Primrose ~ Blooming Doubts von BakaOtakuFish ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Fünf Jahre gingen ins Land, nachdem die Lichter am Himmel erneut den Frieden in der Digiwelt einläuteten. Der nervenaufreibende Kampf war ausgestanden und machte Platz für „normale“ Probleme, mit denen man sich im Alltag herumärgerte. Schule, Beziehungen, die Zukunft – Um nur einige davon zu nennen. Und obwohl so viel Zeit verstrichen war, tat dies der Freundschaft der Digiritter keinen Abbruch. Ihre gemeinsamen Abenteuer verbanden sie auf ganz besondere Weise miteinander, selbst wenn sich ihre Wege augenscheinlich trennten und in alle Himmelsrichtungen verstreuten. Jeden Morgen ging die Sonne auf und am Abend wieder unter. Die Welt drehte sich weiter, egal ob sie lachten oder weinten. Die Tage kamen und gingen. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Es fühlte sich an wie ein einziger Wimpernschlag, nachdem sie alle plötzlich an der Schwelle des Erwachsenwerdens standen. Als wäre etwas ins Rollen gekommen, das nicht mehr aufzuhalten war. ~ Leise regneten die Kirschblütenblätter vom Himmel, begleitet von den sanften Sonnenstrahlen, die die Kinder begrüßten. Gerade heute lag ein Zauber in der Luft, den sie wohl so schnell nicht wieder verspüren würden. Die Begrüßungszeremonie für die Erstklässler an ihrer Schule, die ihren ersten Tag hatten. Ein Grund zur Freude und Aufregung. So viele neue Gesichter und doch wurden unsere Helden leicht melancholisch bei diesem Anblick. „Wenn ich daran denke, dass das unser letztes Jahr wird, bin ich echt baff“, staunte Daisuke, mit den Erinnerungen beim Tag seiner eigenen Einschulung schwelgend. Ein Lehrer sah grimmiger aus als der nächste und bei dem riesigen Gebäude stellte er es infrage, ob er sich überhaupt jemals zurechtfinden würde. Mittlerweile waren diese Gefühle in Vergessenheit geraten und wohl auf die Neulinge übertragen worden, die sich begeistert umschauten. „Ja, kaum zu glauben“, nickte Miyako bekräftigend, „Du bist schon so lange auf dieser Schule und hast immer noch nicht gelernt, wie man die Krawatte richtig bindet.“ Erst mit diesem Kommentar machte sie auf den Unfall um seinen Hals aufmerksam und beförderte eine unnatürliche Röte auf seine Wangen. Manche Dinge änderten sich wohl nie – So auch das Ungeschick des Jungen, womit er seine Freunde immer wieder zum Lachen brachte. Hastig drehte er sich um und fummelte wie ein Bescheuerter an dem Stück Stoff herum, machte es aber nur schlimmer. Die Brillenträgerin stöhnte genervt und trat auf Daisuke zu. „Lass mich mal. So wird das ja nie was.“ Miyako hatte bereits im letzten Jahr ihren Abschluss gemacht und war heute nur aufgrund der Feierlichkeiten mit Ken hergekommen. Obwohl sie sich bestimmt auch was Besseres vorstellen konnte, als erstmal für die richtige Kleiderordnung zu sorgen. Aber so war sie eben. Zufrieden bestaunte sie ihr vollendetes Werk. „Schon besser. Du willst doch auf dem Foto nicht wie ein Clown aussehen. Könntest dir mal ein Beispiel an T.K. nehmen. Der hat sich echt fein rausgeputzt heute.“ Abwehrend hob der Blondschopf die Hände, als ihn ein vernichtender Blick ihres Anführers traf. „Sie hat’s nicht so gemeint, Davis.“ Auch Hikari machte keinen Hehl daraus, wie sehr sie das Szenario belustigte und kicherte vergnügt. Was für eine Pleite, stand dieser blöde Takeru doch wieder in einem besseren Licht als er da. Zwar hatte er nach ihrem letzten großen Kampf gegen Malomyotismon schnell eingesehen, dass seine Chancen bei ihr gleich Null waren, dennoch machte das die Yagami-Tochter nicht unsympathischer für ihn. Da hieß es: Brust raus und tapfer seinen Mann stehen, auch wenn Miyako ihm mit der Aktion gerade wohl auch das letzte Bisschen Würde nahm. Während Iori nur ein angestrengtes Stöhnen von sich gab, hielt Taichi die Kamera in die Höhe, die er für diesen Anlass mitgebracht hatte. „Können wir endlich? Ihr habt Davis ja jetzt ordnungsgemäß hübsch gemacht“, drängelte er und fuhr sich durch sein braunes Haar, als wollte er gleich selbst mit aufs Foto. Hikari verdrehte nur die Augen, bevor sie frech zurückgab: „Nur keine Hektik, Bruderherz. Jetzt tu mal nicht so, als hättest du es so eilig, zu deiner Vorlesung zu gehen. Du schläfst doch sowieso immer dabei ein.“ Ein beherztes Lachen ging durch die Runde und diesmal war es Tai, der errötete und beleidigt die Arme in die Hüften stemmte. „Das war erst einmal, ja? Und jetzt kommt zur Sache, bevor ich es mir noch anders überlege!“ Um den armen Studenten nicht noch mehr zu triezen, gaben sie seiner Bitte schließlich statt und positionierten sich allesamt vor dem großen mit Blumen verzierten Schild. Daisuke, Miyako, Iori, Ken, Hikari und Takeru. Alle mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen. Dies würde wohl ihr letztes Jahr sein, in dem sie die Unbedarftheit ihrer Jugend genießen konnten. Auch wenn sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge auf ihre Schulzeit zurückblickten, loderte in ihren Herzen das Feuer der Aufregung. Was wartete hinter den Toren dieser Schule auf sie? Was hielt die Zukunft für ihre Gruppe bereit? Kapitel 1: Der letzte Sommer ---------------------------- Mit ein paar etwas ungeschickten Handgriffen faltete Taichi das Papier vor sich, das eigentlich dazu vorgesehen war, Mathematikformeln darauf zu verewigen. Hin und her ging die Knickerei, bis das Gebilde vom Äußeren her an ein Akkordeon erinnerte. Aber auch dafür wurde es letztendlich nicht zweckentfremdet. Stattdessen begann er wild damit herumzuwedeln und sich Luft zuzufächern, die er an diesem brennend heißen Sommernachmittag nur allzu gut gebrauchen konnte. Einen prickelnden Ersatz für die kaputte Klimaanlage gab der kleine Fetzen aber trotzdem nicht ab. „Wenn du nur rumspielst, kommst du auch nicht schneller vorwärts. Deine Aufgaben machen sich schließlich nicht von allein“, tadelte ihn Yuuko, die nach kurzem Anklopfen das Zimmer betrat und ein Glas mit eiskaltem Eistee vor seiner Nase abstellte, mit der er zuvor auf die Tischplatte gesunken war. „Das ist nicht fair“, presste er gequält heraus, „Ich schwitze hier über meinen Arbeiten und Kari macht sich da draußen ein schönes Leben.“ Er schnaubte verächtlich bei dem Gedanken daran, dass seine kleine Schwester jetzt an irgendeinem See mit ihren Freunden planschte und sich eine Abkühlung gönnte. Seine Mutter schüttelte nur verständnislos den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gönn es ihr doch. Das sind schließlich ihre letzten Sommerferien. Außerdem ist Camping eine ganz wundervolle Sache.“ Ihr verträumter Blick glitt hinaus aus dem Fenster. „Dein Vater und ich waren in unserer Jugend auch so oft campen. Hach… ist schon ewig lange her und doch immer wieder eine freudige Erinnerung.“ Die Schwärmereien ignorierend, rollte Taichi mit den Augen und schaute hinüber auf den Bilderrahmen, der seinen rechtmäßigen Platz auf dem Schreibtisch besaß. Darin befand sich das Foto, das er am Tag der Einschulung von den Digirittern der zweiten Generation geschossen hatte. Das lag nun schon knapp drei Monate zurück und durch den immer schwerer verständlichen Schulstoff kam es nur noch selten vor, dass die Gruppe Zeit fand, sich miteinander zu vergnügen. Da kamen die Ferien gerade recht, obwohl sie alle befürchteten, Daisukes mangelnde Leistung in der letzten Klausur würde ihm noch einige Wochen Sommerunterricht bescheren. Wie er da noch drum herum kam, konnte sich zwar niemand so wirklich erklären, aber es wurde als gottgegeben hingenommen und sich darüber gefreut. So fiel ihre Wahl einstimmig auf einen Campingurlaub in der Digiwelt, den sie bereits vor zwei Tagen angetreten waren. Beleidigt knabberte der Brünette an seinem Bleistift herum, dessen Ende von Bissspuren bereits total zerstört war und fragte sich, warum er jetzt nicht auch mit seinen Freunden spielte. Yuuko hingegen fragte sich, warum er nicht eher die Kekse verspeiste, die sie ihm eben hingestellt hatte und er das harte Stück Holz vorzog. Wahrscheinlich bekam er die Anwesenheit dieser Leckereien einfach nur nicht mit, weil sie schon abgekühlt waren und nicht mehr so herrlich dufteten wie vorhin, als sie sie aus dem Ofen holte. Auf der anderen Seite war das wohl aber einfach nur reiner Selbsterhaltungstrieb von ihm, wusste er doch zu genau, dass von selbstgebackenen Delikatessen wie diesen hier eine toxische Wirkung ausging, wenn seine Mutter die Finger im Spiel hatte. Er seufzte resigniert und entschloss sich dann doch dazu, seinen vorangegangenen Versuch von vorhin wieder aufzunehmen, nahm sich den Taschenrechner zu Hilfe dafür. „Vielleicht schick ich ihr nachher einfach eine Mail und frage mal, wie’s so läuft.“ Wie es lief? Eigentlich rundum perfekt. Schon kurz nach ihrer Ankunft hatten die Teenager ein lauschiges Plätzchen an einer Art Baggersee gefunden, das sie sofort in Beschlag nahmen. Es dauerte zwar dank Daisukes nicht vorhandenem Talent eine Weile, bis die Zelte aufgebaut waren und zur Überraschung der anderen überhaupt irgendwann standen, aber auch das bekam er irgendwie hin. Auf ihren Anführer war halt Verlass, auch wenn seine Lösungswege öfter mal sehr kreativ wurden. Die restliche Zeit verbrachten sie jeden Tag ähnlich. Da auch hier brennende Hitze vom Himmel fiel, hielt es sie natürlich nicht lange in ihren Klamotten und auf dem Festland. Wilde Wasserschlachten wurden sich geliefert, die die malerische Stille dieses eigentlich ruhigen Fleckchens Erde auf so unliebsame Art und Weise durchbrachen. Daran schien sich aber glücklicherweise niemand zu stören. Denn auch die Digimon tollten und spielten herum, darüber erfreut, endlich wieder in ihrer alten Heimat zu sein. So ausgelassen hatte man ihre Gruppe schon lange nicht mehr erlebt. Auch heute ließen sie wieder ihre Seelen baumeln, auch wenn es deutlich ruhiger zuging. Während Miyako auf der Decke lag und ein kleines Mittagsschläfchen in der strahlenden Sonne machte, baute Iori gar nicht weit weg mit Armadillomon eine Sandburg. Dank seiner großen Pratzen stellte sich das bepanzerte Digimon nur alles andere als gut dabei an, was sein Partner mit einer Engelsgeduld beobachtete und ihm dabei half, die eingestürzten Türme wieder zu errichten. „Brauchst du Hilfe, Kari?“ Mit einem gekonnten Sprung landete Gatomon auf dem Picknicktisch und überflog das wilde Gemetzel, das das Mädchen veranstaltete. „Danke, es geht schon“, lächelte sie und strich sich ein paar Haare hinters Ohr, die sich aus der Umklammerung ihres Zopfes gelöst hatten. Mit einer helfenden Hand wäre es sicherlich schneller gegangen, aber das war wohl kaum von Nöten. Einen prüfenden Blick über ihre Schulter werfend, erkannte sie noch im Augenwinkel, wie Takeru herzhaft gähnte und sich müde über die Lider fuhr. Scheinbar musste er sich also noch keinen Kampf mit dem weißen Hai an der Angel liefern. „Sieht so aus, als würde das mit dem Essen sowieso noch etwas dauern. Dann kann ich mir mit dem Obstsalat auch noch ein wenig Zeit lassen.