Von Vögeln mit gebrochenen Flügeln von Flying-squirrel ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Feuer knisterte im Kamin. Warm und hell machte es das kleine Haus am Dorfrand, dessen Bewohner abends gerne hier saß und durch die alten Fensterscheiben beobachtete, wie der Wald und das Dorf in der Nacht versanken. Häufig war es dann still bis auf das Rascheln der Blätter, aber ebenso häufig erfüllte Lachen das Haus, wenn die Kinder des Dorfes zum Spielen kamen, so wie heute. „Du kannst mich nicht besiegen, Knappe! Ich bin viel stärker als du!“ „Ich bin kein Knappe! Ich hab' doch gesagt, ich will Ritter sein!“ „Ich bin schon Ritter!“ „Dann will ich Krieger sein!“ „Du kannst kein Krieger sein! Frag Großvater!“ Lächelnd beobachtete der alte Mann das Spiel. Das Mädchen wandte sich an den Schiedsrichter. „Großvater, warum kann ich kein Krieger sein?“ Jetzt hörten auch die anderen auf zu spielen und kamen näher. „Krieg ist kein Spiel.“, sagte er ernst. „Hab ich dir doch gesagt!“, triumphierte ihr Spielpartner. „Ihr könnt beide Ritter sein“, erklärte der alte Mann, „und zusammen in einer Burg dienen.“ Ein einstimmiges „Nein!“ war die Antwort. „Dann bin ich Soldat!“, rief das Mädchen aus. „Soldat? Was ist das?“ „Ein Held!“, antwortete sie. Der alte Mann sah sie nachdenklich an. „Sagt meine Mutter zumindest“, ergänzte sie etwas schüchterner, als sie merkte, wie alle sie anschauten. „Großvater, du warst doch auch Soldat“, sprach Nell, seine Enkelin, mit fragendem Unterton. „Wie wird man Soldat?“, fragte ein Junge. Der alte Mann seufzte. „Indem man nachhause kommt nach der Arbeit. Meine Mutter saß da, etwas Gemüse, dass sie nicht verkaufen konnte, neben sich auf dem Boden, der Dorfvorsteher ihr gegenüber, Tee stand auf dem Tisch, Besorgnis ihnen ins Gesicht geschrieben und er sagte, Junge, wir erwarten eine Meldung, es ist schon in aller Munde. Es hilft nichts mehr. Und ich, ich verstand nicht gleich, ich sah erst ihn, dann meine Mutter an, und sie hatte Tränen in den Augen. Ich hatte meine Mutter noch nie weinen sehen, nicht, als mein Onkel, ihr Bruder, starb, nicht, als mein Vater krank wurde, nicht nach den Missernten in den letzten Jahren. Da verstand ich, dass etwas Schlimmes passiert war. Aber ich wusste nicht, was. Also schaute ich den Dorfvorsteher wieder fragend an, und er sagte, mein Junge, die Vögel zwitschern es von den Dächern, die Händlerinnen flüstern es mit vorgehaltener Hand, ja, selbst die Schlangen zischen es auf dem Boden. Du wirst es bald mit eigenen Ohren hören. Es ist eine wehmütige, klagende Melodie, auf der man singt: Ein Krieg ist erklärt worden, ein Krieg wird ausbrechen. Ich habe ihn damals nicht verstanden, Kinder, ich rief: Warum schaut ihr so drein? Unser Vaterland ist in Gefahr, wir werden es verteidigen! Sie wollen uns die ganze Zeit vernichten, sie hassen uns! Nichts und niemand gefährdet ungestraft mein Vaterland! Ach, hätte ich gewusst, welch Melodie ich nachträllerte. Ich habe sie nicht verstanden. Die Woche darauf riefen sie überall zum Dienst, und ich bin gefolgt. So wurde ich Soldat.“ Die Kinder sahen ihn an. Bei sich wusste der alte Mann, dass sie ihn nicht verstanden, aber er wollte hoffen, dass etwas hängenblieb. „Dann bin ich Oberritter!“, rief das Mädchen, und der darauf folgende Tumult löste die Stille wieder auf. Der alte Mann sah ihnen zu, lächelte, schwieg, und dachte nach. Kapitel 2: ----------- Zack. Ein Ast traf sie an der Stirn. „Kommst du?