Between Our Sins von MissZemy ================================================================================ Kapitel 2: Pride ---------------- Ich wollte verschwinden. Aus diesem Haus, aus dieser Stadt, diesem Land...Kontinent...Planet... Oder ich bleibe in meinem Zimmer. Für immer. Das ist auch eine Möglichkeit. Ich stand am Fenster und starrte auf das Feld hinter dem Haus. Um meine Fingerspitzen herum beschlug die kalte Scheibe. Vor einer Woche war das Feld noch voller Mais, doch jetzt eröffnete es mir die Aussicht bis zum Horizont. Es gab nichts zu sehen, außer andere Felder und Bäume entlang der Landstraße. Es war bewölkt und die ganze Welt war grau. Es hätte 10 Uhr, aber genau so auch 18 Uhr sein können, an der Helligkeit hätte sich nichts verändert. Black hat mir heute früh geschrieben und gefragt wie es gestern lief. In der Hoffnung, dass keiner ihm etwas von meiner panischen Flucht gestern erzählt hat, schrieb ich nur, dass ich leider ziemlich schnell weg musste. Auf dem Campus werde ich wohl jedem aus der Gruppe gestern ausweichen müssen. Egal ob sie sich an mein Gesicht erinnerten oder nicht. Ich bin einfach sozial vollkommen unangepasst und inkompetent, das ist Fakt. Wie oft hab ich mich hier weg gewünscht, wollte in die Welt eines Buches verschwinden. Nicht nur in sie eintauchen, so illusorisch beim Lesen. Nein, wirklich körperlich dort sein und nie wieder zurückkehren. Lieber würde ich ohne Waffen einem Drachen gegenüber stehen, als mich mit Jura zu befassen. Selbst wenn ich dabei sterben würde, wäre es ein würdigeres Ende im Kampf zu fallen als an Diabetes oder Bluthochdruck in einem Altersheim zu sterben und abgesehen davon, dass sich so ein Ende überhaupt nicht gut in einem Buch machen würde. Dieses Wunschdenken half mir zu vergessen oder besser gesagt zu verdrängen, wie die Realität mich erbarmungslos mit schliff. Das Leben macht mir einfach Angst, weil ich keine Ahnung habe was ich machen soll und mit 19 schon die Lebenseinstellung eines 80 Jährigen habe. Wann hört das alles endlich auf? Wann kann ich endlich entspannen? Ein Paradebeispiel meiner Ratlosigkeit, lag neben mir auf dem Tisch. Ich hab die Nummer von meiner Hand abgeschrieben und dann panisch versucht sie von meiner Haut abzuwaschen, bis mein ganzer Handrücken rot war, nur um dumme Kommentare meiner Eltern zu vermeiden. Nun lag die Nummer da und ich stand vor der Wahl, sie einzuspeichern und vielleicht tatsächlich eine Nachricht zu senden oder, aber die Nummer solange liegen zu lassen bis es zu peinlich ist noch eine Nachricht zu senden und sie dann in den Müll zu werfen. Angetrieben von meinen sozialen Schuldgefühlen von gestern Abend, entschied ich mich für die erste Variante. Ich aktualisierte meine Whatsapp-Kontakte und „Jesus“ tauchte zwischen den Namen ehemaliger Freunde und Mitschüler auf. Als ich mir sein Profilbild ansah, war ich mir bei der Namenswahl plötzlich gar nicht mehr so sicher. Es war eindeutig der Kerl von der Karli, allerdings mit einer Augenklappe, einem Piratenhut und gerade dabei eine halbvolle Flasche „Captain Morgan“ in die Kamera zu präsentieren. Vielleicht wäre „Blackbeard“ angebrachter gewesen? So eröffnete ich das Gespräch mit: „Hi. Schickes Profilbild :D“, bevor ich zu lange darüber nachdenken konnte. Dann passierte...nichts. Klar, nicht jeder hatte die Zeit pausenlos am Handy zu hängen und auf eine Nachricht eines Fremden zu warten. Weiß auch nicht, was ich erwartet habe. Da, jetzt hatte ich sie, die Zeit über jedes Wort, jeden Buchstaben meiner Nachricht nachzudenken und zu analysieren wie man sie falsch verstehen könnte oder was man über mich denken könnte. Kann man Nachrichten eigentlich auch noch zurückziehen wenn sie schon gesendet wurden? Mein Handy vibrierte. Eine neue Nachricht von Jesus. Ich zögerte etwas bevor ich sie öffnete. Von Jesus: „Hehe danke... ist von der Verlobungsfeier eines Kumpels“ Ich starrte auf die Nachricht und weiter? Soll ich fragen wie es ihm geht? Er war immer noch online. Wartet er auf eine Antwort oder fühle ich mich zu wichtig? Von Jesus: „Deinem Bild nach zu urteilen, bist du so ein junger Businessman mit einem Startup-Unternehmen? ;)“ Stimmt, ich hatte immer noch eins dieser Bewerbungsbilder als Profilbild, weil es die einzigen Fotos von mir waren auf denen ich älter als 12 Jahre war und nicht vollkommen schrecklich aussah. An Jesus: „Meine Firma und ich werden den Markt revolutionieren. Bei einer Spende über 1. Mio. €, darfst du das Produkt sogar vor allen anderen testen.“ Von Jesus: „Allein der Gedanke daran klingt verlockend. Ich muss nicht mal wissen was du da verkaufst um zu sehen dass es ein Erfolg wird XD“ An Jesus: „Stell dir Toast vor. Nur ist es kein normales Toast, es ist, und jetzt kommt's, bereits vorgetoastetes Toast. Denk an die Zeit-und Energieersparnis!