Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 61: und eines Tages --------------------------- Bei Einbruch der Dunkelheit hatten sie unweit der Grenze zwischen West und Ost Rast gemacht. Der Boden war neutral, sicher war er deswegen nicht. Daher hatte Kōhei jedes Feuer untersagt und Flüsterton gefordert. So wimmelte es um sie herum von Zikaden und Getier, der Wald vor ihnen eine von Leuchtkäfern gesprenkelte Dunkelheit. Shippō war merklich dankbar, dass seine Standpauke aufgrund der gehobenen Vorsicht verschoben worden war und sein Lehrer dennoch nicht zu verstimmt wirkte. In Wahrheit waren Kōheis Gedanken zu zerrissen, um eine bestimmte Laune nach außen zu tragen oder gar die Fehltritte seines Schülers zu tadeln. Die Aussicht, dass Minoru wohlbehalten in die schützende Nähe seines Vaters zurückgekehrt war, ließ eine Schwere weichen, die sich über die Jahre von Ungewissheit über Zweifel zu einer vagen Hoffnung entwickelt hatte. Einer vagen Hoffnung, die schmerzhafter zu ertragen gewesen war als traurige Gewissheit es je vermocht hätte. Doch er lebte. Wo auch immer er gewesen sein mochte. Nicht im Süden jedenfalls, sonst hätte zumindest Saburō es gewusst. Als der die Hoffnung mit Vermutungen genährt hatte, war Kōhei noch versucht gewesen, ihm die üblichen Halbwahrheiten zu unterstellen, die er auch dem Fürsten auftischte. Davon musste er nun Abstand nehmen. Im Rahmen seines Wissens hatte der Erbe offenbar die Wahrheit gesagt. Nun, da Minoru lebend gesehen worden war, war zumindest diese Last von Kōhei genommen. Es oblag nun wieder seinem Vater, auf den Jungen zu achten und so wie er bislang das Überleben seines menschlichen Anhangs gesichert hatte, sollte es ein Leichtes für Sesshōmaru sein, seinen Erben aus dem drohenden Unheil herauszuhalten und in Sicherheit zu bringen. Nach Echizen etwa, wo die zweitgrößte Armee des Landes stationiert war. In die Heimat seiner Mutter. Dort würde ihm nichts geschehen - zumindest vorerst nicht. Denn abgesehen von diesem eher schon persönlichem Dilemma, hatte sich gar nichts zum Besseren gewendet. Im Gegenteil. Saburō saß seit ihrer Ankunft abseits an eine Fichte gelehnt und bewegte etwas in den Händen, das in der Dunkelheit schlecht auszumachen war. Die Begegnung mit den Fremden hatte seine ohnehin schon gespannten Nerven weiter strapaziert. Es bestand kein Anlass zu glauben, dass diese Eigenbrödler außer Shippō irgendeine Verbindung zum Süden hatten und ihn verraten konnten, selbst wenn sie ihn erkannt und die Situation verstanden hätten. Aber ab einem gewissen Punkt wurde der Druck zu groß, um Gefahren rein rational abzuwägen. Selbst für Saburō und insbesondere dann, wenn es um andere ging. Das verstand Kōhei nur zu gut. Als Shippō eingeschlafen war, ging er lautlos zu Saburō hinüber. Der sah nur kurz auf und widmete sich anschließend wieder seinem Werk, das, wie Kōhei nun aus der Nähe sah, ein Stück Lehm war. „Sagt mir bitte, dass Ihr nicht beabsichtigt, dem da auch Leben einzuhauchen.“ „Vergisst du unsere Vereinbarungen so schnell oder ist das Absicht?“ „Schön. Sag du mir bitte, dass du deine Aura nicht für noch eine Illusion verbrennst. Erhol dich lieber.“ Saburō seufzte. „Es ist nur Vorbereitung, nichts weiter. Und sei versichert: Eine kleine Illusion macht diesen Braten auch nicht fett. Der Kugutsu-Doppelgänger kostet genug.“ Und mit Sicherheit mehr mit jeder Wegstunde, die sie sich vom Süden entfernten. „Vorbereitungen wofür?“ „Eine Warnung.“ „An deine Mutter oder deine Frau?“ „Du wärst überrascht.“ „Das hatte ich befürchtet. Würdest du mich wenigstens einweihen, was passiert, wenn du diese Warnung an den Hof schickst?“ „Sie werden versuchen zu fliehen. Meine Mutter, Akemi und unsere Tochter.“ Kōhei betrachtete ihn stumm. Wenn Fürst Hayato bemerkte, dass auch nur eine seiner Geiseln untergetaucht war, würde er jeden Stein einzeln nach ihnen umdrehen lassen, um Saburō unter Kontrolle zu halten. Um ihm aufzuzeigen, wie sinnlos sein Widerstand war, würde er außerdem umso härter mit den Flüchtigen verfahren, wenn er sie in die Hände bekam. Bei dieser Suche würde er in Awaji beginnen, wo er den größten Rückhalt seines Sohnes vermutete und dabei unweigerlich über einen Gast stolpern, den er tot glaubte - nicht zuletzt, weil Kōhei sich für das Ableben Masukos verbürgt hatte. Spätestens dann würde auch für ihn die Luft sehr dünn werden. Nun war Saburō sicherlich nicht einfältig genug, um keine Vorkehrungen für eine derartige Situation getroffen zu haben. Nicht, weil die Lüge um Masukos Überleben für Saburō noch einen Unterschied gemacht hätte, sondern weil er diese verfluchte Hündin lebendig brauchte, um sie irgendwann mit einer übergroßen Schleife vor den Toren der Inu abzusetzen und zu hoffen, dass der aufkommende Westwind sich damit besänftigen ließ. So oder so: Sobald diese Nachricht gen Süden flog, wäre ein Stein losgetreten, der einen ganzen Berghang ins Rutschen bringen konnte, wenn er die falschen Felsen traf. Es blieb also nur die Hoffnung, den Sturz so sanft wie möglich zu gestalten. „Das ist ein teurer Tausch“, sagte Kōhei schließlich. „Du wirst keinen Fuß mehr an den Hof setzen können. Keinen Einfluss haben. Wenn du deinen Vater stürzen willst, dann aus dem Exil. Schlimmer noch: Auf der Flucht. Das mindert deine Chancen beträchtlich.“ „Es geht um meine Mutter, meine Frau und Kinder.“ „Du magst von der Herrschaft deines Vaters halten, was du willst, aber er hat dir eines voraus: Diese Sentimentalitäten kümmern ihn nicht.“ „Das weiß ich sehr wohl. Mich schon.“ „Und genau aus diesem Grund hast du bereits verloren. Weil du ein Idealist bist. Er nicht. Du willst zu viel in einem Spiel, das dir nicht erlaubt, rechts und links zu sehen, wenn dein Feind nur geradeaus schaut.“ Saburō betrachtete ihn eingehend. Dann legte er seinen Lehmklumpen zur Seite, der mittlerweile die Form eines spatzengroßen Vogels angenommen hatte, und faltete die Hände im Schoß. „Wenn du mir schon rätst, meine Familie zu opfern, dann führ deine Anmerkung ruhig aus.“ „Ich rate dir gar nichts. Du bist zu weitsichtig, um Hilfe bei der Erörterung deiner Schwächen zu benötigen. Unwahrscheinlich, dass ich dir etwas neues erzählen würde.“ „Unwahrscheinlich ist schlechter als das meiste und besser als manches. Derzeit würde ich einen Kniefall für Unwahrscheinlichkeiten geben.“ Kōhei betrachtete ihn in seinem abgewetzten Braun, den schwarzen Pelzkragen im extremen Kontrast zu seiner blassen Haut, der noch immer einige Liter Blut fehlten, um gesund zu wirken. Er war gefasster als in den vergangenen Tagen und doch schwappten da auch Abgründe über die niedergerissene Mauer zwischen ihnen, die Kōhei widersagten. „Verzweiflung steht dir noch weniger als Ärger.