Kirschblüten im November von Sakuran ================================================================================ Kapitel 5: Aller Anfang ist schwer (Mimi) ----------------------------------------- Die Hitze im Zimmer war kaum auszuhalten und meine Haute klebte an dem Stoff meiner Kleidung. Ein schwacher Windzug streifte meine Wange und ließ mich allmählich meine Augen aufschlagen. Etwas desorientiert blickte ich direkt auf den Hinterkopf eines jungen Mannes. Ich war mir nicht sicher, ob ich noch immer schlief, also berührten meine Finger prüfend sein dunkelbraunes Haar. Er zeigte keinerlei Reaktion. Ein zaghaftes Lächeln schmückte meine Lippen, als mein Blick über seinen Körper hinweg zum geöffneten Fenster wanderte. Die Vorhänge wiegten sich gleichmäßig im Wind und von draußen dröhnte der Lärm der Straßen nach oben. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf zur Seite und erblickte das schlafende Gesicht von Koushiro, der sorglos auf dem Rücken lag. Ich hatte also nicht geträumt. Ich lag hier im Bett mit meinen beiden besten Freunden und zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass der gestrige Abend ebenfalls kein Traum gewesen war. Mit einem leisen Seufzen legte ich mich auf den Rücken und fuhr mit beiden Händen durch mein nass geschwitztes Haar. Dieses Gefühl von Leere machte sich wieder in mir breit und alles woran ich denken konnte war dieses eine Wort. »Sternenkind« Ich sah noch immer das Gesicht von Tai vor mir, wie er mich am Ufer des Flusses in seinen Armen hielt, versuchte mir mit seinen Worten Trost zu spenden, mich vergessen zu lassen, mir die Schuld von den Schultern zu nehmen und dass er gleichzeitig genau wusste, dass er versagt hatte. Tai wusste, genauso wie ich, dass es Wunden gab, die einfach niemals heilen würden. Doch am meisten beschäftigte mich, dass er zu mir sagte, er könnte mich erst dann um Verzeihung bitten, wenn er sich selbst verziehen hätte. Mein Blick wanderte zu ihm. Ich sah lediglich seinen Rücken. Er sah so friedlich aus und ich wusste, dass ich den gestrigen Abend ohne ihn niemals überstanden hätte. Ich war inzwischen so routiniert darin, mich hinter einer freundlichen Fassade zu verstecken. Hinter blöden Witzen und zweideutigen Anspielungen, die auf keinen Fall Preis geben sollten, wie verletzlich ich im Inneren bin. Doch ich erinnerte mich genau an seinen tief traurigen Blick. Diese verletzten braunen Augen, die so hilflos und verloren in meine sahen und nach etwas suchten. Nach was hast du gesucht Tai? Was suchen wir beide ineinander? Werden wir es jemals finden oder uns in dieser endlosen Suche verlieren und daran zerbrechen? Du sagtest mir, dass es andere Menschen um uns herum gewesen seien, die diese Entscheidung trafen. Aber das was du nicht weißt ist, dass diese Geschichte mehr als nur eine Wahrheit hat. Vielleicht hattest du recht damit, vielleicht bist du nicht für mich da gewesen und konntest mich nicht beschützen. Aber ich glaube, selbst wenn du an meiner Seite gewesen wärst, hätte es nichts an meiner Entscheidung geändert. Wir waren zu jung, zu dumm, zu naiv und zu unvorsichtig. Vor acht Jahren hatte ich wirklich geglaubt, dass wir beide uns nach dieser einen Nacht lieben würden und du der Mann für den Rest meines Lebens wärst. Aber die Realität sieht nun mal ganz anders aus. Das mit uns war kein Märchen. Es gab kein Happy End und auch jetzt war ich mir nicht sicher, was das mit uns werden sollte. Gestern Abend hatte ich für mich den Entschluss getroffen, dass ich niemals wieder über unsere gemeinsame Vergangenheit sprechen möchte. Ich wollte alles hinter mir lassen und die logische Konsequenz würde demnach auch sein, dass ich diese Gefühle für dich, die irgendwie immer noch da waren, niemals zulassen dürfte. Das mit uns war vorbei, es hätte niemals anfangen dürfen, denn es brachte nur Schmerz und Leid für uns beide. Das habe ich gestern in deinen Augen gesehen. Auch wenn ich nicht weiß, was mit dir damals passiert ist, wie du es verarbeitet hast, so wurde mir am Ufer dieses Flusses mit einem Mal bewusst, dass etwas in dir zerbrochen ist. Wie dumm von mir, aber ich fühlte mich dafür verantwortlich. Denn es ist tatsächlich so wie du sagtest, es ist nicht nur ein Teil von mir gestorben, sondern auch von dir. Manche Wunden heilen eben nicht. Ich ertrug meine eigenen Gedanken nicht länger und schälte mich langsam zwischen den beiden aus dem Bett. Im Badezimmer gönnte ich mir eine kalte Dusche und machte mich zurecht. Neben meinem Make Up setzte ich auch meine übliche Maske auf und versuchte meinen Geburtstag weitestgehend zu vergessen. Mit einem frechen Grinsen weckte ich diese Schlafmützen auf und nach längerem Gegrummel standen auch Tai und Koushiro endlich auf. Wir verbrachten noch einen wundervollen Tag in Kyoto. Ganz ohne Streit, Sorgen oder mühseliger Worte über unsere Vergangenheit. Taichi wirkte merkwürdig entspannt. Diese erdrückende Spannung zwischen den Männern war überhaupt nicht mehr zu spüren. Während der Zugfahrt zurück