“ Von Jesus: „NEIN! :o Ist die Welt denn überhaupt bereit dafür? Ist das etwa der nächste Schritt der Evolution?“ Von Jesus: „Ich sollte mir bester schon die Rechte an deiner Biografie sichern, bevor sie jeder will.“ An Jesus: „Nur wenn der Preis stimmt ;P“ Von Jesus: „btw ich sehe es geht dir besser. Freut mich :)“ Keine Sorge, ich spare mir an dieser Stelle das gesamte Chatprotokoll. Das Entscheidende war, dass es Tage so weiterging. Ich hatte Angst meine Handy zu lange aus der Hand zu legen um keine Nachricht zu verpassen. Mein Leben drehte sich um dieses kleine schwarze Rechteck. Ich blieb länger auf, als es gut für mich war und nächsten Morgen hatte ich schon wieder Nachrichten. Er verpasste es nie mir pünktlich zu meinem Wecker ein „Guten Morgen“ zu senden. Black entging meine Obsession auch nicht, er fragte kurz nach, mit wem ich da schreibe und das einzige was ich sagen konnte war: „Mit so einem Typen...“. Das war nicht gelogen, denn in den ganzen Nachrichten war kaum sinnvoller Informationsgehalt. Nach 2 Wochen hatte ich zum Beispiel immer noch keinen Namen oder ein Alter. Deshalb erschien mir jedes kleine Detail, welches ich erfuhr als ein entscheidendes Puzzleteil, die zusammen irgendwann einen vollständigen Menschen ergaben. Sie waren sogar so wichtig, dass ich eine Liste mit Dingen führte die ich zwischen den Zeilen raus gelesen habe, denn der ständige Sarkasmus machte es einem nicht leicht. Bisher wusste ich einige seiner Lieblingsfilme, die alle so unterschiedlich waren, dass man eigentlich nicht glauben konnte, dass ein Mensch sie mochte, Disneyfilme gemischt mit Filmen über den Absturz von Drogenabhängigen und Zwangsprostitution. Ich wusste, dass er gerne schrieb, aber nur selten wirklich dazu kam, obwohl er meist die ganze Nacht wach war. Und ich wusste, dass letzten Dienstag sein Fahrrad kaputt gegangen ist. Trotzdem fanden wir immer irgendwas worüber wir schrieben, egal wie belanglos oder sinnfrei es war und es störte mich nicht. Ehrlich gesagt merkte ich nicht mal, dass wir schon über Wochen schrieben, es kam mir vor als wären es höchstens ein paar Tage. Dennoch es waren tatsächlich fast zwei Wochen, dass musste ich spätestens feststellen, als Jesus mich fragte ob ich zu einem Straßenfest auf der Karli gehen würde, von dem Black schon Monate schwärmte. Scheinbar war Zeit vergangen. Die Frage warf mich etwas aus der Bahn, denn die offensichtliche Antwort war natürlich: Nein, da sind Menschen, da geh ich nicht freiwillig hin. Doch dieser Abneigung stand meine Neugier entgegen, endlich wieder die Person zu treffen, die in letzter Zeit mein Leben dominierte ( hoffentlich ohne es zu wissen) und vielleicht mehr über sie zu erfahren. Wenn es außer meiner Angst, noch eine zweite treibende Kraft in meinem Leben gab, dann war es Neugier. Aber Jesus ließ mir nicht viel Zeit zum Überlegen und schickte eine Nachricht die mein Schicksal besiegelte: „Ich würde dich echt gerne wiedersehen :D“ Selbst mir fiel zu diesem Zeitpunkt auf, dass ich für ihn mehr schwärmte, als vorpubertäre Mädchen für Boybands und schlechte Liebesfilme. Allerdings war es unmöglich dagegen anzukämpfen, denn das bloße Wissen darum half leider nicht weiter und verhinderte auch nicht, dass ich bei jeder Nachricht wie ein Idiot grinste. Und so kam es, dass ich am Samstagabend tatsächlich im Auto saß und Richtung sicherer Untergang fuhr. Ironischer weise habe ich die Zeit davor damit verbracht möglichst leger auszusehen, was sicher einfacher klingt als es für mich ist. Keine Hemden, kein Gel in den Haaren, das ist viel zu overdressed wie ich seit meinem letzten Besuch auf der Karli wusste. Am besten hätten zwar die Klamotten aus der Jugend meines Opas gepasst, aber die hab ich leider nicht vererbt bekommen. Deswegen musste ich mich mit einem einfachen grauen Sweatshirt zufrieden geben. Als ich in die Straße einbog, war es kurz vor 18 Uhr. Einige Minuten hatte ich noch bis, wir uns am Waldi treffen wollten. Die letzten Sonnenstrahlen funkelten am Horizont und auch die Temperaturen meinten es gut mit uns. Alles hätte so schön sein können, wäre da nicht die Straßensperre aufgrund des Festes und vollgeparkter Seitenstraßen. Ich musste in einer Parallelstraße, einen gefühlten Kilometer entfernt vom Treffpunkt, parken und hoffte mit einem Sprint noch pünktlich erscheinen zu können, dabei hab ich doch extra das Auto genommen. Auf den letzten Metern bremste ich runter, teils weil ich nicht keuchend ankommen wollte und teils, weil zu viele Menschen im Weg waren um sich schnell fortzubewegen. Mit jeder Minute, die nach 18 Uhr verging wurde ich panischer. Der Platz vor dem Waldi war noch voller als beim letzten Mal und ich konnte Jesus nirgends entdecken. Ich zückte mein Handy. Er war online. An