“ Noch ein kurzer Schnipp, dann landete auch die letzte Erdbeere in der Schale. „Veemon, nach links!“ Auf seinen Befehl hin spurtete der blaue Drache drauflos und verpasste dem Ball eine harte Kopfnuss, die ihn wieder in die Höhe beförderte. Triumphierend schnalzte der Junge mit der Fliegerbrille auf dem Kopf mit der Zunge. „Den kriegt ihr nie!“ Doch da hatte er die Rechnung ohne die Schlagfertigkeit seines besten Freundes gemacht, der sich sofort zu helfen wusste. „Wormmon!“ „Klebenetz!“ Der klebrige Faden blieb an dem Geschoss haften und holte es auf den Boden der Tatsachen zurück, wo es mehr als lässig von Ken gefangen wurde. „Den kriegen wir nie? So viel dazu“, spottete er und konnte sich ein überlegenes Grinsen nicht verkneifen, als Davis förmlich die Kinnlade runterklappte. „Betrug, Betrug! Unter normalen Umständen hättet ihr den nicht mehr erwischt!“ Sein Protest stieß nur auf taube Ohren. „Du kannst dich ja rächen, wenn du den Mumm dazu hast.“ Herausfordernd funkelte Ken ihn an, bevor er ausholte und den Ball mit voller Wucht zurückkatapultierte. „Darauf kannst du wetten!“ Seufzend zog Takeru seinen Hut ein Stück weiter ins Gesicht, um dieses vor der erbarmungslosen Strahlen zu schützen. „Kein Wunder, dass hier nichts anbeißt. Bei der Geräuschkulisse würde ich mich auch in die andere Ecke des Sees verziehen. Ich sehe schwarz für unser Abendessen“, säuselte er und wunderte sich, dass prompt wie aufs Stichwort Ruhe hinter ihm einkehrte. Patamon, das bis jetzt friedlich neben ihm in der Sonne grillte, erhob sich und zog an seinem Ärmel, nach seiner Aufmerksamkeit ringend. „Sieh mal, Takeru!“ Dem Fingerzeig seines Genossen folgend, erstarrte der Blondschopf einen Moment und wandte sich wieder ab. „Wir haben nichts gesehen“, beteuerte er und tat so, als wäre das vor sich hinplätschernde Wasser auf einmal das Spannendste, was es hier zu sehen gab. Sobald gleich die Katastrophe losbrach, wollte er sich nicht als mitschuldig präsentieren, indem er einfach nur stillschweigend dabei zugesehen hatte, wie Daisuke und Veemon den vollen Wassereimer über der schlafenden Miyako auskippten. Sollte sie ihm mal schön selbst den Hals umdrehen – Sie war ja geübt darin. „Daisuke Motomiya!“, schrie sie prompt und sprang auf, „Wenn ich dich in die Finger kriege, mach ich Hackepeter aus dir!“ Wie ein aufgescheuchtes Huhn rannte sie hinter ihm her, immer darauf bedacht, es möglichst qualvoll zu machen, wenn sie ihn dann doch zu fassen bekam. Takeru schüttelte nur den Kopf und flüsterte seinem Digimon ein leises: „Sieh nicht hin“ zu. Kapitel 2: Unter den Sternen ---------------------------- Heiteres Lachen erfüllte diese sternenklare Nacht und ließ die Kreaturen aufhorchen, die ihre Streifgänge durch den Schutz der Dunkelheit zogen. Leise knisterte das Lagerfeuer, um das sich die Digiritter versammelten, um sich lustige Geschichten zu erzählen. Gerade das machte doch solche Campingausflüge aus, nicht wahr? „Jedenfalls war das dann so“, nahm Miyako den Satz wieder auf, den sie dank des Lachflashs kurz unterbrechen musste, „Er kam anschließend einfach wieder rein und hat erst dann bemerkt, dass die Lösungen von der letzten Stunde noch an der Tafel standen. Und das die ganze Zeit schon. Ich glaub, der Pauker wäre vor Scham bald in Ohnmacht gefallen.“ „Na die Klausur habt ihr doch sicher alle mit Bravour bestanden“, scherzte Hikari und knabberte ein wenig an ihrem Fisch herum, den sie noch vom Abendessen übrig behalten hatte. Trotz der anhaltenden Lautstärke war es Takeru doch irgendwie gelungen, genug an Land zu ziehen, damit jeder satt wurde. Beleidigt verschränkte Daisuke die Arme vor der Brust und zog einen Schmollmund. „Warum haben wir nie so ein Glück? So was könnte ich gerade bei der Abschlussarbeit gebrauchen.“ „Jetzt hör aber auf, Davis. Lernen würde dir zur Abwechslung auch mal ganz gut tun.“ Wie ein Faustschlag in die Magengrube traf ihn Ioris Kommentar, der sich bislang eigentlich artig zurückhielt mit solchen Bemerkungen. Nun hatte er allen Grund dazu, die beleidigte Leberwurst zu spielen. „Halt du dich mal schön da raus. Du bist schließlich erst in ein paar Jahren damit dran!“, meckerte der rothaarige Zauselkopf und bemühte sich, nicht gleich aufzuspringen und dem neunmalklugen Zwerg eine Kopfnuss zu verpassen. Als wäre das nicht schon genug, ließ es sich Miyako natürlich nicht nehmen, ebenfalls in der Wunde herumzustochern. „Ich denke mal, es spricht für sich, dass er das im Gegensatz zu dir sicher locker schaffen würde.“ Eigentlich erwartete Veemon eine heftige Gegenwehr seines Freundes, der sonst auch nicht auf den Mund gefallen war, doch diese unumstrittene Tatsache machte ihn tatsächlich sprachlos. Bei dem Anblick, den er mit seinen entglittenen Gesichtszügen abgab, konnte sich selbst Ken nicht beherrschen, der bei solchen Neckereien normalerweise nie in dieselbe Kerbe wie die anderen schlug und lachte lauthals los. „Ja, ja! Macht ihr euch mal lustig! Ihr schmort doch am Ende genauso wie ich über dem Teil! Dann vergeht euch das Lachen schon!“ Nachdem das Feuer langsam ausbrannte, machten die Kinder einen Strich unter diesen Tag und kuschelten sich in ihre Schlafsäcke. Bei diesem wunderbaren Wetter wollten sie es sich nicht nehmen lassen, die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Angst vor einem Angriff oder dergleichen hatten sie nicht, waren ihre Partner doch immer bei ihnen, um im Notfall einzuspringen und sie zu beschützen. Ja… die Digiwelt war zu einem friedlicheren Ort geworden, an dem es allmählich möglich war, mit deren Bewohnern in Eintracht zu koexistieren. Seit ihrem letzten großen Kampf mussten sie nur noch selten auf rohe Gewalt zurückgreifen, um sich zu verteidigen. Irgendwann kam einfach der Moment, in dem die Digimon verstanden, dass die Menschen ihre Freunde waren und es keinen Grund dafür gab, sich zu bekriegen. Daher konnten sie es sich ohne große Bedenken gemütlich machen. Blinzelnd öffnete Hikari ihre Augen. Dem fehlenden Tageslicht und dem lauten Schnarchen neben ihr entnahm sie, dass es wohl noch mitten in der Nacht sein musste. Die anderen jedenfalls schlummerten noch selig vor sich hin. Fast alle. Ein Schlafsack lag nahezu unberührt an der Stelle, an der man ihn vorhin ausgebreitet hatte. Neugierig strampelte sie sich aus ihrem eigenen heraus und schaute sich suchend um, entdeckte aber nirgends Takeru. Einzig die Anwesenheit des schlafenden Patamons ließ sie auf einen heimlichen Spaziergang ihres Freundes schließen. Was für einen Grund sollte er sonst haben, sich vom Nachtlager zu entfernen? In der Dunkelheit dauerte es zwar einige Minuten, doch nach ein paar Schritten entdeckte Kari am Ufer des Sees eine Gestalt, der sie sich vorsichtig näherte. Trotz aller eingekehrten Harmonie könnte es sich immer noch um ein feindliches Digimon handeln, dem sie im Zweifelsfall hilflos ausgeliefert wäre. Wobei ihr die anderen mit Sicherheit sofort beigestanden hätten. Obwohl… Gerüchten zufolge bekam man gerade Daisuke kaum aus seinem Tiefschlaf aufgeweckt. Da könnte eine Bombe neben ihm einschlagen und es würde ihn nicht stören. Diese wirre Vorstellung mittels eines Kopfschüttelns loswerdend, beschleunigte das Mädchen ihren Gang ein wenig, als sie den Schatten im Sand tatsächlich als den verschwundenen Takeru identifizierte. Er saß dort mit angewinkelten Beinen, schrieb völlig vertieft etwas in sein Notizbuch. Ihre Anwesenheit schien er überhaupt nicht zu bemerken, als er seinen verträumten Blick von den Zeilen abwandte und hinaus auf das funkelnde Wasser schaute. Hikari musste zugeben, dass dieser Ausdruck etwas Tiefgründiges hatte und sie für einen Moment doch ziemlich verwunderte. Normalerweise sah man den Jungen selten so nachdenklich. „Keru? Ist alles in Ordnung?“ Überrascht drehte er sich zu ihr um. „Ach, du bist’s“, stellte er fest und legte sein Equipment beiseite. Dass er seine Umwelt so ausblendete und selbst ihre nahenden Schritte nicht mehr wahrnahm, verblüffte ihn schon ein wenig. Seine Konzentrationsfähigkeit hatte in letzter Zeit stark nachgelassen, weshalb er meistens nur beiläufig bei der Sache war. Noch ein Grund mehr für ihn, daran zu glauben, das richtige Hobby gefunden zu haben. „Was machst du hier so allein?“, fragte sie und ließ sich neben ihn ins weiche Weiß sinken. „Ich konnte nicht einschlafen. Da dachte ich, ich vertrete mir mal ein bisschen die Beine und genieße die schöne Aussicht.“ Schön war definitiv das passende Wort, um das Bild vor ihnen zu beschreiben. Auf der Wasseroberfläche spiegelte sich der Vollmond, dessen Antlitz nur von den seichten Wellen verzerrt wurde. Ein leises Rauschen drang an Hikaris Ohren. Der Wind zog seine Bahnen durch die Baumkronen, die sich dem Rhythmus ergaben und umhertanzten. Das alles hier vermittelte ihr Ruhe und Einklang, was man tagsüber durch die aufgeweckte Stimmung der anderen glatt vermisste. Welchen Zauber die Nacht doch über die Digiwelt brachte, kam ihr gar nicht in den Sinn, war die Dunkelheit doch immer etwas, wovor sie sich mehr als alles andere fürchtete. Erst Takeru führte ihr die wahre Schönheit vor Augen. Auf sein Urteil war Verlass, da war sie sich sicher. Nicht nur seit frühester Kindheit verband die beiden eine tiefe Freundschaft, die wohl durch die selbige ihrer beiden Brüder hervorging. Seit dem letzten Kampf wurde ihre Beziehung zueinander immer inniger, herzlicher. Nachmittage wurden zusammen verbracht, Geburtstage gefeiert, Übernachtungen fanden statt… Wenn es jemanden gab, dem Kari so blind wie ihrem Bruder vertraute, dann war es er. Mit ihrem Keru konnte sie immer Spaß haben. Er vertrieb im Nu ihre schlechte Laune, trocknete Tränen und brachte sie zum Lachen. Am meisten schätzte sie aber, dass er immer für sie da war, wenn sie etwas bedrückte. Bei ihm fand sie immer ein offenes Ohr und eine Schulter zum Anlehnen. Wie sie ihm das dadurch resultierende Gefühl je zurückgeben sollte, war ihr selbst noch nicht ganz klar. So fröhlich und unbedarft, wie er sich immer verhielt, schien er, im Gegensatz zu ihr, kaum Sorgen oder Ängste mit sich herumzutragen. Interessiert warf sie einen Blick über seine Schulter und versuchte etwas von dem aufzuschnappen, was er in seinem Block verewigte. Seiner Körpersprache nach zu urteilen, war er zuvor nämlich auf die Idee des Jahrtausends gekommen, die er unbedingt niederschreiben musste, bevor er sie wieder vergaß. „Was schreibst du da?