“, rief Marika ungeduldig. „Ja, ja“ murmelte sie und stolperte weiter durch das Dickicht. Bloß nicht zu weit zurückbleiben! Aber der Wald wuchs hier so dicht, dass man ständig Ästen ausweichen musste und über Wurzeln und Gestrüpp stolperte. Marika durfte nicht denken, dass sie nicht geeignet für Waldmissionen war. Immerhin ging sie schon zur Schule! Heute in der Pause hatte ihre Freundin ihr die Geheimmission erklärt. Vom Dorf aus sollten sie sich durch den Wald zum Kiosk am Hauptweg durchschlagen. Das konnten nur echte Ninjas! Endlich hatte sie Marika aufgeholt. „Wir sind gleich da!“, verkündete diese und hielt einen großen Ast weg. Die beiden Mädchen krochen unter einem Dornenbusch hindurch, als sie plötzlich auf einer Lichtung standen, über der einen blaue Plastikplane hing. Neben einem Baum lagen ein paar Dosen und Flaschen, und… „Was ist das?“ flüsterte sie verängstigt und zeigte auf etwas Sackartiges. Es bewegte sich, und sie schrie auf. Ein Mann schaute sie an. Seine Haare waren verfilzt, rasiert war er auch nicht… fehlten ihm Zähne? Sie konnte ihren Blick nicht von ihm wenden. „Komm“, hörte sie Marika sagen. „Wir gehen besser. Das ist ein Penner.“ Und sie ließ sich von ihr wegziehen. „Großvater?“ - „Ja, mein Kind?“ „Was ist ein Penner?“ Er schaute sie ernst an. „Woher hast du dieses Wort?“ Sie schwieg kurz. „Hab' ich irgendwo aufgeschnappt.“ Er seufzte und lehnte sich zurück. Es muss in den späteren Jahren des Krieges gewesen sein. Sollten sie Konserven verteilen? Ja, das muss es gewesen sein. Es gab keine feindlichen Truppen in der Umgebung, aber seine Einheit sollte sicherheitshalber bleiben und sich irgendwie beschäftigen. Stimmung machen und die Leute vorbereiten. Das Volk versteht den Krieg nicht, also muss man es ihnen erklären, das war ihre feste Überzeugung. Vor allem, als die Vorräte knapper wurden und jeder mithelfen sollte. Es ging schneller als gedacht, aber niemand zweifelte am Sieg. Das war nur ein vorübergehendes Opfer für sein Land. Auf einmal rief man sie zu einem abgelegenem Weg. Er konnte sich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Ausgehungerte, verwahrloste Gestalten, die um Essen bettelten und die Dorfbewohner belästigten. Wo sie herkämen, wurden sie gefragt, denn sie waren sicher nicht aus der Umgebung. Es stellte sich heraus, dass die meisten Bauern waren. Bauern, die ihre Felder brachliegen lassen, anstatt sie für ihr Volk und ihr Land zu bestellen!, rief der Kommandant. Die sich von ihrer Verantwortung stehlen und jetzt ihren Lohn wollen! Die Stimmung war feindselig. Die Gestalten sahen sie unsicher an, als hofften sie, dass sie doch noch etwas aus Mitleid bekommen würden. Doch für Menschen wie sie gab es kein Mitleid mehr. Was ist euer Lohn?, fragte der Kommandant. Was ist euer Lohn, Feiglinge? Redet! Wofür sollen wir euch belohnen? Sie starrten uns nur an. Rufe wurden laut. Verräter! Feiglinge! Diebe! Nichtsnutze! Verratet uns und wollt uns noch unser Essen stehlen!, rief einer hinter mir. Einige suchten meinen Blick, als sollte ich ihnen helfen. Als sollte ich diesen Schweinen helfen! Ich spürte den Hass in mir aufkommen. Schweine!, hörte ich mich rufen. Vaterlandsverräter! Sie wichen zurück. Hinter ihnen war nur der Wald. Was ist ihr Lohn?!, schrie der Kommandant. Plötzlich drehten sich einige um und liefen weg. Und dann war da dieser Junge. Er muss sich heimlich hinter uns geschlichen haben, denn auf einmal lief er mit einer Konserve in der Hand zwischen uns durch zu den anderen. Hey!, rief ein Kamerad, aber der kleine Junge ignorierte den Gewehrlauf. Und dann knallte es und das Chaos brach aus. Der Junge lag da, die Menschen rannten in den Wald und wir hinterher. Bloß nicht noch mehr Diebe entkommen lassen! Panik, Schüsse, Geschrei, noch mehr Panik, Warnschüsse wurden zu gezielten, Blut, Äste schlugen mir ins Gesicht, Anweisungen wurden gebrüllt, Verteilt euch, wir verteilten uns, und schossen, schossen, schossen. Nachladen, von vorn. Wo war das nächste Schwein? Hinter einem Gebüsch hatten sie sich hingekniet. Ich kam nicht zu spät. Ein Kamerad stand vor ihnen, das Gewehr im Anschlag. Ein Wimmern. Schuss, Blut spritzte. Er machte einen Schritt zum Nächsten. Die gleiche Prozedur. Wimmern, wie ein Hund. Ein Moment, um die Qual aus dem Gesicht zu lesen. Schuss. Ein weiterer Schritt. Er zielte… und schoss nicht. Er wartete. Der Mann sah ihn an. Ein verängstigtes, hoffnungsvolles… Lächeln?! „Neffe.