nach Tokio schlief ich sofort ein. Endlich saß ich in einem klimatisierten Raum und musste nicht in meinem eigenen Schweiß baden. Auch wenn dieser kurze Ausflug auf der einen Seite sehr traurig und verletzend war, so hatte ich auch zahlreiche neue Erinnerungen sammeln können und ich freute mich auf den morgigen Arbeitstag beim Magazin. Als wir den Bahnhof erreichten war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Gefangen in unserem Alltag, unserer eigenen erwachsenen Welt gingen wir auseinander. Hinter uns ein Berg aus ungesagten Worten. In den nächsten Tagen hatte ich unbeabsichtigt wenig Kontakt zu Koushiro und Tai. Ich konzentrierte mich auf meinen neuen Job und war bereits nach wenigen Tagen wieder völlig gefangen in der Redaktion. Ich kam spät nach Hause, aß zu wenig und trank auf den nächtlichen Partys mit meinen Kollegen definitiv zu viel Alkohol. Von einem gesunden und erholsamen Schlaf mal ganz zu schweigen. Inzwischen hatte der Sommer seinen Zenit überschritten. Die Tage wurden wieder erträglich und in den Nächten kühlte es sogar angenehm ab. Ich mochte den August. Die schwüle Hitze des japanischen Sommers ging langsam vorüber, aber es war dennoch nicht zu kühl und man konnte die langen Tage an der frischen Luft oder am Meer genießen. Nach einem schier endlosen Terminchaos schafften es Hikari und ich endlich uns auf einen Kaffee zu verabreden. Ich eilte gerade von der Redaktion zum vereinbarten Treffpunkt und war wie immer zu spät dran. Meine jüngere Freundin und ich hatten uns so viel zu erzählen und stets fehlte uns die Zeit. Ich war nun inzwischen seit knapp zwei Monaten in Tokio und wir hatten es einfach nicht geschafft uns endlich mal alleine zu treffen. Es war ein verregneter Donnerstagabend und ich öffnete die Tür zu dem kleinen Café. Hikari saß geduldig wartend am Fenster und hatte mich bereits entdeckt. Mit einem freudestrahlenden Gesicht ging ich zu ihr und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. „Entschuldige meine Verspätung...“ flüsterte ich und setzte mich ihr gegenüber auf den Stuhl. „Kein Problem. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet von Mimi Tachikawa.“ Oh verdammt, mein Ruf eilte mir wohl voraus. Eine gewisse Röte zeichnete sich auf meinen Wangen ab und es war mir sichtlich peinlich, dass ich ständig zu spät kam. Dennoch fanden wir beide schnell ins Gespräch. Unsere Themen überschlugen sich nach all den Jahren. Ich erzählte ihr von meiner Zeit auf dem Collage und der Uni in Kalifornien. Hikari war unglaublich neugierig und quetschte mich aus wie eine reife Tomate. Doch irgendwie fiel mir auf, dass wir ständig nur von mir sprachen. Ich grinste verschmitzt, während ich mir meinen zweiten Cappuccino bestellte. „Sag mal Hikari, was ist denn mit deinem Studium? Wie kam es dazu, dass du nicht mit Takeru nach Osaka gegangen bist? Und warum gibt es in deiner Wohnung kein einziges Foto von euch beiden?“ Ich hatte zwar über all die Jahre auch sporadischen Kontakt zu dem kleinen Blondschopf, aber so wirklich hatte Takeru auch nicht durchblicken lassen, was damals zwischen ihm und Hikari vorgefallen war. „Du fällst aber mit der Tür ins Haus...“ murmelte sie mit einem verlegenen Gesichtsausdruck. „Wir haben uns so lange nicht gesehen und es ist nicht nur viel in meinem Leben passiert. Es macht mich einfach traurig zu wissen, dass ihr beide keinen Kontakt mehr miteinander habt.“, meine Antwort war ehrlich und ich sah in ihrem unsicheren Blick, dass Hikari irgendwie schon gerne darüber sprechen wollte, aber nicht wusste wie sie anfangen sollte. „Mich macht es auch traurig, dass ich ihn überhaupt nicht mehr in meinem Leben habe.“, verwirrt sah ich zu ihr. Ich schluckte hart und dann fing Hikari an, mir ihre Geschichte zu erzählen. „Irgendwie hatte alles mit der Scheidung meiner Eltern angefangen. Damals war es unerträglich zu Hause. Ich flüchtete mich zu Takeru und verbrachte sehr viel Zeit mit ihm. Natürlich missfiel das meinem Bruder, der nicht wollte, dass ich mich mit dem Bruder von Yamato abgab.“, Hikari unterbrach ihren Redefluss kurz und sah mich entschuldigend an. „Meinem Bruder ging es damals sehr schlecht. Das hatte mehrere Gründe und irgendwie fühlte ich mich schuldig. Also traf ich mich weniger mit Takeru. Er konnte es nicht verstehen und bemühte sich nur noch mehr um mich. Ich hatte damals das Gefühl mich zwischen meinem Bruder und meinem besten Freund entscheiden zu müssen. Der Krach zu Hause, das Chaos mit meinem Bruder und diese immer intensiver werdenden Gefühle für Takeru setzten mich so dermaßen unter Druck, dass ich mich entscheiden musste. Als ich die Zusage für das Studium in Osaka bekam, schien es eine ideale Fluchtmöglichkeit zu sein. Endlich aus diesem Irrenhaus auszubrechen, alles hinter mir zulassen und mit Takeru fortzugehen….