“ Bei der miserablen Beleuchtung dachte sie zuerst, sie hätte sich verguckt, als seine Wangen rot zu glühen begannen. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf und grinste schief, antwortete dann aber: „Ist mir ehrlich gesagt etwas peinlich. Um den Schulstress ein wenig abzubauen, habe ich angefangen, unsere Abenteuer aus der Digiwelt aufzuschreiben. Das beruhigt mich und hilft mir dabei, abzuschalten, wenn mir Mathe mal wieder über den Kopf wächst.“ Davon konnte sie bald ein Lied singen. Mathematik zählte sie zumindest auch nicht gerade zu ihren Lieblingsfächern. Ein verstohlenes Schmunzeln huschte über seine Lippen, während er hinauf zum Sternenhimmel blickte. „Klingt wahrscheinlich total albern.“ „Nein!“, protestierte sie sogleich und schüttelte den Kopf. „Nein, überhaupt nicht. Das macht sicher viel Spaß. Ich würde wahrscheinlich kläglich daran scheitern.“ Sie seufzte theatralisch. „Wenn es darum geht, mit Worten zu hantieren, bin ich leider genau so eine Niete wie in Mathe mit Zahlen. Aber so wie ich dich kenne, wird das später ein absoluter Bestseller. Darf ich es denn lesen?“ In ihren Augen bemerkte er ein Strahlen – Ein Zeichen der Begeisterung. Aus seinem anfänglichen Erstaunen formte sich ein wärmendes Lächeln. Ja, so war seine Hika. Mit ihrer liebenswürdigen Art nahm sie sämtliche Zweifel von ihm. „Wenn ich fertig bin, versprochen.“ Kapitel 3: Die Mutprobe ----------------------- „Hört mir jetzt gut zu, denn ich erkläre es nur ein einziges Mal, kapiert?“ Prüfend schaute Miyako in die Runde, ehe sie fortfuhr. „Da wir ja leider morgen schon wieder nach Hause gehen und das hier unsere letzte Nacht in der Digiwelt sein wird, hab ich mir noch ein kleines Spielchen für uns ausgedacht. Eine Mutprobe!“ Stolz klopfte sie sich auf die Brust und nickte bejahend, obwohl sich noch niemand dazu geäußert hatte. Allein schon der Einfall war brillant und würde bestimmt mit viel Applaus und positivem Zuspruch bejubelt werden. „Mutprobe?“, wiederholte Daisuke in einer schrägen Tonlage und hob zweifelnd die Augenbraue an. „Und was hattest du dir darunter vorgestellt?“ „Ganz einfach!“ Sie rückte ihre Brille zurecht, die im Schein des flackernden Lagerfeuers schaurig blinkte. „Nicht weit von hier ist ein Friedhof, der von einem Schwarm Bakemon bewohnt wird. Am hintersten Teil des Platzes befindet sich ein verlassener Schrein, der für Opfergaben errichtet wurde. Wir bilden Zweierteams und es ist die Aufgabe jedes Teams, einen Weg durch den Wald zu finden und etwas in den Schrein zu legen. Da wir noch ein wenig Süßkram übrig haben, sollten wir es damit versuchen. Hilfe von anderen Gruppen ist nicht erlaubt. Ihr dürft nur eure Digimon mitnehmen.“ Iori war der Erste, der nach kurzem Überlegen in die Hände klatschte. „Klingt gut. Das wird sicher ganz witzig.“ „Witzig? Bist du dir sicher, dass du nicht doch Angst bekommst? Ich meine… es geht schließlich durch den stockdüsteren Wald.“ Natürlich durchschaute der Brünette gleich die Provokation von Davis, die ihn eigentlich relativ kalt ließ, und konterte: „Quatsch, wieso sollte ich? Mit meinen Fähigkeiten im Kendo macht mir keiner so schnell was vor. Außerdem habe ich Armadillomon und einen von euch dabei.“ Der Themenwechsel brachte den vorlauten Jungen gleich zu seiner nächsten Schnapsidee. Die Gruppeneinteilung. Seine große Chance, vor Hikari als strahlender Held dazustehen. Wenn sie sich vor einem im Gebüsch raschelnden Digimon erschreckte und er schützend vor sie sprang, würde sie schon einsehen müssen, was für ein dufter Typ er doch war. „Hikariii!“, wandte er sich mit einem zuckersüßen Lächeln an sie, „Hab keine Angst! Wenn du willst, können wir gerne zusammen-…“ Als er nach ihrer Hand greifen wollte, war Miyako ihm schon zuvor gekommen und hakte sich bei ihrer Freundin ein. „Hättest du wohl gern. Kari kommt mit mir, nicht wahr?“ Freudig nickte besagte ihr zu. Mit herausgestreckter Zunge winkte Miyako noch, während sie mit dem Rest ihrer Gruppe an den Start ging und nicht unnötig viel Zeit mit dem trauernden Davis verschwendete. „Das darf doch nicht wahr sein…“ Geknickt ließ er sich auf seine vier Buchstaben fallen und schaute den Mädchen wehleidig hinterher. Da war sie hin, seine glorreiche Chance. Aufmunternd klopfte Veemon ihm auf die Schulter. „Mach dir nichts draus. Beim nächsten Mal klappt’s sicher besser.“ Takeru hingegen konnte sich beinahe das schadenfreudige Grinsen nicht verkneifen. Ihm war ja bewusst, dass Hikari die Flirtversuche noch nie besonders ernst genommen hatte. Dennoch gestand er sich eine gewisse Bewunderung für diese Hartnäckigkeit ein. So war der gute alte Davis eben und so würde er wahrscheinlich immer bleiben. Aufbrausend, direkt und etwas unbeholfen und tollpatschig. Gerade das machte ihn ja so sympathisch wie auch nervtötend. Eine Weile schaute der Blonde in die Richtung, in der nichts mehr von der ersten Gruppe zu sehen war und schnappte sich aus der am Boden liegenden Tüte ein paar Snacks – Darunter zwei Tafeln Schokolade, einige Lutscher und Bonbons. „Wollen wir auch langsam, Cody? Der Vorsprung sollte wohl genügen“, fragte er gerade heraus. Auch ohne vorherige Absprache stand für die beiden fest, dass sie zusammen gehen würden. „Klar, auf geht’s.“ Bevor auch sie außer Sichtweite waren, drehte sich Takeru noch mal um und winkte, wie Miyako schon vor ihm. „Bis später, ihr zwei. Verlauft euch nicht, wenn ihr gleich dran seid“, verabschiedete er sich. Den Spaß wollte er sich dann doch nicht nehmen lassen und den ulkigen Gesichtsausdruck von Daisuke verpassen, der nur beleidigt die Wangen aufblies. Im Verlaufen stellte er so was wie den ungeschlagenen Meister dar, weshalb der Rat seines Kameraden vielleicht gar nicht mal so fehl am Platz war. In der Zwischenzeit hatten die Mädchen schon ein gutes Stück des Weges hinter sich gebracht und unterhielten sich angeregt über das Szenario von eben. „Du musst zugeben: Das war ja schon irgendwie ganz niedlich, was er da gesagt hat“, prustete Miyako los. Dass das hier eine Mutprobe war und daher für Belustigung eigentlich der falsche Augenblick, schien sie dabei völlig zu verdrängen. Daran störte sich Kari aber kein bisschen, im Gegenteil. Ablenkung konnte sie gut gebrauchen. Als ängstlich würde sie sich zwar nicht gerade beschreiben, doch bei einem solchen Event wie diesem rechnete man ja irgendwie schon mit etwas, das einen erschreckte. Ansonsten fühlte es sich nicht anders an als ein gemütlicher Abendspaziergang, wie man ihn im Sommer dann und wann mal machte. Kichernd fuhr sie sich durch ihr hellbraunes Haar, dessen Strähnen ihr leicht ins Gesicht fielen. „Niedlich ist es nur, solange er sich keine ernsten Hoffnungen macht. Nach all den Jahren, die wir uns jetzt schon kennen, wird er aber sicher Bescheid wissen. Mittlerweile glaube ich auch, dass er nicht wirklich in mich verknallt ist, sondern einfach ein wenig herumblödelt. Das ist so, als würde er versuchen, einen Teil unserer Kindheit zu bewahren.“ Schweigend marschierten die Digimon neben ihnen her und lauschten der Konversation. Eine Meinung dazu hätten sie zwar auch gehabt, aber ihr gesunder Verstand riet ihnen, sich aus diesem tiefgehenden Frauengespräch herauszuhalten. „Glaubst du wirklich?“, vergewisserte sich die Ältere und wechselte einen kurzen Seitenblick mit ihr, „Was wäre denn, wenn dem nicht so wäre?“ „Du meinst, wenn Daisuke echt in mich verliebt wäre?“ Nachdenklich musterte sie den unebenen Waldboden unter ihren Füßen, den sie fortwährend passierten. So als würde dort im Dreck eine Antwort auf sie warten, die sie einfach ablesen könnte. „Ich hab ihn sehr gern, aber nicht auf diese Weise. Er ist ein guter Freund, mehr nicht. Und das würde ich ihm wohl auch so sagen“, entschied Hikari schließlich und richtete ihren Blick wieder nach vorn. In der Ferne erkannte sie bereits die Umzäunung des Friedhofs. Waren sie wirklich schon so weit gelaufen? Wie es fast nicht anders zu erwarten war, begnügte sich die Brillenträgerin nicht mit so einer vagen Aussage. Da gab es etwas, was sie schon seit geraumer Zeit kitzelte. Nur fehlte bislang irgendwie der passende Moment, ihre Freundin darauf anzusprechen. „Gibt es denn jemanden, den du magst?“ Ihre Schritte wurden langsamer, bis die Wappenträgerin des Lichtes stehen blieb und etwas unbeholfen an einer Rüsche ihres Kleides zupfte. „Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich mir da nicht ganz sicher“, gestand sie und spürte eine leichte Hitze in ihren Wangen aufsteigen, die sich wohl in Form einer zarten Rötung präsentierte. Nun wurde Miyako neugierig: „Willst du darüber reden? Vielleicht kann ich dir ja weiterhelfen.“ Als sie den verwirrten Blick Hikaris bemerkte, schlug sie sich nur gespielt mit der Faust an den Hinterkopf und zeigte frech ihre Zunge. „Ich glaub, ich hab nämlich so ein ähnliches Problem wie du.“ „Tatsächlich?“ Währenddessen… „Du, Davis?“ „Hm?“ „Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?“ Ertappt blieb der Rothaarige stehen und rang sichtlich nach Fassung. „N-Natürlich! Wir sind gleich da, wirst schon sehen!“, gab er nur energisch zurück und stapfte weiter – Genau in die falsche Richtung. Die vermeintliche Abkürzung, mit der er dem neunmalklugen Takeru zuvorkommen wollte, entpuppte sich natürlich als Niete. Da blieb Ken nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und seinem besten Freund zu folgen. Irgendwo würden sie schon ankommen. War nur irgendwie fraglich, ob es sich dabei am Ende auch wirklich um den Friedhof der Bakemon handelte. Hauptsache, sie waren am nächsten Morgen noch pünktlich zur Abreise wieder zurück. Seine zweitgrößte Sorge neben der Sucherei galt Wormmon, das ohnehin schon einen recht schreckhaften Charakter besaß und bei jedem noch so kleinen Geräusch in sich zusammenzuckte. Im Normalfall wäre das ja kein Problem, würde es sich aus seiner Angst heraus nur nicht mit aller Kraft an Kens Hosenbein festkrallen, was ihm merklich das Gehen erschwerte. „Ganz sicher?“, hakte er bei diesem Anblick erneut nach und entlockte Daisuke ein lautes Grummeln mit anschließendem Haareraufen. „Wir haben uns total verlaufen!“ Kapitel 4: Von Frau zu Frau --------------------------- „Ist das dein Ernst?!