“ Er breitete die Arme aus. „Erkennst du deinen alten Onkel?“ Ich kam näher, ein Ast knackste. Sie sahen mich an. Dann drehte er sich zurück, klammerte sich an sein Gewehr, machte einen Schritt nach vorne. Der Mann lächelte noch immer. Und dann knallte sein Kopf nach hinten. Wie in Zeitlupe folgte sein Oberkörper. Mein Kamerad sah mich an, das Gesicht voller Blut. Gehen wir. Ich weiß nicht mehr, wer von uns es sagte. Und dann gingen wir, ohne einen Blick zurückzuwerfen. „Grossvater?“ Er sah sie an. „Ein Mensch, der nichts mehr hat und alles bereit ist zu tun.“ Kapitel 3: ----------- „Nell? Ist etwas passiert, was du mir vielleicht erzählen willst?“ Der alte Mann sah seiner Enkelin an, dass sie etwas bedrückte. „Warum haben Penner nichts? Warum gehen sie nicht einfach arbeiten?“, fragte sie unvermittelt. Als sie merkte, dass ihr Großvater nachdachte, sagte sie: „Du hast gesagt, dass Penner nichts haben. Aber Marika’s Mutter sagt, das sind faule Taugenichtse. Das sind Leute, die nicht arbeiten wollen.“ „Nenn‘ diese Menschen“, er betonte das Wort ‚Menschen‘ „besser Obdachlose. Es sind Menschen, die kein Zuhause haben. Nicht alle wollen nicht arbeiten.“ „Aber Marika’s Mutter hat gesagt…“ Sie senkte ihren Blick. Nicht, dass er auch noch nachhakte. Marika hatte sich über sie lustig gemacht, als sie nach der Mission zu ihr nachhause gegangen waren und Nell sie gefragte hatte, was denn Penner wären. „Penner sind halt Penner“ hatte sie gesagt, aber Nell war immer noch verwirrt. Also hatte sie ihre Freundin später nochmal gefragt, aber diesmal hatte ihre Mutter es mitbekommen. Sie hatten ihr verschwiegen, wie sie auf das Wort kamen, aber Marika war hinterher ziemlich sauer. Und dann hat ihre Mutter geredet und geredet, aber Nell verstand nur die Hälfte. „Was hat Marika’s Mutter gesagt?“, fragte ihr Großvater. Immerhin, er wollte nicht wissen, warum es sie so beschäftigte. Erleichtert versuchte sie, zu widerholen, was sie gehört hatte. Dass ‚diese Leute‘ faul waren. Dass sie dem Staat ‚auf der Tasche lägen‘, was immer das auch bedeuten mochte. Dass sie selbst schuld waren. Irgendwann hatte Marika’s Mutter nur noch von dem Problem gesprochen. Das Problem, dass sich keiner mehr an die alten Werte halten würde. Fleiß. Entbehrung. Disziplin. Ihr Großvater hörte ihr schweigend zu, bis sie zum Ende kam. „Weißt du, es gibt viele, viele Gründe, warum jemand obdachlos wird. Früher haben sich viele Familien hautsächlich von dem ernährt, was auf ihren Feldern wuchs. Einige haben aber auch das Meiste verkauft, wie meine Eltern. Wenn es Missernten gab, hatte man nichts zu essen. Als ich in deinem Alter war, gab es häufig Missernten im Norden, und irgendwann waren die Vorräte aufgebracht und das Essen auf dem Markt zu teuer. Die Regierung hat uns einen Teil der Ernte weggenommen und sie den Menschen gegeben, die dort wohnten. Das hat die Menschen hier wütend gemacht, denn sie hatten nicht viel mit den Menschen aus dem Norden zu tun und wollten ihre Ernte behalten. Und dann tauchten hier Menschen von dort auf und wollten Arbeit. Arbeit, wir haben keine Arbeit, wir haben nur Arbeit für uns, antwortete man ihnen. Dann hoffte man, dass sie zum nächsten Dorf gingen. Wir hatten vielleicht Arbeit, aber nichts zum Bezahlen, denn wir mussten ja einen Teil an die Regierung geben. Die Missernten gingen vorbei, als