Jesus: „Wo bist du? Ich finde dich nicht“ Meine Finger zitterten. Von Jesus: „Warte kurz“ Ich sah mich nochmal in der Menge um, ob ich jemand entdeckte der tippte. Fehlanzeige...Aber ich sah einen braunhaarigen Mann in einem senfgelben Pullover mit kleinen, grünen Dreiecken darauf, der auf eine niedrige Ziegelwand kletterte und von dort aus, etwa genauso verzweifelt wie ich, auf das Gedränge blickte. Zum Rufen konnte ich mich nicht durchringen, versuchte jedoch erst mal mit hektischen Armbewegungen auf mich aufmerksam zu machen, leider erfolglos. Also drängelte ich mich zur Mauer durch und grüßte mit einem erleichterten „Hey“. Jesus sah zu mir runter und sprang von der Mauer. „Hi, da bist du ja. Ich hab dich auch überhaupt nicht gesehen.“ „Ich hoffe, du musstest nicht zu lange warten. Bin leider etwas später da als geplant“, sagte ich nervös und strich mir durch die Haare. Jesus beobachtete diese Bewegung genau. „Es sieht besser aus, wenn deine Haare so sind...“ „Wie? “ Ich zupfte noch etwas an den blonden Strähnen herum. „Na, so wie sie gerade sind...so offen, ohne das Klebzeug drin.“ „Danke?“, lächelte ich verunsichert. Ich konnte ihm kaum ins Gesicht gucken, weil ich so aufgeregt war. Dabei entdeckte ich, dass die Dreiecke auf seinem Pullover eigentlich kleine Kakteen darstellen sollten und dann sah ich ES. Dieses aus Jute bestehende, blau-lila-pink gestreifte Monster, welches über seiner Schulter hing. Wie hab ich das anfänglich übersehen?! „Schick, oder?“, fragte Jesus stolz und das ganz fern jeglicher Ironie. Ich habe wohl zu sehr gestarrt. Er nahm die Tasche von der Schulter, damit ich sie besser betrachten konnte. Sie hatte auf der Vorderseite nämlich einen Aufdruck, in großen Lettern stand da: „Bi yourself“ Clever. Egal wie hässlich diese Tasche war, es war einfach clever. So sparte man sich die peinliche Frage nach Sexualität und wusste sofort woran man war. Nicht, dass ich es nicht bereits vermutet, oder besser gesagt, gehofft habe, aber so machte man es sich doch ziemlich leicht. „Sie ist auf jeden Fall aussagekräftig.“, antwortete ich und sah ihn jetzt doch an, um seine Reaktion zu deuten. Er lächelte. „Gut...“ „Gab es die auch in Regenbogenfarben?“, interessierte ich mich. „Ich glaube, da würde der Spruch nicht so cool klingen. Tut mir leid.“ Jesus zuckte mit den Schultern und versuchte dabei eine gespielt ernste Miene zu wahren. Als ich ihm einen skeptischen Blick zuwarf, musste er, jedoch endgültig lachen. „Aber keine Sorge, die Message ist angekommen.“, sagte er, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. „Gut...“ Wir liefen los und folgten dem Strom, der sich weiter in die Straße drängte. Das eigentliche Fest begann erst ein paar Kreuzungen weiter. Es war auch nach Sonnenuntergang überraschend warm, was sicher nicht zuletzt an der großen Menschenansammlung lag. Die Läden entlang der Straße waren alle offen und freuten sich über den Überfluss an Kundschaft an diesem Abend. Irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, an den Laternen zusätzlich Lichtgirlanden anzubringen, die alles verspielter wirken ließen. Straßenmusikanten sorgten für die nötige festliche und entspannte Stimmung. Die Musik änderte sich an jeder Straßenecke, aber gerade lagen die Klänge eines alten Rocksongs in der Luft, dessen Name mir partout nicht einfallen wollte. Wir bahnten uns den Weg in einen großen Laden, der in einer ehemaligen Fabrikhalle entstanden ist. Verkauft wurde allerlei Schnickschnack, Tücher mit eigenartigen Mustern, Klangschalen, Traumfänger, jede Menge Schmuck aus Holz oder Metall, handgemachte Sachen auf Filz... Jesus versuchte sich daran, einer Klangschale einen Ton zu entlocken. Das wollte nicht so recht gelingen, außerdem schlug er etwas zu fest gegen das Metall und ein lautes Klirren ließ die anderen Kunden aufhorchen. Er verzog das Gesicht wegen des Tons, zichte: "Ich wollte dich eh nicht kaufen." und entfernte sich mit großen Schritten von der Schale. Mein Blick fiel auf eine quadratische, organgene Wollmütze mit blauen Bommeln an den Ecken. Beinah aus Mitleid nahm ich dieses entstellte Objekt in die Hand. "Setz mal auf!", forderte meine Begleitung. Ich warf nochmal einen Blick auf die Mütze. "Wirklich?" "Hab dich nicht so. Da sind bestimmt nur halb so viele Flöhne drin wie man vermutet." Ich zögerte, also griff er nach der ebenso hässlichen Schwester der Mütze, welche er gerade in der Hand hielt. "Auf drei. Eins, zwei,...drei!" Nun standen wir beide mit diesen Wollbiestern auf dem Kopf da und konnten nicht aufhören zu lachen. Er sah so bescheuert aus und ich bestimmt noch schlimmer. „Komm...