“ „Es tut mir leid, dass ich dein schlechtes Bild von mir mit jedem Tag ein wenig mehr zerstöre.“ „Solange dein Urteilsvermögen nicht auch den Bach heruntergeht und uns weiterhin vor dem Schwert bewahrt, kannst du meinetwegen so viele Tiefpunkte haben, wie du selbst erträgst.“ Der Silberfuchs schmunzelte. „Wie nachsichtig von dir. Aber da es nun ein ‘uns’ zu geben scheint: Kannst du anordnen, dass die Soldaten bei einer etwaigen Suche weder Masuko noch meine Familie finden? Es wäre auch in deinem Sinne, aber ich möchte dich dennoch darum bitten.“ Kaum hörbar knirschte Kōhei mit den Zähnen. Er hatte gewusst, dass die Entscheidung, seinen Fürsten zugunsten des Erben zu belügen, ihn eines Tages einholen würde. Dieses Manöver würde nur einen Teil der Konsequenzen ausbremsen. Zumindest aber den Teil, der Kōheis Loyalität in Zweifel zog. Das würde ihn nicht nur am Leben halten, sondern auch seine Stellung und seinen Einfluss sichern - beides Aspekte, die Saburō dringend brauchte. An dessen bodenlosem Fall in Ungnade, sollte seine Familie vom Hof fliehen, würde es nichts ändern. Wenn dieser Vogel flog, war ihm ein Leben in offener Opposition zum Fürsten gewiss. Ein Konflikt, der auf der Flucht schwer zu bewältigen war und sich ohne Armee nicht gewinnen ließ. Dennoch: Sein Risiko, sein Entschluss. Es war nicht an Kōhei, die Herangehensweise von Saburōs Verrat in Kritik zu bringen oder die Belastungsgrenze seines Idealismus zu ergründen. Er war im Stande seine eigenen Entscheidungen zu treffen und er wollte seine Familie nicht opfern. „Ja. Kann ich.“ „Danke. Abermals.“ „Ich bin ohnehin schon todgeweiht, wenn dein Vater die Zusammenhänge erkennt.“ „Da bin ich nicht sicher. Er hält viel von guten Waffen und du bist mehr Wert als manches Schwert.“ Selbst wenn das der Wahrheit entsprochen hätte, so doch ein Schwert mit dem ein oder anderen Makel. Einer Fissur oder einem hässlichen Kratzer, der dem Fürsten jedes Mal aufs neue ins Auge springen würde, wenn er ihn ansah und an den Betrug dachte, den Kōhei ihm angetragen hatte. Zu nützlich zum Wegwerfen, aber zu beschädigt zur vorgesehenen Nutzung. Umschmieden lag da nahe und allein bei dem Gedanken stieg eine Angst in Kōhei auf, die er lange vergessen glaubte: Dass der Fürst auf die Idee kommen könnte, sich seiner Loyalität aufs neue zu versichern; ihn daran zu erinnern wer sein Herr war und weshalb er sich niemals wieder widerspenstig oder ungehorsam hatte zeigen wollen. Und mit der Erinnerung kam das Flüstern. Die leise Einsicht, dass er lieber in den Tod gehen würde als das zu erdulden. Kōhei hatte die Wache übernommen. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken und nun, wo sich manche Erinnerung in seinen Geist geschlichen hatte, fürchtete er, was der Traum für ihn bereithalten würde, wenn die wachen Stunden schon schwer erträglich waren. Zumindest Saburō war so einsichtig gewesen, sich hinzulegen ohne die Unterhaltung noch weiter auszureizen. Vom Schlaf war er jedoch trotz aller Zugeständnisse ebenso weit entfernt wie Kōhei. Sein Atem ging ruhig, aber nicht tief genug für einen Schlafenden und in der Stille der Nacht war auch sein Herzschlag zu schnell. Er beschleunigte sich, noch bevor Kōhei der Anwesenheit gewahr wurde, die den Nachthimmel durchsetzte. Es war kein Vergleich zu dem närrischen Falkenüberfall, den Shippō vollführt hatte und würde gewiss nicht mit drolligen Pilzen einhergehen. Die Luft schwirrte von Hitze und Aura wie die pralle Mittagssonne und trieb doch alle Wärme aus Kōheis Blut. Saburōs Miene war eine Maske. „Shisuna.“ Dieses Mal war es Kōhei der fluchte. Hastig zog er den Ärmel zurück, nahm zwei Fuchskorallenarmbänder vom Handgelenk und wollte sie Saburō geben. Der jedoch fing seine Hand ab. „Das Kugutsu. Ich kann nicht.“ „Er wird dich sehen.“ „Damit habe ich immer noch mehr Zeit als mit gehemmtem Yōki. Die Täuschung muss halten.“ Shippō, geweckt von der Aura, stolperte zu ihnen hinüber, doch Kōhei packte ihn und presste ihn hinter sich auf die Knie. „Kopf ins Gras. Kein Wort.“ Rasch streifte er den grauen Schmuck wieder über, da brach auch schon eine Gestalt durch die Wolken. Als die Himmelsschlange auf dem Boden aufsetzte, zitterte die Erde unter seinem Gewicht. Shisuna war gewaltig. Jede Kralle seiner Beine war so groß wie Kōheis Arm und die weizenhelle Mähne, die über den Rücken seines langen Körpers lief, ragte bis an die Kronen ausgewachsener Bäume heran. Der Wald war verstummt. Die Leuchtkäfer im Angesicht drohenden Unheils erloschen. Kōhei verneigte sich wie es am Hof der Drachen üblich war mit umschlossener Faust. Dieses Relikt aus ihrer chinesischen Heimat war keineswegs ein Muss, aber man war besser bedient, sich daran zu halten - insbesondere, wenn man sandfarbenen Schuppen gegenüber stand. Als Shisuna seine wahre Gestalt aufgab, schwirrte die Luft von der Hitze seiner Aura und ließ Kōhei den Atem stocken. Abermals verneigte er sich. Dieses Mal tiefer. Der Anblick eines ausgewachsenen Drachen war furchteinflößend, in menschlicher Erscheinung jedoch eine Seltenheit. Mehr noch als Kitsune schwankten Drachen zwischen Yōkai und Kami. Die Form der Himmelsschlange wurde allen in die Wiege gelegt. Der Kunstgriff war die menschliche Haut, nicht die Bestie - und in der Regel verzichteten sie darauf, außerhalb ihrer Residenzen ohne Schuppen aufzutreten. Dass Shisuna von diesem Grundsatz abwich, mochte gutes Zeichen oder Abgesang sein. Das war bei ihm schwer zu sagen. Angeblich hatte er schon als Kind eine für einen Drachen untypisch charmante Ausstrahlung besessen. Immer lächelnd, immer zuvorkommend - und von Geburt an tödlich. Wenn Ryukotsusei die Axt gewesen war - derb und in seinen Drohungen stets offen -, war Shisuna der mit Messern gespickte Kriegsfächer. Auch jetzt lächelte er. „Kōhei. Ihr kommt spät zum Fest.“ Eindeutig dünnes Eis. Wie gern hätte er Saburō nun den Vortritt gelassen. Auch wenn der Gedanke in Schadenfreude gründete, rechnete er dem Silberfuchs insgeheim hohe Chancen zu, den Drachen bei einem solchen Tanz ins Stolpern zu bringen. Doch so amüsant das auch gewesen wäre: Es waren Luftschlösser. Sie konnten froh sein, wenn Shisuna nicht begriff, wer der Mann war, der ihn Kōheis Schatten kniete. „Fürst Shisuna. Was verschafft mir die Ehre?