“ Der Schreck stand Hikari mitten ins Gesicht geschrieben. Nachdem sie ihre Portion Naschwerk wie geplant im Schrein verstauten, hatten es sich die Freundinnen auf einer Bank vor der leer stehenden Kirche gemütlich gemacht, um ihre Unterhaltung von vorhin fortzuführen. Selbst die Bakemon, die interessiert zuhörten und sich im Kreis um die beiden versammelten, flogen entsetzt zurück, rechneten sie doch nicht mit einer so heftigen Reaktion der Brünetten. „Sssshhht, nicht so laut!“, ermahnte Miyako sie, „Das muss ja nicht jeder mitkriegen.“ Man erlebte sie selten so schüchtern und beschämt. Wobei es einen bei diesem heiklen Thema auch nicht weiter verwunderte. Kari schluckte. „Also hab ich das jetzt richtig verstanden? Ihr habt euch geküsst? Du und Ken?“ Ein zaghaftes Nicken war die Antwort darauf. „Ein-zwei Tage, bevor wir hergekommen sind. Wir sind zusammen unterwegs gewesen, waren im Kino und anschließend noch ein wenig spazieren. Und als er mich dann nach Hause gebracht hat…“ Sie musste gar nicht weiterreden. Es war jetzt schon absolut klar, worauf das hinauslief. Diese typische Szene, die einem aus jedem schnulzigen Liebesfilm bestens bekannt war. Der Moment, in dem man sich vor der Haustür von seinem Date verabschiedete und dieser sich mit einem Kuss revanchierte. Wobei die zwei wohl nie daran geglaubt hätten, dass sich Ken so etwas trauen würde, so zurückhaltend, wie er sich sonst gab. „Wow… das überrascht mich jetzt schon ein wenig. Und was jetzt? Habt ihr schon darüber gesprochen?“, fragte die Yagami-Tochter weiter, auch wenn ihr das Thema ebenfalls etwas unangenehm vorkam. In so etwas mischte sie sich nur höchst ungern ein. Doch sie spürte auch, dass Miyako nun jemanden brauchte, mit dem sie darüber reden konnte. Ein schwerer Seufzer entwich der Lilahaarigen, die sich zurücklehnte und einen Blick in den bewölkten Himmel warf. „Nein, bis jetzt noch nicht. Er versucht sich zwar vor euch anderen nichts anmerken zu lassen, aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass er mir aus dem Weg geht. Ich weiß nicht so recht, was ich machen soll. Was, wenn dadurch unsere Freundschaft zerstört ist?“ In der Tat eine komplizierte Angelegenheit. Hikari war verblüfft, in wie vielerlei Hinsicht sie vor exakt demselben Problem stand. Eine Freundschaft setzte man nicht so leichtfertig aufs Spiel, das wussten sie wohl beide. Aber wenn einem das Herz nun mal einen Streich spielte und Armors Pfeil eben genau so einen guten Freund traf? Dagegen konnte man sich einfach nicht wehren. Auch sie ließ sich nach hinten fallen und stützte sich gegen die Lehne, die sie weiter aufrecht hielt. Mit welchen Worten würde sie ihr etwas Trost spenden können? Was würde sie in so einer Situation hören wollen? „Weißt du, Yolei…“, begann sie vorsichtig und suchte den Blickkontakt zu ihr, „Wir kennen uns jetzt schon so viele Jahre und ich denke, dass Ken sich genau so viele Gedanken darüber machen wird wie du. Er mag dich, daran besteht kein Zweifel. Sonst hätte er dich ja wohl kaum geküsst. Ganz davon abgesehen, ist er eher verlegen, was solche Dinge betrifft. Wahrscheinlich traut er sich nicht, das Gespräch mit dir zu suchen, weil er auch Angst vor der Resonanz hat.“ Hinter den Brillengläsern kam ein überraschtes Augenpaar zum Vorschein. Daran hatte das verwirrte Mädchen noch überhaupt nicht gedacht. Dabei klang diese Überlegung alles andere als abwegig. So eine Reaktion würde durchaus zu Ken passen. „Und du glaubst nicht, er meidet mich, weil er das für einen Fehler gehalten hat?“, zweifelte Miyako nach wie vor, ihrer Stimme hörte man aber bereits die aufkeimende Hoffnung an. Hikari zuckte mit den Schultern und spielte an ihrem Zopf herum. „Ist auch möglich, das lässt sich gerade schwer sagen. Aber in erster Linie solltest du dich nicht die ganze Zeit verrückt machen, das bringt gar nichts außer noch mehr dicker Luft.“ „Genau!“, meldete sich Hawkmon zu Wort, das hochflatterte, um auf dem Schoß seiner Partnerin zu landen und ihr aufmunternd zuzulächeln. „Wir Digimon mögen uns da nicht sonderlich gut auskennen, aber wenn ich mir das so anhöre, gibt es da nur einen Weg!“ Seine Worte unterstreichend, hob es seinen Flügel in die Höhe. „Ihr müsst darüber reden. Wenn ihr euch anschweigt, findet ihr nie heraus, was der jeweils andere denkt.“ Nun mischte sich auch Gatomon ein, das einen Schritt auf die hölzerne Sitzgelegenheit zumachte. „Ihr seid noch jung und unerfahren. Was habt ihr also zu verlieren? Außerdem wäre Ken nicht der Typ, der einfach eine gute Freundschaft wegwirft. Selbst wenn es nicht klappt, würdet ihr sicher trotzdem Freunde bleiben.“ Bestätigend nickte Kari, was ihr die Bakemon im Hintergrund gleichtaten. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. So heißt es doch. Ich bin überzeugt, dass Ken dir zuhört, wenn du ihm von deinen Gefühlen erzählst. Nur Mut, Yolei.“ Jetzt konnte sich Miyako auch nicht mehr gegen das Lächeln zur Wehr setzen, das sich auf ihre Lippen schlich. Obwohl ihr niemand vorhersagen konnte, wie das klärende Gespräch mit ihrem Freund ausgehen würde, gaben die lieben Tipps und Aufmunterungen der anderen ihr wieder Kraft. Für genau solche Momente war sie jedes Mal wieder dankbar für ihre tiefe Verbundenheit zu Hikari, die ihr einfach immer zuhörte. „Danke. Tut ganz gut, das alles mal rauszulassen. Wahrscheinlich wäre ich früher oder später einfach durchgedreht, hätte ich das weiter in mich hineingefressen“, lachte sie und versuchte die Vorstellung daran zu verdrängen. Da fiel ihr gleichzeitig ein, was der eigentliche Grund für diese Unterredung gewesen war. Schließlich stand da noch eine Frage im Raum, die ihre Gefährtin ihr nicht beantwortet hatte. So fragte Miyako gerade heraus: „Und was ist mit dir? Du sagtest vorhin, du wärst verunsichert.“ Augenblicklich kehrte das Gefühl wieder in Kari zurück, das ihr das Herz so schwer werden ließ. Ihre eben noch vorhandene Begeisterung wandelte sich schnell in Trübsinn. Zuerst wollte sie ohne Umschweife auf den Punkt kommen, merkte dann aber, dass ihr selbst wohl nicht ganz klar war, wo das Problem überhaupt lag. Eigentlich gab es keins. Denn im Gegensatz zu der Geschichte von Yolei war bei ihr noch überhaupt nichts passiert, was sie in eine so prekäre Lage brachte. Alles lief wie immer, in seinen gewohnten Bahnen. „Lass mich raten… Es geht um T.K, stimmt’s?“ Wie versteinert starrte Kari sie an. Stand es ihr etwa so offen ins Gesicht geschrieben, dass er der vermeintliche Grund für ihre Verwirrung war? „Wusste ich es doch. Davis sieht ja nicht ohne Grund schon seit Jahren einen Rivalen in ihm. Willst du mir sagen, was los ist?“ Mitfühlend ergriff Miyako ihre Hand und drückte sie ganz fest. Anscheinend fiel Kari diese Offenherzigkeit nämlich genau so schwer wie ihr zuvor das Geständnis über den Kuss. „Na ja… Keru und ich kennen uns jetzt schon seit unserer Kindheit. Wir sind Sandkastenfreunde und durch unsere Erlebnisse hier in der Digiwelt scheint sich das nur verstärkt zu haben. Er ist immer für mich da, wenn ich Sorgen hab und ich kann immer mit ihm reden, genau wie bei uns. Seit wieder Frieden herrscht, ist unsere Beziehung zueinander immer besser geworden. Wir sehen uns ständig und unternehmen viel zusammen, was unsere Freizeit halt so hergibt. Das Haus der Takaishis ist so was wie mein zweiter Wohnsitz geworden“, erzählte sie und hielt inne. Worauf wollte sie eigentlich hinaus? „Immer wenn Daisuke angefangen hat, uns eine heimliche Liebe zu unterstellen, hab ich sofort abgewinkt und ihm gesagt, dem wäre nicht so. Keru auch. Ich habe mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht, ob da echt was dran sein könnte, weil ich diese Behauptungen immer als so haltlos und zweifelhaft empfand. Wir sind schließlich noch Kinder gewesen. Aber jetzt, wo wir in ein gewisses Alter kommen und wir uns von Tag zu Tag besser verstehen, frage ich mich langsam, wie wir wirklich zueinander stehen.“ Nachdenklich legte Miyako den Kopf schief. Hikari hatte also nie einen Gedanken daran verschwendet, weil sie es für Albereien und Quatsch hielt? Sie wusste gleich, wie das gemeint war. Während die Jahre so ins Land zogen, veränderten sie sich ohne Unterbrechung. Und dass daraus manchmal etwas resultierte, was man sich selbst nicht ganz erklären konnte, war wohl einfach der Lauf der Dinge. Hätte ihr vor drei Jahren jemand gesagt, dass sie sich in Ken verliebte, wäre sie wahrscheinlich mit einem Lachanfall der übleren Sorte in die Knie gegangen. Heute sah das aber schon ganz anders aus. „Und wie lautet deine Antwort auf meine Frage?“, befreite sich Yolei aus ihrem Gedankenkarussell, „Ich wollte vorhin von dir wissen, ob es jemanden gibt, den du magst.“ „Das ist es, was mir Kopfzerbrechen bereitet. Takeru ist eine sehr wichtige Person in meinem Leben und es würde etwas fehlen, wäre er nicht mehr an meiner Seite. Ich spüre, dass da etwas zwischen uns ist, aber ich weiß nicht, ob ich verliebt bin. Es ist ein bisschen so wie bei dir und Ken. Er ist nicht der Typ, der seine Gefühle so zeigt wie Daisuke zum Beispiel. Mich kann er lesen wie ein offenes Buch, aber er ist für mich so unergründlich. Immer wenn ich glaube, ich würde ihn gut kennen, präsentiert er mir eine völlig neue Seite, die ich noch nie zuvor gesehen hab.“ Nun war Hikari diejenige, die einen lautstarken Seufzer von sich gab. Bei ihr war es wohl noch eine Ecke komplizierter und die Lösung nicht halb so ersichtlich. „Bingo!“ Nachdem Ruhe zwischen ihnen eingekehrt war, sprang die Kopftuchträgerin mit einem Mal auf und stemmte siegessicher die Hände in die Hüften. „Dann liegt es doch klar auf der Hand, was zu tun ist.“ Den irritierten Blick Karis erwiderte sie, indem sie ihren Zeigefinger auf der Nase des Mädchens parkte. „Ich muss Ken zur Rede stellen und du musst herausfinden, was Takeru dir bedeutet!“, sagte sie, als wäre es das leichteste Unterfangen der Welt. „Und wie soll ich das anstellen? Ich weiß ja nicht mal, wie es sich anfühlt, wenn man verliebt ist…“ Diesen Widerspruch ließ Miyako gar nicht erst gelten und verstärkte den Druck auf das Riechorgan vor ihr. „Ihr seid doch so gute Freunde. Dann musst du ihn einfach besser kennen lernen. Und das geht am besten, indem man Fragen stellt. Willst du etwas über ihn wissen, dann frag ihn!“ Stirnrunzelnd legte Kari die Hand in den Nacken und massierte ihre verspannte Schulter. So klar wie ihrer Kameradin war ihr dieser Lösungsansatz nämlich nicht. „Meinst du, das bringt mich weiter? Wenn ich ihn besser kennen lerne, finde ich heraus, ob ich in ihn verliebt bin?“ „Bingo!