“, ein erschütternd schmerzvolles Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen und Hikari wich meinem Blick plötzlich aus. Ich konnte die Bitterheit in ihren Worten hören, als sie nach einer längeren Pause weiter sprach. „...aber es kommt eben alles anders als man denkt. Meine Eltern ließen sich scheiden, mein Bruder brauchte mich damals an seiner Seite und mir wurde bewusst, dass ich die Vergangenheit nicht hinter mir lassen konnte. Ich wusste, dass Takeru mich niemals zurück gelassen hätte. Er wäre immer an meiner Seite geblieben. Also musste ich dafür sorgen, dass es nichts mehr gab, was ihn hier in Tokyo halten würde. Ich musste dafür sorgen, dass er mich losließ und das Studium in Osaka alleine anfangen würde.“ Tränen rollten über ihre Wange, doch Hikari wischte sie blitzschnell weg. Ich merkte, wie mein Mund trocken wurde und mir einfach die Worte fehlten. Vielleicht gab es aber auch überhaupt nichts dazu zusagen. Langsam schob ich meine Hand über den Tisch und berührte ihre zitternden Finger. Sie sah mich an und lächelte sanft. „Schon gut. Es ist so lange her. Heute tut es nur noch ein kleines bisschen weh. Im Grunde habe ich mich dann auf diese Beziehung eingelassen, mit einem Kerl, den ich gar nicht wollte. Aber ich habe damit mein Ziel erreicht. Takeru war am Boden zerstört, unsere Freundschaft zerbrach und er verließ Tokio, um in Osaka zu studieren. Alles in allem ging mein Plan auf.“, sie seufzte leise und spielte mit dem Strohhalm in ihrem Eistee. „Nur leider war diese Beziehung einfach furchtbar, denn man kann nicht zwei Menschen gleichzeitig lieben.“ Was hatte sie da gerade gesagt? Man könnte nicht zwei Menschen gleichzeitig lieben? Sie liebte Takeru? Immer noch? Schon immer? Aber heute sah die Welt doch anders aus. Wenn sie ihn immer noch liebte, warum gab sie ihm nicht nochmal eine Chance? Es wäre doch schrecklich, weiter in dieser Ungewissheit zu leben. „Du solltest auf dein Herz hören und den Mut aufbringen, dir und ihm nochmal eine Chance zu geben. Meinst du nicht, dass es sich unwahrscheinlich schwer leben lässt mit diesem ständigen »Was wäre wenn« im Kopf?“, in meiner Stimme klang deutlich eine gewisse Fassungslosigkeit heraus. „Was denn für eine Chance? Ich habe ihm damals das Herz gebrochen. Ich wollte, dass er sein Glück woanders findet. Es wäre doch völlig unfair, wenn ich jetzt wieder ankomme und versuche mich in sein Leben zu drängen. Außerdem will er sicherlich nichts mehr von mir wissen...“, sehnsüchtig starrte sie auf ihre Finger. „Aber woher willst du das denn wissen?“, jetzt hatte es mich aber gepackt. Diese Geschichte zwischen den beiden durfte doch nicht so enden. „Es gibt keine Anrufe von ihm, keine Geburtstagswünsche und wenn wir uns das eine oder andere Mal in Tokio begegnen, weil er seine Mutter besucht, gibt es nur eine flüchtige Begrüßung und nichts weiter. Als seien wir alte Bekannte, die sich nichts weiter zu sagen haben und so ist es wahrscheinlich auch.“ Ich sah, dass dieses Gespräch Hikari an den Rand ihrer Belastbarkeit führte. Ungewollt hatte ich sehr tiefe Verletzungen aufgerissen und bohrte mit meinen Fingern in ihren Wunden. „Takeru hat am Samstag Geburtstag, aber sicherlich weißt du das. Er hat mich eingeladen und er wird hier in Tokio in der Wohnung seiner Mutter feiern. Du solltest einfach mitkommen. Sicherlich werden auch Joey und seine Verlobte da sein und natürlich werde ich auch Koushiro mitschleifen. Es wird bestimmt ein lustiger Abend.“, mit einem zutiefst entsetzten Gesichtsausdruck starrte mich die kleine Brünette an. Hikari schob ihre Brille zurück auf die Nase und holte tief Luft. „Bist du bescheuert? Hast du mir gerade nicht zugehört? Ich gehe doch nicht auf seinen Geburtstag. Nachher ist da seine Freundin oder wer auch immer und ganz bestimmt will er mich nicht an diesem Abend sehen.“ Ich stand plötzlich auf und knallte etwas Geld auf den Tisch. „Weißt du was Hikari, das Leben ist zu kurz für diese Scheiße! Das schlimmste was passieren kann ist, dass er dir sagt du sollst dich verpissen. Gut, dann ist es blöd gelaufen, aber du weißt wenigstens woran du bist und kannst mit diesem Kapitel abschließen. Alles ist besser als diese Ungewissheit.“ Ihre großen runden Knopfaugen starrten mich fragend an und ich schenkte ihr lediglich ein süffisantes Grinsen. „Zieh dir einen heißen Fummel an, ich hole dich gegen acht ab.“ Ich weiß zwar nicht, was ich mir eigentlich dabei gedacht habe, aber irgendwie wollte ich nicht, dass die beiden in ihrem Unglück ertranken. Nach all den Telefonaten mit Takeru hatte ich ziemlich schnell raus, dass es da keine andere Frau in seinem Leben gab. Neben Studium und Sport spielte sich da relativ wenig in Osaka ab und seinen Geburtstag feierte er eigentlich auch nur in Tokio, weil er mit mir feiern wollte. Die zwei führten ein völlig trübsinniges Leben, einander vermissend und nicht dazu in der Lage, sich auf irgendwas anderes einlassen zu können. Wo war das denn bitte sinnbringend? Aber ein anderer Aspekt unseres zurückliegenden Gespräches beschäftigte mich viel mehr. Was hatte sie mir zwischen den Zeilen über ihren Bruder erzählt? Es muss eine Zeit gegeben haben, in welcher es Taichi sehr schlecht ging und