“ Sein Gegenüber schwieg zunächst und begutachtete die beiden anderen. Er selbst war beängstigend schön anzusehen. Die Jahrtausende hatten ihn mit Narben gezeichnet, doch die schlugen sich in seinen edlen Zügen eher wie Zierrat nieder. Wie Kōhei erschien er als Mann mittleren Alters, obwohl der Drache viele Jahrhunderte mehr zählte als er. Das schwarze Haar hatte er zu einem Zopf gebunden und mit einer Haarnadel zu einem Knoten gesteckt. Das Schmuckstück war aus Perlmutt, entsprach jedoch dem Farbton seiner Hörner, die sich auch nun elegant über seinen Kopf schwangen. Auch die aufwendig gearbeitete Kleidung hatte er seiner wahren Gestalt angepasst - silbrige Stickereien und Perlmuttperlen auf sandfarbener Seide. „Ich bin in aufrichtiger Sorge“, sagte er schließlich. „Fürst Hayato hatte mir die Übersendung aller verfügbaren Truppen zugesichert und doch sehe ich nur Euch und nicht einmal eine Hand voll Soldaten. Seid Ihr bei der Westquerung aufgerieben worden?“ „Ihr schmeichelt mir, Fürst. Anzunehmen, ich könne aus einem Konflikt unbeschadet hervorgehen, der meine Armee getilgt hat, ehrt mich. Aber nein, nichts dergleichen. Das Heer ist in Marsch, wie Ihr verlangt habt. Die Westquerung erforderte eine Vorhut, die ich anführe.“ „Dann bin ich beruhigt. Wie viele unterstehen Euch?“ „Sieben Dutzend.“ Shisunas blaue Augen weiteten sich vor Verwunderung. „Das ist kaum mehr als die Palastgarde.“ „Mit Verlaub, Fürst: Ich bin Kommandant der Garde und überstelle diese wie befohlen. Die Truppen der übrigen Ratsmitglieder entziehen sich meiner Zuständigkeit.“ Verwunderung paarte sich mit dem Anflug von Schärfe und einem Zucken seines Mundwinkels, das ebenso schnell vergangen war. Shisuna glaubte kein Wort und was noch viel wichtiger war: Die vermutete Unstimmigkeit behagte ihm nicht. Interessant, wenn man bedachte, dass sie bislang sehr gut ohne die Truppen des Südens ausgekommen waren. Auch wenn er wusste, was zu sagen war, um diese Zweifel zu zerstreuen, wartete Kōhei. Weil es am Ranghöheren war, die Unterhaltung fortzusetzen und weil er Shisuna nicht damit reizen wollte, dass er glaubte, ihn lesen zu können. „Verzeiht, Kōhei. Manchmal vergesse ich, dass zwischen meinem Kenntnisstand zu Lebzeiten und dem heutigen Tage Dekaden liegen. Diese sich anbiedernden Katzen sind als Informanten nicht halb so nützlich wie sie sein müssten, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Ich wollte Euch nicht kränken. Hayato muss den Verstand verloren haben, jemanden wie Euch zum Kommandanten der Palastgarde zu degradieren. Ihr seid ihm als General so dienlich gewesen.“ „Ich danke Euch für die hohe Meinung, die Ihr mir gegenüber hegt, Fürst Shisuna. Zu meinem Glück hat mein Herr mich trotz all meiner Verfehlungen in der Position des Generals belassen. Jedoch fürchte ich, ist die Ordnung der südlichen Armee eine andere, als es Euch von Haus aus geläufig sein dürfte. Der Kommandant der Palastgarde ist zeitgleich der General der gesamten Truppen. Jedoch unterstehen die Truppen der Ratsmitglieder mir erst nach ausdrücklichem Befehl und nur für die Dauer der jeweiligen Schlacht. Andernfalls folgen sie ihren einzelnen Kommandanten, die von den Ratsmitgliedern eingesetzt werden. Fürst Hayato zieht diese Ordnung vor, um den Ratsmitgliedern Souveränität zu gewähren.“ So zumindest hatte Hayato es seinem Beraterstab verkauft und die meisten seiner hörigen Narren hatten ihm wie üblich aus der Hand gefressen. Was blieb ihnen auch übrig? In Wahrheit diente diese Regelung nur dazu, die Unsicherheit zu schüren, die mit dem Wissen oder auch nur der Vermutung einher ging, dass eine andere Region signifikant mehr Truppen unterhielt oder aushob - und jederzeit gegen ihre Nachbarn marschieren konnte. Nebenbei säte es Missgunst und Rivalität und hinderte etwaige Freigeister daran, ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken - wie etwa den Hof selbst. Die Ratsmitglieder waren sich außerdem nicht darüber im Klaren, dass Kōhei unabhängig von einem direkten Dekret des Fürsten befugt und in der Lage war, die gesamten Truppen unter seinen Befehl zu stellen und nach seinem Belieben einzusetzen. Die Männer kannten ihn und insbesondere die Kommandanten der Heere hatte er zu Großteilen selbst ausgebildet. Hayato hatte stets darauf geachtet, dass nur solche Männer an hohe Postionen gelangten, die lange in der Palastwache gedient hatten und im Zweifelsfall dem südlichen Hof mehr zugetan waren als ihrem Provinzverwaltern - und sich bei der Auswahl ausschließlich auf Kōheis Rat verlassen. Saburō wusste das. Shisuna zum Glück nicht. „Gewiss hat mein Fürst es als sinnvoll erachtet, die Truppen getrennt marschieren zu lassen. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, so bin ich ihm dafür ausgesprochen dankbar. Sieben Dutzend ungesehen durch den Westen zu schleusen, war auch für mich ein schwieriges Unterfangen. Zumal mein Herr darauf bestand, dass ich auch die jungen Rekruten einbeziehe. Wenn wir uns erst an der verabredeten Front sammeln, umgehen wir hoffentlich, von den Inu bemerkt zu werden.“ „Und gewiss schätzt Ihr das Vorgehen Eures Fürsten am besten ein. Es wird sein, wie Ihr sagt. Immerhin waren meine Bedigungen an Hayato deutlich: Er schickt das gesamte Heer oder ich überziehe den Süden mit Fuchsgedärmen und verschenke seinen Pelz an meine Gemahlin.“ Offensichtlich hatte der Kriegsfächer mit seiner Erhebung in den Fürstenstand einige Eigenschaften der Axt übernommen. Allen Informationen nach war Ryukotsusei nicht ins Leben zurückgekehrt und so blieben von den drei Geschwistern nur Shisuna und Kezaka - was schlimm genug war. Gerüchten zufolge war Shisuna als einer der ersten aus dem Gelege geschlüpft und hatte sämtliche Geschwister getötet, bis auch Ryukotsusei die Schale durchbrochen und ihn daran gehindert hatte, den letzten Bruder gänzlich in Stücke zu reißen. Kezaka hatte seitdem im Schatten der anderen gelebt; verstümmelt, von Narben übersät und nicht ganz richtig im Kopf. Ob es nun Ryokotsuseis Gnade gewesen war, die an jenem Tag den einen Bruder vor dem anderen gerettet hatte, blieb zu bezweifeln. Der Gedanke mutete zu herzlich an. Vermutlich diente Kezaka nur der allgemeinen Erheiterung - oder als wehrloses Ziel für Shisunas Launen. „Ich würde mir niemals anmaßen, Euch zu belügen“, widersprach Kōhei, wohl wissend, dass er seine Truppenstärke mit ‘sieben Dutzend’ deutlich geringer dargestellt hatte als sie eigentlich war. „Das würde ich Euch nie unterstellen, Kōhei. Also lassen wir das unliebsame Thema und wenden uns den Feinden zu: Der Überraschungsmoment ist eine willkommene Aussicht. Ich will dennoch, dass ihr einen Teil Eurer Truppen offenbart. Allein schon, weil man Euch ohnehin bemerkt haben könnte. Lasst sie zum vereinbarten Schlachtfeld marschieren und sorgt dafür, dass Ihr von den Inu als ausreichende Bedrohung wahrgenommen werdet ohne Eure gesamte Schlagkraft zu offenbaren. Ich nehme an, das sollte kein Problem für Euch sein.