“ Jesus sah mich an und musste wieder lachen. Es war ein wenig hypnotisierend ihn dabei anzusehen, das konnte nicht einmal diese Mütze vermiesen. Er hatte weiche Gesichtszüge, die fast schon feminin wirkten und seine Augen blitzten in diesem Licht goldgelb auf. In ihnen lag ein so offener und klarer Ausdruck, den ich kaum beschreiben konnte. Sie leuchteten voller Lebensfreude und Energie. „Komm wir machen ein Selfie.“, versuchte er es nochmal und kramte in der Tasche nach seinem Handy. „Muss das sein?“ Diese Frage war sinnlos, er war fest entschlossen. „Einmal der Mütze entsprechend gucken, bitte!“, meinte er, nachdem wir endlich eine Position gefunden haben bei der wir beide gut auf dem Display zusehen waren. Lustig, dass wir das gleiche unter dieser Ansage verstanden und eine Grimasse zogen. „Perfekt. Ich schicke dir das Foto später rüber. Dann kannst du dich auch dran erfreuen.“ „Zu gütig...“ Endlich konnten diese Mützen weg. Ein zweite Tür aus dem Laden führte in einen Hof, in dem eine Bühne aufgebaut war. Die Band die spielen sollte, baute gerade erst auf und auf der Bühne tanzten stattdessen Kinder zu der Radiomusik aus den Lautsprechern. Alles in diesem Hof strahlte eine sonderbare, familiäre Atmosphäre aus: die selbst gezimmerten Stände an denen vegane Grillwürstchen verkauft wurden, die Pflanzen die in alten Blecheimern gepflanzt waren, die Wäsche die an Wäscheleinen zwischen den Fenstern hing und die Menschen allgemein schienen sich alle untereinander zu kennen, obwohl sie unmöglich alle hier leben konnten. Die ganze Straße wirkte so, als wäre es eine Art großes Familientreffen, bei dem es keine Fremden gab. Nun ja fast keine, denn ich war ja schließlich auch noch da. Jesus wiederum war völlig integriert und grüßte jeden Zweiten an dem wir vorbeiliefen. Dazwischen fand er unglaublicher Weise noch Zeit mit mir zu reden. Wir griffen wieder sinnfreie Themen auf oder lachten über Sachen, die wir in den Läden fanden. Also eigentlich alles wie in den Nachrichten, nur dass ich ihn jetzt sehen konnte. Wie lang konnte man eigentlich eine Person anstarren ohne gruselig zu wirken? Dieser Frage ging ich ausführlich nach, studierte wie er sich regelmäßig seine Haare aus dem Gesicht strich und sie wieder hinters Ohr steckte, wie er auf seiner Unterlippe kaute und wie er lächelte wenn er bemerkte, dass ich ihn ansah. Flirten war nicht meine Stärke, also versuchte ich es auch nicht. Je später es wurde desto voller und lauter wurde es. „Wenn du nichts dagegen hast, dann gehen wir da mal kurz hin.“ Jesus zeigte auf eine Gruppe, die es sich mit ein paar Kästen Bier auf den Gleisen der Straßenbahn bequem gemacht hat. „Ich hab versprochen ihnen 'Hallo' zu sagen, wenn ich sie sehe.“ „Klar, kein Problem.“ Ich konnte wohl kaum erwarten, dass er seine Freunde wegen mir links liegen lässt, also folgte ich ihm und blieb etwas abseits stehen. „Warum seid ihr eigentlich immer am Saufen, wenn ich euch treffe?“, scherzte Jesus, statt einer Begrüßung. „Die Wahrheit ist doch, dass du nur deswegen mit uns befreundet bist.“, antwortete ihm ein schlaksiger Mann mit kurzen schwarzen Haaren und Dreitagebart. „Tim, erlaube mir eine Berichtigung: Du bist mit mir befreundet, weil irgendjemand für dein Bier zahlen muss.“ „Pfff, das eine Mal...“ „Ja, das eine Mal als ich dir eine Kiste finanziert hab.“ Sie wurden von einer jungen Frau unterbrochen: „Ist dein Date schon abgehauen?“ Die braunhaarige Frau betonte, das Wort besonders melodisch, um ihm eine ominöse Vieldeutigkeit zu verleihen. Ich merkte wie mein Blut in den Kopf schoss. Date ließ alles so ernst wirken. „Eigentlich, nicht... wo...“ Er drehte sich nach mir um. „Du kannst ruhig näher kommen. Sie fallen eigentlich relativ selten Menschen an.“ Ich stolperte unsicher näher und winkte leicht. Es hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Situation im Waldi und das machte nichts besser. Die Frau streckte mir ihre Hand entgegen. „Moin, ich bin die Anne.“ Ich musste mich etwas nach vorne beugen um an ihre Hand zukommen. „Hi, ich bin Abel.“ Sie zog ihre Augenbrauen hoch. „Na gut, wenn ihr so wollt, dann bin ich eben Eva.“, meinte sie belustigt und sah zu Jesus. Dieser sah hingegen mich verwirrt an. „Meinst du das Ernst?“ Die ganze Gruppe wirkte ein wenig verstört. Hab ich was verpasst? War irgendwas falsch? Hätte ich ihre Hand nicht schütteln sollen? Oder glaubten sie mir nicht, dass ich wirklich so heiße? Na gut. Ich griff nach meinem Portemonnaie, zog meinen Führerschein raus und reichte ihn Anne. „Ich heiße ganz offiziell so.“, versicherte ich. Anne sah auf den Führerschein, dann zu mir, wieder zurück zu Jesus, schließlich bekam sie einen Lachanfall. „Du wusstest es auch nicht, oder? Oh Gott!“ So langsam wurde ich wütend. Konnte jemand endlich sagen, was hier los war? Ich musste mich von keinem auslachen lassen. Dabei hat alles so gut angefangen. „Und was ist an dem Namen, jetzt so lustig?“, fragte ich genervt. „Weißt du wie ich heiße?