Hikari ihn deswegen keinesfalls verlassen konnte. Dieser besorgniserregende Zustand ihres Bruders hatte bei Hikari sogar Schuldgefühle ausgelöst. Was war denn mit Tai los gewesen? Ging es ihm schlecht wegen der Scheidung seiner Eltern oder gab es andere Gründe? Der Rest meiner Arbeitswoche verstrich relativ schnell. Am Samstagvormittag gab es noch einen Termin mit einem jungen Designer und danach stürzte ich mich in meinen Samstagabend. Da es sich um eine Geburtstagsfeier unter Freunden handelte, entschied ich mich für eine schlichte schwarze Jeans und ein schulterfreies Top. Bei meinem letzten prüfenden Blick in den Spiegel stellte ich jedoch fest, dass man unter meinem rechten Schulterblatt die erste Kirschblüte meiner Tätowierung erkennen konnte. Ich seufzte leise und zog mir etwas anderes über. Auch wenn ich mir eigentlich ziemlich sicher war, dass Taichi nicht auf die Party kommen würde, wollte ich dieses Risiko nicht eingehen. Ich wollte einfach nicht, dass er dumme Fragen stellte, denn er hätte sofort gewusst, was dieser blühende Kirschzweig zu bedeuten hatte. Der Abend war angenehm warm und die Grillen veranstalteten ein ohrenbetäubendes Konzert in den Vorgärten der zahlreichen Hochhäuser. Es waren lediglich zwei Querstraßen, die ich passieren musste, um Koushiros Wohnung zu erreichen. Ein gut aussehender rothaariger junger Mann öffnete mir die Tür. Der frische Duft von Zitrusblüten und Nelken stieg mir in die Nase. Ich mochte den Geruch seines After-Shaves und schmiegte meinen Kopf etwas dichter an seinen Hals, als mich mein bester Freund zur Begrüßung in den Arm nahm. „Du siehst gut aus...“, sagte ich, als er sich von mir löste und ich sein Outfit musterte. „Ich habe mir auch Mühe gegeben, schließlich begleite ich heute die beste Modejournalistin Japans.“, er grinste mich verschmitzt an und griff nach seiner Armbanduhr, die auf der kleinen Anrichte im Flur lag. Ich schlüpfte aus meinen Pumps und folgte dem groß gewachsenen Mann ins Wohnzimmer. Etwas verwundert erblickte ich einen wenig amüsiert drein blickenden Taichi Yagami auf der Couch sitzend. Er hatte seine Beine übereinander geschlagen und die Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet. Ich konnte seinen neugierigen Blick überall auf meinem Körper spüren und in derselben Sekunde beglückwünschte ich mich dafür, dass ich mich doch für ein anderes Oberteil entschieden hatte. „Was machst du denn hier?“, fragte ich höflich und blieb direkt vor ihm stehen, während Koushiro im Badezimmer verschwand. „Izzy hatte mir gesagt, dass ihr heute zusammen auf den Geburtstag geht und da wir uns einige Tage nicht gesehen haben, wollte ich diese Gelegenheit nutzen und etwas mit dir besprechen.“ Irgendwie fühlte ich mich ertappt. Er hatte vollkommen recht, wir hatten uns tatsächlich einige Tage nicht gesehen. Wobei ich ihm keinesfalls absichtlich aus dem Weg ging. Wir hatten wohl einfach nur beide sehr viel zu tun. Entweder hatte ich keine Zeit etwas mit den beiden zu unternehmen, oder Taichi musste länger in der Kanzlei arbeiten. „Was gibt es denn?“, fragte ich vorsichtig und hoffte, dass es nichts Ernstes war. „Du weißt doch, dass ich ab und an einige Projekte unterstütze, die sich um kranke oder benachteiligte Kinder kümmern.“ Ich nickte verstehend und setzte mich ihm gegenüber auf den niedrigen Wohnzimmertisch. Tai lächelte und beugte sich etwas zu mir. Schon wieder waren es seine dunkelbraunen Augen, die mich völlig nervös machten. Meine Handflächen wurden feucht und mein Herz fing an, wie wild gegen meine Brust zu pochen. „Nächstes Wochenende ist eine Art Campingausflug mit Kindern, von denen ein Elternteil an Krebs erkrankt ist. Die zwei Sozialarbeiter, die diesen Ausflug begleiten wollten, haben sich beim Surfen verletzt. Der eine das Bein und der andere den Arm. Ist auch egal, jedenfalls wollte ich diesen Ausflug nicht ausfallen lassen, weil sich die Kinder natürlich wahnsinnig darauf freuen. Ich werde mitfahren und wollte fragen, ob du mich begleiten könntest. Schließlich kannst du ganz gut mit Kindern und weißt sowieso immer alles besser.“, seine Stimme war irgendwie unsicher und herausfordernd zugleich. Ich grinste über beide Ohren und lehnte mich etwas nach hinten. „Soll das etwa heißen, dass du mich um Hilfe bittest?“ Taichi zog seine rechte Augenbraue nach oben und gab einen merkwürdig abwertenden Zischlaut von sich. „Ich würde es nicht Hilfe nennen, eher um deine Gesellschaft.“ „Oh, um meine Gesellschaft? Sehr interessant...“, ich grinste weiter und musterte seine leicht geröteten Wangen. „...ich gewähre dir den Genuss meiner Gesellschaft nur dann, wenn du mich heute auf diese Geburtstagsfeier begleitest.“, plötzlich färbte sich sein liebliches Gesicht finster. „Du spinnst wohl? Ich gehe ganz gewiss nicht auf eine Feier dieser blonden Ishida Sippschaft.“ „Aber Takeru ist kein Ishida und deine Schwester wird auch dort sein.“ Ich war wirklich etwas erstaunt über seine wütende Reaktion. „Ist doch egal. Ich will auf keinem Fall diesem Drecksack Ishida begegnen und diese unschöne Szene muss ich meiner Schwester nun wirklich nicht antun.