“ „Gewiss nicht, Fürst. Aber -.“ „Seid versichert, dass Ihr keine Bedenken äußern könnt, die bislang nicht bedacht worden sind. Ihr wisst genauso wie ich, wie ermüdend diese losen Schlachtenverbunde der Inu sein können und ich habe dieses Schauspiel nun seit vier Jahren erduldet. Diese Brut erledigt man bestenfalls mit einem Streich und wenn sie sich so bereitwillig von allein sammeln, sollten wir ihnen den schnellen Tod schenken, den sie anstreben.“ Als Kōhei zögerte, lächelte Shisuna wieder mild. „Sorgt Euch nicht. Ja, ich nutze Euch auch als Ansporn, mehr Truppen zusammenzuziehen, aber Ihr seid keineswegs in übermäßiger Gefahr. Meine Männer werden dort sein. Sie werden fallen, aber auch das muss Euch nicht beunruhigen. So unausstehlich diese Fellbälle sind, haben die Katzen doch ein Gutes. Man muss sich nur an das Sterben gewöhnt haben. Beschäftigt die Inu, während wir regenerieren und wir erledigen den Rest.“ Kōhei beschloss, nicht weiter darauf einzugehen, da alles, was er an Bedenken hätte vortragen können, nicht nur bedacht, sondern sehr wahrscheinlich auch eingepreist worden war - sämtliche tote Kitsune inklusive. „Eure Männer? Werdet Ihr sie nicht führen?“ Er lachte. „Nein, das überlasse ich Kezaka. Ich habe stets angenommen, mein geliebter Bruder sei nichts als Platzverschwendung. Sieht aus, als hätte ich ihm Unrecht getan. Wie sich herausgestellt hat, kann er besonders gut sterben. Also kann er mit der westlichen Meute spielen gehen, während ich mich dem Leithund widme.“ „Der Inu no Taishō ist nicht an der Front?“ „Er ist anderweitig beschäftigt. Die Prioritäten dieser Familie sind faszinierend simpel. Hätte mir Kezaka damals den Jungen geliefert, statt ihn über den Ebenen aus den Klauen zu verlieren wie einen nassen Fisch, hätten wir uns Jahre des Ärgers gespart. Bedauerlich. Den lang erwarteten Erben vor seinem Vater auszuweiden, nachdem wir seinen Palast niedergebrannt hatten, wäre zu schön gewesen. Das wird nicht ganz dasselbe, aber zweckdienlich ist besser als nichts. In jedem Fall soll der Taishō nicht Eure Sorge sein. Was bleibt sind seine Truppen.“ „Und der Generalleutnant.“ Gier blitzte in Shisunas Augen auf und sein Lächeln wurde warm. Fast vertraut. „Mein allerliebster Ryouichi. Es ist bedauerlich, dass ich nicht an seinem Untergang teilhaben kann. Aber man soll nicht gierig werden. Sesshōmaru ist Lohn genug. Außerdem ist Kezaka in der Lage, diesen speziellen Hund auch ohne mich handzuhaben. Doch wo wir gerade bei unserem geschätzten Taishō waren: Ich muss mich entschuldigen, sonst komme ich noch zu spät zu meiner Verabredung.“ Wieder verneigte sich Kōhei, wieder war das Lächeln des Fürsten eine Spur zu freundlich, ein wenig zu süß. Nach einer erneuten Hitzewelle der Verwandlung, die die trockene Fichte versengte, erhob sich der Drache in die Luft. Saburō trat neben Kōhei und sah dem sandbraun beschuppten Schwanz nach, wie er zwischen den Wolken verschwand. „Ich kann mir bildlich vorstellen, wie sie ‘den Rest erledigen’.“ Kōhei verzog keine Miene. „Er wird uns abschlachten, sobald er uns nicht mehr braucht.“ „Das wird er.“ Die Absicht war überdeutlich, aber warum es ihnen so unverfroren ins Gesicht spucken - am Vorabend der Schlacht? Während sie in den Nachthimmel starrten, war Shippō an sie herangetreten. Die Angst, die ihn im Angesicht des Drachen überkommen haben musste, schwand mit jedem Sekundenbruchteil im selben Maß, wie die Wut zunahm. In seinen Augen nicht nur Unglauben, sondern die tiefste Enttäuschung, die Kōhei seit langem gesehen hatte. Das traf ihn unerwartet hart. „Haben wir ernsthaft ein Abkommen mit den Drachen? Und was hat er da eben gemeint? Was ist ‘zweckdienlich’? Was, wenn er Rin hat?“ Was, wenn er Minoru hatte? Kōhei biss die Zähne zusammen. Das Messer war zurück und bohrte sich erneut in seine Brust, doch da war auch ein Flüstern. Ein rationaler Gedanke, der all den Horror zur Seite schob. Shisuna hatte sich über die versäumte Gelegenheit viel zu enttäuscht gezeigt. Hätte er nun, mit vier Jahren Verzögerung, den westlichen Erben gegen den Vater einsetzen können, wäre Vorfreude naheliegender gewesen. „Wer bitte ist Rin?“ „Seine Geliebte“, antwortete Saburō. „Zumindest nehme ich das an. Es ist schwer, da an verlässliche Informationen zu kommen. Seit Kriegsbeginn mehr denn je.“ Er sah zu Shippō. „Du kennst sie?“ „Sie ist eine Freundin.“ Natürlich. Wer eigentlich nicht? Wenn er genau darüber nachdachte, erinnerte sich Kōhei an eine junge Menschenfrau, die er in Minorus Begleitung vorgefunden hatte. Viel zu selbstsicher und unverfroren im Angesicht eines Yōkais, um sich der schützenden Hand ihres Herrn nicht allzu bewusst zu sein. Wenn sie in dieser Annahme nicht einfach nur anmaßend gewesen war, sondern tatsächlich vertreten hatte, was die Aufmerksamkeit ihres Fürsten zusicherte, war denkbar, dass Shisuna sie zum Ziel genommen hatte. Sesshōmarus närrische Reaktion hätte es dennoch nicht gerechtfertigt. „Du erwartest hoffentlich nicht, dass ich mich in der derzeitigen Situation auch nur im entferntesten um einen Menschen schere. Wir haben andere Probleme, Shippō. Nur falls dir der Drache eben entgangen sein sollte.“ „Aber Sesshōmaru-.“ „Interessiert mich einen Dreck! Unsere ganze Armee marschiert ins Verderben - von allem anderen ganz zu schweigen! Wenn der Inu no Taishō meint, sich für einen Menschen oder sonst wen sehenden Auges in die Bresche werfen zu müssen, dann ist das sein Problem; seines, das seiner Männer, aber ganz sicher nicht meins!“ Shippō stieg jedoch nur die Zornesröte ins Gesicht: „Was hattet Ihr denn erwartet, als Ihr mit den Drachen paktiert habt? Kniefall und Dankbarkeit? Das ist doch dämlich!“ Ehe er fortfahren oder Kōhei etwas erwidern konnte, verstummte der Junge und sah sich verstohlen zu Saburō um. Dessen Aura flackerte über sie, als habe die Mittagssonne einen nächtlichen Ausflug gemacht. Ebenso schnell war sie wieder verflogen, doch Shippō machte sicherheitshalber einen Schritt zurück und als Kōhei das schwindende Rot in Saburōs Augen bemerkte, wusste er auch warum. Der Silberfuchs hatte sich allerdings mit einer Leichtigkeit unter Kontrolle, die nahelegte, dass Shippō gerade keinen nervösen Ausbruch des Erben erlebt, sondern eine sehr konkrete Drohung erhalten hatte. „Du wirst dich jetzt ein für alle Mal zusammenreißen, Shippō. Zu deinem Glück wird die Zuneigung des Generals für dich nur von seiner unangebrachten Nachsicht übertroffen. Also lass es mich für das naive Kind ausdrücken, das du offenbar bist: Wir sind im Krieg. Deine Freunde sind nur für sich selbst verantwortlich und können in ihrer Ignoranz Entscheidungen treffen, wie es ihnen beliebt. Wir, allen voran der General, jonglieren hier mit mehr Verantwortung und mit mehr Leben. Ohne die letzte Entscheidungsgewalt zu haben. Der Befehl liegt beim Fürsten, nicht bei uns. Dass seine Befehle uns ins Verderben führen, ist allerdings kein Geheimnis.