“ Wie vorhin musste sie sich nur von diesem fröhlichen Lächeln anstecken lassen, um die Welt wieder aus einem anderen Winkel zu betrachten. So falsch klang es im Endeffekt auch nicht. Jedenfalls würden ihre Gefühle ihr nicht klarer werden, wenn sie weiter nur herumsaß und die Dinge auf sich zukommen ließ. Sie musste lediglich den Vorschlag annehmen, den sie vorhin selbst erteilte. Initiative ergreifen und das Gespräch suchen. „Danke, Yolei. Ich fühl mich schon viel besser“, strahlte Kari ihr entgegen und erhob sich von ihrem Platz. Die beiden umarmten sich herzlich, nebenher die tanzenden Bakemon und ihre schmunzelnden Digimon um sich herum. Ab jetzt hieß es: Auf in den Kampf! Kapitel 5: Der eine Augenblick ------------------------------ Ein Lichtschein bahnte sich seinen Weg durch die zugezogene Gardine und fiel direkt auf das Gesicht des schlafenden Takeru. Wozu hing da überhaupt so ein Stofffetzen, wenn er seinen Zweck sowieso nicht erfüllte?! Grummelnd drehte er den Kopf, stellte dabei aber fest, dass sein Nacken unheimlich schmerzte. Eine Verspannung? Erst jetzt überredete er seine Augen dazu, ihren Dienst wieder aufzunehmen und ließ seinen Blick erstaunt über die Tischplatte wandern, auf der er mit dem Oberkörper lehnte. Als er sein aufgeschlagenes Notizbuch sah, erinnerte er sich wieder. Gestern waren sie aus der Digiwelt zurückgekehrt und erklärten ihren Urlaub offiziell für beendet. Er und Patamon hatten sich von den anderen verabschiedet und waren auf direktem Wege nach Hause gegangen. Takeru bedauerte sehr, wie schnell ihr Trip doch von einem schönen Erlebnis zu einer Erinnerung mutierte. Am liebsten wäre er noch wochenlang mit den anderen an diesem See geblieben und hätte sich am Lagerfeuer Geschichten erzählt. Allein schon der Gedanke daran ließ ihn unweigerlich lächeln. So viel Spaß hatten sie lange nicht mehr dank des Schulstresses. Was aus der Mutprobe geworden war? Kurz nachdem Miyako und Hikari ihr klärendes Gespräch beendeten, trudelten Takeru und Cody ein – Ganz ohne nennenswerte Zwischenfälle. Eine halbe Stunde Wartezeit später zeigten sie dann Gnade und begaben sich auf die Suche nach Daisuke und Ken, die sie im angrenzenden Talgebiet aufsammelten. Selbstverständlich pochte ihr Anführer darauf, es sei nicht seine Schuld gewesen und sie wollten nur ein wenig die grandiose Aussicht genießen. Man kam ja sonst nicht viel rum. Wer’s glaubte… Am darauf folgenden Morgen stand jedenfalls die Heimreise auf dem Plan. Den restlichen Tag über hatte er an diesem Tisch, über sein Büchlein gebeugt, verbracht und geschrieben. Wie er Hikari bereits erklärte, hatte sich das Schreiben zu seinem neuen Hobby entwickelt, mit dem er sich hin und wieder entspannte und von negativen Ereignissen ablenkte. Zumindest trauerte er dadurch nicht die ganze Zeit der Digiwelt hinterher, die er durch seine Worte und Formulierungen auf dem Papier wieder aufleben ließ. Das Ganze dauerte bis tief in die Nacht, weshalb ihm wohl irgendwann einfach die Augen zugefallen waren und sein Nacken jetzt so wehtat. Gähnend erhob sich der Blonde und streckte sich ausgiebig, während er den Vorhang beiseite schob und das Fenster öffnete. Die noch recht kühle Luft pfiff ihm entgegen. Nicht mehr lange und diese angenehme Brise würde in der brühenden Nachmittagshitze untergehen. Dieser Sommer war einer derer, wo man von Glück reden konnte, wenn der Kreislauf mitspielte. Er bevorzugte in der Regel milderes Wetter. Gerade bei diesen übertriebenen Temperaturen war er schnell aus der Puste, was man bei einer Sportskanone wie ihm kaum gewohnt war. Wo wir gerade von Sport sprachen… Eine kleine Runde Basketball im Hinterhof täte ihm sicherlich gut. Die Atmosphäre draußen musste er nutzen, um etwas gegen seinen steifen Nacken zu unternehmen. Still und heimlich zog Takeru sich eine Jogginghose und ein herumliegendes Shirt über und schlich aus seinem Zimmer, in der Hoffnung, Patamon nicht aus seinem tiefen Schlummer zu wecken. In der Wohnung, die noch halb im Schatten der Sonne lag, wurde man fast von der Stille erschlagen. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Uhrzeit. Sein Weg führte ihn zunächst in die Küche, wo ihn eine am Kühlschrank klebende Notiz begrüßte. Wird spät heute. Essen steht im Backofen, musst es nur aufwärmen. Falls was sein sollte, bin ich auf dem Handy erreichbar. Hab dich lieb, Mama < Natsuko war eine viel beschäftigte Frau. Ihr Job als Journalistin spannte sie teilweise voll ein, weshalb es für ihren Sohn dazugehörte, ein gutes Stück auf sich allein gestellt zu sein. Er fühlte sich zwar oftmals einsam, aber natürlich hatte er Verständnis dafür. Als alleinerziehende Mutter war es eben nicht leicht. Wenn man sich nicht gerade zweiteilte, kam immer etwas zu kurz. Entweder die Arbeit oder die Familie. Im Falle der Takaishis traf wohl letzteres zu. Seufzend zerknüllte er den Zettel und versenkte ihn im Mülleimer. Wieder ein Abend, den er allein vor dem Fernseher verbrachte. Wenigstens leistete Patamon ihm dabei Gesellschaft. Auf seinen kleinen Freund konnte er eben immer zählen. „Na, was soll’s. Dann machen wir es uns schön gemütlich nachher. Davon lass ich mir nicht die Laune verderben“, sagte der Junge zu sich selbst und machte sich auf den Weg nach draußen. Beim Basketball konnte Takeru abschalten, ähnlich wie beim Schreiben. Das Geräusch des aufprallenden Balls auf dem Asphalt; sein rasendes Herz, dessen Pochen ihm in den Ohren klang. Sein Atem, der nur stoßweise ging und ihn in eine gewisse Hektik versetzte. All das spornte ihn an, trieb ihn zur Höchstleistung an. Mit schnellen Schritten schob er sich an den imaginären Gegnern vorbei, setzte zum Sprung an und erzielte einen direkten Volltreffer in den Korb. Keuchend stützte er sich auf den Knien ab und beobachtete den Ball dabei, wie er auf die vom Morgentau durchnässte Wiese rollte. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Was für ein überwältigendes Gefühl. Wie sehr er dieses Spiel doch liebte. Seine Verärgerung, der schmerzende Nacken, die Trauer über das Ende ihres Ausflugs… All das schien vergessen, in weite Ferne gerückt. Jetzt zählte nur dieser eine Augenblick, den er wie im Rausch erlebte. Obwohl er schon minutenlang herumtobte, war von Erschöpfung keine Spur zu sehen. Diese ausgezeichnete Kondition verdankte er dem Training, dem er über Jahre hinweg nachging. Das verschaffte ihm im Endeffekt auch den Posten als Kapitän seiner Schulmannschaft. Eine große Ehre für ihn. Konnte er es sich dann überhaupt leisten, zu schwächeln? Nicht dass ihn noch einer der jüngeren Teamkollegen überholte. „Takeruuu!“ Der Ruf seines Digimon holte ihn zurück in die Realität, wollte er doch eben in die nächste Runde starten. „Oh, Patamon. Hab ich dich geweckt?“, begrüßte er seinen Partner, der noch schlaftrunken zu ihm flatterte. Nuschelnd antwortete Patamon: „Du hast eine Nachricht. Davon bin ich wach geworden“ und machte es sich auf dem blonden Wuschelkopf gemütlich, nachdem er ihm sein Digiterminal übergab. Neugierig drückte Takeru ein paar Tasten auf dem Gerät und öffnete die eingegangene Textnachricht. Empfänger: Takaishi Takeru ; Yagami Hikari ; Ichijouji Ken Absender: Motomiya Daisuke Betreff: Sommerhausaufgaben Hallo Leute. Denkt ihr an unser Treffen nachher? Ich hab keine Lust, den ganzen Stapel Hausaufgaben allein zu machen. Yolei und Cody haben schon abgesagt, deswegen wollte ich mal bei euch nachfragen. Davis Ja, die Sommeraufgaben. Der Grund, weshalb es hunderten Schülern im Land regelmäßig die Ferien verhagelte. Sobald man den Begriff Schule in die hinterletzte Ecke seines Hirns verdrängte und sich an seiner neu gewonnenen Freizeit erfreuen wollte, stand man wieder vor diesem kleinen aber feinen Problem. Wahrscheinlich bereitete es den Lehrern eine unheimliche Genugtuung, ihren Schützlingen mit zusätzlicher Extraarbeit die Entspannung zu verderben. So fanden sich die Teenager jedes Jahr zu dieser Zeit bei einem von ihnen im Zimmer wieder, um eine gefühlte Ewigkeit über den Büchern zu kleben und den nicht enden wollenden Berg abzuarbeiten. Dieses Mal war Daisuke an der Reihe, den Gastgeber zu spielen, dabei war er immer derjenige, der sich am lautesten übers Lernen beschwerte. Das konnte man bei seinem nicht vorhandenen Verständnis für die Materie zwar gut nachvollziehen, dennoch zogen es seine Freunde vor, lieber still vor sich hin zu leiden, anstatt ins selbe Horn wie er zu stoßen. Es musste ja schließlich gemacht werden, da gab es keine Ausflüchte. Takeru wunderte sich über sich selbst. Bei der Vorstellung an das bevorstehende Treffen kam Vorfreude in ihm auf. Nicht unbedingt wegen der Bearbeitung ihrer Hausaufgaben, worauf er auch dankend hätte verzichten können. Aber das würde ihn von der heutigen Situation ablenken. Anstatt allein oben in der Wohnung zu sitzen und Trübsal zu blasen, unternahm er etwas mit den anderen. Und es würde eine ganze Weile dauern bei der Masse, wenn sie es überhaupt alles auf einmal schafften. „Hey, Patamon. Wollen wir Davis nachher einen kleinen Besuch abstatten?“ Interessiert hob das Bündel über ihm die Flügel an, mit denen es aufgeregt herumwedelte. „Oh ja! Als wir beim letzten Mal da waren, haben wir super leckere Kekse gekriegt!“, schwärmte es und wippte wild hin und her. Der junge Digiritter gab sich alle Mühe, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, war sein kleiner Begleiter doch ganz schön schwer geworden. Ob das etwas mit seinem Süßigkeitenkonsum zu tun hatte? „Gut, wenn das so ist.“ Empfänger: Motomiya Daisuke Absender: Takaishi Takeru Betreff: Re: Sommerhausaufgaben Hey Davis, ich würde gerne kommen, aber Patamon lässt mich nur gehen, wenn es wieder die selbstgebackenen Kekse deiner Mutter zu essen gibt. Lässt sich doch bestimmt einrichten, oder? T.K. Kapitel 6: Unmut ---------------- Mit welchem Wort ließ sich Daisukes Gesichtsausdruck am besten beschreiben? Irritiert? Durcheinander? Verstört? Fassungslos? Ja, ja… ja. Das traf es so ziemlich auf den Punkt. „Dann musst du die beiden Werte nur noch voneinander abziehen und hast das Ergebnis raus. Hast du das verstanden?“ Ken besaß eine Engelsgeduld, was die hoffnungslosen Erklärungen eben so hoffnungslos machte. Mittlerweile hatte er den vierten Versuch gestartet, aber mit jedem Mal sank das Verständnis des Rotschopfes weiter, bis es quasi nicht mehr existent war. Stöhnend vergrub er das Gesicht in den Händen und raufte sich im Anschluss die Haare. „Man, Ken! Wieso bist du so schlau?!