“ „Woher willst du denn wissen, ob Yamato dort sein wird?“ Ach verdammt, ich hatte gerade wirklich seinen Vornamen ausgesprochen. Ich konnte regelrecht mit ansehen, wie Taichis Blick in unbändiger Raserei erstarrte. Er stand langsam auf und ging an mir vorbei. Ich hätte mich ohrfeigen können, manchmal war ich wirklich wie ein Elefant im Porzellanladen. „Tai, bitte, ich...“, doch er ließ mich nicht aussprechen. „Mimi, selbst die minimalste Wahrscheinlichkeit reicht mir aus. Ich will ihn nicht sehen!“, ich hörte in seiner Stimme, dass ich kaum noch eine Chance hatte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Ich wusste warum er so reagierte, denn auch ich wollte Sora und Yamato nicht unbedingt begegnen. Doch nach all den Jahren schätzte ich mich selbst so reif ein, dass ich die beiden ignorieren und drüber stehen könnte. Aber offensichtlich schmerzte dieser Verrat meinen brünetten Freund viel mehr, als mich. Es war nicht meine Absicht jetzt über diese lange zurückliegende Angelegenheit zu diskutieren, davon mal völlig abgesehen, dass ich unsere Vergangenheit sowieso hinter mir lassen wollte, also seufzte ich nur leise. „Ich kann dich verstehen und trotzdem hätte ich mich darüber gefreut, dich heute Abend an meiner Seite zu wissen. Nur für den Fall der Fälle.“, ich schlüpfte in meine Schuhe und hörte Koushiro aus dem Badezimmer kommen. Tai sah mir ein letztes Mal in die Augen. Sein Blick war nicht länger wütend, eher entschuldigend. „Ich kann es einfach nicht. Auch nicht für dich.“ Mit diesen Worten ließ er mich im Flur stehen. Kurz überlegte ich, ob ich ihm eventuell hinterher gehen sollte, doch Koushiro hielt mich davon ab. „Lass ihn. Das muss er mit sich selbst ausmachen. Wir sollten Hikari abholen, denn wie immer sind wir zu spät dran.“, sein sanftmütiges Lächeln machte mich etwas zuversichtlicher. Nachdem wir Hikari abgeholt hatten, kamen wir eine gute Stunde zu spät zum Geburtstag. Bereits alle Gäste waren da und die Schuhe stapelten sich vor der Tür. Plötzlich griff Hikari nach meiner Hand und zog mich panisch zurück von der Tür. Koushiro sah uns verwundert hinterher. „Was….was ist denn?“ stotterte ich stolpernd während Hikari mich zu sich zog. Ihr kurzes olivgrünes Kleid betonte ihre dunkelbraunen Augen. Ich konnte sofort die Angst in ihrem Blick sehen. Ich fühlte das Zittern ihrer dünnen Finger in meiner Hand und ein mitfühlendes Lächeln zeichnete sich auf meinen roten Lippen ab. „Ich kann das nicht. Ich kann da nicht rein gehen. Das war eine dumme Idee.“ flüsterte sie leise. Noch ehe ich etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür und Takeru trat in den Hausflur hinaus. Ich verstand nicht so recht, denn ich hatte nicht geklopft oder geklingelt. Wie konnte uns der Blondschopf bemerkt haben? Seine freudige Begrüßung galt zunächst Koushiro, bis er schließlich mich und dann Hikari auf dem Flur erblickte. Ein merkwürdiges Schweigen machte sich breit und meine jüngere Freundin starrte steif auf den Boden. Zitternd wagte sie zu keinem Moment aufzublicken. Am liebsten wäre sie wohl sofort im Boden versunken. Doch jetzt gab es einfach kein Zurück mehr. „Hallo.“ sagte Takeru und trat etwas aus der Tür heraus. „Wollt ihr vielleicht rein kommen?“ fügte er leise hinzu. Koushiro war bereits in der Wohnung verschwunden. Ich holte tief Luft und setzte mein freundlichstes Lächeln auf. „Happy Birthday!“ kreischte ich über den Gang und packte Hikari am Handgelenk. „Wir haben uns ja ewig nicht gesehen! Ach Gott bist du groß geworden! Ein richtiger Mann!“ ich schlug ihm so hart auf die Schulter, dass Takeru kurz gegen den Türrahmen stieß. Etwas überrumpelt von meiner überwältigenden Begrüßung lächelte er und blickte zwischen mir und Hikari hin und her. Ich konnte seine Unsicherheit deutlich sehen. „Ich habe Hikari mit gebracht. Stell dir vor, sie wohnt in Sumida. Kannst du dir das vorstellen? Ich könnte niemals in diesem Stadtteil wohnen. Wie ist es denn in Osaka? Ich hoffe doch, dass du nicht in so einem verdreckten Studentenwohnheim wohnst…..“ ich plapperte immer weiter und schließlich standen wir mitten in der Wohnung. Hikari hatte ihren Blick noch immer fest auf ihre Füße gerichtet und Takeru sah durch mich hindurch. Er hatte nur Augen für Hikari. Die beiden hatten sich seit so langer Zeit nicht gesehen und jetzt standen sie sich plötzlich gegenüber. Ich konnte genau nachfühlen, wie es beiden erging. Doch manchmal brauchte es diese dritte Person, damit man sich wieder näher kommen konnte. Koushiro kam mit einem Bier zu mir und klopfte Takeru auf die Schulter. „Ich muss diese alte Quasselstrippe kurz entführen….“ mein rothaariger Freund zog mich sachte hinter sich her und mit einem Mal standen Hikari und Takeru alleine im Flur der Wohnung. „Genau zum richtigen Zeitpunkt, ich wusste langsam nicht mehr, was ich noch erzählen sollte.