“ Shippōs Augen waren riesig geworden und auch Kōhei starrte den Erben an. „So kannst du nicht vor dem Jungen sprechen!“ „Unwissenheit ist für einen jungen Soldaten in unserer Gesellschaft vermutlich mehr Schaden denn Sicherheit. Für uns und für ihn auch. Wir können nicht die Reaktion und die Überlegungen eines Mannes erwarten, wenn wir ihn wie ein Kleinkind behandeln. Absoluter Gehorsam würde das aufwiegen, aber wir wissen doch beide, dass er diesen nicht erbringen will und du dich weigerst, ihn einzufordern. Also sag ihm die Wahrheit und erspare uns weitere Probleme mit ihm. Ich habe wahrlich zu viel zu verlieren, als dass ich mich nebenbei mit Halbdämonen und den empörten Einwänden eines Halbwüchsigen herumzuschlagen könnte.“ Saburō setzte den Lehmvogel auf seine Handfläche. Er war so groß wie ein Spatz, mit winzigem Schnabel, Steinaugen und angedeuteten Federn in der samtbraunen Oberfläche. Auf seiner Brust prangte ein einziges Schriftzeichen, eingeritzt in den Lehm: Gefahr. „Bist du sicher?“, fragte Kōhei, sich vollends im Klaren darüber, welche Entscheidung er mehr hinterfragte. Saburō nickte und legte die andere Hand über den Vogel. „Die Han’yō wären nicht ins Gewicht gefallen. Shisuna allerdings… er erkennt einen Daiyōkai, wenn er ihn sieht. Selbst wenn er die Situation nicht begreift und mich nicht an meinen Vater verraten kann, wird er Vorkehrungen treffen lassen, mich auszuschalten. In dem Fall kann ich es mir nicht erlauben, an zwei Fronten zu kämpfen.“ Seufzend ließ er die Schultern sinken. „Diese Unwahrscheinlichkeit war wahrlich nicht nur schlechter als das meiste.“ Er hauchte in die Kuppel, die er schützend über dem Lehm geformt hatte. Mit langem, warmen Atem, als wolle er Kälte aus den Gliedern treiben. Ein Zwitschern und nervöses Geflatter waren zu hören. Als er die Hände öffnete, klammerte sich ein Rotkehlchen an seine Finger, sträubte die Federn und blickte sich trällernd um. Sobald es den Nachthimmel fand und einen Blick auf die Sterne geworfen hatte, flog es davon. ☾ Ein fachmännischer Blick hätte den Unterschied im Stahl vermutlich erkannt. Die neuen Verläufe der Hamon-Linie, den dunkleren Glanz des Mantelstahls. Für Minoru jedoch sah Tenseiga aus wie damals, als er es zum ersten Mal in den Händen seines Vaters gesehen hatte: Eine einfache Klinge, den Griff mit schwarzem Band umwickelt, das im Rautenmuster den Blick auf die darunterliegende Rochenhaut freigab. Aber vor allen anderen Dingen war es intakt. Keine herausgebrochenen Kanten oder Scharten, die den Stahl zerklüfteten. Eine einfache, glatte Klinge; noch warm von der Nähe des Schmiedefeuers. Tōtōsai wischte sich die Hände an einem dreckigen Tuch ab, das vermutlich keinen weiteren Schmutz aufnahm. „Es gehört dir.“ Minoru sah von der Waffe auf. „Es gehört meinem-“ „Tenseiga gehört dir. Respektiere es. Geh sorgsam damit um. Dein Vater hatte seine Chance und zieht es vor, Altmetall daraus zu machen. Ein weiteres Mal kann und werde ich es nicht retten. Auch Tenseiga kann nicht unendlich oft von den Toten auferstehen.“ Weiterer Protest wäre unsinnig gewesen. Auch wenn Minoru beim besten Willen nicht kühn genug war, seinem Vater auch nur die unbeliebteste Waffe streitig zu machen, ließ er Tenseiga in die Scheide gleiten und verneigte sich vor dem Schmied. „Ich danke Euch. Im Namen meines Vaters und des Westens. Nur Euretwegen gibt es eine Chance, die Drachen zu töten.“ Tōtōsai betrachtete ihn nachdenklich, warf sich den Lappen über die Schulter und schnaubte. „Der Floh hatte recht: Manchmal bist du der demütigste Inu, der mir je untergekommen ist. Du hast doch schon, was du wolltest. Warum dann noch so höflich?“ „Ehre, wem Ehre gebührt“, erwiderte Minoru und versuchte keinen Anstoß an der Feststellung seiner Demut zu nehmen, auch wenn es sicherlich so gemeint gewesen war. Er nahm A-Un die Satteltaschen ab und gab sie Tōtōsai. „Wie versprochen.“ Der schulterte auch diese und nickte knapp. „Willst du nicht reinsehen?“, fragte Kaito, der sich auf A-Uns Rücken schwang. „Weil er mich betrügen könnte? Unwahrscheinlich.“ „Wie du meinst.“ Er rückte zurück, als sich Minoru vor ihm in den Sattel zog. „Passt auf euch auf“, knurrte der Alte. Minoru betrachtete den Schmied und achtete darauf, dass sein Unglauben nicht durchschimmerte. War Tōtōsai unter all dem grätigen Geschnarre doch sentimental veranlagt? Kaito hingegen gab ein leises Knurren von sich, das annehmen ließ, dass er mehr herausgehört hatte als gesagt worden war. „Los jetzt. Wir verschwenden Zeit.“ A-Un wartete nicht einmal auf Minorus Zustimmung und erhob sich in die Morgenluft. Sie hatten den Vulkan hinter sich gelassen, noch bevor die Sonne gänzlich über die Berggipfel gekrochen war. Nun aber ergoss sie sich in all ihrer morgendlichen Wärme über die Ruinen menschlicher Siedlungen, die einst voller Leben gewesen waren. Während die Ebenen noch von Leben erfüllt waren, hatte der Krieg vor allem die entlegenen Bergregionen und den Osten getroffen. Doch das hier war Westen. Ein Randgebiet zwar, aber dennoch… Das Land wirkte wie ausgestorben und Minoru wollte nicht darauf wetten, dass man diese Toten wirklich jenen zurechnete, die sie auch verursacht hatten. Wenn überhaupt jemand entkommen war, um über Drachen und Panther zu berichten, war längst nicht gesagt, dass man ihnen glaubte und die Kriege der Menschen waren so vielzählig, dass es niemanden gewundert hätte, wenn sie auch hierfür verantwortlich gewesen wären. So oder so: Die Siedlungen waren niedergebrannt, die Felder brachliegend und keine Menschenseele wagte einen Blick aus den Ruinen, solange am Himmel etwas vorbeizog - vorausgesetzt, es lebte überhaupt noch etwas da unten. Minoru hatte die Karten gesehen, die sich verschiebenden Fronten und ahnte, was das bedeuten mochte:„Wenn es so weitergeht, wird bald nichts mehr übrig sein.“ Kaito seufzte. „Das tut es nicht. Die erklären dir wirklich gar nichts. Die meisten Dörfer im Nordosten sind schon vor deinem Verschwinden aufgerieben worden. Die Überlebenden haben sich zu tausenden in die Ebenen geflüchtet. Danach ist es ruhiger geworden.“ „Dann wollten die Drachen ihre Ländereien nur frei von Menschen wissen?