“, kam von Jesus zurück. „Woher denn? Du hast dich nie vorgestellt, genauso wie ich.“ Anne lachte sich währenddessen immer noch kaputt. Das war alles so unangenehm, dass mein Körper verkrampfte. Jesus legte sich eine Hand übers Gesicht. „Warte...“ Auch er holte sein Portemonnaie aus der Tasche um mir einen Personalausweis zu zeigen. Plötzlich kam ich mir dumm vor wütend geworden zu sein. „Schön dich kennenzulernen, Cain!“, verkündete ich und hob ratlos die Hände. „Ihr wusstet es nicht...“, presste Anne zwischen den Lachern hervor. Das kurzhaarige Mädchen neben ihr stieß sie leicht an. „Komm, so lustig ist jetzt auch wieder nicht.“ Anne war da ganz anderer Meinung, sie fand es sogar so lustig, dass sie ein Foto von unseren Ausweisen machen musste um im Notfall einen Beweis zu haben. Den genauen Charakter dieses Notfalls erläuterte sie jedoch nicht. Jetzt wurde es auch Jes...Cain langsam zu viel und wir verabschiedeten uns, nachdem alle amtlichen Papiere ihren ursprünglichen Besitzer gefunden hatten. Als Entschädigung klaute Cain ihnen zwei Flaschen Bier und steckte sie in den Jutebeutel. „Tut mir Leid, ist irgendwie doof gelaufen.“, sagte er, nachdem wir uns ein Stück von der Gruppe entfernt haben. „Ist schon ok...“ Was konnte ich jetzt anderes sagen? Es war nicht wirklich seine Schuld. „Normalerweise ist Anne nicht so. Zumindest nicht ganz so...“ „Hatte doch alles, auch was Gutes. Jetzt weiß ich endlich wie du heißt.“ „Stimmt, wie lange es wohl sonst gedauert hätte, bis einer von uns endlich gefragt hätte?“ „Von meiner Seite wäre vermutlich keine Frage gekommen. Ich hab einen Kumpel an der Uni, den kenne ich seit über einem halben Jahr und weiß nicht wie er heißt.“ „Und ich hätte dich einfach die ganze Zeit 'Dude' genannt, es wäre dir gar nicht aufgefallen.“ Er biss sich kurz auf die Lippe. “Oder vielleicht Captain Schmollbacke...“ Ich blieb stehen. Wie er auf die Idee gekommen ist, war nachvollziehbar, aber etwas überraschend war es schon. Ich hätte etwas anderes erwartet, nicht sicher was genau, aber nicht Schmollbacke und besonders nicht Captain. „Dein Ernst?“ Cain zuckte unschuldig mit den Schultern. „Es war eine recht spontane Entscheidung...“ „Trottel...“, flüsterte ich und war erleichtert, dass er mich nicht fragte wie ich ihn genannt habe. Vor uns hatte sich in der Menge eine Kreis gebildet und man hörte begeistertes Klatschen. Aber von unserem Standpunkt konnte man nicht erkennen, was in der Mitte vor sich ging, also drängten wir uns etwas weiter nach vorne. Gerade passierte nicht viel. Eine Frau und zwei Männer, in Gauklerkostümen, standen um einen mit Plastikblumen verzierten Bollerwagen und berieten sich. "Wie es aussieht haben wir's verpasst.", sprach Cain enttäuscht aus, was ich mir gerade dachte. Die Frau sah sich mehrmals im Kreis um und redete auf einen der Männer ein, bis er irgendwann nachgab und mit einem Stab in der Hand, der fast so groß war wie er selbst, in die Mitte des Kreises trat. Er trug ein rot-schwarzes Kostüm und sein Gesicht war so geschminkt, dass es wie ein Totenschädel aussah. Cain stupste mich leicht mit dem Ellbogen an. "Das ist mein Mitbewohner.", sagte er euphorisch und war sichtlich begeistert, dass wir doch noch etwas zu sehen bekamen. "Du wohnst in einer WG?", wollte ich fragen, aber der Mann in der Mitte unterbrach mich. „Weil heute so ein wunderbarer Abend ist, wollen wir mit allen Traditionen brechen und noch eine Zugabe geben.“ Während er das sagte, zündeten die anderen zwei die Enden des Stabs an. „Dafür muss, aber auch das Trinkgeld stimmen“, fügte er mit einem Zwinkern hinzu. Die Feuershow begann mit ein paar kleineren Tricks, die zunehmend immer schwerer und gefährlicher wurden. Ich hatte anfangs Sorge, dass der Mann sich seine ebenfalls feuerroten Dreadlocks anzündet. Ihm jedoch, schien das alles keine besondere Mühe zu machen. Seine Bewegungen waren so leicht und flüssig, dass sie das Feuer jegliche Gefährlichkeit verlieren ließen. Es war so warm und hell, dass man nicht wegsehen konnte. Bei jeder Drehung hinterließ der Stab leuchtende, feurige Streifen in der Luft und ich fühlte mich wieder wie ein Kind im Zirkus, vollkommene Begeisterung. Dem Applaus nach zu urteilen, ging es nicht nur mir so. Die drei Künstler verbeugten sich, erfreut über den erfolgreichen Auftritt. Die Frau von ihnen ergriff das Wort: „So sehr wir uns über den Applaus freuen, wären wir auch über ein paar Euro von Ihnen entzückt, wenn Ihnen der Auftritt gefallen hat.“ Das ließen sich die Meisten hier nicht zweimal sagen und zückten bereits Münzen aus ihren Geldbörsen, während die drei mit Gauklerhüten in der Hand eine Runde durchs Publikum machten. Zu uns kam der Rothaarige, der immer noch etwas aus der Puste war. Ich warf drei Euro in den Hut, Cain hingegen machte keine Bewegung ihm etwas zu geben. „Ich zahle schon Miete, das muss reichen.