“ ich nahm einen Schluck aus der Flasche und blieb mit Koushiro im Wohnzimmer stehen. „Ja, manchmal muss man die Menschen zu ihrem Glück zwingen.“ er zwinkerte mir süffisant grinsend zu und setzte ebenfalls zum Trinken an. „Soll das etwa heißen, dass du vorhin einfach geklingelt hast?“ ich musste lachen, soviel Durchtriebenheit hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Er nickte und sah lächelnd zu unseren jüngeren Freunden aus Schulzeiten in den Flur. „Manchmal braucht es einen gewissen Abstand, um wieder zueinander zu finden und manchmal schafft man es nicht ohne Hilfe, diese Distanz zu überwinden.“ Plötzlich wendete sich Koushiro mir zu. Sein Blick durchdrang mich bis ins tiefste Mark und ich begann plötzlich zu zittern. Was war das für ein merkwürdiges Gefühl, als sich unsere Blicke trafen? Ich spürte seine Hand, die nach meiner griff. Sanft streichelte sein Daumen über meinen Handrücken, als er einige Schritte näher kam. „Ich…“ begann er leise zu sagen und ließ mit seinen dunkelbraunen Augen nicht von mir ab. Doch noch bevor er weiter sprechen konnte, legte jemand seinen Arm um mich und begrüßte mich fröhlich. Es war Joey, der mit seiner Verlobten plötzlich neben uns stand. Ich konnte die kleine Wölbung unter dem Kleid seiner Verlobten deutlich erkennen und gratulierte den Beiden selbstverständlich auch nochmal persönlich zur Schwangerschaft. Auch andere alte Freunde aus Schulzeiten gesellten sich zu uns und überschütteten uns mit neugierigen Fragen. Wir alle hatten uns ewig nicht gesehen. Wir waren erwachsenen geworden und plötzlich gab es vieles miteinander zu besprechen. Und dennoch schweifte mein Blick immer wieder ab und suchte nach Koushiro. Was wollte er mir sagen? Was war da gerade zwischen uns passiert? Dieses merkwürdige Gefühl in meinem Bauch. Was war das? Jedes Mal wenn sich unsere Blicke trafen, lächelte er mir unverändert zu. Vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet. Sicherlich wollte er mir nur was von der Arbeit erzählen. Ich machte mir schon wieder viel zu viele Gedanken. Später am Abend wiegte ich meinen Körper schwungvoll zur Musik. Ich hatte definitiv zu viel Prosecco und später sogar Rum getrunken. Hikari gesellte sich zu mir und erzählte mir, dass sie nur wenig mit Takeru sprechen konnte. Ständig kamen irgendwelche Gäste und wollten Takeru gratulieren oder ebenfalls mit ihm sprechen. Sie wirkte niedergeschlagen. Ich fühlte mich irgendwie schuldig. Vielleicht hatte der Blondschopf doch kein Interesse an ihr. Doch so einfach wollte ich nicht aufgeben. Ich drückte Hikari meinen Drink in die Hand und schob sie auf die Tanzfläche. „Jetzt schwing mal deinen sexy Hintern, ich bin gleich wieder da!“ ich ließ von ihr ab und ging in der Wohnung auf die Suche nach dem Geburtstagskind. Er stand in der Küche und unterhielt sich mit irgendwelchen Mädels. Diese konnte ich natürlich gekonnt ignorieren und stellte mich einfach zwischen die Mädchen und Takeru. Ich hörte lediglich einige Beleidigungen, als sich die drei aus der Küche scherten und ich alleine mit meinem alten Schulfreund zurück blieb. „Sag mal, warum suchst du nicht das Gespräch zu Hikari? Stört es dich, dass ich sie mitgebracht habe?“ fragte ich etwas betrunken und versuchte mich zusammen zu reißen. „Nein, es stört mich nicht. Also »stören« ist vielleicht der falsche Ausdruck. Ich weiß nicht was ich ihr sagen soll. Sie hat sich sehr verändert.“ Ich schluckte und verschränkte die Arme vor meiner Brust. „Haben sich deine Gefühle für sie verändert?“ als ich diesen Satz ausgesprochen hatte, konnte ich selbst nicht glauben, dass ich schon wieder wie eine Blinde durchs Mienenfeld rannte. „Das spielt doch keine Rolle…“ sagte er leise und sein Blick schweifte zu Boden. Sachte zog ich die Luft durch meine Lippen und musterte diesen jungen Mann, der so unsicher und irgendwie unglücklich vor mir stand. Ich legte meine Hand auf seine Wange. Meine Finger glitten hinab zu seinem Kinn und sachte schob ich seinen Kopf rauf. Ich lächelte ihn an. „Warum sollten wir das Vertraute verlassen? Warum sollten wir uns aus unserem sicheren Unterschlupf heraus bewegen und riskieren zu scheitern?“ meine Hand glitt hinab zu seiner Brust. Dort wo ich sein Herz schlagen spürte stoppte ich und presste meine Finger mit Nachdruck gegen sein dunkelblaues Hemd. „Vielleicht ist ein Leben voller verpasster Chancen und der ewigen Frage: »Was wäre gewesen wenn?« ein furchtbares Leben. Das Fallen gehört nun mal zum Fliegen.“ Seine blauen Augen sahen mich fragend an und kurz glaubte ich, ein Lächeln auf seinen Lippen gesehen zu haben. Ich bekam keine Antwort, lediglich ein stummes Nicken und Takeru drehte mir den Rücken zu. Schweigend folgte ich ihm und sah, wie er zu Hikari ins Wohnzimmer ging. Im ohrenbetäubenden Dröhnen der Musik flüsterte er ihr etwas ins Ohr und nahm sie sachte an der Hand. Wohin er sie mitnahm konnte ich nicht sehen, da im gleichen Moment jemand von hinten meine Schulter berührte. „Warum tanzt du nicht?“ raunte mir eine vertraute Stimme ins Ohr und ich kam nicht umhin zu lachen. „Was machst du denn hier?