“ Kaito schüttelte den Kopf. „Sicher auch, aber ich nehme an, ihr Bedarf an Leben war schlicht gestillt. Es ist Tausch. Kein besonders fairer, aber für diese Art von Wiederauferstehung werden Opfer verlangt. Die Panther schleusen Lebensenergie von Gefangenen in die Drachen. So etwas haben sie schon vor Jahren getan, als sie versucht haben, ihren Anführer zu erwecken - ging schief. Jedenfalls: Als die Echsen aufgehört haben, nach wandelnden Leichen zu stinken, ließen auch die Überfälle nach. Wir hatten kurz gehofft, dass sie wieder sterblich wären - kannst du vergessen. Töte sie und sie stehen nach einiger Zeit wieder auf. Es dauert eine Weile, aber sie setzen sich einfach wieder zusammen, die elenden Mistviecher.“ „Und wir gehen nicht einfach gegen die Panther vor, weil?“ „Man sie kaum noch zu Gesicht bekommt. Zumindest die Wichtigen nicht.“ „Wie lange?“ „Bis sie wieder aufstehen? Unterschiedlich. Manchmal Minuten, manchmal eine knappe Stunde oder länger. Ich vermute, es hängt von der Beschädigung ihrer Körper und ihrer Aura ab.“ „Du vermutest?“ „Nenn’ es Feldforschung.“ Minoru drehte sich zu ihm um. „Wie viele Drachen hast du bitte getötet?“ „Den ein oder anderen. Aber nahe der westlichen Truppen fallen genug ab.“ „Verstehe ich das richtig? Du hast dich zurückgelehnt, um zu sehen, wie lange so etwas dauert?“ Der Han’yō zuckte mit den Achseln. „Hey, wenn sie ohnehin auferstehen, kann man sich auch die Zeit nehmen, oder nicht?“ Die Vorstellung wie Kaito in irgendeiner Baumkrone saß, an einem Apfel kaute und die Regenerationsdauer eines untoten Drachen anhand des Sonnenstandes festmachte, während einzelne Leichenteile über den Boden schlurrten, war verstörend. „Das ist morbide.“ „Nein. Es nicht zu tun, ist fahrlässig. Und das weißt du. Warum sonst hättest du nach der Dauer gefragt? Hattest du mir nicht erzählen wollen, worin der Unterschied zwischen gedankenlosen Kampf und ‘am Leben bleiben’ liegt?“ Minoru seufzte und wandte den Blick wieder nach vorn. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Kaito jedes Wort gegen ihn verwendete, aber der Fall war schneller eingetreten als erhofft. Andererseits hatte er durchaus recht: Die Dauer ihrer Regeneration zu bestimmen war grundlegend. Warum also widerte ihn die Vorstellung derart an? „Du hast Angst vor ihnen.“ Das kam wie ein Schlag von hinten. Minoru umklammerte die Lederzügel bis Un unzufrieden mit dem Kopf schlug. „Willst du dich jetzt wirklich streiten?“ „Nein. Fakten sind keinen Streit wert. Ich habe dich vor dem Dorf gesehen, wie du unter der Barriere beinahe in den Tod gerannt bist, weil dieses Biest angegriffen hat. Mach mir also nichts vor.“ Als Minoru nichts erwiderte und stattdessen die Schultern sinken ließ, lehnte sich Kaito zu ihm vor. „Du erinnerst dich wirklich nicht, hm?“ „Das sagte ich doch. Es sind nur Bruchstücke.“ „Vielleicht besser so. Der Tag war so schon beschissen genug. Aber ehrlich gesagt, hat mich das gewundert. Bei unserer ersten Begegnung mit den Drachen warst du nicht so panisch.“ „Wie du schon sagst: Der Tag war beschissen genug.“ Widerwillig erinnerte sich Minoru an einen brennenden Palast in hunderten Meter Tiefe und einen Sturz, als der Drache ihn aus purem Amüsement hatte fallen lassen. Mehrfach. Er vertrieb die Erinnerung mit einem Schaudern. „Dachte ich mir schon. Das passte nicht zu dir. In jeder anderen Auseinandersetzung warst du kalkuliert und vorausschauend.“ Hatte er gerade wirklich etwas Positives hervorgehoben? Entweder das ganze Gerede hatte seinen Blickwinkel verschoben oder der Schwefel stieg ihm allmählich zu Kopf. „Willst du nach deiner kleinen Schwertübung immer noch im Kampf neben mir stehen, oder soll ich dich woanders absetzen?“ „Ach, du machst dich schlechter als du bist. Du bist nicht dein Vater, aber gewiss besser als manch anderer. Ich schätze, das reicht. Und im Ernstfall wirst du ohnehin kein Schwert brauchen. Du bist ein Daiyōkai. Deine Kiefer sind verdammt nochmal größer als die meisten ihrer Soldaten.“ „Nun… darauf würde ich keine Strategie gründen.“ Minoru versuchte das Unwohlsein herunterzukämpfen. „Ich sollte diesbezüglich wohl noch etwas klarstellen…“ „Spuck schon aus. Bist du kein Daiyōkai?“ „Technisch gesehen schon.“ Ungeduldig tappte Kaito mit den Klauen am Sattelleder. „ Ich behaupte, dass du in meinem Beisein mehr über dich offengelegt hast, als gegenüber irgendwem sonst. Also kannst du auch einfach dabei bleiben, mir die Wahrheit zu sagen.“ „Ich kann es nicht steuern.“ „Ach komm schon! Ich habe dich doch gesehen. Und du verwandelst dich ständig!“ „In einen gewöhnlichen Hund. Das ist etwas ganz anderes.“ „Was soll daran bitte anders sein? Das ist doch dasselbe in größer!“ Minoru wandte sich zu ihm um und erwiderte seinen Blick wortlos, bis Kaito schließlich seine Schläfe massierte und ein Bein auf A-Uns Rücken zog. „Schön. Dann erklär’s mir!“ „Das ist schlecht in Worte zu fassen… . Ein Hund ist leicht. Als würde man eine Stufe hinunter springen. Das andere ist… - ich habe es zweimal getan und nie bewusst. Einmal hat mein Vater mich gezwungen und das andere Mal war es nach dem Palastangriff. Ich weiß nicht einmal, wie ich es anfangen soll. Da ist keine Stufe. Kein Boden. Nur ein gähnender Abgrund, dessen Ende man nicht sieht. Es geht nicht. Ich kann das einfach nicht. Ich kann nicht… na ja…“ „Fallen?“ Minoru erstarrte. Seine Augen flogen über Kaito, der so gelassen auf A-Uns Rücken saß, als hätte er ein Bergmassiv unter den Füßen und nicht mehrere dutzend Meter leere Luft. War es so einfach? Der Han’yō verschränkte die Arme vor der Brust. „Hör zu. Wir sind da grundverschieden und ich bin vermutlich der Letzte, der dir in dieser Hinsicht Ratschläge geben sollte Aber ich weiß in Ansätzen, wovon du sprichst. Das Ding hier“ - er hakte eine Klaue unter seine Kette - „bewahrt mich davor in diesen Abgrund zu fallen. Nebenbei verhindert es auch, dass ich hineinspringen kann, aber das steht auf einem anderen Blatt. So oder so: Ein Schritt tiefer in meine Natur und mein Yōki würde meinen Geist zerfetzen, bevor ich auch nur halb unten bin. Andere Halbdämonen kommen ohne so eine Sicherheitsmaßnahme aus, aber unser Großvater war zu mächtig. Mächtig genug, um mir zwei Generationen später noch Probleme zu bereiten und Möglichkeiten zu bieten, wo anderes Blut längst versiegt wäre. Was am Grund ist? Ich sag dir, was da ist: Eine haushohe Bestie mit Zähnen lang wie mein Arm und rasiermesserscharfen Klauen. Das bist du. Nichts weiter. Und mit etwas Glück bist du in der Form stumm und ich muss mir dein Gejammer über dein ach so schweres Los nicht weiter anhören. Sind wir ehrlich: Was dich im Zaum hält, ist lediglich die Erziehung deiner Mutter und die Tatsache, dass du als jüngstes Mitglied eines elitären Kreises aus Ungeheuern der unterste in der Hackordnung bist, während dein Vater verdammt weit oben rangiert. Ich wäre schon vor dem Frühstück dreimal in den Abgrund gesprungen, nur um zu sehen, was passiert.