His Best and Brightest von Palmira (Solange man nichts verspricht...) ================================================================================ Kapitel 1: Solange man nichts verspricht... ------------------------------------------- „Nein.“ Das war vermutlich das Wort, das zwischen ihnen am häufigsten fiel. Zumindest von Erwins Seite aus. Hanji beugte sich vor, stemmte die Hände auf die Tischplatte, als könnte sie damit die Distanz von Erwins Schreibtisch überbrücken und direkt in seinen Verstand vordringen. Wenn es so einfach wäre, hätte das... Nachteile, aber es wäre auch äußerst praktikabel. „Wenn wir vielleicht-“ „Die Uniformen erfüllen einen Zweck. Wenn sie auf einer Expedition nicht getragen werden, sendet es an die Bevölkerung das Signal, dass der Aufklärungstrupp nicht als Einheit agiert; womöglich auch, dass sich die Soldaten nicht mehr damit identifizieren. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Hanji war nicht bereit, so schnell aufzugeben, obwohl sie bald festgestellt hatte, dass Granitblöcke leichter zu bearbeiten waren als Erwins einmal getroffener Entschluss. Sie beugte sich weiter vor, ihre Stiefelsohlen quietschten leise auf dem Holzboden. Es gab keinen zweiten Stuhl gegenüber von Erwins Arbeitstisch – er ließ seine Besucher stehen, war es doch ziemlich wahrscheinlich, dass niemand hier ihm an Rang gleichkam. Seine Art, Autorität mit subtilen Signalen zu vermitteln. Anders als im Konferenzraum gab es hier keine Augenhöhe. Und gleichzeitig ließ er zu, dass Hanji sich über seinen Tisch warf, er ließ Mike in seinem Rücken am Fenster stehen, Levi ohne Klopfen kommen und mit Türenknallen wieder gehen. „Es ist wirklich wichtig“, betonte Hanji. „Wir wissen so wenig über die visuelle Wahrnehmung von Titanen, aber sie scheint ein vitaler Punkt ihrer Orientierung zu sein. Wenn sie manche Farben weniger dominant, vielleicht sogar schlechter wahrnehmen können als andere, könnte das-“ „Hanji.“ „Nur die Pferde! Wenn wir Farbtücher so auf deren Rücken platzieren, dass sie für Titanen von oben sichtbar-“ „Hanji.“ „Leichter Stoff würde die Beschleunigung der Pferde nicht beeinträchtigen, und wenn jeder Soldat in einer abschließenden Befragung...“ Erwin legte seinen Stift hin. Entgegen der naheliegenden Deutung war das kein Zeichen, dass er Hanji jetzt uneingeschränkt zuhörte, sondern dass er auf etwas wartete. Sie seufzte und stellte sich wieder auf beide Füße, richtete sich auf. „Du hast dich klar ausgedrückt.“ „Gut.“ Erwin nahm seinen Stift wieder auf, um mit seiner Korrespondenz fortzufahren, als hätte er sich nie darin unterbrochen. Er hatte die gestochene, schwunglose Handschrift eines Menschen, der mit Kulturtechniken aufgewachsen war und Worte so mühelos ineinander wob, wie er Lügen über die Zunge bringen konnte. Für einen Moment unterhielt Hanji sich damit, ihn sich so vorzustellen wie der Empfänger dieses Briefs es vermutlich tun würde – mit vor Konzentration tief gefurchter Stirn und angestrengt über sein Papier gebeugt. Erwin runzelte tatsächlich fast nie die Stirn. Aber Hanji wusste, dass er den Kopf unmerklich nach links neigte, wenn er sich mit zwei Dingen gleichzeitig beschäftigte – so wie jetzt. Deswegen rührte sie sich nicht, bis Erwin den Mund öffnete. Sein Stift stand dabei niemals still. „Es besteht die Möglichkeit einer Testung während der übernächsten Expedition. Du kannst dein Team für maximal drei Stunden aus der Formation entfernen, um von dem östlichen Rand der Mammutbäume aus Station zu beziehen. Sicherheitsabstand von mindestens acht Metern.“ „Fünf Stunden.“ „Drei.“ „Vier – komm schon, ich muss meine Datenerhebung gründlich durchführen!“ „Drei.“ „Ich brauche die Zeit! Es gibt Grund zur Annahme, dass die Wahrnehmungsschärfe der Titanen unterschiedlich ist, und im Fall eines Abnormalen-“ „Zwei.“ Das Eis wurde dünner. Hanji seufzte tief und ließ ihre Schultern dabei theatralisch fallen, gab vor, sich geschlagen zu erklären. Das letzte Wort hier war nicht gesprochen, aber sie hatte nicht die Zeit, sich ständig um Erwins mangelnde Einsicht zu kümmern. Es gab noch mehr Projekte, die ihre Aufmerksamkeit verlangten. „Wenn du nicht Kommandant wärst, würdest du auch einen passablen Gemüsehändler machen. Mit dir zu feilschen ist die reinste Freude.“ Erwins auf dem Papier kratzender Graphitstift stockte flüchtig, für einen Moment milderten sich die spindeligen kleinen Falten, die sich in seine Augenwinkel gegraben hatten und von denen man sich noch vorlügen konnte, dass sie von viel Zeit unter freiem Himmel kamen. „Später vielleicht.“ Draußen klatschte Regen an die Scheibe. Hanji grinste. „Ich werde dir keine Kohlköpfe abkaufen, damit du's weißt.“ Noch eine kurze Sekunde länger hielt der Ausdruck von Erheiterung an, dann nickte Erwin ihr zu – sie war entlassen. Sobald er den Blick wieder senkte, schienen die strengen Falten sich wie Netze wieder um seine Augen zusammenzuziehen, als wollten sie etwas festhalten. Was es auch war, das es festzuhalten gab. Hanji kam nicht zu ihrer Versuchsreihe, aber sie erinnerte sich an diesen Ausdruck, als sie ging.   Das nächste Mal, als sich eine Begegnung mit Erwin in ihrem Gedächtnis festsetzte, war der Grund erneut schlicht – Hanji neigte nicht dazu, zwischenmenschliche Begegnungen allzu sehr in ihrem Gedächtnis zu verankern, und sie nannte diejenigen ihre Freunde, bei denen es ihr gelang. Trotzdem stand menschlicher Kontakt hinter der Pflicht meist zurück, und dann umgab man sich fast automatisch mit Menschen, die das ähnlich handhabten. In einer Welt, wo diese Menschen eher früher als später verschwanden, hängte man sein Herz nicht an überflüssige Dinge, und schon gar nicht an Ausrüstungsgegenstände. Also nicht an ihre 3D-Manöver-Ausrüstung und auch nicht an Pferde – denn das waren quasi zwei Teile desselben Sets, und beide waren für das Überleben außerhalb der Mauern ähnlich wichtig und man musste sie in Schuss halten, damit sie nicht im entscheidenden Moment versagten. Trotzdem schlug Hanji sofort Unruhe entgegen, als sie nah an den Ställen des Aufklärungstrupps vorbeikam – die Art Unruhe von Soldaten, die befürchteten, dass man sie bei Pflichtversäumnissen erwischte. Hanji wusste mittlerweile, dass diese Angst wenig mit tatsächlichen Versäumnissen zu tun hatte und erheblich mehr mit dem Gefühl von unverdientem Überleben, das sich nach Expeditionen immer einstellte. Wenn sie viele Soldaten verloren hatten, fühlte man sich so, weil man einer der wenigen war, die es geschafft hatten. Wenn sie nicht so viele verloren hatten, fühlte man sich so, weil man sich fragte, ob man diese Verluste selbst hätte verhindern können. Diesmal hatten sie verhältnismäßig wenige Tote zu beklagen, und niemand sah Hanji ins Gesicht, als sie den Stall betrat. Als befürchteten sie ernsthaft, sie als Vorgesetzte könnte ihnen einen Vorwurf machen. Die Gefühle würden sich beruhigen, und dann war für so etwas wie Trost überhaupt wieder Platz. Im Moment wäre es so, als würde man jemandem den Rücken tätscheln, der gerade zehn Stockschläge bekommen hatte. Das Beispiel hinkte natürlich, aber Shadis hatte treffend bemerkt, dass Wortwahl auch keine Titanen tötete. Und das Einzige, wo man präzise sein musste, war die Wissenschaft. „Du machst den Kadetten Angst – als hättest du vor, sie zwischen deinen Augenbrauen zu zerquetschen.“ Erwin war nicht unruhig. Aber das war er generell nie. Er stand im Mittelgang der Ställe, als wäre er schlafgewandelt und dort aufgewacht, nur dass jeder außer ihm dann völlig desorientiert gewirkt hätte: Erwin erweckte einfach den Eindruck, eine Inspektion zu machen und stehen geblieben zu sein, um über fundamental wichtige Dinge nachzudenken. Deswegen vertrauten Menschen ihm; er schien immer absolut sicher zu sein, was er gerade tat, und dass das, was er tat, reflektiert und bedeutend war. Hanji war kurzsichtig, also wusste sie, dass die Augen ein ziemlich trügerisches Organ waren und einem die Realität nun mal fehlerhaft abbildeten. Erwin war nicht hier, weil er gerade irgendetwas Weltbewegendes tat, er war bloß funktional. Sie trat neben ihn, während er noch den Kopf wandte, um sie anzusehen, und ihr zunickte. Er wirkte fast ein wenig ertappt. Sein Gesicht war so reglos wie immer, aber er hatte diese Art, seine Lippen um Haaresbreite zu öffnen, wenn er so empfand. Es war natürlich immer noch die Pest, mit ihm Karten zu spielen. Erwin würdigte ihren Scherz nicht mit einer Antwort (vermutlich hatte er schon jeden menschenmöglichen Scherz über seine Augenbrauen gehört, aber Hanji gab nicht auf, einen Neuen zu finden), doch er sprach überhaupt mit ihr. Das war Bestätigung genug, dass er ihre Gegenwart wollte – die Gegenwart irgendeiner Person, die ihm in die Augen sehen konnte. „Tatsächlich gab es eine neue Lieferung. Die Schnelligkeit gibt mir zu denken, ob es wieder Zeit für eine Razzia bei den Händlern wird.