“ Was sollte der arme Kerl darauf erwidern? Vor allem klang das weniger nach einem Kompliment sondern eher schon vorwurfsvoll. Nachdem die Geschichte mit den Keksen sich schnell klärte, hatten sich die Teenager gegen Nachmittag bei Daisuke eingefunden. Mathematik, japanische Sprache, Geschichte, Ethik, Englisch… und kein Ende in Sicht. Ausgerechnet Miyako und Cody fehlten in der „munteren“ Runde. Obwohl sie jeweils einen Jahrgang über und unter dem Rest waren, hatte Gott sie mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz gesegnet. Mit dem Stoff wären sie spielend fertig geworden. Doch statt Davis das Wissen mit Gewalt einzuprügeln, musste Yolei im Laden ihrer Eltern aushelfen und Cody war mit seiner Familie in den Urlaub geflogen. So saß der Rest nun bei 35 Grad hier und zermaterte sich die Köpfe. Einzigen Trost stellten die Klimaanlage und die üppige Auswahl an Naschkram auf dem Tisch dar. „Ihr wisst gar nicht, wie gut ihr’s habt“, grummelte der Gastgeber, den finsteren Blick auf die Digimon gerichtet, „Ihr müsst euch keine Sorgen über die Schule oder Prüfungen machen.“ Demiveemon quittierte das mit einem lauten Schmatzer und einem vergnügten Grinsen. „Mach dir nichts draus, Davis. Das ist schließlich das letzte Mal. Ab nächstem Jahr musst du dich nicht mehr damit herumschlagen. Es sei denn, du willst studieren. Dann wird alles noch viel schlimmer.“ Takeru hatte ein einzigartiges Talent dafür, auch den letzten Funken Zuversicht in seinem Freund auszulöschen, dabei war seine Anmerkung eigentlich aufmunternd gemeint. Erst jetzt fiel ihm auf, was er da eigentlich gesagt hatte und verinnerlichte sich diese Worte. Es würde sich nicht wiederholen. Zum letzten Mal ärgerten sie sich über komplizierte Formeln, unverständlichen Satzbau und viel Schreibarbeit im Sommer. Nach den Abschlussprüfungen trennten sich ihre Wege. Einige von ihnen studierten, begannen zu arbeiten und wiederum andere wussten noch nicht allzu viel mit ihrem Leben anzufangen. Zu letzteren zählte sich Takeru selbst. Seine Interessen lagen neben seinen Freunden und der Digiwelt beim Basketball und Schreiben. Beides nicht unbedingt etwas, worauf man seine Existenz aufbauen konnten. Mit einem Besuch beim College oder einer Ausbildung wäre ihm sicher wohler gewesen, aber in welche Richtung würde wohl sein eigener Weg gehen? Welcher Beruf passte am besten zu ihm? „Vielleicht sollten wir einfach eine kleine Pause einlegen. Danach sieht die Welt schon wieder ganz anders aus“, schlug Ken vor. Versuch Nummer fünf machte die Misere nämlich nicht wirklich besser. Allgemeine Erleichterung machte sich breit. Zwar gingen die anderen Fächer ihnen durchaus leichter von der Hand, aber das machte es nicht weniger anstrengend. Bei dem Wetter freute man sich schon darüber, wenn man beim Stillsitzen nicht die fliegende Hitze bekam. Dabei auch noch nachdenken und unschlüssig auf dem Blatt herumkritzeln? Unmöglich! Ein Seufzen aus Hikaris Richtung erregte die Aufmerksamkeit der Jungs. Trotz der angekündigten Pause sah sie nicht von ihrem Block auf, musste sich aber nach wenigen Sekunden sowieso geschlagen geben. Auch ihre Konzentration war dahin. Dass mit der Brünetten etwas nicht stimmte, hatte Takeru bereits bei ihrer ersten Begegnung heute gemerkt. Sie wirkte nachdenklich. Und seit der knapp ausgefallenen Begrüßung mit den anderen beiden und dem darauf folgenden Start ihres Sommeralbtraums hatte sie kaum ein Wort gesagt. Völlig untypisch für Kari, die sonst liebend gern mit ihren Genossen plauderte. Wären sie unter sich gewesen, hätte er sie wahrscheinlich längst darauf angesprochen. Takeru wusste, wie sehr sie es hasste, offen über ihre Sorgen und Probleme zu sprechen, weshalb sie es meistens für sich behielt, wenn sie etwas bedrückte. Da wollte er sie nur ungern an den Pranger stellen und vor versammelter Mannschaft ausquetschen. Ihre mehr als nur offensichtliche Reaktion machte es ihm aber gar nicht mal so leicht. „Stimmt was nicht, Kari? Du bist so still“, nahm ihm Daisuke die Entscheidung ab. Was Feingefühl anging, war der leidenschaftliche Fußballspieler nicht unbedingt sehr versiert. Wahrscheinlich kam er gar nicht auf die Idee, dass ihr die Beantwortung seiner Frage unter Umständen unangenehm sein könnte. Dennoch konnte man ihm das unmöglich negativ anlasten. Für Daisuke stand das Wohl seiner Freunde immer an oberster Stelle. Bevor Hikari ihren Kummer totschwieg, hakte er lieber einmal mehr als einmal zu wenig nach. Und unangenehm war es ihr auf jeden Fall. Prompt wich sie seinem bohrenden Blick aus und haderte sichtlich mit sich und ihrer Erklärung dazu. „Na ja…“, stammelte sie, „Es geht um Tai.“ Nun konnte auch Takeru nicht mehr an sich halten. „Um Taichi? Was ist denn mit ihm?“ „Ach!“ Kopfschüttelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust und starrte ununterbrochen auf den Tropfen, der an ihrem kalten Glas Eistee hinab rann. Die Verärgerung stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. „Er hat beschlossen, für sein Studium in einen anderen Stadtteil zu ziehen. Und das schon Ende des Monats. Das ist in seinem Alter und unter den jetzigen Umständen zwar nichts Ungewöhnliches, aber ich bin sauer, weil ich es nur durch Zufall erfahren habe und unsere Eltern es anscheinend schon wochenlang wissen. Ich meine… wann wollte er denn damit rausrücken? Wenn ich ihm beim Kistenschleppen helfen soll oder wie?!“ Verblüffung machte sich unter ihren Zuhörern breit. Es kam relativ selten vor, dass Hikari so in Rage geriet wie jetzt. Die vergangenen Male ließen sich praktisch an einer Hand abzählen. Und dann war auch ausgerechnet ihr geliebter Bruder Tai der Auslöser dafür? Der Taichi, zu dem sie seit ihrer Kindheit aufsah, der sie beschützte? „So ist das also“, brach Ken die aufgekommene Stille, „Du bist ihm böse, weil er es dir verschwiegen hat.“ Wieder entfuhr ihr ein schwerer Seufzer, der sie ein wenig runter brachte. „Ich mag es nicht, wenn man mich vor vollendete Tatsachen stellt. Der Umzug ist völlig in Ordnung für mich, auch wenn es dann zu Hause sehr ruhig wird ohne ihn. Es ist ja für seine Zukunft und dabei möchte ich ihn unbedingt unterstützen. Aber bevor er geht, möchte ich mich wenigstens seelisch darauf vorbereiten, bald ein Einzelkind zu sein.“ Takeru spürte, wie sich sein Herz schmerzhaft zusammenzog. Zu sehr erinnerte ihn das alles an seine eigene Vergangenheit. Ihn hatte damals niemand vorgewarnt, als sich seine Eltern scheiden ließen und er von heute auf morgen von Yamato getrennt wurde. Der kleine T.K. musste einfach damit klarkommen. Keiner fragte ihn, ob das für ihn okay war, wie seine Familie auseinandergerissen wurde. Ob sich Hikari nun ähnlich fühlte wie er zu jener Zeit? Hoffentlich nicht. Solche hässlichen Gefühle wünschte er niemandem an den Hals. „Taichi wird seine Gründe haben, warum er das getan hat.“ Endlich schaute sie mal zu ihm auf und fixierte nicht die ganze Zeit nur ihr Getränk, als wüsste es die passende Lösung. Die Worte kamen Takeru ohne nachzudenken über die Lippen. Er mochte es nicht, wenn Kari traurig war. Das zog ihn automatisch mit runter. „Hast du denn schon mit ihm darüber geredet?“, wollte der Blonde wissen, doch sie verneinte entschieden. „Ich war so eingeschnappt, dass ich gleich in meinem Zimmer verschwunden bin. Außerdem hätte ich in meiner Wut bestimmt Dinge gesagt, die ich hinterher bereuen würde.“ Während Daisuke sich das so anhörte, kam ihm eine spontane Eingebung. Begeistert klatschte er in die Hände und sprang von seinem Platz auf. „Wie wär’s, wenn wir unsere Pause nutzen und ein Eis essen gehen? Das bringt dich auf andere Gedanken und kühlt uns ein bisschen ab. Was hältst du davon, Hikari?“ Dem aufmunternden Lächeln ihrer Freunde hatte das Mädchen nichts entgegenzusetzen. Sie fand es einfach nur lieb von ihnen, was für eine Mühe sie sich gaben, um sie ein wenig aufzuheitern. Obwohl die Hausaufgabe mehr Priorität besaß, wollte sie nur ungern den Moralapostel spielen. Jedenfalls hatte sie die geringste Konzentrationsspanne bei all dem Groll im Bauch. Das musste dringend mit einem leckeren Eis verarztet werden. „Warum nicht? Gute Idee!“ Kapitel 7: Verbrannter Nudelauflauf ----------------------------------- „Hach, mir geht’s schon wieder viel besser“, brummte Hikari und streckte sich ausgiebig. Soeben hatten sie und Takeru sich von Ken und Daisuke verabschiedet und auf den Heimweg gemacht. Nach ihrem kurzen Abstecher bei der Eisdiele versuchten sie es noch mals mit einer Runde Hausaufgaben, die tatsächlich gar keine allzu großen Probleme mehr machten. Zumindest erschloss sich Daisuke auf einmal, wie man in Mathe auf das gewünschte Endergebnis kam. Die Belustigung der anderen war groß gewesen, da man sich förmlich vorstellte, wie aus der Rauchwolke über seinem Kopf plötzlich eine leuchtende Glühbirne wurde. Also Erfolg auf ganzer Linie. Zwar war ein Teil damit geschafft, aber durch ihre etwas längere Eispause blieb eben noch ein gutes Stückchen liegen, dem sie sich die nächsten Tage annehmen wollten. Bei der Hitze brauchte sich ja keiner wundern, dass das nichts wurde. Und mit etwas Glück fanden dann auch Miyako und Cody wieder Zeit, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Geteiltes Leid war eben halbes Leid. Takeru lächelte bei ihrem vergnügten Anblick. „Das freut mich. Dann hat sich der kleine Spaziergang vorhin ja gelohnt.“ Gemütlich und mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte er neben ihr her, beobachtete ein paar Vögel, die ihre Bahnen durch den strahlend blauen Himmel zogen. Der Tag heute verbreitete so etwas wie Frieden, löste eine innere Ruhe in dem Jungen aus. Ähnlich wie das, was er während des Aufenthalts in der Digiwelt empfand. Allein diese Unbeschwertheit machte ihn glücklich. Umso mehr tangierte es ihn allerdings, dass er sich mehr und mehr auf das Ende fixierte. Immer öfter daran dachte, wie sich die Dinge bald veränderten. Konnte er nicht einfach im Hier und Jetzt leben und der Zukunft noch eine Weile den Rücken kehren? „Was ist denn?“ Fragend schaute Gatomon zu seiner Partnerin auf, in dessen Armen es lag. Scheinbar hatte sich ihre Laune während Takerus kleinem Gedankenexkurs wieder verschlechtert, was dem feinen Gespür des Kätzchens natürlich nicht entging. Nach kurzem Überlegen gestand Kari leise: „Ich will eigentlich gar nicht nach Hause. Bestimmt werd ich wieder wütend, wenn ich Tai sehe, dabei hab ich keine Lust mehr zu streiten. Ich will mir nur nicht die schöne Stimmung vermiesen lassen.“ Gut nachvollziehbar. Selbst wenn man sich wieder vertragen wollte, konnten die Fronten dennoch so verhärtet sein, dass das eben nicht sofort möglich war. „Übernachte doch einfach bei mir und schlaf mal ne Nacht drüber“, schlug T.K. vor und blieb vor ihr stehen, „Mit ein bisschen Abstand voneinander kochen auch die Gemüter nicht mehr so hoch. Dann fällt es dir sicher leichter, mit ihm zu sprechen. Außerdem…“ Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. „Meine Mutter kommt erst spät nach Hause. Wir können also das Wohnzimmer in Beschlag nehmen und einen DVD-Abend veranstalten.