“, erklärte er sich und lächelte als wäre er sich keiner Schuld bewusst. Der Andere sah ihn entgeistert an. „Das wirst du noch bereuen...“, zischte er mit einem leeren Blick, bevor er weiterging. „Solltest du Angst haben?“, fragte ich. Cain sah dem Mann kurz hinterher und antwortete mit einem einfachen „Ja“. Allmählich bekamen wir beide Hunger und machten uns auf die Suche nach einem Lokal, das nicht gnadenlos überfüllt war. Genauso gut hätten wir hier nach dem Heu im Nadelhaufen suchen können. An einem Restaurant das Pizza verkaufte, gab Cain schließlich auf und meinte, dass er für diese Pizza auch die meterlange Schlange in Kauf nehmen würde. Also beauftragte ich ihn damit, mir eine Salami Pizza zu kaufen, sollte er noch vor Sonnenaufgang am Bestelltresen ankommen. Mir war es im Laden einfach zu voll, deshalb wartete ich lieber draußen. Allgemein wurden mir die Menschen hier langsam zu viel. Am Anfang des Abends mag es noch gegangen sein, aber jetzt war es nur noch anstrengend und nervig. Man wurde ständig angerempelt und mit dem steigenden Alkoholpegel der meisten Besucher, stieg auch die Lautstärke. Das reichte schon um mich zu überfordern. Bisher konnte ich, das ganz gut vor Cain verstecken um ihm die Laune nicht zu verderben. Bisher... Ich wartete bestimmt eine halbe Stunde und steigerte mich in den Gedanken hinein, wie sehr die Menschen hier mich nervten. Offensichtlich keine besonders schlaue Entscheidung. Ich hatte wieder meine schützende Pose, mit den verschränkten, an mich gepressten Armen eingenommen und war bereit dem Nächsten der mich berührt an die Gurgel zu springen. Cain kam mit zwei Pizzaschachteln in den Händen aus dem Laden gestolpert. „Sorry, es hat doch länger gedauert. Ich dachte... “ Er verstummte als ich zu ihm hoch sah, mein Blick sprach wohl Bände. „Alles gut bei dir? Willst du nach Hause? “ „Können wir einfach irgendwohin gehen, wo es ruhiger ist?“ Eine normale Bitte, dennoch fiel es mir schwerer sie auszusprechen, als es eigentlich sollte. Ich wollte weiterhin mit ihm Zeit verbringen, nur eben nicht hier. Doch dieses Straßenfest war ja der eigentliche Grund, warum wir uns getroffen haben. „Ähm, klar.“ Die Erleichterung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich hab gerade schon gedacht deine Oma sei gestorben, so wie du geguckt hast.“ Cain orientierte sich einen Moment lang und beschloss, dass wir zu einem zwar unkonventionellen, wie er es ausdrückte, aber wahrscheinlich leereren Ort gehen, der nicht zu weit von hier lag. Ich folgte ihm durch Seitenstraßen, auf denen es zum Glück schon ruhiger zuging, zu einem Viadukt. Dort stiegen wir eine Treppe zu einer S-Bahn Station hoch und liefen bis zum Ende der Plattform, über die Gleise, dann durch ein Loch im Zaun. „Es war früher mal ein Stahlwerk, bis einige Gebäude ausgebrannt sind und sie es geschlossen haben.“ Unkonventionell, war durchaus das richtige Wort. Es war zu dunkel um viel zu erkennen, ich sah nur kaputte Fenster und Graffiti. In der Ferne hörte man die Bässe und das Gelächter des Straßenfestes. Bei jedem Schritt knirschten die Glasscherben unter unseren Füßen. Je weiter wir uns von der Station entfernten desto dunkler wurde es, doch Cain stampfte zielstrebig voran. Zwischen den verlassenen Häusern, die bisher eine durchgehende Front bildeten, öffnete sich eine Lücke und plötzlich realisierte ich, dass wir uns immer noch auf der Höhe des Viadukts befanden. Die Fenster an denen wir die ganze Zeit vorbeiliefen, gehören zu den Obergeschossen der Gebäude und der Boden lag etwa 15 m unter uns. Das Blut wich aus meinen Fingern. Ich hatte nicht unbedingt Höhenangst, aber etwas mulmig wurde mir dennoch. Die Tatsache das Cain neben einer Leiter stehen blieb, die zum Dach eines Gebäude führte, machte alles noch ein Stückchen schlimmer. „Entspann dich, Abel. Das Dach ist stabil, ich hab es oft genug getestet.“, versicherte er, während er mir die Pizzaschachteln in die Hände drückte. Es war ein nicht besonders hohes Flachdach und die Leiter wirkte auch vertrauenswürdig. Trotzdem war ich nicht besonders begeistert von dieser Idee. Nachdem Cain nach oben geklettert war, nahm er mir die Pizzen wieder ab (was mit ein bisschen Strecken problemlos funktionierte) damit ich auch hochklettern konnte. Ich musste mir die Hände an meiner Jeans abwischen, weil ich sonst Angst hatte abzurutschen. Vorsichtig, Stufe für Stufe, kämpfte ich mich langsam hoch. Cain sah amüsiert dabei zu und kicherte wie ein Schulmädchen. Bei der letzten Stufe reichte er mir die Hand und zog mich mit einem Ruck hoch. Da waren wir nun auf dem Dach einer einsturzgefährdeten Fabrik, umgeben von unzähligen, weiteren dunklen Dächern die sich bis zum Horizont