“ Unmöglich zu sagen, ob das ernst gemeint war oder nicht. Hanji entschied sich nach kurzer Überlegung, es als Ernst zu behandeln. Wenn Erwin Scherze ignorierte, wollte er vermutlich irgendetwas hören, das er nicht zu ignorieren brauchte. „Kommt drauf an, was es ist. Wir hatten auch schon Lieferboni ohne Hintergedanken, oder?“ Hanji wusste, dass es so etwas wie 'ohne Hintergedanken' nicht gab, aber so wie der Rest der Abteilungsführer tat sie so, als wüsste sie das eben nicht. Erwins Methoden waren nicht für nähere Betrachtung geeignet, und sie dienten den Interessen des Aufklärungstrupps. Weiter dachte Hanji nicht. Wenigstens das war sie Erwin schuldig. „Das ist eine Art, es zu sehen.“ Dieser Mann und seine kryptischen Aussagen. Hanji verdrehte die Augen. „Eine Wagenladung seidener Stricke, was?“ Der Witz war immer zu nah an der Wahrheit, um amüsant zu sein. Der Funke Belustigung, der sich in Erwins leises Schnauben mischte, war vielleicht seine Art, dem zu begegnen. „Nicht ganz.“ Er neigte den Kopf leicht, um auf eins der Stallabteile zu deuten, und Hanji trat einen Schritt näher an das hölzerne Schiebetor, um in das Halbdunkel dahinter zu schauen. Nervöse braune Augen starrten sie an, und es polterte dumpf, als etwas Schweres mit der Rückwand der Box kollidierte. „Was ist mit deinem alten Pferd passiert?“ Die Frage war heraus, bevor Hanji einfallen konnte, dass Erwin eventuell versucht hatte, genau diese zu vermeiden. Doch als sie ihn ansah, war er lediglich neben sie getreten und musterte das eingeschüchterte Tier unbeteiligt, wie einen leeren Gastank. „Es war krank.“ „Deswegen diese Grabesstimmung.“ „Es war nur ein Pferd.“ Hanji wusste es besser, als ihn darauf hinzuweisen, dass er trotzdem hier war: es waren nur Pferde, aber außerhalb der Mauer hing ihr Überleben an diesen Biestern und daran, ob sie gut trainiert waren und auf Pfiffe reagierten, um ihre Reiter wieder aufzusammeln. Genau wie bei der restlichen Ausrüstung kannte man ihre Macken und Hemmungen, und man war permanent in der Gefahr, sie zu verlieren. Außerhalb der Mauer. Nicht... hier, wo ein Gewehrschuss alles beendete und der Kadaver weiterverwertet wurde. Hanji wusste jetzt schon, dass sie heute Abend den Eintopf auslassen würde. Und Erwin würde wahrscheinlich einen vollkommen plausiblen Grund finden, gar nicht zu essen. Man brauchte ja nicht zu trauern, aber man musste es auch nicht grausiger machen, als es war. „Es ist... weiß.“ Hanji lehnte sich wieder vom Tor zurück und grinste. „Das gibt ein fantastisches Bild, glaube ich – du auf einem weißen Pferd.“ Erwin lächelte kurz, vielleicht um sie und sich zu überzeugen, dass es so einfach war. Es war etwas angestrengt, aber für ein Lächeln akzeptabel. Das erste Lächeln, das Hanji an diesem Tag sah, fiel ihr auf. „Levi findet es prätentiös.“ „Ich glaube nicht, dass 'prätentiös' das Wort ist, das er gebraucht hat, mein Lieber.“ „Er hat es gemeint.“ „Dann ist mir klar, warum das arme Vieh jetzt so ängstlich aussieht.“ Hanji lehnte sich gegen einen der Holzböcke, auf denen die Sättel aufgereiht waren, und hakte ihre Daumen unter die Gurte, die sich auf Höhe ihrer Hüften teilten. „Jetzt frage ich mich, warum jemand so versessen darauf war, dir ein weißes Pferd zu beschaffen – sollen wir dir jetzt ein Herz oder eher eine Zielscheibe auf den Rücken malen?“ „Es wäre beides enttäuschend.“ Erwin lächelte längst nicht mehr, aber er hielt sich nicht mehr ganz so schmerzhaft gerade. Expeditionen waren erbarmungslos erschöpfend, selbst für Hanji, deren größte Faszination dort draußen auf sie wartete, doch auf gewisse Art war diese Anstrengung leichter, als sich danach auszuruhen. „Vermutlich. Willst du ihm einen Namen geben?“ 'Nein' war die absehbare Antwort – man hängte sein Herz an Dinge, denen man einen Namen gab. Das war ihnen beiden klar, und dennoch lag eine gewisse Linderung im Reden über etwas Belangloses, und Hanji hielt es für möglich, dass es ihr selbst half. Aber vor allem half es Erwin. Sie alle brauchten ihn funktionstüchtig, und mehr noch als das... „Ich denke nicht, dass es einen braucht. Es sticht eh heraus.“ Also tatsächlich. Hanji ließ ihre Gurte zurückschnappen und verdrehte die Augen. „Also... 'Das Weiße'? Wirklich? Du hast den Nerv, Levis Wortwahl zu zensieren, damit ich nicht in Ohnmacht falle, aber das ist das Poetischste, was dir zu 'weiß' einfällt? Was ist mit 'Wolke'?“ Erwins Lippen zuckten leicht, ob aus Belustigung oder Entsetzen bei der Vorstellung, konnte Hanji nicht sagen. Sie tippte allerdings eher auf Letzteres. „Das wäre kein vorteilhaftes Bild.“ Nein, der dreizehnte Kommandant des Aufklärungstrupps sollte sich wirklich nicht so bald dabei erwischen lassen, eine Wolke zu reiten. Hanji war Wissenschaftlerin, sie glaubte nicht an Omen, doch sie glaubte sehr wohl an schlechte Moral. „Guter Einwand. 'Milch'? Nein, in Ordnung, ich sehe das Problem bei dem Namen. Und wir wollen ja nichts zu Organisches. Es sei denn – 'Rettich'?“ „Du würdest ein Tier nach Gemüse benennen.“ „Nein, aber du. Mein Pferd hört auf 'Moblit', und ehrlich, ich hab ihm das nicht beigebracht! Es muss irgendwann zu der Überzeugung gekommen sein, dass es so heißt.“ Hanji grinste und nahm an, sie sollte sich deshalb etwas schlechter fühlen. „Moblit hört leider nach wie vor nicht auf Pfiffe.“ „Sieh bitte davon ab, ihm das beibringen zu wollen.“ Erwin traute es ihr offenbar zu, denn er legte einen Hauch von Strenge in seine Stimme. Aber es war zumindest irgendein Ausdruck, nicht das Neutrale, Unantastbare, das er für die nächsten Tage brauchen würde. Hanji schmunzelte; nahezu sicher, dass ihre Heiterkeit seiner Bemerkung galt und nicht der Veränderung seiner Stimme. Immerhin sollte sie das kränken. „Weißt du, wie du es nennen solltest, damit jeder zusammenzuckt, sobald du es rufst? Le-“ Hanji würde nicht herausfinden, ob Levi sie niedergeschlagen hatte, weil er die Zeit für ein Bad gekommen sah oder weil er ahnte, was sie hatte sagen wollen.   Das nächste Mal, als ihre Begegnung aus dem Rahmen fiel, hatte sich ihre Welt wieder verändert. Zum unbeschreiblich Großartigen. Es war ein weiter Weg gewesen vom Fund von Ilse Langnars Tagebuch zum tatsächlichen Lebendfang zweier Titanen, aber eins musste man Erwin lassen: wenn er einen Entschluss getroffen hatte, trat er so bald nicht davon zurück. Hanji kannte Männer, die die Entdeckung von Eren Jäger als Vorwand benutzt hätten, sich auf eine einzelne Sache zu konzentrieren, und es wäre nicht einmal so unvernünftig gewesen. Stattdessen hatte sie diese zwei unsäglich wunderbaren Testsubjekte, vier und sieben Meter groß. Natürlich würde sie Albert und Chikatilo niemals vergessen, wie könnte sie, aber man musste loslassen können. Und im Gedächtnis behalten, dass Soldaten dabei gestorben waren, diese Subjekte zu beschaffen. Diesmal würde Hanji das Potenzial dieser Chance ausschöpfen. Sie brauchte die Tage für Testreihen, die Nächte für Dokumentation, und zwischen all dem brauchte sie Zeit, um mit Eren zu arbeiten, dem umso faszinierenderen Fang der jüngeren Geschichte. Sie müsste einfach überall gleichzeitig sein! Bean brummte noch ab und zu leise vor sich hin, die Zeltplanen raschelten in einer kurzen Brise. Hanji warf einen kurzen Blick auf die langsam herabsinkenden Lider des Titanen und ließ ihren Stift über der Seite des Notizbuches schweben. „Du musst mir nichts beweisen, weißt du.