“ Unmittelbar nach dieser unerwarteten Einladung seinerseits erhellten sich ihre Gesichtszüge und er entdeckte wieder dieses typische Glitzern in ihren Augen. „Echt? Und ich geh dir auch nicht auf die Nerven?“ Zur Antwort runzelte er nur vielsagend die Stirn und zog die Braunen hoch. „Mensch, Hika. Wie lange kennen wir uns jetzt schon?“ „Unser halbes Leben“, erwiderte sie postwendend. Der Blondschopf nickte bestätigend. „Hast du in dieser Zeit auch nur ein einziges Mal meine Nerven strapaziert?“ Sie legte den Kopf schief und blinzelte ihren Freund unschuldig an. „Gute Frage. Ich würde mal nein sagen.“ „Dann lassen wir es doch gern auf einen Versuch ankommen.“ Freudig schloss sie zu ihm auf und steuerte direkt das Wohngebiet an, in dem die Familie Takaishi ihre Zelte aufgeschlagen hatte. Hausnummer 25. Das Gebäude mit den grauen Mauern war ihr bald so vertraut wie ihr eigenes Zuhause. Ständig lungerte sie bei Takeru herum und vertrieb sich mit ihm die Zeit und Langeweile. Vor zwei Jahren war er mit seiner Mutter in die Doppelhaushälfte eingezogen, die im Westen des Bezirks Odaiba lag. Der Job seiner Mutter hatte genug Geld für dieses schmucke Heim abgeworfen, sodass sie schon bald wieder ihre Koffer packten und das Wohnhaus verließen, in dem auch Cody und Miyako wohnten. Hikari kam seitdem fast jeden Tag rüber, da die Entfernung zu ihrer eigenen Wohnung nur noch schlappe zehn Minuten betrug. Einziges Hindernis stellte ihr Bruder dar, der seinen Beschützerinstinkt nicht unterdrücken konnte. Eine Weile hatte er sich das mit angesehen, ein paar Übernachtungen geduldet, aber scheinbar ließ ihn das Gefühl nicht los, Takeru hätte seine Hormone nicht unter Kontrolle und würde seine Finger nicht bei sich behalten. Völliger Schwachsinn, aber so war Taichi nun mal. „So, da wären wir“, verkündete der Jüngling, nachdem er die Tür aufschloss und weit für seinen Übernachtungsgast öffnete. Wie selbstverständlich huschte Kari an ihm vorbei, schlüpfte aus ihren Schuhen, die sie fein säuberlich im dafür vorgesehenen Regal verstaute und nahm die Besucherpuschen zur Hand, die immer für sie bereitgestellt waren. „Macht’s euch schon mal bequem. Ich seh mal, wie ich das Essen im Backofen aufgewärmt kriege.“ „Ach, Keru?“, stoppte sie ihn, bevor er in der Küche verschwand. „Darf ich wohl kurz das Telefon benutzen? Ich möchte wenigstens noch kurz Bescheid sagen, dass ich heute nicht nach Hause komme.“ „Klar doch. Grüß mal nett von mir.“ Yuuko Yagami hatte zum Glück nichts gegen die Pläne ihrer Tochter einzuwenden. War ja nicht das erste Mal. Durch ihre enge Freundschaft zu Natsuko wusste sie, dass ihre Kleine bei den Takaishis gut aufgehoben war und es keinen Grund zur Besorgnis gab. Nach dem Gespräch zog es die Digiritterin vor Neugierde ebenfalls in die Küche. Takeru stand etwas unschlüssig vor dem Herd, einen Arm vor der Brust verschränkt, die andere Hand an seinem Kinn reibend. „Was gibt’s denn Feines?“, erkundigte sie sich und warf einen Blick über seine Schulter. Durch das kleine abgedunkelte Fenster des Backofens erkannte sie eine Auflaufform, in der etwas mit Käse überbackenes vor sich hin schmorte. Schon der Duft, der sich durch diesen Prozess in ihre Nase schlich, ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. „Wenn mich nicht alles täuscht, Nudelauflauf. Dauert bestimmt auch nicht lange. Ich hab das Ding auf volle Pulle gestellt“, erklärte er. Hoffentlich verbrannte ihm das Zeug nicht unter Protest vor Hitze, ähnlich wie es heute vielen Leuten draußen in der Sonne erging. „Sind wir mal gespannt. Deine Mutter kann zumindest viel besser kochen, dann musst du es nicht unbedingt zunichte machen, indem du es anbrennen lässt.“ Neckisch streckte sie T.K. die Zunge heraus und wich seiner Rache schnell aus. Wäre sie nur halb so flink gewesen, hätte er ihr erbarmungslos in die Rippen gepiekt, bis sie vor lachen auf dem gefliesten Boden gelegen hätte, jawohl! Aber ihr fortwährendes Tanztraining, das parallel zu seinen Basketballstunden verlief, tat da wohl sein übriges. Was körperliche Fitness und Ausdauer anging, stand ihm die brünette Schönheit in nichts nach. „So was aber auch… Sei froh, dass du überhaupt was abkriegst“, schmollte er und zog einen Flunsch. Was seine Kochkünste betraf, konnte er gegen seinen Bruder zwar nicht anstinken, glaubte er aber bis jetzt doch fest daran, dass sich das Ergebnis immer sehen ließ. So eine Frechheit, sein Talent infrage zu stellen! Verspielt lachte sie, tänzelte dann um ihn herum, hin zu einem der Hängeschränke und holte das Geschirr daraus hervor. „Nicht böse sein, Keru. Zur Entschuldigung decke ich auch den Tisch!“ Wie sollte er seiner bezaubernden Freundin auch nur eine Minute lang böse sein? Ihr Hundeblick erwischte ihn jedes verdammte Mal eiskalt und ohne etwas dagegen tun zu können, verzieh er ihr jeden noch so theatralisch gespielten Streit sofort. „Dann aber zackig. Ist gleich soweit!“ Mit einer ausladenden Bewegung deutete er auf die Uhr an der Wand, als blieben ihr keine drei Sekunden mehr. Ja… so ausgelassen mit ihr herumzualbern war das Größte für Takeru. Kapitel 8: Beste Freunde ------------------------ „Warum hat er die Tür aufgemacht, wenn er doch weiß, dass es der Mörder ist?“ Verständnislos schüttelte Hikari den Kopf, während dem Protagonisten des Gruselfilms gerade ein grausamer Tod durch die Kettensäge drohte. Takeru überlegte kurz, kam aber auf keine Antwort, mit der so ein trotteliges Verhalten zu erklären wäre. „Ich weiß auch nicht. Manchmal glaub ich, die Autoren waren betrunken, als sie das Drehbuch geschrieben haben“, gab er zurück und langte kräftig in die Schüssel mit den Kartoffelchips. Die beiden saßen eingemummelt auf der Couch, gegenüber vom Flatscreen und schauten gebannt zu, obwohl bei den stumpfen Charakteren von Spannungsaufbau wohl kaum die Rede sein konnte. „Bleibt nur noch zu klären, warum ihr euch das überhaupt anseht, wenn ihr es so lächerlich findet“, warf Gatomon ein, das mit Patamon zusammen auf dem Sessel quer gegenüber hockte. „Weil man sich drüber lustig machen kann?“ Der Blonde schien sich seiner Antwort selbst nicht ganz sicher zu sein. Erinnerte ihn auf eine eigenartige Weise an Schule. Da sah und hörte man mit unter auch vieles, was einen nicht im entferntesten interessierte. Bis heute bedauerte er es, gelernt zu haben, worum es sich bei Palisadengewebe handelte – Den Test hatte er so oder so in den Sand gesetzt – Nur die überflüssige Information war bis heute in seinem Hirn kleben geblieben und nahm Speicherplatz für neuen Input weg. Seine geschätzte Freundin zum Beispiel setzte sich gar nicht weiter mit der Frage ihres Digimons auseinander. Stumm saß sie da, auf ihr Digiterminal starrend. Von der kleinen Unterhaltung hatte sie anscheinend nichts mitbekommen. Als sie dann auch noch anfing, auf ihrer Lippe herumzukaufen, wurde T.K. misstrauisch. Das tat sie nur, wenn sie nervös wurde. „Ist was passiert?“, wollte er wissen und beugte seinen Oberkörper in ihre Richtung. „Was?“ Wie ein Flummi hüpfte sie einen guten Meter von dem Jungen weg, der irritiert die Stirn runzelte. Seit wann war Kari denn so schreckhaft? Der miserable Film ließ sie ja auch völlig kalt. Dass ihre Reaktion vielleicht Fragen aufwirft, kam ihr dann auch in den Sinn. Sie war schlicht und ergreifend nicht darauf vorbereitet gewesen, als sein Gesicht mit einem Mal so dicht neben dem ihren auftauchte. Dabei wollte er nur einen Blick auf das Gerät in ihrer Hand erhaschen. „Mädchenkram“, klärte sie ihn auf. Zufrieden wirkte er aber nicht wirklich. „Du hast Geheimnisse vor mir?“ Seinem flüchtigen Grinsen entnahm sie, dass das kaum ein ernsthafter Vorwurf war und er nur gern schmollte. „Ich hab’s Yolei versprochen.“ „Mädchenkram, alles klar.“ Neugierig war er zwar nach wie vor, respektierte aber das Vertrauensverhältnis der beiden. Miyako bat nicht ohne Grund um Geheimhaltung. Hikaris Aufmerksamkeit wanderte zurück zu der Nachricht, die sie eben empfangen hatte. Bei Yolei brannte wortwörtlich die Hütte. Empfänger: Yagami Hikari Absender: Inoue Miyako Betreff: HILFE!! Kari, was soll ich tun?! Ken ist gerade zu mir nach Hause gekommen und will reden! Ich bin so nervös! >o< Yolei Verzwickte Angelegenheit. Sonst war Miyako stets gefasst und bewahrte einen kühlen Kopf. So durch den Wind hatte Kari sie erst wenige Male erlebt. Viel wichtiger: Was sollte sie ihr raten, damit sie sich wenigstens ein bisschen beruhigte? Zögernd drückte sie ein paar Tasten und verfasste ihre Antwort. Empfänger: Inoue Miyako Absender: Yagami Hikari Betreff: Re: HILFE!! Nur keine Panik. Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen. Denk dran, was wir besprochen haben. Wenn du ehrlich zu ihm bist und von deinen Gefühlen für ihn erzählst, wird er dich bestimmt verstehen! Fühl dich gedrückt; Ich denk an dich! Kari Und abgeschickt. Seufzend klappte sie ihr Terminal zu und verstaute es in ihrer Handtasche. Was war das denn für ein blöder Ratschlag?! In so einer Situation wäre sie vor Angst bestimmt wahnsinnig geworden. Solche neunmalklugen Kommentare von einer Freundin, die sich da sowieso nicht reinversetzen konnte, waren wohl mehr als überflüssig. Ganz davon abgesehen, hielt sie sich ja selbst nicht an das, worüber sie sich auf dem Friedhof unterhalten hatten. Gut… seitdem waren auch erst zwei-drei Tage vergangen. Und sie hatte es nicht besonders eilig damit, ihre Gefühle zu ergründen. Vorausgesetzt, da waren überhaupt welche. Am Ende würde sie genau so ein nervenaufreibendes Gespräch erwarten, bei dem sie nicht wusste, in welches Loch sie sich vor Scham verkriechen sollte. Obwohl… Hikari müsste lügen, wenn sie beteuerte, sie sei nicht an dem Ergebnis interessiert. Zwischen ihr und Takeru hatte sich rein gar nichts geändert. Sie waren die besten Freunde, verstanden sich blind und stritten nie. Das war aber auch schon seit Jahren Standart bei ihnen. Unauffällig schaute sie im Augenwinkel zu dem Tatverdächtigen rüber, der seine volle Beachtung dem Fernseher schenkte. Seit kurzem fühlte sie sich in seiner Gegenwart ein wenig anders als sonst. Ihre gewohnte Vertrautheit war nie gewichen, doch dazu gesellte sich ein wohliges Kribbeln, das sich vor allem während solcher Übernachtungsabende zeigte. Eine Wärme, die sie zuvor nur im Beisammensein mit ihrem Bruder oder ihren Eltern spürte. Das war es, was sie Miyako neulich nicht ganz verständlich machen konnte. Immerhin wusste sie dieses Empfinden selbst nicht einzuordnen. Fühlte man sich so, wenn man verliebt war? Als hätte man zu der Person eine ganz besondere Bindung, die durch nichts gestört wird? Dass man ihr bedingungslos vertraute? „Ach, Keru… Warum muss immer alles so schrecklich kompliziert sein?