die neue Regierung kam. Zumindest hörte man nichts mehr als dem Norden. Es hieß, alle haben Arbeit, alle haben Felder, alle haben etwas zum Leben, allen geht es gut. Wir mussten nichts mehr für die Leute aus dem Norden abgeben, denn es gab keine Missernten mehr. Wir konnten alles behalten, einen Teil verkaufen oder vertauschen, und solange wir arbeiteten, ging es uns gut. So war es, dass wussten wir, so hatte es uns die Regierung versprochen. Aber das hielt nicht lange, denn plötzlich gab es wieder Missernten. Nicht im Norden, bei uns. Das hatten wir schon lange nicht mehr gehabt. Also arbeiteten wir härter, denn man hatte uns versprochen, dass es uns bald wieder besser gehen würde, wenn wir nur arbeiteten. Nicht irgendwie: Zusammenarbeiten sollten wir, zusammenhalten, gemeinsam die Krise überwinden. Wir haben hart gearbeitet und gehandelt, damit es uns gut ging. Als ich schon Soldat war, kamen plötzlich wieder Menschen aus dem Norden. Sie erzählten uns von Missernten und Hunger, der nicht aufhörte, und von der Regierung, die sie im Stich ließe. Sie baten um Arbeit. Aber wir waren wütend, weil sie schon einmal gekommen waren, weil wir ihnen geholfen hatten, weil sie alles in den Sand gesetzt hatten, faul waren, nichts daraus machten. So sagten wir es ihnen. Und sie sagten, nein, es ist nichts angekommen. Man habe davon gehört, aber nein. Sie sollen arbeiten, dann ginge es ihnen besser, habe man ihnen gesagt. Aus dem Süden sei nichts gekommen. Aber wir wussten, dass wir einen Teil abgegeben hatten. Also schimpften wir sie Lügner, Taugenichtse, Diebe, ja, Diebe, weil sie unsere Ernte weggenommen hatten und nicht zurückgaben, als wir litten. Und man scheuchte sie fort. Aber in der nächsten Woche wiederholte sich alles, und schließlich wurden die Abstände kleiner, die Menschen abgemagerter, die Kleidung löchriger und die Ablehnung größer. Schließlich waren sie einfach da, und jeder war es gewöhnt, Penner wegzujagen. Obdachlose.“, verbesserte er sich. „Ach, ich habe den Faden verloren. Weißt du, wir hatten viel gehört und dachten, sie sind Böse, wir werden Betrogen. Und sie sagten ein ums andere Mal, wir wären die Bösen, sie würden betrogen. Es gibt viele Gründe, warum jemand obdachlos ist… Genauso gibt es viele verschiedene Obdachlose. Diese Menschen, ich weiß nicht, ob alle hart gearbeitet haben. Ich habe erst viel später mit Einigen von ihnen geredet. Nicht alle von ihnen waren faul, aber wir haben sie alle so behandelt wie die Obdachlosen, die wir kannten, die als faul und dumm bekannt waren. Ich glaube, viele haben hart gearbeitet, aber es ging ihnen trotzdem nicht gut. Man darf nicht allen Versprechen Glauben schenken, merke dir das. Wir haben damals auch alles geglaubt, die Menschen aus dem Norden haben alles geglaubt… ich glaube, wir lagen alle irgendwie falsch. Wir wurden alle betrogen. Marika’s Mutter meint es nicht böse, sie glaubt, was Viele glauben, aber sie liegt falsch. Manchmal wissen auch Erwachsene nicht alles. Weißt du, Viele glauben, dass Obdachlose faul sind und uns betrügen. Sie glauben es, weil andere es glauben, und warum diese es glauben… Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es nicht immer stimmt. Obdachlose sind auch Menschen. Nicht Böse und nicht Gut, einfach Menschen. Du kannst nie wissen, warum sie obdachlos sind. Also kannst du sie eigentlich nur wie Menschen behandeln. Verstehst du?“ Ihr Blick gab keine Antwort preis, aber allein das Wissen, dass sie nachdachte, gab dem alten Mann das Gefühl, etwas erreicht zu haben. „Ich glaube, ich muss langsam nachhause.“, murmelte sie immer noch nachdenklich, und so wurde sie von ihrem Großvater zur Tür begleitet. Hosted by Animexx e.V. 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