“ Das unverwechselbare Auftrumpfen von Gewehren, die Baskülen trafen auf etwas Festes. Der Laut kratzte mehr an Hanjis Nerven als die dumpfen Lautäußerungen der Titanen es je könnten, und sie richtete ihren Blick auf die flackernde Laterne zwischen sich und Bean. Sie waren alle etwas zu dicht am Versagen entlanggeschrammt, um dieses Geräusch zu ignorieren. Hanji fröstelte, als die gewachste Zeltplane zurückgezogen wurde und kalte Nachtluft einließ – durch Beans unnatürliche Wärme war es im Zelt stickig und feucht wie in einem Treibhaus. Zumindest nahm Hanji an, dass sie es nur deswegen als kalt empfand. Nur Wachsoldaten, die einen Salut erwidert hatten. Die Gewehre waren nutzlos gegen Titanen, und ein Angreifer würde menschlich sein. Erwin trug aus Prinzip keine Manöver-Ausrüstung – wenn der Kommandant nicht darauf vertraute, dass sein Corps zwei Titanen mit aller gebührenden Sorgfalt bewachte, wer dann? – und dafür einen unauffälligen, länglichen Weidenkorb, den er abstellte, während sein Blick kurz über die Seilnägel strich und sich vergewisserte, dass diese noch immer fest im Boden verankert waren. Bean begrüßte ihn mit einem schläfrigen Krähen, das aus Hanjis Sicht seine Art war, sich über den Luftzug zu beschweren. „Ich würd' ja strammstehen, aber meine Beine sind eingeschlafen.“ Was die reine Wahrheit war. Hanji bemerkte erst jetzt, dass ihre überkreuzten Beine taub kribbelten und das Leder ihrer Stiefel dabei unangenehm in ihre Achillessehnen drückte. Sie legte ihr Schreibzeug weg, um sich zu Erwin umzudrehen, und erhaschte einen Blick auf sein grimmiges, von dünnen Schatten gefurchtes Gesicht. Durch die zuckende Flamme in der Laterne als einzige Lichtquelle wirkte er noch starrer, wie eine Statue seiner Selbst, in deren blauen Augen ein zorniger Glanz tanzte. „Das sehe ich.“ Erwin war wahrscheinlich einer der letzten Menschen, bei denen man sich wundern musste, wenn sie nach ihrem niemals wirklich endenden Arbeitstag humorlos und schnippisch waren, doch es sah ihm nicht ähnlich. Der Mann hatte keine... Launen, weder im Guten noch im Schlechten. Hanji beschloss, ernst zu werden, dann erst begriff sie, dass sie gar nicht gelächelt hatte, als sie vorhin gesprochen hatte. Sie hätte schwören können, dass sie es hatte tun wollen... Und es musste später sein als gedacht, denn Bean hatte nicht darauf reagiert, dass ihre Stimme sich vom halblauten Murmeln beim Protokollieren des Tagesgeschehens jetzt zu normaler Lautstärke gehoben hatte. Hatte sie doch, oder? Vielleicht waren die Tage und Nächte stärker ineinander geflossen, als sie gedacht hatte. Hanji wusste, dass Beobachtung ihre große Qualität war, so wie Shadis Disziplin hatte und Erwin Strategie. Wenn sie begann, darin zu versagen... Dann würde sie keine gute Kommandantin werden. Sie hatten nicht darüber gesprochen, aber eben weil sie eine gute Beobachterin war, wusste Hanji es. Sie bemerkte die winzigen Veränderungen in Erwins lückenloser Planung, der Wandel ihrer eigenen Rolle in seinen Schlachtaufstellungen. Er schonte sie nicht – das konnte sich der Aufklärungstrupp gar nicht leisten – aber er besetzte sie an kritischen Punkten. Mike hatte langsam begonnen, die Aufgaben zu übernehmen, die Hanji sonst in Erwins Nähe gebracht hätten, und weil er die rechte Hand des Kommandanten war, fiel es kaum auf. Doch die Überlegung dahinter war krude und realistisch. Wenn es zum Attentat kam, sollte Hanji nicht in der Nähe sein, um davon erfasst zu werden. Es war immer der Hintergedanke in dieser Aufstellung, selbst vor dem Kriegsgericht, in trügerischer Sicherheit. Hanji erinnerte sich kaum, wann sie das letzte Mal allein gewesen waren. All das schoss ihr innerhalb von den Sekunden durch den Kopf, in denen Erwin sie unbarmherzig musterte wie eine ihrer Apparaturen, von denen er sich nicht sicher war, ob sie nützlich war oder nur Ressourcen verbrauchte. Es war ein schwer zu ertragender Blick. „Ich muss irrsinnig scheiße aussehen, wenn sogar du mir was zu Essen vorbeibringst.“ Diesmal versuchte sie weder das Lächeln noch das Stimmeheben. Es würde vermutlich nicht mal klappen, wie sie es wollte. Erwin war immerhin gut genug erzogen, das nicht zu bestätigen. Er streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen, und Hanji zwang ihre noch immer wie verrückt kribbelnden Beine zur Bewegung, um ihre Fußsohlen auf den Boden zu bringen. Ihr Rücken gab eine längere Serie trockener Knackgeräusche zum Besten, als sie ihre Arme hob und sich streckte, um sich hochziehen zu lassen, und die Muskeln in den Rückseiten ihrer Oberschenkel verkrampften sich bei der Dehnung jäh. Erwin zog sie mit einem Ruck hoch, und Hanji stöhnte leise bei den kombinierten Gehässigkeiten ihres Körpers aus Taubheit, Schmerz und Stechen. Es war ihr nicht mal mehr wichtig. Sie grub die Finger in die Epauletten auf Erwins Schultern und atmete zischend durch zusammengebissene Zähne aus, bis das Reißen einigermaßen abnahm und ihr erlaubte, wieder auf ihren eigenen Beinen zu stehen. Es konnte nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert haben, aber Hanji hätte es lieber ganz vermieden. Sie lockerte ihren Griff und verlagerte vorsichtig das Gewicht auf ihren noch immer kribbelnden Sohlen. „Wie oft passiert dir das so pro Ball, dass eine Frau sich dir mit der Ausrede, ihr seien die Beine eingeschlafen, an die Brust wirft?“, grunzte sie gepresst. Erwin roch nach Seife und Schwarzpulver, eine bigotte Kombination. Hanji selbst roch vermutlich erheblich schlimmer, aber Mike war noch nicht in Ohnmacht gefallen deswegen, und Levi hatte laut eigener Aussage keine Zeit, sich um deinen Scheiß zu kümmern. Sie hörte Erwins Schmunzeln eher, als dass sie es sehen konnte. „Seltener, als man meint.“ „Wie deprimierend.“ „Allerdings.“ Hanji trat einen kleinen Schritt zurück und zog eine Grimasse, als ihre Knie dabei vernehmlich knirschten. „Ich würde ja die formvollendete Gastgeberin geben, damit du dich heimisch fühlst, aber... das ist jetzt nicht drin. Kannst du mir den Korb und mein Notizbuch aufheben? Wenn ich noch mal runtergehe, komme ich nicht mal mit deiner Hilfe wieder hoch.“ Erwin beehrte sie dafür mit der entschärften Variante seines tadelnden Blicks (sie war immer noch finster genug, um Rekruten den Angstschweiß ausbrechen zu lassen), doch er hob ihre Sachen auf und nahm auch die Laterne an sich, während Hanji zu der schmalen, ungepolsterten Bank seitlich des reglosen Titanen humpelte und sich langsam darauf setzte. Sie fühlte sich weder hungrig noch durstig, nur... seltsam gelöst von allem, als müsste sie ihre Aktivitäten neu überdenken, weil Erwin sie dabei gestört hatte. Während sie vorsichtig über das gereizte Gewebe rieb, wo Stiefelschaft und Hose in ihre Kniekehlen gedrückt hatten, schienen die Bänder ihrer Brille zu drücken. Hanji nahm sie ab und war nicht überrascht, dass das Gestell Druckstellen auf ihrem Nasenbein hinterlassen hatte und die Haut hinter ihren Ohren wundgescheuert war. Ihre Augen brannten, als sie darüber rieb. Alles verschwamm ohne die Brillengläser zwischen sich und dem Rest der Welt, und Hanji drückte vorsichtig ihre Lider nach unten und massierte die juckende Haut mit den Fingerspitzen. Sie hörte Rascheln, das Knarren von Holz, dann senkte sich die Sitzfläche der Bank noch etwas weiter unter zusätzlichem Gewicht. Erwin sagte nichts, und sein Schweigen war... schwer, obwohl Hanji müde war und keine Lust zum Reden hatte. Als müsste sie sich rechtfertigen. „Wir sind echt dicht dran, oder?“ Ein nasses Knirschen – ein Messer schnitt durch irgendetwas Saftiges. Hanji streckte ihre freie Hand auffordernd aus, und es war ihr völlig egal, dass ihre Finger bis zum ersten Gelenk mit Kohle beschmiert waren. Erwin schien es nicht ganz so egal zu sein. Hanji schnaubte. „Mir ist mal Tinte in der Satteltasche ausgelaufen und die Rationen waren noch essbar.“ Er legte das Stück Obst hinein – Apfel, sie erkannte den Geruch, die Klebrigkeit von Saft an seinen Fingern – und wartete nicht, ob sie das kommentierte. „Vielleicht. Das Vertrauen in Eren ist erschüttert.“ Hanji öffnete ihre Augen einen Spalt breit und schob sich das Apfelviertel zwischen die Zähne, um ihr festgezurrtes Haarband zu lösen. Es war schon so lange dort, dass es sich anfühlte, als hätte es ihre Kopfhaut zusammengezogen, und sie seufzte, als der Druck nachließ. „Deinf nift.“ „Nein.