalem wie Strategie, wenn wir dem Feind auch frontal begegnen könnten.“ Überraschend einsichtig kaute der Wolf auf seiner Wange. „Na schön, ja… Nobu würde das wohl auch tun.“ In Minorus steinerner Maske hob sich eine Augenbraue. „Weiß Nobu schon, dass er die Mentalität seines zukünftigen Schwiegersohnes bereits seinen Ansprüchen angepasst hast?“ „Weiß dein Vater, dass er deinen Dickschädel noch unerträglicher gemacht hat?“ „Bisher nicht, nein.“ „Der Glückliche.“ „Es gibt einiges, das mein Vater nicht weiß. Aber zurück zu den Truppen: Ihr könntet zu uns stoßen. Haltet euch bis dahin bedeckt - vor Drachen und Inu. Ich wüsste einen Weg, Ryouichi wissen zu lassen, dass ihr meine Erlaubnis habt. Was die anderen Heerführer betrifft, fehlt mir aber der Einfluss.“ Als Takeru verschwörerisch lächelte, ließ Kaito ungläubig die Waffe sinken. Was war hier gerade passiert? Aus dem Mund jedes anderen wäre es nicht weniger gewesen als Verrat. Militärische Informationen des eigenen Volkes mit einem anderen teilen… doch das hier war der Erbe des Westens selbst. Konnte es da Verrat sein oder nannte man es schlicht Dummheit? Naivität? Beides passte nicht zu ihm. Als Minoru ihn ansah, war der Blick kurz und eine stumme Aufforderung zur Stille. Kaito knurrte, schwieg jedoch und beobachtete, wie Minoru seinem Freund einen Schlag an den Arm versetzte. „Mach schon. Wir reden, wenn wir diesen Scheiß überleben.“ Takeru grinste. „Mit dir ein paar Schlagen zu jagen, könnte den Ausflug sogar lohnenswert machen.“ „Es sind Drachen, Takeru. Und Krieg, keine Jagd - geschweige denn ein Ausflug.“ „Ach, Haarspalterei! Aber wie auch immer…wir sehen uns. Mino. Hundchen.“ Er sah sie beide an, ehe er zu Tōtōsais Hütte marschierte - eine Hand zum Abschied gehoben, die andere durch seinen Nacken reibend, während er ausgiebig gähnte. Kaito hätte ihm am liebsten auf der Stelle erwürgt. Als er weit genug weg war, fuhr Kaito zu seinem Vetter herum: „Bist du übergeschnappt, ihm die Truppenbewegungen vorzukauen?“ Den ließ seine Wut kalt. „Die Ōkami waren von Beginn an in diesen Konflikt verwickelt. Aber darüber hinaus: Findest du nicht, dass der Ausgang dieses Krieges jeden etwas angeht? Es ist ihr gutes Recht, sich zu beteiligen.“ „Kein Grund, zweihundert Mann freie Hand zu lassen!“ „Zweihundert Wölfe auf der Fährte unserer Feinde. Mein Vater wird mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn er davon erfährt, aber das kümmert mich nicht. Es geht hier um mehr als seinen Stolz. Und schließlich habe ich nicht um Unterstützung gebettelt - nur den Weg geräumt.“ Kaito wollte sich lieber nicht vorstellen, was der Fürst von dieser Entscheidung hielt, wenn er als Außenstehender schon über die Problematik stolperte. „Du vertraust diesem Kerl offensichtlich.“ „Takeru? Ja.“ „Weshalb?“ Minoru überging die Frage. „Du magst ihn nicht? Wie sonderbar. Ich dachte immer, dass ihr euch blendend verstehen müsstet.“ „Das hättest du wohl gern.“ Nachdenklich zog Minoru die Stirn kraus. „Eigentlich nicht. Das wäre furchtbar anstrengend.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)