zogen und über uns der Sternenhimmel in seiner vollsten Pracht. „Großstadt Romantik pur“, flüsterte Cain. Ich antwortete nicht, egal was ich sagte, es würde diese Atmosphäre ruinieren. Das erste Mal seit langem fühlte ich mich nicht fehl am Platz. Ich wollte gerade, nur hier sein und alles andere vergessen. Dieser Moment durfte nicht Enden, denn er würde nicht wiederkommen. Was bleiben wird, sind nur Erinnerungen die lediglich blasse Schatten von jetzt sein werden. Wie lange werde ich mich an das Gefühl des frischen Windes hier oben, auf meiner Haut erinnern? Wie lange an den Geruch der frischen, klaren Luft? Und wie lange würde es dauern bis ich vergaß wie es war, nicht allein zu sein? Ich merkte wie meine Sicht sich wegen der Tränen trübte die meine Wange runter liefen. Nicht weinen! Nicht jetzt! Ich versuchte möglichst unauffällig mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen und mich so zu drehen, dass man nicht sehen konnte wie überemotional ich war. „Hey...“ Cain legte mir vorsichtig eine Hand auf die Schulter. „Was ist passiert?“ „Nichts, ich weiß es nicht.“, sagte ich mit zittriger Stimme und musste noch mehr schluchzen. „Sieh mich bitte an.“, bat Cain sanft. Er sah mir mit einem sehr ernsten Gesichtsausdruck direkt in die Augen. „Egal, was es ist, es wird alles gut. Ich verspreche es!“ In seiner Stimme lag kein Anzeichen von Zweifel, sie war genauso ernst wie sein Blick und man konnte nicht anders als ihm zu glauben. Ich wollte ihm glauben. Er presste mich an sich und alles wurde warm. Ich dachte an nichts mehr, außer daran, dass er hier war. Da war niemand mehr, keine Uni, keine Eltern, keine Zukunftsängste. Nur wir. Nichtsdestotrotz brauchte ich meine Zeit um mich wieder zu beruhigen. „Die Pizza ist bestimmt schon kalt.“, flüsterte ich schließlich. Cain ließ mich los um mein Gesicht besser sehen zu können. Ich schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Wir sollten sie wirklich langsam essen.“ „Mir fehlen die Worte.“, sagte er lachend und wuschelte mir durch die Haare. Ich hatte Recht, die Pizza war eisig, doch das war mir jetzt egal. Dafür war ich viel zu fertig. Cain erinnerte sich an das Bier in seiner Tasche und zauberte es hervor. Natürlich bot er mir eins an. „Ich muss später noch nach Hause fahren. Also, nein danke.“ „Du siehst gerade aus, als könntest du echt gut eins vertragen.“ Er rollte die Flasche zu mir rüber. Ich hielt einen Moment inne und spielte das Bier zwischen meinen Händen hin und her. „Es war dumm zu weinen. Sorry.“ Die Flasche rollte wieder zu ihm. „Daran ist nichts dumm. Man weint nicht ohne Grund und das sollte man nicht ignorieren. Also entschuldige dich nicht dafür. Das macht dich auch nicht unmännlich oder sonst was.“ Von dem Klischee das Männer nicht weinen sollten, hielt ich selbst nicht viel. Ich weinte oft, in letzter Zeit sogar zu oft, für meinen Geschmack. Das hab ich auch als Kind schon gemacht. Ich weiß gar nicht wie oft meine Mutter mich deswegen angeschrien hat. Damals hatte ich es wenigstens einen halbwegs vernünftigen Grund. Ich hatte Angst vor einer Impfung oder vor dem Zahnarzt oder ich habe mein Spielzeug verloren. Es war immer etwas greifbares und etwas was man beheben konnte. Nun war es schwieriger. Oft schien alles ok, dann plötzlich traf es mich wie ein Schlag ins Gesicht und ich musste weinen, weil eben doch nicht alles so schön war, wie ich es mir gerne einredete. „Willst du darüber reden?“ „Nein“ Dafür ist dieser Ort zu schön und der Moment zu kostbar. Also aßen wir erst mal schweigend unsere Pizza. Cain griff nach seinem Handy, nachdem es das dritte Mal in Folge vibrierte. Er schüttelte den Kopf. „Ich muss Anne kurz antworten, sonst kommt sie noch auf falsche Ideen.“, sagte er und vertiefte sich ins intensive Tippen. Da ich absolut keine Ahnung hatte, wie spät es war, zückte ich ebenfalls mein Handy. Kurz nach Mitternacht. Ich hatte nur ein paar Benachrichtigungen über Emails, die aber alle Spam waren. Oh, eine neue Nachricht von Jesus. Es waren die Selfies mit den dämlichen Mützen. Und ich sollte unbedingt seinen Namen ändern! Leider war er schneller. „Hast du gesehen, ich hab dir die Fotos gesen... Jesus?!“ Cain zog die Augenbrauen hoch. „Ihr habt eine gewisse Ähnlichkeit, ok?“ Ich änderte den Namen so schnell wie möglich, er war dennoch nicht überzeugt. „Das ich meinen Dornenkranz und das Kreuz leider zu Hause gelassen hab, hat dich bestimmt enttäuscht.“ „Ja, total. Besonders auf das Kreuz hab ich mich gefreut.“ „Jesus...pfff“, murmelte er noch etwas vor sich hin, nahm einen großen Schluck vom Bier und legte sich aufs Dach. Ich saß im Schneidersitz neben ihm und beobachte wie er die Sterne bestaunte. Dann drehte er sich auf einmal zu mir. „Erzähl mir etwas über dich.“ „Was möchtest du denn wissen?