“ Erwin sprach es mit absoluter Sicherheit aus, doch die Schatten unter seinen Augen waren tiefer als sonst. Hanji fragte ihn nicht, ob er keinen Schlaf fand; schien ziemlich überflüssig, und sie brauchte ihren Mund zum Kauen. Als sie blinzelte, brannte es jäh in ihrem Augenwinkel, und zu spät begriff sie, dass sie sich wahrscheinlich Kohleklümpchen vorhin auf die Lider und an die Seiten geschmiert hatte. Sie schob mit dem Handrücken rigoros den Rest des Apfelstücks in den Mund und versuchte, ihren Ärmel über die Augen zu ziehen und die Kohle abzutupfen. Von rechts hörte Hanji das Knirschen eines Schraubverschlusses und das leise Gluckern von Wasser, bevor ihr nasser Stoff gegen das Handgelenk gedrückt wurde, der vermutlich sauberer war als alles, was sie gerade trug. Hanji nahm das Taschentuch (es roch unverwechselbar nach diesem Hauch von Angesengtheit, zu viel Glut im Bügeleisen) und wusch ihre Augen damit aus, wischte dilettantischen, wenn auch unbeabsichtigten Lidstrich ab und schmierte zahllose dreckige Fingerabdrücke ins Weiß. Aber sie konnte ihre Augen wieder öffnen. Sie schluckte halbgekauten Apfel und grinste Erwin über den Rand seines Taschentuchs an ihren geröteten Augen an. Musste ein zauberhafter Anblick sein, aber Hanji hielt dem Mann zugute, dass er nicht zusammenzuckte. Titanen härteten einen gegen so einiges ab. Zwangsweise. „Hey – und wie oft kommt es vor, dass Frauen sich zufällig ihre Schminke ins Auge reiben und unbedingt dein Taschentuch brauchen, um ihren fantastischen Gesamteindruck zu retten?“ Erwin stellte die Wasserflasche wieder hin und nahm das Messer zurück in die Hand, um ein Stück Kerngehäuse aus dem Apfel zu schälen, doch es deuteten sich winzige Falten um seine Augen an, eine Art Lächeln. „Das ist auch eher selten.“ „Und ich hab' gehört, das wäre romantisch.“ In einer Zeit lange vor dieser, die man für inexistent erklärt hatte. Hanji langte nach dem Korb, um darin nach Essen zu graben – mit einem Mal fiel ihr wieder auf, wie hungrig sie war – als Erwin unerwartet erwiderte: „Geh schlafen.“ „Daf war ganf fiffer nift 'omantich.“ Hanji würgte ein weiteres Stück Apfel herunter und riss einen Brocken aus dem Brotlaib, ohne abzuwarten, dass Erwin ihr das Messer gab. Es war etwa Privilegiertes daran, schnell verderbliche, frische Lebensmittel zu essen, und sie sollte es wohl mehr würdigen, aber verdammt, sie ging gleich ein vor Hunger! „Ich wiederhole mich nur, ich muss ja scheiße aussehen.“ „Nicht zu schrecklich für mein Taschentuch, immerhin.“ „Schon gut, ich hab' verstanden, was du mir sagen willst.“ „Wirklich?“ Hanji riss einen (zugegeben großen) Bissen Brot ab und stieß Erwin dafür grob mit ihrem Knie an – ihm einen Ellbogenstoß zu verpassen erschien nicht so hell, während er mit einem Messer hantierte. „Ich weiß es, keine Sorge.“ Die Worte waren relativ klar, wenn auch immer noch etwas gedämpft, weil sie ihren gesamten Bissen dafür in eine Wange schieben musste. Es gab kein Einverständnis, um das Erwin sie bitten würde. Er bestimmte seine Nachfolge nach seiner eigenen Einschätzung, nicht nach einer Umfrage, wer Lust auf den Posten hatte. Hanji kaute weiter, auch wenn das Gefühl von Hunger allmählich einem anderen, hohlen Klopfen Platz machte. „Dann warte ich auf deine Bestätigung, dass du mich verstanden hast.“ Das hohle Gefühl kroch hoch. Hanji grinste ihn an und klopfte ihm mit schmierigen Fingern auf die Schulter. „Ach, Erwin – niemand versteht dich, das weißt du doch.“ Sie schob es auf, einen winzigen Moment. „Und dabei dachte ich, ich wäre derjenige, dessen Mund leer ist“, erwiderte Erwin trocken, ohne zu zögern. Er gewährte ihr den Aufschub. Wie der Taktiker, der er war. Hanji beendete ihren Imbiss geringfügig salonfähiger und ohne zu reden. Erwin blieb sitzen. Vielleicht wartete er wirklich auf ihr verbales Einverständnis, auf das militärische Protokoll, das ihrer Begegnung auch jetzt zugrunde lag. Aber vielleicht war ihm das auch nicht so wichtig. Gelegentlich hatte er eigene Motive. Sich von seinem Pferd zu verabschieden, bevor es erschossen wurde. Seiner Untergebenen Abendessen zu bringen, obwohl sie weder verletzt noch auf Posten war. Ganz zu schweigen davon, ihr Äpfel zu schälen oder Taschentücher zu geben. Hanji warf ihm einen schrägen Blick zu, während sie ihre Brille wieder auf die Nase setzte und die Bänder irgendwo über ihr verknotetes Haar schlang. Musste nicht funktional sein, musste nur halten. „Weißt du, dass die Soldaten auf deine Nachfolge wetten?“ Erwin machte ein Geräusch, das sehr knapp an einem Schnauben vorbeiging. „Beruhigend, nicht wahr?“ „Ich sag' ja nur – die meisten setzen auf Mike. Jetzt weißt du, wo einige Monatssolde bleiben werden.“ „Du nimmst also daran teil.“ „Nein! Wobei es keine schlechte Idee wäre, der Wissenschaft damit zu dienen, und falls dir das Glauben an deine Jungs und Mädels zurückgibt... Es gibt keinen Wettgang, ob du in deinem Amt stirbst“, es würde so sein, „und ich denke, ich sollte das sagen. Du machst dir Gedanken über meinen Tod und ich mir über deinen, es macht keinen Spaß, aber es muss sein.“ Erwin wischte das Messer an einem Tuch ab und legte es in den Korb zurück. Hanji sah es aus den Augenwinkeln, nicht weil sie seine Bewegung mit dem Blick verfolgte. Manchmal war selbst das zu viel. „Dann ist alles gesagt.“ Die Worte schienen schnippisch, doch alles, was tatsächlich in seiner Stimme mitschwang, war Gleichmut, die müde, aber nicht unzufriedene Art davon, wie nach langem Übungsmarsch endlich die Rucksäcke mit den Steinen abzustellen. Hanji stieß Atem aus, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie angehalten hatte. „Hörst du jetzt auf, mich zu meiden wie die Pest?“ Sie fragte es, weil sie erwartete, dass Erwin gehen würde, nun da er alles erledigt hatte, wofür er hergekommen war, doch der Kommandant rührte sich nicht, zumindest stand er nicht auf. Er lehnte seinen Oberkörper leicht nach hinten und rollte mit den Schultern. Er sah müde aus, abgespannt; Hanji begriff, dass sie genauso empfand, bleierne Müdigkeit nach Anspannung, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie da war. „Ich denke, das werde ich tun. Schon allein zum Schutz des Friedens im Corps.“ Erwins Lächeln, das diese Worte begleitete, war nicht mehr als ein Zucken, akzentuiert von der Laternenflamme. „Schon klar. Du findest immer Ausreden.“ „Gewöhn' dich daran.“ „Ich denk' nicht dran. Aber wo wir schon das volle Soiree-Programm abziehen...“ Hanji ließ ihre Wimpern flattern, zumindest sagte sie sich, dass ihre Lider nicht einfach von sich aus hinabsanken, weil mit der Anspannung jede Energie abgebrannt schien. „Leih' mir noch mal deine Schulter, ja?“ Auf der schmalen Bank war kaum genug Platz, richtig zu sitzen, sich zurückzulehnen war unmöglich. Aber nicht einmal das spielte eine Rolle. „Selbst das ist sonst ungebräuchlich“, erwiderte Erwin mit einer vagen Andeutung von Sanftheit. Hanji rieb sich die Augen hinter dem Brillengestell, doch ihre Sicht wurde kaum klarer. „Dann tu's für mich.“ In diesem Moment erschien es wie etwas völlig Natürliches, auch wenn sie sich später wundern würde, warum so etwas Missverständliches wie Worte jemals so etwas unnötig Hochkomplexes wie Gefühle so einfach ausdrücken konnte. Erwin stützte seine Ellbogen auf die Oberschenkel, beugte sich dabei gerade so weit vor, dass Hanjis Wange nicht gegen die harten Knöpfe seiner Epauletten drückte. Ihr Gewicht schien ihm nichts auszumachen, nicht ihr Geruch, nicht die Zeit, die er hier verbrachte. Etwa ab diesem Punkt begann es einen Unterschied zu machen, dass Erwin ein Teil der Begegnungen war, die aus ihrem Alltag herausstachen.   