“ Minoru hatte ihm reglos zugehört, das leere Gefühl in der Magengegend ein immer schwerer werdender Stein. Schließlich jedoch lächelte schief. „Sicherlich wärst du das.“ Der Vormittag verstrich langsam. Nach dem offenen Austausch über Unzulänglichkeiten und Gemütsunterschiede, war kaum ein Wort gesprochen worden. Das hatte schließlich dazu geführt, dass Kaito zu Minorus Entsetzen eingeschlafen war. Nicht, weil er ihm die Ruhe nach den vergangenen Tagen nicht gegönnt hätte - er selbst hatte vor der Jagd auf den Hasen selbst ein paar Stunden geschlafen -, doch wie man sich so unbesorgt rücklings ausstrecken konnte, zwar irgendwie im Sattel aber dennoch in keinster Weise gesichert, die Arme unter dem Kopf verschränkt und seelenruhig schlafend, überstieg sein Verständnis. Er war froh, als Kaito schließlich wieder aufwachte und sich nach einigem Recken zurück in die Senkrechte zog. Dort gähnte er ausgiebig, trank aus seinem Beutel und sah sich um. „Takatsuma-Gebirge, sagtest du? Wo sind wir jetzt?“ „Präfektur Shinano. Die Stadt da hinten sollte Nagano sein.“ Kaito nahm einen weiteren, tiefen Schluck Saft aus der Flasche, der streng nach bitteren Beeren roch und sah sich ausgiebig um. „Eins muss man dir lassen: Dein Orientierungssinn ist beängstigend. Warst du hier viel unterwegs?“ „Nein. Den Westen kenne ich kaum. Aber ich mich in Karten eindenken, wenn es sein muss.“ „Willst du ins Schlachtgebiet reinfliegen?“ „Rate mal.“ Kaito lachte auf. „Nein, willst du natürlich nicht.“ Dann wurde er still. Er schien einen Moment zu brauchen, um sich damit abzufinden, dass Minorus Entscheidungsfindung für ihn so offen lag wie kaum eine andere. Schließlich wurde er wieder ernst. „Dass wir bislang keinen ungebetenen Besuch hatten, ist kein Zufall, nicht wahr?“ „Nein. Wir hätten früher hier sein können, aber A-Un ist einige Umwege geflogen, um nah an den Städten zu bleiben. Besser es sehen uns hunderte Menschen als nur ein Drache.“ „Wenn wir nicht reinfliegen, such eine Stelle, wo wir ungestört diesen Gestank abwaschen können. Der Schwefel steckt mir immer noch in der Nase.“ Das war in der Tat überfällig. Minoru nahm die Zügel auf und A-Un schwenkte nach Nordwesten. „Es gibt einen See in der Nähe. Die Stadt ist etwas entfernt, aber es liegen Dörfer am Ufer. Von dort sind es fünfzehn, vielleicht zwanzig Kilometer bis zum Takatsuma.“ „Unwegsames Gelände, nehme ich an?“ „Gebirgswald. Aber es ist Mittag und der Boden trocken. Selbst mit kleineren Zwischenfällen sollte das nicht länger als eine, vielleicht eineinhalb Stunden dauern. Je nachdem, wann wir auf echten Widerstand stoßen.“ Er spürte, wie Kaito hinter ihm erneut ein Bein auf A-Uns Rücken zog, spürte seinen Blick im Nacken, der unter anhaltendem Schweigen stechend wurde. Als Minoru sich schließlich umwandte, sah er sah Andeutung eines Lächelns, das alles bedeuten mochte. „Was?“ Kaitos Lächeln wurde breiter. „Ich beginne zu begreifen, warum dieser Wolf der Meinung war, dass es mit dir unterhaltsam werden könnte.“ Der Weg durch das Gebirge war nicht nur unwegsam, sondern gespickt mit Dämonen, die sich zu anderen Zeiten nicht einmal aus ihren Verstecken gewagt hätten - geschweige denn in einen Kampf mit den Inu. Auf der halben Strecke waren sie einer Gruppe niederer Schlangendämonen, zwei Oni und einem Jorōgumo begegnet. Wobei letzterer die Gestalt einer hübschen Frau angenommen und wenig erfreut reagiert hatte, als weder Kaito noch Minoru auf diesen Trick hereingefallen waren. Zu Minorus Überraschung hatte Kaitos Hochgefühl damit dennoch einen Dämpfer erfahren. „Ich hasse Spinnen“, fluchte er, einen weiteren Faden Spinnenseide aus seinem Gesicht ziehend. „Hier tummelt sich auch wirklich jedes Gesindel.“ „Wir sind eben beliebt.“ „Normalerweise würde ich die Schuld deinem Vater zuschieben. Er ist nicht gerade für Charme und enge Bündnisse bekannt. Aber dieses niederen Fußabtreter sind nichts als Opportunisten.“ Minoru schob sein Katana in die Scheide. „Es ist nicht gerade schmeichelhaft, wenn der Rest des Landes von unserer Niederlage ausgeht.“ Weit hergeholt war es jedoch auch nicht und das wussten sie beide. Tenseiga verschaffte ihnen eine Chance, nicht mehr. Und auch das nur in den richtigen Händen. So sehr Tōtōsai auch darauf gepocht haben mochte, dass das Schwert nun einen neuen Besitzer hatte, wollte Minoru es doch schnellstmöglich in den Händen seines Vaters sehen. Mitten auf dem Schlachtfeld zu versuchen, seine Aura in der einzig wirksamen Waffe zu bündeln, wenn er nicht einmal in der Lage war, diese Energien im Alltag zu bändigen, war schlicht unvernünftig. Vor allem, wenn so viel auf dem Spiel stand. Sie setzten ihren Weg rasch fort. Minoru hätte es vorgezogen, dem Gebirge auf vier Pfoten zu begegnen, aber auch dies war unvernünftiges Neuland. Während es für Takeru selbstverständlich gewesen wäre, wortlos die Absicht eines Hundes zu erkennen, konnte Kaito weder Mimik noch Körperhaltung deuten und sie kannten sich nicht ausreichend, um zu erahnen, was der andere im Sinn hatte. Also hatte Minoru auf diese Komfortzone verzichtet. Sie liefen durch den Wald. Immer in Sichtweite des anderen. In der Ferne trafen Klingen auf Stahl und Fleisch und der metallische Geruch von Blut wurde allmählich stärker. Penibel achteten beide darauf, dass sie dem Geruch entgegenliefen, die Richtung änderten, sobald er mit drehendem Wind nachließ. Als sich die unverkennbare Witterung von Liebstöckel unter die anderen mischte, hielt Minoru abrupt inne. Kaito, der es kurz darauf bemerkt hatte, schloss zu ihm auf und setzte einen Blick auf, der mit Worten untermauert sicher erneut Minorus Wissen um Blumen und Suppenkräuter hinterfragt hätte. „Wildschweine“, flüsterte Minoru, der nun auch durch die deutlichere Aura bestätigt sah, dass es sich nicht um einfache Tiere handeln konnte. „Wildschweine riechen nach Liebstöckel?“ „Ja. Sehr hilfreich, um ihnen aus den Weg zu gehen.“ Kaito zog Shiokiri mit einer Leichtigkeit aus der Scheide, die die übermäßige Länge der Waffe vollends überspielte. Geübt und beinahe lautlos. „Heute nicht.