“ „Alles, was du verraten willst.“ Mein Hirn hatte plötzlich jede Information, die mich betraf völlig vergessen. „Willst du vielleicht eine präzisere Frage stellen?“ „Nur eine? Na gut. Wie alt bist du?“ Eigentlich konnte er mir so viele Fragen stellen wie ihm einfielen, aber wenn er es so wollte. „Du hast eine Frage und du verschwendest sie, darauf zu fragen wie alt ich bin? Was willst du damit?“ „Antworte einfach!“ „Ich bin 19 und du?“ „Bisschen älter.“ „60?“ „Also erst mal: Fick dich! Und Zweitens ich bin 23.“ Ich hätte ihn nicht viel älter als mich geschätzt, aber in diesem Alter fielen ein paar Jahre mehr oder weniger kaum auf. „Darf ich dich auch was fragen?“ „Klar nur zu. Bevor wir wieder in eine Situation kommen, wie mit unseren Namen und allen auffällt, dass wir uns kaum kennen. Schlimm genug, dass wir es selbst wissen, oder?“ Sein Satz klang leicht kryptisch. „Wie meinst du das?“ „Findest du es nicht komisch, dass wir uns unterhalten als würden wir uns ewig kennen und dabei kannten wir nicht einmal unsere Namen? Aber, dass ist jetzt erst mal egal. Du wolltest was fragen.“ „Was machst du eigentlich wenn du nicht gerade auf Dächern chillst? So beruflich, meine ich.“ Cain grinste. „Gute Frage. Theoretisch studiere ich Germanistik, praktisch hab ich in der Zeit vielleicht 3 Vorlesungen besucht. Ein Hoch auf dieses fantastische Studienfach.“ „Weißt du was genau so spannend ist wie Germanistik? Jura! Und jetzt rate mal was ich studiere!“ „Dein Ernst? Du siehst gar nicht aus wie ein... Obwohl warte, doch!“ „War das eine Beleidigung?“ „Ist reicher Schnösel eine Beleidigung?“ „Hey!“ Ich boxte ihn leicht. Er musste ja nicht wissen, dass er teilweise recht hatte. Bei dieser Unterhaltung erfuhr ich mehr über ihn als in den Wochen vorher. Er erzählte, dass er bei seiner Oma aufgewachsen ist, weil seine Eltern gestorben sind. Es war überraschend, wie frei er darüber reden konnte, als wäre es das Normalste der Welt. Und von seinem Traum ein Schriftsteller zu werden und durch die Welt zu reisen um Abenteuerromane zu schrieben. Er hatte sogar schon Routen erstellt, zu Orten die er unbedingt sehen wollte. Ich merkte langsam wie meine Konzentration allmählich nachließ und die Kontaktlinsen in meinen Augen fühlten sich mittlerweile an wie Glassplitter, weil meine Augen so trocken waren. So sehr ich auch hier bleiben wollte, es war Zeit zu gehen. Cain trank noch die letzten Schlucke aus der zweiten Flasche Bier und wir machten uns auf den Rückweg. Die Treppe runter, wieder durch das Loch im Zaun. Als wir wieder auf der Plattform der S-Bahn Haltestelle liefen, griff Cain nach meiner Hand. So etwas kindisches und ich lief trotzdem rot an. Es gab offiziell keine Hoffnung mehr für mich. Das Fest war vorbei, die Schaufenster waren alle dunkel, nur vereinzelt saßen noch ein paar Menschen auf der Straße und genossen die nun herrschende Ruhe. Ich mochte es, wie unser Schatten auf dem Asphalt aussah. So sehr, dass ich beinah an meinem Auto vorbei lief, weil ich auf den Boden starrte. Nun kamen wir zum unangenehmen Teil. „Da wären wir...“ Der Wagen wurde natürlich erst mal ausgiebig betrachtet. Das Urteil: „Ein BMW...nicht schlecht.“ „Und du hast es nicht weit von hier?“, lenkte ich ab. „Ich muss nur zwei Straßen weiter, keine Sorge.“ Peinliches Schweigen. „Also ich...hm. Es war ein wirklich schöner Abend.“ Die Aufregung war wieder da. „Ja, fand ich auch. Aber ich kann verstehen, dass du jetzt los musst.“ Auch Cain hatte seine Gelassenheit verloren und zupfte am Ärmel seines Pullover herum. „Dann komm gut nach Hause.“ „Du auch. Du hast es ja weiter.“ Keiner bewegte sich, wir starrten nur und warteten auf irgendeine Geste des Anderen. Mein Herz hämmerte so laut, dass ich es in meinem Kopf lauter hörte als meine Gedanken. Eine Umarmung ist doch angebracht oder? Ich machte einen Schritt auf ihn zu, für mehr reichte mein Mut nicht. „Kannst du vielleicht wegsehen?“, fragte Cain nervös. „Wieso?“ Statt einer Antwort, hielt er mir die Augen mit einer Hand zu und presste kurz seine Lippen gegen meine. Dann stolperte er etwas von mir weg und wartete auf irgendeine Reaktion. Ich entschied mich, wie sollte es auch anders sein, für die schlimmst mögliche. Mein Kopf hat vollkommen auf Durchzug geschaltet. Ich stand regungslos da und durchbohrte ihn mit meinem Blick. „Alles gut bei dir?“ „Ich...ich glaube schon. Ich fahre jetzt.“ Mein letzter Satz klang weniger wie eine Aussage, sondern eher wie eine Frage. Cain nickte ermutigend. „Schreib mir wenn du zuhause bist.“ Ich stieg ins Auto und fuhr los. Wenn die Polizei mich angehalten hätte, hätten sie wohl gedacht ich hab irgendwas genommen, denn ich grinste wiedermal wie ein Idiot. Nichts war wie immer und das war auch gut so. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)