Das nächste Mal war ein Nebel aus Schmerz. Die Umrisse von Hanjis Umgebung waren nicht nur deswegen so verschwommen, weil sie ihre Brille verloren hatte. Ihr Kopf war zu schwer, um ihn in Bauchlage oben zu halten, aber sie musste; es war keine Zeit, sich zu erholen. Jeder Atemzug stach und schien gegen das Gewicht ihres Rumpfs unmöglich anstrengend, gegen die straffen Verbände quälend, jeder Atemzug wühlte sich wie ein Klumpen von ihrer Kehle in die Lungen und zurück. Das war der Ärger mit gebrochenen Rippen. Aber sie würde nicht daran sterben. Und sie würde ganz sicher nicht das Bewusstsein verlieren, während sie noch Dinge zu sagen hatte, die für Erens Rettung wichtig waren. Hanji klammerte sich verbissen an die Realität, so unerträglich sie auch war. Sie hatten Eren verloren. Es wäre zu verhindern gewesen, aber das bedeutete nicht, dass irgendjemand versagt hatte. Nein, sie hätten einfach... mehr Glück haben müssen, als sie es gehabt hatten. Aufgrund einer Ahnung Berthold und Reiner trennen sollen, Mikasa hätte einen Sekundenbruchteil schneller sein können, vielleicht hätte nur jemand im richtigen Moment auf einer Ölpfütze auszurutschen brauchen. Das änderte nichts daran, dass Hanji nichts tun konnte. Anders als Levi konnte sie sich nicht mal vernünftig bewegen, und wenn Moblit eine Trage und einen Seilzug organisiert hatte, um sie von der Mauer zu holen wie eine besonders sperrige Kiste, konnte sie sich nicht mal wehren. Sollte sie wohl auch nicht. Sie sollte erlauben, dass man ihr Schmerzmittel gab und sie einschlief, damit sie sich erholte. Dann wäre das Atmen keine solche Qual, und sie würde nicht ständig den Gedanken wälzen, dass sie- Metallseile surrten, gefolgt von einem scharfen Klicken, mit dem die Anker zurück in ihre Halterungen schnappten. Nachdem die anderen Soldaten bereits die Mauer verlassen hatten, um in aller Eile die Pferde bereit zu machen und zu dem Wald zu gelangen, den Hanji als wahrscheinlichstes Versteck ausgemacht hatte, war sie allein. Mit ihren Gedanken und ihren keuchenden Atemzügen. Jemand tastete behutsam über ihre Seiten, fühlte nach blutdurchtränkten Stellen im Verband und nickte kurz und ruckartig zu sich selbst, als es keine gab. Hätte Hanji nicht schon die Form des Schattens erkannt, dann diese Eigenart, die Erwin an sich hatte. Ob er nun überprüfte, ob er noch Schreibfedern in der Schublade hatte oder ob die Blutung unter einem Verband versiegt war. „Verschwendest du Gas...“, ein neuer, flacher Atemzug, „nur um zu sehen, ob ich... diesmal in Ohnmacht falle?“ Er hatte keinen Grund, zurückzukommen. Nur ein kleines Zeitfenster des Abwartens, bis die Verstärkung, die sich seinem Tross hier anschloss, ihre Pferde gesattelt hatte und bereit war, in Formation zu fallen. Zeit, die er besser dort unten verbrachte, wo seine Soldaten ihn sehen konnten, wo er ihre Moral hochhalten musste, wenn sie irgendeine Chance haben wollten, Eren zurückzuholen. Wenn dieser überhaupt noch erreichbar war. Fünf Stunden waren verdammt viel Zeit, egal was Hanji vorhin laut gesagt hatte. Trotzdem hatte Erwin diese vitale Speerspitze seines Gegenangriffs verlassen, und es schienen knappe Minuten zu sein, die er nicht mit Geplänkel vergeuden würde. Seine Fingerspitzen, scheinbar wärmer als alles auf dem windgepeitschten Grat der Mauer, berührten Hanjis Wange. Sie kämmten behutsam Haar beiseite, das in getrocknetem Blut an ihrer Haut festklebte, inspizierte die Platzwunde an ihrer Schläfe. Zumindest nahm Hanji an, dass er das tat. Erwins Gesicht war ohne ihre Brille, dafür mit Gehirnerschütterung, nur ein verschwommenes Oval mit zwei hellen Abgründen darin. Hanji tastete blindlings nach seinem Knie, dem nächsten Körperteil in Bodennähe, das sie erreichen konnte. Der gallenbittere Geschmack in ihrem Mund zog beim Schlucken ihre Kehle zusammen. „Nein“, raunte sie. „Noch... nicht.“ Erwin bedeckte ihre Hand auf seinem Knie mit seiner freien. Sein Umhang flatterte im Wind wie ein Vorhang, eine Art Illusion von Privatsphäre oder Heimlichkeit. „Ich kann nicht mal... richtig salutieren jetzt“, presste Hanji hervor und stemmte sich mit aller Kraft wieder auf die Ellbogen hoch. Das Knirschen ihrer gebrochenen Rippen nahm ihr fast den Atem. Sie blinzelte angestrengt, doch ihre Sicht ließ sich nicht klären, ohne Brillengläser blieb Erwins Miene für sie neutral, ohne dass sie die winzigen Regungen sehen konnte, von denen sie jetzt wusste, dass sie da waren. Nur nicht, was sie ihr sagten; dass sein Tod plötzlich naheliegend war und das Letzte, was Hanji von ihm sah, nur ein verschwommener Schemen war... Das war nicht fair. Was sie klarer sehen konnte, war nur seine Hand über ihrer. Seine Fingerspitzen drückten noch immer gegen ihre Schläfe, und noch immer hatte er kein Wort gesagt. Je höher man in den Rängen des Corps war, desto weniger Raum gab es dafür, sich Worte anzuhängen wie Ballast. Hanji hatte noch keinem Soldaten davon abgeraten, aber sie hatte es auch nie selbst getan. Geh nicht. Bleib bei mir. Bleib am Leben. Du darfst nicht sterben. Alles egoistischer Blödsinn, und wenn überhaupt, schmälerte er die Überlebenschancen noch. Wenn nicht für einen selbst, dann für die Kameraden, die wirklich bereit waren, für ihre Sache zu sterben. Erwin sagte immer noch nichts. Seine Finger zitterten nicht, zitterten nie, als er Hanjis Hand von seinem Knie nahm, nur kurz zwischen seinen beiden einschloss, noch kürzer ihre Finger verflocht. Dann ließ er sie los und erhob sich, der Ausdruck seines Gesichts war jetzt noch unlesbarer als zuvor. „Viel Glück“, sagte Hanji rau. Erwin nickte ihr zu. Vielleicht hatte er das bisschen Glück, das ihnen fünf Stunden zuvor gefehlt hatte. Zuzutrauen wäre es ihm.   Es war bizarr, wie genau Hanji sich an die Berührung von Erwins rechter Hand erinnerte. So wie man sich der letzten Begegnung mit einem Soldaten genauer entsann, sobald man erfuhr, dass er oder sie gefallen war. Oder nicht zurückkehren würde. So wie Mike. Hanji erinnerte sich genau an die kleinen Fransen an seinem Hemdkragen, an die wenigen Worte, die er verloren hatte, als sie sich das letzte Mal sahen, an sein nachsichtiges Schulterzucken, an den Geruch und eine kleine statische Aufladung in seinen Haarspitzen. Alles davon. Dabei war ein Körperteil keine eigenständige Person. Dass sie sich an Erwins rechte Hand genauso detailliert erinnern konnte wie an Mike vor seinem Aufbruch fühlte sich grausam an, herabwürdigend. Aber eigentlich waren es nur zwei Abstufungen von Verlust. Erwin war nicht wach, als Hanji sein Zimmer betrat. Er wusste es noch nicht, die Dinge, die Connie Springer angestoßen und die Hanji mit ihm zusammen untersucht hatte, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis sie ihm vorgestellt wurden. Hanji war hier, um ihn zu sehen, bevor er es erfuhr. Mit einem leisen Ächzen hievte sie sich in den Lehnstuhl neben dem Bett und streckte vorsichtig die Beine aus. Ihre Heilung kam gut voran und würde ohne Spuren bleiben, außer ein paar noch stabileren Knochen. Das Korsett war nervtötend, und die Schiene um ihr linkes Handgelenk juckte abscheulich, aber das Einzige, was wirklich störte, war Moblits Reglementierung ihrer Arbeitszeiten. Hanji verdächtigte ihn, ganz froh zu sein, dass er jetzt das Regiment führte. Solange er sich nicht daran gewöhnte... Sie streckte die Finger nach dem bandagierten Stumpf von Erwins Arm aus und bemerkte, dass er sie ansah. Erwin, nicht der Stumpf. Sein Gesicht war hager und unrasiert, das Ringen mit dem Tod hatte tiefe Spuren darin hinterlassen, und nicht alle würden wieder verschwinden. Doch seine Augen waren unverändert klar, nicht mehr betäubt von Fieber und Schmerzmittel. Hanji salutierte linkisch. „Kommandant. Willkommen unter den Lebenden, auch wenn ich vielleicht nicht so aussehe, als gehörte ich dazu.“ Erwin blinzelte gegen das einfallende, gräuliche Nachmittagslicht. „Zu Lebzeiten hattest du nicht so viel Selbsterkenntnis“, krächzte er mit trockener Kehle, doch auch diese Stimme verriet eine eigenartige Heiterkeit, die in Hanji die Frage aufkommen ließ, ob die Wirkung des Morphiums womöglich doch noch anhielt. Sie reichte ihm das Wasserglas vom Nachttisch, woraufhin Erwin sich langsam hochstemmte, ohne einen zweiten Arm, der seinen Oberkörper abstützte – er schien sich im selben Moment daran zu erinnern wie Hanji selbst. Für eine kurze, peinliche Zeitspanne fragte sie sich, ob sie ihn stattdessen stützen sollte, ihn zurück auf das Bett drücken, um ihm das Glas an die Lippen zu halten. Er würde sich wieder erholen, seine Körperkraft zurückgewinnen, aber nicht einmal jemand wie Erwin Smith konnte vergessen lassen, dass ihm sein dominanter Arm fehlte. Die Gelegenheit verging, ohne dass Hanji sich durchringen konnte, sie zu nutzen. Erwin zog sich schleppend in eine sitzende Position und nahm das Glas entgegen, trank es aus und gab es ihr zurück. Hanji fragte sich, ob er erwartet hätte, dass sie ihm half. Ob er glaubte, sie sei abgestoßen. „Du solltest über eine Prothese nachdenken“, begann sie unvermittelt. „Ich nehme die Maße, und je nach Material und damit verbundener Gewichtseinsparung – ich denke da an Holz und Eisen mit entsprechenden Hohlräumen – könnte ich bis zu deiner Genesung einen funktionalen Apparat herstellen. Ich bräuchte verschiedene Aufsätze, und ich fürchte, an eine Metallfeder von der richtigen Stärke wird schwer zu kommen sein, aber dein Schultergelenk ist noch intakt, das ist tatsächlich phänomenal günstig, denn damit kann die Energie deiner Bewegung auch auf eine Prothese übertragen werden. Natürlich erst, wenn die Heilung abgeschlossen ist, du wirst an Muskelmasse schließlich wieder zulegen, und...