“ fragte ich erstaunt und drehte mich zu Taichi um. Er war tatsächlich hier auf der Geburtstagsfeier erschienen. Er zuckte mit den Schultern und setzte einen gleichgültigen Gesichtsausdruck auf. „Man sollte keine Gelegenheit auslassen umsonst zu trinken!“ war seine Antwort. Er legte seine Hände um meine Hüften und schob mich zu all den anderen tanzenden Partygästen. Im Takt der Musik schmiegte er sich an mich. Ich musste wirklich laut lachen und legte meine Arme um seinen Nacken. Was war nur mit diesem Typen los? Aber vielleicht war auch Taichi Yagami erwachsen geworden und konnte allmählich mit der Vergangenheit abschließen. Sanft legte ich meinen Kopf an seine Schulter. Meine Lippen berührten sein Ohrläppchen. „Es ist schön, dass du doch noch gekommen bist.“ sagte ich und schloss meine Augen. Ich liebte seine Hände auf meinem Körper, seinen Duft in meiner Nase und das Gefühl seiner durchtrainierten harten Brust unter meinen Fingern. Wir tanzten noch eine ganze Weile miteinander, doch eine Antwort blieb mir Tai schuldig. Es war weit nach Mitternacht, als die meisten Gäste völlig besoffen die Feier verließen. Auch ich stand im Hausflur und versuchte zum dritten Mal in meine Pumps zu schlüpfen. Schließlich war es Koushiro der mich an der Hüfte festhielt und mit seinem Fuß die Schuhe so platzierte, dass ich sie schließlich treffen konnte. „Alles in Ordnung?“ fragte er mich, als ich wie verrückt anfing zu lachen. „Ja!“ grölte ich und fuhr ihm durchs Haar. „Du hast so schöne Haare! Ich würde dir so gerne mal Schleifen rein binden….“ ich kicherte und kringelte seine Haarsträhnen um meine Finger. Koushiro versuchte meine Finger aus seinem Haar zu lösen, während Taichi sich ebenfalls die Schuhe anzog und mit Takeru noch an der Wohnungstür stand. „Danke, dass du zu meinem Geburtstag gekommen bist Tai. Das hat mir wirklich sehr viel bedeutet und ich habe mich auch sehr über den Besuch deiner Schwester gefreut.“ Takeru neigte höflich seinen Kopf. Tais Blick schweifte an dem Blondschopf vorbei zu seiner Schwester. Hikari saß noch mit einigen Mädchen aus ihrer ehemaligen Klasse im Wohnzimmer und unterhielt sich mit ihnen. „Offenbar tut es meiner Schwester ganz gut über alte Zeiten zu sprechen.“ sein Blick fixierte wieder Takeru. „Wieso ist dein Bruder nicht hier gewesen?“ „Taichi….ich….ich habe mit meinem Bruder schon sehr lange nicht mehr gesprochen. Eigentlich hatten wir seitdem keinen Kontakt mehr.“ er fuhr sich fahrig durch sein blondes Haar und wich den Blicken von Tai aus. Ich sah nur, dass sich Tai bückte um seine Schuhe zuzubinden und dabei etwas sagte, was ich nie wieder vergessen werde. „Takeru, du bist ein guter Kerl. Ein viel besserer als dein Bruder. Ich würde mir so einen ehrlichen, aufrichtigen und starken Mann für meine Schwester wünschen.“ Mit einem Schlag war meine Trunkenheit verflogen. Hatte ich da richtig gehört? Tai ging an mir und Koushiro vorbei. Die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben. Im Vorbeigehen konnte ich ein sanftmütiges Lächeln in seinem Gesicht erkennen. So musste es wohl aussehen, wenn man jemandem vergeben hatte. Ich lächelte glücklich. Ein letztes Mal sah ich zu Takeru, der völlig perplex an der Tür stand und Taichi hinterher blickte. Kurz trafen sich unsere Blicke und ich nickte nur ermutigend. Koushiro legte seinen Arm um mich und gab mir einen Kuss an die Schläfe. „Das hast du gut gemacht…“ flüsterte er leise und zog mich mit sich. Ja, das hatte ich wohl dieses Mal nicht vermasselt. Ich hatte Hikari und Takeru einander näher gebracht und gleichzeitig irgendwie dazu beigetragen, dass Taichi seinen tiefen Groll gegen Takeru und seinen Bruder für einen Moment vergessen konnte. Vielmehr schien es, dass Taichi dem Glück seiner Schwester nicht länger im Weg stehen und irgendwas aus der Vergangenheit wieder gut machen wollte. Noch während ich darüber nachdachte fiel mir ein, dass ich meine Handtasche in der Wohnung vergessen hatte. „Moment…“ sagte ich und löste mich aus den Armen meines rothaarigen Freundes. „Wartet unten auf mich, ich habe etwas vergessen…“ ich eilte zurück zur Treppe. Die letzten Gäste kamen mir entgegen und verabschiedeten sich. Ein Mädchen aus Hikaris Klasse hielt mir die Tür auf, damit ich nochmal in die Wohnung konnte. Als ich meine Handtasche schließlich gefunden hatte, sah ich Takeru mit Hikari in der Küche stehen. Beide schienen miteinander zu sprechen und hatten mich nicht bemerkt. Ich weiß, eigentlich lauscht man nicht, aber meine Neugier übermannte mich einfach. Leise drückte ich mich gegen die Wand im Flur und hörte ihrem Gespräch aufmerksam zu. „Ich wusste einfach nicht, wie ich mich entscheiden sollte. Ich konnte meinen Bruder in seinem Zustand nicht alleine lassen und wusste, du würdest niemals ohne mich gehen. Ich wollte aber nicht der Grund dafür sein, dass du deinen Traum hättest aufgeben müssen. Vielleicht hättest du mich irgendwann angesehen und die Schuld daran gegeben, dass dein Leben nicht so gelaufen ist, wie du es dir gewünscht hast.