“ Minoru nickte zustimmend, beließ das Katana jedoch im Obi. Sie näherten sich dem Geruch, der alle anderen bald gänzlich überdeckte. Es verwunderte nicht, dass diese Dämonen so weit im Abwind standen. Sie wussten um ihre Schwachstelle, ebenso wie Minoru wusste, dass sein Fell nur im Winter Tarnung bot. Im dichten Unterholz lagerten fünf Männer. Bewaffnet mit Naginata und Bögen, sah man ihnen den Keiler nur anhand kleiner Hauer an. Das war schlecht. Dämonen, die so menschlich erscheinen konnten, waren in dieser Zahl vermutlich ein Hindernis. Wie erwartet war Kaito anderer Meinung. Gerade hatte er mit einem Wink zu verstehen gegeben, dass er sich um die linke Flanke kümmern wolle, da war er auch schon hinter einem Wacholder verschwunden. Minoru gab den Pfoten Vorzug und pirschte durch das Unterholz. An den Boden gedrückt schob er sich näher an die Gruppe. Die verharrte reglos, die Pfeile im Anschlag, aber auf einen Punkt vor ihnen gerichtet, der so tief lag, dass es unweigerlich mehrere Meter in die Tiefe gehen musste. Kaito machte sogleich Gebrauch davon, als sie sich alarmiert zu ihm drehten, schlug den Ersten mit Shiokiri nieder und trat den nächsten noch während des allgemeinen Aufruhrs in die Senke. Minoru nutzte den Moment und räumte von der anderen Seite auf. Ging dem Letzten aus der Deckung an die Kehle und überließ es dem Blutverlust, den Rest zu erledigen, während er sich im Arm eines anderen verbiss, der gerade nach seiner Naginata greifen wollte. Pfeile mischten sich unter das Gemenge und Minoru wollte sich gerade dem Ursprung zuwenden, da gellten Schreie des zuvor gestürzten Keilers aus der Senke und erstarben ebenso abrupt. Die Pfeile wechselten ihr Ziel, strichen einen mit Knurren unterlegten Treffer ein und versiegten gänzlich, als eine Gruppe Inu aus der Senke kam und sich über die übrigen Schützen hermachte. Kaito hatte gerade den letzten Gegner enthauptet und in die Tiefe gestoßen, als sich die Inu näherten. Minoru legte das Fell ab, sobald er bemerkte, dass Kaito Shiokiris Griff angesichts eines warnenden Knurrens nur noch fester umklammerte. Mit dem Handrücken wischte er sich das Blut aus dem Gesicht und betrachtete die Männer seines Vaters, die nun inne hielten und die knappste Verbeugung an den Tag legten, die man sich nur ausmalen konnte. So weit vom Geschehen entfernt hätte man mit mehr Höflichkeiten rechnen können, zumal sie eine Unterhaltung in Erwägung zogen. „Kōtaishi.“ Die Stimme war kalte Erkennntnis. Ein Mann mit aufwendig gearbeiteter Rüstung trat vor und verneigte sich abermals, was die anderen veranlasste, es noch tiefer zu erwidern. Sein Kimono war an der Schulter mit einem weißen Rautenmuster versehen und ansonsten vom schlichtesten Schwarz. Auch sein streng gebundenes Haar und seine Augen waren dunkel wie Pech. Jede Ähnlichkeit war allein aufgrund des Altersunterschiedes und der Haltung eine Anmaßung, doch die Augen erinnerten Minoru an Yûsei. Er war nicht bei den anderen gewesen, als Ryouichi die Beratung seinetwegen unterbrochen hatte. Dennoch kannte er die Schlichtheit der Rauten - aus Geschichtslektionen und dem Briefverkehr seines Vaters. Unendliche Listen an Reis-Lieferungen zu sortieren taugte am Ende doch zu etwas. „Akio-sama.“ „Ihr habt uns einen Hinterhalt erspart“, stellte das Ratsmitglied ohne Dank fest, warf einen knappen Blick auf Kaito und sah dann wieder zu Minoru. „Was tut Ihr hier?“ Kaito schnaubte hörbar. In der Tat war das eher eine Ansprache für einen ungehorsamen Jungen als den Erben seines Herrn - nichts, mit dem Minoru nicht gerechnet hätte. Nach allem, was er wusste, stand der Rat an Stolz und Ambitionen seinem Vater in nichts nach und Akios Berichte waren durch einen so schnörkellosen, gradlinigen Ton hervorgestochen, dass Minoru kaum Anbiederung erwarten konnte, wo sie selbst seinem Vater und dessen Vorgänger verwehrt geblieben war. Der Mann hielt sich einfach nicht mit Höflichkeiten auf. „Ich muss meinen Vater oder den Generalleutnant sprechen.“ „Ausgeschlossen. Im Frontgefecht -.“ Minoru zog Tenseiga aus der Scheide, die in ihrer Schlichtheit hervorragend in Akios Obi Platz gefunden hätte und sagte nichts. Das Ratsmitglied ließ seine Opalaugen über den Stahl wandern, dann blickte er Minoru an und nickte. „Wir eskortieren Euch.“ „Sehr zuvorkommend“, erwiderte Minoru mit einer Kälte, die von seinem Vater hätte kommen können. Akio, der Sarkasmus weder nutzte noch gewohnt war, ihm in dieser Form zu begegnen, brauchte einen Moment, um den Widerspruch zwischen Worten und Tonfall zu verarbeiten. Minoru jedoch fuhr fort. „Ihr habt Befehle, Ratsmitglied. Führt die aus. Mein Vetter und ich kommen allein zurecht.“ Es fiel Minoru nicht schwer, die Vorzüge einer Eskorte abzulehnen, weil es keine gab. Hier, am absoluten Rand der Schlacht, kamen sie zu zweit unauffälliger voran als ein ganzer Trupp es je vermocht hätte und im Getümmel von Klingen und Pfeilen weiter im Zentrum war die Mehrzahl weder ein Garant für Sicherheit noch beständig. Die Vorstellung, wie ein Pfeil durch die Kämpfenden voranzutreiben, um ans Ziel zu kommen, war absurd. Spätestens wenn sie ins Gemenge gezogen wurden, würde es schwierig genug sein, zu zweit zusammenzubleiben und davor brachte eine Eskorte nur unnötige Aufmerksamkeit - zumal von einem Ratsmitglied. Akio musste sich dieser Tatsachen bewusst sein. Demnach diente dieses Angebot einzig der Absicherung, alles in seiner Macht stehende getan zu haben, um den Sohn des Fürsten zu schützen - und ganz nebenbei dessen Schutzbedürftigkeit herauszustellen. Nachdem Minoru schon ungefragt die Wölfe ins Land geholt hatte, würde die Schelte sicher mehr als nachdrücklich ausfallen, wenn er seinen Vater zudem in die Lage brächte, Akio für die Demonstration solcher Inkompetenz auch noch zu Dank verpflichtet zu sein. „Wie Ihr wünscht“, schloss Akio, der offenbar zu viel Krieger war, um eine ermüdende Abfolge von Angeboten und Ablehnung folgen zu lassen. Er aber auch zu sehr Ratsmitglied, um sich gänzlich geschlagen zu geben. Er musterte Kaito mit einem Blick, der alles hätte bedeuten mögen, doch gewiss hatte Akio bei aller Abneigung nicht damit gerechnet, ein selbstzufriedenes Grinsen in den Mundwinkeln des Halbbluts vorzufinden. Die Miene blieb eisern, aber er winkte einen seinen Männer heran. Jung und nicht weniger streng als sein Herr. Sie sahen sich sogar ähnlich. „Wenn Ihr meine Eskorte ausschlagt, nehmt wenigstens meinen Sohn mit. Hisoka wird Euch zum Frontabschnitt des Generalleutnants führen und mir anschließend Meldung machen.“ Hisoka verneigte sich. „Kōtaishi. Es wäre mir eine Ehre.“ Die Absicht hinter diesem Schachzug war nun wirklich offensichtlich. Aber Minoru wollte den Mann nicht beleidigen, indem er ausgerechnet seinen Sohn abwies. Immerhin war Akio vermutlich noch eines der angenehmsten Ratsmitglieder. „Gut.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)