“ Sie holte Luft, überlegte, was sie hatte sagen wollen. Erwin nutzte ihre Pause, um versonnen, ohne Hast einzuwerfen: „Ich werde keine Prothese brauchen.“ „Denk wenigstens darüber nach! Natürlich ist die Beweglichkeit nicht vergleichbar mit einem echten Arm, aber man könnte einen Klingenaufsatz anbringen und einen Zugmechanismus für genug Schwung. Die Balance müsste austariert werden, da gebe ich dir Recht. Und es ist eine Kostenfrage, welche Legierungen möglich sind, oder ob es besser bei Holz- und Metallkomponenten bleibt.“ Hanji rieb sich das Kinn und kratzte sich unter dem Band eines Brillenbügels. „Arlerts mathematisches Verständnis ist beeindruckend, allerdings wird er jetzt anderswo dringender gebraucht, und ich würde das ohnehin lieber allein in Angriff nehmen, was meinst du?“ „Dass du auch anderswo dringender gebraucht wirst“, erwiderte Erwin geduldig, aber mit einer gewissen hörbaren Endgültigkeit, die das Thema für ihn wie immer abschloss. Hanji schluckte, bemerkte irritiert, dass sie das leere Glas immer noch hielt. Es war einfacher anzusehen als Erwins Gesicht. „Ich weiß“, sagte sie langsam, leiser. Das war umso irritierender, und sie hob ihre Lautstärke wieder auf Normalniveau, nur um dann etwas Unvertrautes, Unstetes darin zu hören, als sei ihre normale Festigkeit plötzlich aufgeweicht. „Aber da sind... Dinge, Erwin, neue Erkenntnisse, neue Zusammenhänge und eine ziemlich niederschmetternde Zahl von Verlusten, und nur für kurze Zeit würde ich... ausnahmsweise gern über etwas Anderes als das nachdenken. Also bitte... Lass mich eine Prothese für dich planen, die ich nie bauen werde und die du nie tragen wirst. Versprochen.“ Sie sah von dem Glas auf, weil es ihr unmöglich albern vorkam, es anzustarren. Stellte fest, dass Erwin lächelte, wahrscheinlich schon länger. Kam auf den Gedanken, dass er womöglich erleichtert war, dass sie nicht versucht hatte, ihm zu helfen, so wie sie auch nicht versucht hatte, ihn zurückzuhalten. Hanji hatte das ungute Gefühl, dass sie grinste, obwohl ihr nicht nach Grinsen zumute war. „Du warst noch derselbe, als man dich zum Kommandanten ernannt hat, und das verändert die meisten zum Schlechten. Wieso solltest du jetzt weniger sein, weil dir ein Arm fehlt?“ „Von dir kommend eine interessante Feststellung“, entgegnete Erwin und zog die Augenbrauen hoch. Er ließ ihr die Möglichkeit, das auf ihre physikalisch-korrekte Denkweise zu beziehen. Den Ausweg in das anständige, formale Verhältnis von Kommandant und Abteilungsführerin, weil er nicht Erwin wäre, wenn er nicht absolut immer noch mindestens einen Alternativplan hätte. „Ich dachte, ich mach's dir einfach“, brummte Hanji stattdessen lapidar. „Wenn 'einfach' dir nicht zu langweilig ist.“ „Einfach klingt großartig“, sagte er nur nüchtern, allein die Promptheit seiner Antwort verriet ihn. Hanji hatte sofort die angemessene Parade auf der Zunge, mit einer Grimasse und einem gequälten 'Was Anderes als Einfach kriege ich nämlich auch noch nicht hin', aber es lag Weisheit darin, Erwin das letzte Wort haben zu lassen. Sie war sich nicht mal selbst sicher, ob sie schon bereit war, Witze über irgendetwas zu machen, was noch so neu und empfindsam war. Ihr verdammtes Korsett ächzte, als Hanji sich in ihrem Stuhl vorlehnte, ihre Knie stießen schmerzhaft gegen den Bettkasten und eine Haarsträhne rutschte hinter ihrem Ohr hervor und kitzelte unerwünscht ihre Nase, eine andere zwang Erwin zum Blinzeln. Es war ein traurig ungelenker erster Kuss, wirklich, und für sie beide schmerzhaft, weil ihre Wunden als ständige Erinnerung an die Realität blieben. Erwins Bartstoppeln piksten, und trotz gründlicher Wäsche haftete ihm noch immer irgendwo der Geruch von Fieber und Delirium an, der Geruch eines beinahe toten Mannes. Aber es war der erste 'erste Kuss', bei dem Hanji neben einer plötzlichen Welle von Zärtlichkeit auch schiere Dankbarkeit dafür empfand, dass sie jemals dazu kam. Keine Angst vor dem Verlust, der jederzeit drohte, kein steter Schatten von Sorge. Oje. Sie richtete ihren vorgebeugten Oberkörper ein Stück auf, erwiderte Erwins Blick und versuchte, nicht darin zu lesen. „Ich war noch nie so glücklich, jemanden zu küssen“, stellte Abteilungsführerin Hanji Zoë, vierzehnte Kommandantin des Aufklärungstrupps in spe fest. „Ich mach' also gerade irgendetwas falsch, oder?“ Ihr wurde wenigstens das Privileg zuteil, Erwin verblüfft und sprachlos zu erleben. Bei Letzterem war sie sich ziemlich sicher, doch als ein brillanter Taktiker hatte er natürlich auch dafür einen Ausweg parat – er küsste sie erneut. Diesmal war sehr viel weniger Schmerz dabei. Aber viel mehr Kribbeln. Vielleicht war auch das falsch, doch Hanji fragte kein zweites Mal.   Es veränderte letztlich nichts Wichtiges. Es schien nicht einmal, als bemerkte irgendjemand etwas, und Hanji wusste auch nicht, was das sein sollte. Es war erstaunlich wenig, das sich tatsächlich änderte, es bestand also nicht mal die Notwendigkeit, es jemandem zu sagen. Es war kein Geheimnis und dennoch nichts Offenes. Moblit war es gewohnt, sie suchen zu müssen, wenn sie sich zu gottlosen Zeiten irgendwo herumtrieb. Und es hatte sich nichts daran getan, dass Erwin und sie selten am selben Ort (oder wenigstens Bezirk) waren, solange die Gefahr eines Attentats so hoch war und der innere Befehlsstab durch Verluste stark zusammengeschrumpft war. Es gab so viel zu tun, so viele Dinge zu bedenken, dass es Hanji nicht gewundert hätte, wenn sie wieder aufeinandertrafen und alles wäre damit wie früher. Stattdessen fand sie sich an einem verregneten Abend auf einem Fensterbrett wieder, während in ihrem Kopf das Täuschungsmanöver ablief, mit dem sie diejenigen überführen würden, die Pastor Nick getötet hatten. Sie hatte seine verkrümmte Leiche noch vor Augen, und die Erinnerung jagte ein primitives Verlangen nach Gewalt durch ihre Adern; sie würde ihr Versprechen halten und seinen Mörder leiden lassen. Doch bis es so weit war, vergewisserte Hanji sich, dass Mitras immer noch ein so ruheloser Pfuhl war wie eh und je und das Fenster des Quartiers im zweiten Stock ohne Weiteres mit einem Draht zu öffnen. Erwin war nicht überrascht, sie zu sehen – falls er das je war. Aber die Art, wie er Hanji die Hand entgegenstreckte, um ihr vom Fensterbrett zu helfen, als sei das völlig normal an diesem Ort und zu dieser Zeit, hieß sie willkommen. Hanji liebte die Art, wie Erwin liebte. Er war immer langsam und gründlich, was er mit einem Anflug von Selbstironie mit einer aufwändigeren Bewegungsplanung dank seines fehlenden Arms erklärte, als sie ihm das sagte. Seine Erklärung war Hanji gleich; sie brauchte nicht zu wissen, ob er anders gewesen war, als er noch nicht versehrt gewesen war, so wie er sie auch nicht nach ihren früheren Beziehungen fragte. Liberale Lebensgewohnheiten waren in jedem Zweig des Militärs gängig, auch wenn niemand offen darüber sprach und nur akzeptiert wurde, was man auch ignorieren konnte. Es war nicht träge, aber auf unbestimmte Art und Weise entschleunigt, zeitlos. Mit Erwin zu schlafen war nicht allein die Befriedigung eines Verlangens: es war eine weitere Art Kommunikation, bei der Hanji nicht mehr seine Augen beobachtete und Erwin sie nicht schräg von oben musterte, als versuchte er, aus ihren Worten etwas zu ergründen. Sie