“ ihre Stimme klang so zerbrechlich wie Glas. „Ein Leben mit dir wäre immer so gelaufen, wie ich es mir gewünscht hätte.“ antwortete er leise. „Aber ich kann dich verstehen. Ich hätte dasselbe für meinen Bruder getan, um ihm das Leben zu retten.“ Wie bitte? Um ihm das Leben zu retten? Was war denn damals los mit Tai? War er schwer krank? Nein, davon hätte mir Koushiro sicherlich erzählt. Doch noch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte was damals mit Taichi geschehen war, sah ich, wie Takeru Hikari sachte zu sich zog und sie umarmte. „Ich würde so gerne die Zeit zurück drehen. Alles ungeschehen machen. Alles besser machen….“ ich hörte deutlich, wie ihre Stimme unter dem Schluchzen brach. „….aber es geht nicht. Es wird niemals so sein wie früher.“ Takeru drückte sie fest an sich. „Es muss auch nicht so werden wie früher. Alles was wir haben ist hier und jetzt. Vielleicht sollten wir von vorne anfangen und sehen, wer wir heute sind. Wo wir stehen und was wir wollen. Ich will nicht länger zurück blicken. Ich will nach vorne schauen, ich will endlich wieder leben und lachen, lieben und leiden. Alles ist besser als das, was ich jetzt habe.“ Ich drückte meine Handtasche an meine Brust und seufzte leise. Was für wundervolle Worte. Ich hätte glatt mit heulen können. Aber ich wollte nicht länger lauschen, außerdem warteten meine Jungs unten auf mich. Leise schlich ich aus der Wohnung und zog die Tür hinter mir zu. Es war unfassbar, dass sich beide nach all den Jahren doch wieder einander annäherten und sich eine neue Chance gaben. Als ich draußen ankam sah ich, wie Taichi mit einer Zigarette im Mund einen Fußball zu Koushiro schoss. Dieser kickte den Ball lässig zurück und lachte laut über einen Witz den Tai gerade gemacht haben musste. Manchmal sahen die beiden so vertraut miteinander aus, dass man sie problemlos für Brüder gehalten hätte. Aber dann gab es wieder diese merkwürdige Spannung zwischen ihnen. Alles in allem war es eine wirklich seltsame Dreiecksbeziehung die wir miteinander hatten und irgendwie wurde mir das heute wieder einmal bewusst. „Wo ist meine Schwester?“ fragte mich Tai schließlich und ich zuckte kurz zusammen. „Äh, noch oben….“ murmelte ich und sah sofort, wie sich der schnaufende Brünette aufmachte, um seine Schwester zu holen. Ich packte ihn hart am Arm und zog ihn zurück. „Jetzt hör doch mal auf damit, den großen Bruder zu spielen. Deine kleine Schwester kommt ganz gut alleine klar.“ Kurz überlegte ich zu fragen, warum seine kleine Schwester damals auf ihn aufpassen und bei ihm bleiben musste. Aber irgendwas sagte mir, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für ein solches Gespräch war. „Naja, besser bei ihm, als bei einem Anderen.“ seine Antwort verblüffte mich. Taichi nahm meine Hand und zog mich unter seinen Arm. Gemeinsam gingen wir zu Koushiro, der bereits den Fußball wieder in den Kofferraum von Taichis Auto legte. Die beiden Männer sprachen miteinander, doch ich hörte gar nicht richtig zu. Viel zu sehr war ich mit meinen Gedanken beschäftigt. Mein Blick blieb irgendwie in Tais Gesicht hängen. Im neonfarbenen Schein der Laternen wirkte er noch viel größer als gewöhnlich. Sein Lächeln fesselte mich und ich spürte mit einem Mal dieses Kribbeln im Bauch. Was war nur los mit mir? In Kyoto hatte ich mir doch fest vorgenommen, dass dieses Kapitel mit Tai ein für alle Mal geschlossen ist. Aber woher kamen nur immer wieder diese Gefühle? Wonach suchten wir beide? Es wird nur wieder darauf hinaus laufen, dass wir uns oder den Menschen um uns herum weh tun würden. Aber vielleicht waren wir auch nur feige. Takeru und Hikari hatten zumindest den Mut sich noch einmal eine Chance zu geben. Hatte ich nicht selbst gesagt, dass das Fallen nun mal zum Fliegen dazu gehört? Ich sah zu Tai hinauf und musterte seine Augen. Diese tapferen, starken und schier unverwundbaren Augen. Kaum vorzustellen, dass dieser Mann an einem Punkt in seinem Leben war, an dem er nicht mehr weiter wusste. Hikari sprach sogar davon, dass sie sein Leben retten musste. Langsam senkte ich meinen Blick wieder und legte meine Hand auf meine Schulter. Ich traf dabei seine Hand. Sofort griff er nach meinen Fingern und drückte mich etwas fester an sich. Ich sah zu ihm rauf und unsere Blicke trafen sich. Er schenkte mir ein zärtliches Lächeln und es schien, als würde ich in seinen Augen finden was ich so lange suchte. Geborgenheit. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich diese Gefühle für ihn - tief in meinem Herzen - nicht wegschließen konnte. Manchmal ist zwischen uns ein schier unüberwindbarer Ozean, doch wenn wir nicht irgendwann anfangen eine Brücke zu bauen, werden wir es niemals schaffen einen Weg zueinander zu finden. Um dieses Leben zu überleben müssen wir aufhören an der Vergangenheit zu klammern und versuchen von vorne anzufangen. Vielleicht sollten wir es wirklich probieren, denn aller Anfang ist schwer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)