hatten alle Zeit der Welt für unpraktikable Dinge wie Berührungen, die immer und immer wieder dieselben Narben streiften, für flüsternde Küsse und den Luxus bedeutungsloser Worte. Hanji sprach trotzdem nicht von Liebe, Erwin genauso wenig, aber sie fühlte es, wenn er gegen ihre Haut lächelte. Sie brauchte keine explizite Erinnerung, dass er es ihr gesagt hätte – Erwin war eloquent, er hätte drei Worte sowieso viel komplizierter verpackt. Auch wenn die hilflose Wut, die Hanji empfunden hatte, sich über die Vereinigung hinaus endlich besänftigen ließ, fand sie in dieser Nacht keinen Schlaf. Es war diese verdammte Straßenlaterne draußen, entschied sie, deren Licht genau ins Zimmer fiel. Außerdem war Mitras für jemanden, der entweder Einöde oder spartanische Einzelquartiere gewohnt war, viel zu laut. Zumindest waren das akzeptable Gründe. Hanji starrte ausdruckslos auf die dunklen Flecken auf der Täfelung, Teil der Maserung oder doch Überreste von etwas, von dem man lieber nichts wissen wollte, während Erwins Puls langsam und ruhig unter ihrer Wange durch seinen Arm klopfte. Als die Flecken über die Wand kriechen zu schienen, wälzte Hanji sich herum, um sie nicht länger zu sehen. Der Arm, den sie unter ihrem Kopf begraben hatte, zuckte schwach, als seine Blutversorgung plötzlich wieder ungehindert möglich war, dann schlang er sich lose und schläfrig um Hanjis Schultern. Sie legte ihre Hand auf seine, erst nur behutsam, dann schob sie den Arm langsam zur Seite. Es weckte ihn auf, das tat es meist – die Medizin hatte schon vor längerer Zeit beobachtet, dass die Sensibilität sich erhöhte, sobald ein Körperteil verloren war. In diesem Fall durchlief kein kurzes Schaudern Erwins Körper, und seine Augen öffneten sich einen Spalt. Er war also ohnehin wach gewesen. Wenn auch anscheinend wesentlich näher am Schlaf als Hanji. „Muss ich mir Sorgen machen?“, fragte er leise, seine Stimme rau und verwaschen gleichermaßen, warm vom Schlafen, Dösen, einem seltenen Moment von Entspannung. Wenn Hanji ihn früher nachts geweckt hatte, weil der Dienst rief, hatte er nie so geklungen. Womöglich wurde er nachlässiger mit dem Alter. Oder weicher, wenn er nicht allein schlief. Der letzte Gedanke war eigenartig berührend für sie, und Hanji lehnte sich herüber, um in der Dunkelheit seine Ohrmuschel zu küssen. „Nicht wegen mir“, raunte sie ihm zu. „Aber das hat dich ja noch nie abgehalten. Warum bist du wach?“ Erwin antwortete ihr nicht sofort. Hanji kannte diese Art von Schweigen mittlerweile. Sie kannten es beide. Es war die Stille, in der keine romantischen Worte gesagt wurden. Kein Ballast, der sie später davon abhalten konnte, zu viel Gas auf etwas zu verbrennen, das einen runterzog. „Wegen Nile“, erwiderte Erwin schließlich, nachdem er nicht gesagt hatte: Wegen dir. Konnte ja sein, dass sein alter Freund ihn tatsächlich wachhielt. Männer waren so. Hanji schnaubte leise und grinste. „Das kränkt mich jetzt doch.“ „So?“ Erwin klang unbeteiligt, aber seine Hand tauchte wieder hinter ihrem Rücken auf, kämmte lose durch zerzauste Haarsträhnen. „Du forschst über die Reiss-Familie und jemand wie Nile Dok raubt dir den Schlaf. Was stimmt mit dir nicht, Erwin Smith?“ „Eine Menge Dinge. Aber es war aufschlussreich.“ „Das klingt nicht, als wäre es auch amüsant gewesen.“ „Das war nicht zu erwarten.“ „Nein.“ Man musste sich daran gewöhnen, seine Freunde zu begraben – manchmal nicht mal das, man musste einfach anerkennen, dass sie gefressen worden waren und nichts zurückblieb. Da vergaß man leicht, dass man Freunde auch verlor, indem man plötzlich nicht mehr die Person antraf, die man gemocht hatte. Es war bitter auf eine andere Art. Hanji bettete ihren Kopf wieder auf das Kissen, Erwins Finger noch immer in ihrem Haar, und versuchte an Schlaf zu denken. „Ich musste es sagen, um ihn zu provozieren.“ Erwins Stimme war jetzt klarer, wacher, wenn auch nicht lauter. Er sprach, als wäre das ein Teil eines Gesprächs über... irgendetwas. „Scheint ja geklappt zu haben“, brummte Hanji, ohne zu versuchen, sich den Zusammenhang zu erschließen. Erwin war ein faszinierender Mann, aber... er konnte anstrengend sein, wenn er erwartete, dass man seinen Gedankensprüngen folgte. „Es war ein merkwürdiges Gefühl.“ „Wenn du das schon sagst...“ Nachdem sie ihn aus seinem Halbschlaf gehampelt hatte, schien Erwin nun endgültig wach, gerade als Hanji zu schlafen versuchte. So viel Alltäglichkeit war sie kaum gewohnt. „Ich hoffe, ihr habt nicht darüber geredet, wie er dich für's Schwänzen verpetzt hat, als ihr noch grüne Rekruten wart.“ „Das war er nicht.“ „Natürlich nicht, er war ja dabei.“ Auf die kurze, überraschte Stille antwortete sie, als hätte es eine verbale Nachfrage gegeben: „Ich bin nicht so gut in Informationsbeschaffung wie du, aber ich habe Ohren. Mehr braucht man für Gerüchte nicht. In den Quartieren der Rekrutinnen galt das doppelt für alles, was älter war als man selbst.“ „So.“ Entweder glaubte Erwin ihr, oder er wollte zumindest nicht nachhaken. „Gut zu wissen.“ Hanji lachte leise ob seines unbeteiligten Tonfalls. „Ich muss dich enttäuschen, ich habe nicht all die Jahre hierauf gehofft.“ Es war ein Scherz, und normalerweise war Erwin durchaus bereit, es mit humorvoller Ironie zu sehen, dass Hanji in der Hierarchie direkt unter ihm stand – nur dass eine Beziehung mit dem Kommandanten in diesem Corps keine Auswirkungen auf ihre Überlebenschancen hatte, von anderen Vorteilen ganz zu schweigen. Es war ihnen beiden klar, auf morbide Art war es amüsant. Aber diesmal reagierte Erwin nicht, als müsste er ihre Worte ernsthaft erwägen. „Wolltest du nie mit Shadis leben?“ Die Frage kam so unerwartet, dass Hanji sich versteifte; ihre Augen öffneten sich abrupt, auch wenn sie nichts als Schemen erblickten. Langsam stemmte sie sich auf einen Ellbogen, raffte geistesabwesend die Decke vor der Brust. Sie hatte sich nicht weit entfernt, aber sie war auch nicht mehr wirklich nah. „Warum willst du das wissen?“ Es ging Erwin einen Scheiß an, wem ihre jugendliche Schwärmerei gegolten hatte, auch wenn sie nicht ehrlich erstaunt war, dass er es wusste. So sehr er ihr und jedem anderen Abteilungsführer vertraute, er durchleuchtete sie; ihre Erpressbarkeit, ihre Schwächen, und seine Nachfolgerin musste in jeder Hinsicht solide sein. Hanji hasste es, wenn Erwin das tat. Doch unvernünftiges Verhalten hasste sie noch mehr, auch an sich selbst. Erwin rührte sich nicht, versuchte nicht, sie wieder an sich zu ziehen. „Mit Nile über seine Frau zu sprechen war eine notwendige Provokation,“ kam seine Stimme aus der Dunkelheit, ruhig und gemessen wie immer, allerdings unmerklich leiser, an den Kanten weicher. Das Einzige, was Hanji verriet, dass diese Frage nicht allein ihn als Kommandanten bewegte, sondern auch ihn als Mann. „Aber ich habe damals tatsächlich erwogen, sie zu heiraten. Ich wollte es. Es wäre unverantwortlich gewesen, deshalb habe ich mich dagegen entschieden... und heute festgestellt, dass ich es nicht bereue, nicht mal im Ansatz.“ „Nahtlose Herleitung, Kommandant“, erwiderte Hanji trocken. „Sind wir uns nicht alle einig, dass Reue uns nichts bringt?“ „Für Verluste außerhalb der Mauern.“ Das Bettgestell knarrte, als Erwin sich aufsetzte, seine Finger glitten aus Hanjis Haar, um seinen Arm zum Abstützen zu benutzen. Ein unangenehm kühler Luftzug kroch unter die Decke, als er sie verschob. „Shadis ist kein Zivilist, er hätte dich nicht vom Corps fernhalten wollen.“ „Zeigt, wie viel du davon verstehst, längere Beziehungen zu unterhalten“, brummte Hanji ungnädig. „Nein, wollte ich nicht. Ich hätte mich nicht freiwillig gemeldet, wenn ich bereit wäre, für jemand anderen meine eigenen Ziele zurückzustecken.“ „Verachtest du ihn für seinen Entschluss?“ Die Frage kam so prompt, dass Erwin sie schon länger im Kopf gewälzt haben musste. Hanji wusste nicht, warum. Verachtung spielte für den Aufklärungstrupp keine Rolle, und Shadis hatte sich nach seiner Abdankung nicht etwa zur Ruhe gesetzt, sondern dem Corps weiter gedient. Er hatte anerkannt, dass Erwin besser geeignet war – Shadis war kein schlechter Kommandant gewesen, aber die Zeiten hatten nun mal unmissverständlich einen anderen Typ Anführer verlangt. Er hatte vernünftig gehandelt. In jeder Hinsicht. „Vielleicht ein bisschen“, sagte Hanji langsam. Erwin nickte, eine schemenhafte Bewegung in der Schwärze. Er fragte nicht, warum. Es war ein intuitives Gefühl, das Hanji eh nicht hätte belegen können, noch hätte sie es gewollt. Aber sie fragte auch nicht, warum er das hatte wissen wollen. Erwins Fingerspitzen, warm und kantig vor Hornhaut, strichen mit schlafwandlerischer Sicherheit über ihre Wange, erfühlten die kleinen Druckstellen, die die Bänder ihrer Brille hinterlassen hatten. „Du wirst eine gute Kommandantin sein.“ „Ich hab's nicht eilig, weißt du“, entgegnete Hanji rau. Sie ahnte, dass Erwin lächelte. Ein kurzes Beben lief durch seine Finger, die sonst niemals zitterten, nicht einmal wenn er halbtot vor Müdigkeit war oder den Spießrutenlauf nach einer Expedition zurückführte. Hanji hörte, was er nicht sagte. Ich liebe dich. Stattdessen lehnte er sich zu ihr herunter, und Hanji stemmte sich beinahe hastig höher, um ihn zu küssen.   „Hey, Vierauge!“ Levis hellgraue, schmale Augen siedeten. Das war das einzige Zeichen seiner Aufgebrachtheit, selten genug in seiner sonst so ausdruckslosen Mimik, und Hanji entschied sich, es zu übersehen. „Hab zu tun, fass' dich kurz, ja? Moblit, ich brauche die Notizen über die Experimente mit Schwarzpulver. Und die Baupläne der Gastanks, ich weiß nicht mehr, wo die hingekommen sind. Wir müssen sie noch ein letztes Mal gegenprüfen.“ Und zwei Tage waren verdammt wenig Zeit, um wirklich noch einmal über all das zu gehen, was sie im letzten Monat vorbereitet hatten. Alles würde klappen müssen; es gab kein Zurück aus dem Gebiet von Mauer Maria, in mehr als einer Hinsicht. „Bring' ihn davon ab.“ Levi hatte seine Stimme nicht gehoben, aber sie schlitzte wie ein Messer durch die Masse von Hintergrundgeräuschen in Hanjis Labor. Es war ein befehlsgewohnter Tonfall, doch noch mehr wirkte er dadurch, dass die scheinbare Monotonie Desinteresse vermittelte. Hanji hörte, wie Moblit aus der Tür schlüpfte, vermutlich um etwas länger als nötig in der Werkstatt zu verschwinden. Sie drehte sich nicht zu Levi um. „Das kann ich nicht, und das weißt du.“ Hanji wischte sich mit dem Ärmel über die Brillengläser. Als sie ihre Sehhilfe wieder aufsetzte, stand Levi einige Schritte näher, ohne dass sie gehört hatte, wie er sich bewegte. Über seiner Nasenwurzel deutete sich eine winzige, zornige Falte an, was das einzige Zeichen seines Ingrimms blieb. „Er hört auf dich.“ „Erwin hört auf niemanden.“ Gerüchtehalber nicht mal auf sein eigenes Gewissen, und auch das war gar nicht so unzutreffend. Hanji erwiderte Levis Blick unbeirrt, zerquetschte den kurzen, ungewohnten Impuls, sich ihm gegenüber zu rechtfertigen. Erwins Überlebenschancen da draußen waren gering, auch mit ihrer neuen Ausrüstung, und sie alle wussten das, Erwin auch. Levi war vorhin nach der Lagebesprechung zurückgeblieben, um vermutlich genau das mit ihm zu erörtern; also musste ihm auch klar sein, dass Erwin nicht die geringste Absicht hegte, innerhalb sicherer Mauern zu bleiben. Absolut nichts davon war für Hanji beeinflussbar, selbst wenn sie auf wundersame Weise einen Tunnel zum Haus der Jägers hätte graben können. „Immerhin fickst du ihn.“ So viel zu der Illusion, dass niemand davon wusste. Hanji wandte sich um und suchte nach Wut, die in ihr aufsteigen wollte; aus Levis Mund klang es wie ein Vorwurf. Doch hätte es irgendjemand außer ihm ausgesprochen, wäre sie tatsächlich zornig, die eisige Art von Zorn, mit der Levi und sie schon Unaussprechliches getan hatten, um an Informationen zu kommen, Rache zu nehmen. Aber von ihm kommend war es auch Angst. Hanji sah sie nicht, nichts in Levis Gebaren ließ irgendwie darauf schließen, dass er Angst um Erwins Leben hatte. Sie ahnte es nur. Sie beide fanden sich schon so lange mit dem Tod ihrer Kameraden ab, und ausgerechnet jetzt, wo sie dem Durchbruch so nahe waren, kam auch diese widerliche Angst dazu, jemanden zu verlieren. Hanji begriff, dass sie neben der Überprüfung der Prototypen noch mehr tun musste, bevor sie aufbrachen. Sie klopfte Levi mit starren Fingern auf die Schulter, spürte dabei das kaum merkliche Zucken, als er sich zwang, dabei regungslos zu bleiben und sie nicht quer durch den Raum zu schleudern. „Leider nicht so gut, dass er mir deswegen gehorcht. Wir sehen uns später.“ Ohne zu warten, ob Levi tatsächlich ging, schob Hanji sich an ihm vorbei und verließ das Labor. Sie fand Erwin nach wie vor im Besprechungsraum, in die Betrachtung der großen Umgebungskarte versunken und ein halb beschriebenes Blatt vor sich. Seine Schrift war mit der linken Hand immer noch ungelenk, kein Vergleich zu den eleganten Lettern zuvor, aber sie besserte sich – und seine taktischen Überlegungen notierte er immer codiert. Als Hanji nicht sofort etwas sagte, warf Erwin ein ruhiges „Nein“ in den Raum. „So hast du mich schon lange nicht mehr begrüßt. Das letzte Mal mündete es in eine Diskussion über Kohlköpfe und Gemüsepreise.“ Jedenfalls so ganz... grob in der Richtung. Hanji grinste, und zu ihrer Überraschung zuckten Erwins Mundwinkel ebenfalls kurz. Diese Expedition war ihm wirklich wichtig. Wichtiger als alle anderen zusammen, das war nicht schwer zu erkennen, nur schwer zu akzeptieren. „Ich bin nicht mal hier, um dich umzustimmen.“ Das Grinsen fühlte sich jetzt an wie eine Fratze, wie ein Krampf in ihren Gesichtsmuskeln. Hanji versuchte, die betroffenen Partien zu entspannen, doch es gelang ihr nicht so recht, fühlte sich nur an wie umso mehr Versteifung. „Ich will das hier beenden.“ Erwin blickte von seinem Blatt auf. Er wirkte jünger, fast gelöst, seit der Entschluss für die Expedition feststand. Seine Augen waren so klar wie immer, und Hanji konzentrierte sich darauf. Nicht auf seine restliche Körpersprache. Sie wollte nicht wissen, ob ihr Entschluss ihn schmerzte. Dennoch hatte er ein Recht auf ihre Gründe. Er konnte ja weghören, wenn sie ihm egal waren; Hanji vermutete, dass er das gelegentlich tat. „Wenn wir da draußen sind, will ich, dass du nicht zögerst, mich zu opfern. Der Aufklärungstrupp ist nicht mehr die höchste Priorität, seit der Staatsstreich erfolgreich war. Natürlich ist Arlert noch zu jung und dem Militär zu wenig bekannt, um im Fall meines Todes den Posten zu übernehmen, aber es ist durchaus möglich. Zumal sein Überleben durch Eren eher gewährleistet ist, wie bereits früher demonstriert.“ Hanjis Mund war trocken, doch die Stimme in ihren eigenen Ohren, so seltsam sie sich auch anfühlte, war nüchtern und fest. „Ist das alles?“, fragte Erwin nach einer kurzen Weile, nicht einmal unfreundlich oder gar feindselig. Hanji wagte nicht, ihn zu berühren. Sie wollte nicht erproben, ob ihre Finger vielleicht zitterten. „Ich bin stolz darauf, unter dir gedient zu haben. Du bist ein guter Mann. Und ein... ganz guter Handelspartner, glaube ich.“ Erwin sah zu ihr auf, der Stift in seiner Hand stand still. Hanji zwang sich, seinen Blick zu erwidern, auch wenn sie nicht sicher sein konnte, was ihre Miene jetzt preisgab. Sie war froh, dass es keine Worte zwischen ihnen gegeben hatte, die ihr jetzt durch den Sinn gehen könnten. Sollte Erwin sterben, so wie sie es alle erwarteten, dann entschied Hanji, dass sie sich so an ihn erinnern würde, mit den gemilderten Falten um seine Augen, einen Stift in der Hand, ewig beschäftigt, aber mit Augen, die in einem seltenen Moment weich und offen waren von irgendeinem übermächtigen Gefühl, das sie wohlweislich nicht beim Namen nannte. „Würde dich das nicht langweilen?“ Hanji entging nicht, dass er leiser sprach, um einen Unterton zu verbergen. Das Grinsen schmerzte immer noch in den Muskeln, aber wenigstens fühlte es sich nicht an wie Wundstarrkrampf. „Ich würde mich schon beschäftigen. Experimente mit Pastinaken machen, denke ich, oder gigantische Kürbisse züchten.“ Sie räusperte sich kurz, legte eine Kunstpause ein. Zumindest nannte sie es so, um den Kloß in ihrer Kehle entschieden herunterzuschlucken. „Ich glaub' schon, dass ich mich nach ein paar Jahren damit langweilen würde, aber bis dahin wäre dir schon wieder etwas Neues eingefallen, Erwin. Das tut es immer.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)