“ „Hm?“ Hikari hatte die Knie angezogen und umschlang diese mit den Armen, bettete ihren schweren Kopf darauf. Was hatte die Älteste ihr gesagt? Wollte sie sich über all das im Klaren werden, musste sie Takeru besser kennenlernen. Denn trotz derselben Wellenlänge gab es da immer diese Grenze zwischen ihnen. Er verstand sie, kannte ihre Gefühle, wusste ihre Launen jederzeit einzuschätzen. Und im Umkehrschluss? Keru hatte etwas an sich, was ihn nie verriet – unnahbar machte. Nach außen hin gab er sich fröhlich und aufgeschlossen, aber war das wirklich sein wahres Ich? Es gab wohl nur einen einzigen Weg, das herauszufinden. „Darf ich dich vielleicht was fragen?“, brachte sie leise hervor, zupfte nebenbei an einer Haarsträhne, die ihr halb ins Gesicht ragte. Darüber musste er gar nicht nachdenken, sondern entgegnete ohne Umschweife: „Klar, das weißt du doch. Du kannst mich alles fragen.“ Kari presste die Lippen fest aufeinander. Normal war es gar nicht ihre Art, ihn über persönliche Angelegenheiten auszufragen. Trotz ihrer engen Freundschaft ging sie das irgendwo nichts mehr an, fand sie. Diese eine Sache jedoch ließ sie nicht mehr los, seit sie von Taichis Umzugsplänen wusste. „Ist es schlimm?“ Bevor er nachhaken konnte, fügte sie hinzu: „Das Alleinsein.“ Zuerst dachte Takeru, er hätte sich verhört. Ihre vor Tränen glänzenden Augen sprachen aber genau das Gegenteil aus. „Du meinst wegen Tai?“ Bei Familie Yagami herrschte ständig Trubel. Mal waren es die Kinder, die für Leben sorgten, dann wieder die Eltern. Jeder Besuch bei ihnen führte es dem Scheidungskind erneut schmerzlichst vor Augen. Wie es eigentlich sein sollte. Sein Blick trübte sich leicht bei der Erinnerung daran. Er griff nach der Fernbedienung und schaltete die Flimmerkiste ab. Jetzt war definitiv nicht der passende Moment für Geschrei und Grusel. „Ich kann gut verstehen, dass du wütend bist. Wäre ich damals ein paar Jahre älter gewesen, wäre es mir bestimmt nicht anders ergangen.“ Hastig fuhr sie sich über die Lider und versuchte die aufsteigenden Wasserfälle wegzublinzeln. Eben noch philosophierte sie über den Tiefgang ihrer Freundschaft und kaum kam das mit ihrem Bruder wieder hoch, heulte sie gleich los. „Wie du gesagt hast, wird er seine Gründe gehabt haben. Sobald der erste Schreck verdaut ist, kann ich ihm auch nicht mehr böse sein. Tai würde mir nie wehtun. Zumindest nicht mit Absicht.“ Nebenher robbte sie ein Stückchen auf Takeru zu, der ihr mitfühlend den Arm um die Schultern legte. Wie aus Reflex erwiderte sie diese Geste und kuschelte ihren Kopf an seine Brust. Er war so unglaublich warm und strahlte eine innere Ruhe aus, die sofort auf sie überging. Das meinte Kari. Dieser Mensch verstand sie auch ohne Worte. Trotzdem setzte sie die Erklärung nach einem unterdrückten Schluchzer fort. „Seit ich davon weiß, denke ich ständig daran, künftig allein in dieser großen Wohnung zu sitzen, wenn ich von der Schule komme. Mein Vater arbeitet, meine Mutter hat seit kurzem auch eine Halbtagsstelle… Bisher hat mich das nicht gestört, weil Tai ja da war. Aber ab nächstem Monat…“ Sanft streichelte er über ihr braunes Haar, schaute nachdenklich zu den Digimon, die aufgrund der öden Fernsehunterhaltung bereits schliefen. „Du bist doch gar nicht allein. Ja, okay. Bei euch wird es zwar ziemlich still, aber Gatomon ist doch immer bei dir.“ Kurz ließ er sein Argument verklingen, ehe er hinzufügte: „Außerdem bin ich doch auch noch da. Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du dich einsam fühlst und jemanden zum Reden brauchst.“ Während er so redete, kam ihm noch ein Einfall. „Zum Beispiel könntest du nach der Schule einfach mit zu mir kommen. Zuerst ein leckeres Mittagessen – was ich im besten Fall nicht durch zu viel Hitze töte – dann machen wir Hausaufgaben. Bevor wir damit fertig sind, ist deine Mutter längst wieder da. Na, wie klingt das?“ In seiner Begeisterung war seine Stimme etwas lauter geworden, er strahlte sie förmlich an. Die Vorstellung, bald täglich ihre Gesellschaft genießen zu dürfen, freute ihn riesig. Viel zu oft war er derselben Situation ausgesetzt, vor der sie sich so sehr fürchtete. Wenn er durch die Tür kam und niemand auf seine Begrüßung antwortete… Ihr erstaunter Blick haftete auf ihm. Sie sagte nichts, wodurch ihm der leise Verdacht kam, sie mit seiner plötzlichen Euphorie verschreckt zu haben. Abwehrend wedelte der Schüler mit den Händen vor ihr herum. „A-Also nur wenn du willst natürlich! Du bist herzlich willkommen!“ Seine Wangen nahmen ein zartes Rosa an, war ihm seine eigene Reaktion doch peinlich. Das Mädchen kam nicht umhin, vergnügt zu kichern. Eine letzte Träne strich sie sich aus dem Gesicht und schenkte ihrem Gegenüber ein wärmendes Lächeln. „Liebend gern“, stimmte sie zu, „Aber nur, wenn ich dir und deiner Mutter nicht auf die Nerven gehe.“ Takerus Miene verfinsterte sich schlagartig. Bedrohlichen Tonfalls brummte er ihr ein: „Hikaaa… Geht das schon wieder los?!“ zu, baute sich vor ihr auf und diesmal schnappte die Falle zu. Ihre Kuschelwütigkeit wurde ihr zum Verhängnis, da er sie entsprechend schnell im Griff hatte und sie hemmungslos am Bauch kitzeln konnte. Lachend versuchte sie sich aus seinen Armen zu winden, scheiterte aber kläglich. „Keru, was tust du? Gnade! Gnade!!“ „Gibst du auf?“ „J-Ja, ja! Ich geb auf! Du hast gewonnen!“ „Geht doch.“ Zufrieden ließ er von seinem Opfer ab, das sich vor ihm auf dem Sofa kringelte. Als sie langsam wieder verstummte, half er ihr zurück in den Schneidersitz und tätschelte ihr brüderlich den Kopf. „Siehst du? Nicht traurig sein. So gefällst du mir nämlich viel besser“, schmunzelte er. Da war es wieder. Dieses Gefühl, das sich in ihr ausbreitete und ein seltsames Kribbeln in ihrer Magengegend verursachte. „Keru? Danke… Ich bin froh, dass ich mit dir darüber reden konnte. Du bist mein allerbester Freund.“ Eigentlich sollten diese Worte ihn glücklich machen. Ihn ehren, dass er ihr so wichtig war und er diesen besonderen Platz bei ihr einnahm. Er verstand es selbst nicht, aber die dahinter liegende Bedeutung versetzte seinem Herzen einen schmerzhaften Stich. Hikaris allerbester Freund… Kapitel 9: Versteckte Gefühle ----------------------------- Ihr leiser gleichmäßiger Atem machte ihn erst darauf aufmerksam, dass sie schlief. Obwohl ihr Kopf auf seiner Schulter auch Hinweis genug sein könnte. Der zweite Film – ein Mystery Thriller – bot deutlich mehr Unterhaltung als sein Vorgänger. Und doch sind da jemandem die Lider zu schwer geworden. Vorsichtig, um sie ja nicht zu wecken, bettete Takeru seine Besucherin längs auf die Couch und legte ihr eine Wolldecke über. Gegen Abend sanken die Temperaturen schnell auf einen unangenehmen Wert herab und er wollte ja nicht schuldig sein, wenn sie sich erkältete. „War wohl so aufregend, dass du nicht mehr hinsehen konntest“, flüsterte er und strich ihr eine Haarsträhne von der Stirn. Warum er das tat, wusste er in dem Moment auch nicht so wirklich. Normalerweise war es gar nicht seine Art, sie laufend zu berühren. Und heute war das schon mehr als einmal vorgekommen. Nachdenklich lehnte er sich zurück, den Blick keine Sekunde von der schlafenden Schönheit abgewandt. Egal wie spannend das Abendprogramm in der Glotze sein mochte, so war seine Freundin einfach viel interessanter für ihn. Ihr vorangegangenes Gespräch miteinander ließ ihn nicht mehr los. Hikari so verletzt zu sehen, zerriss auch ihm das Herz. Umso besser, dass er sie schnell aufheitern konnte. Nur ihr letzter Satz wollte ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Du bist mein allerbester Freund < Takeru stöhnte leise und fuhr sich durch seine blonde Mähne. Langsam aber sicher brachte die Verdrängungstaktik nichts mehr. Je vertrauter sie wurden, desto deutlicher spürte er, wie sich etwas zwischen ihnen veränderte. Bevor er es überhaupt realisierte, bekam er in ihrer Gegenwart dieses komische Gefühl. Es war nichts Unangenehmes. Eher fühlte er sich… heimisch in ihrer Nähe. In einer ruhigen Minute hatte er sich Gedanken darüber gemacht, was das bedeutete. Warum er plötzlich so empfand und wie er damit umgehen sollte. Die erste Frage ließ sich ziemlich schnell beantworten. Er hatte sich einfach in seine beste Freundin verliebt. Das Mädchen, das er schon so lange kannte und in jeder noch so auswegslosen Situation mit seinem Leben beschützte. Im Gegenzug war sie immer bei ihm und schenkte ihm dieses wunderschöne Lächeln, was er so an ihr liebte. Aber nicht nur das. Denn die Zeit war nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Aus der kleinen, schüchternen Kari wurde im Laufe der Jahre eine attraktive junge Frau. Ihre Haare ließ sie seit einigen Monaten wachsen, bis sie grobe Schulterlänge hatten und band sie sich meistens zu einem Zopf. Ein paar Köpfe größer war sie auch geworden, würde Takeru aber mit Sicherheit nicht mehr überholen in diesem Leben. Ab und an trug sie nun gerne Kleider, obwohl sie eher der praktische Typ war. Trotzdem freute er sich sehr darüber, denn die schicken Einteiler betonten immer wieder ihre grandiose Figur und ihre zwar schmale, aber vollkommen zu ihr passende Brust. An Hikari stimmte einfach alles. Sowohl ihr verspielter Charakter, als auch das Aussehen. Grund genug, sie anziehend zu finden. Schleichend meldete sich sein schlechtes Gewissen zu Wort und zwang ihn, wieder zum Display zu schauen. Werbepause. Und er hatte nicht das geringste Bisschen mitgekriegt. Immer wenn er so über Kari dachte, sie nicht als Freundin, sondern als Frau wahrnahm, grätschte ihm sein gesunder Menschenverstand dazwischen. Liebe hin oder her, er konnte unmöglich ein so hohes Risiko eingehen und ihr davon erzählen. Zu groß wog die Angst, damit alles zu zerstören, was ihm so viel bedeutete. Aus irgendeinem Grund sah der Schüler es nämlich als total absurd an, sie könnte genauso empfinden wie er. Auch wenn ihm die Vorstellung schon irgendwie schmeichelte. Er und Hikari als Paar… Nein. Das ging nicht gut, da war er sich sicher. Falls sie wirklich diesen Schritt wagten und es sich eines Tages als großer Fehler herausstellte, kämen sie nie wieder an den Punkt, an dem sie heute standen. Ihre innige Beziehung zueinander wäre unwiederbringlich zerstört. Bestes Beispiel waren ja seine Eltern, die es ihm seit frühester Kindheit vormachten. Natsuko und Hiroaki konnten nicht mehr im selben Raum sitzen, ohne von der grauenvollen Atmosphäre verschlungen zu werden. Sogar der Augenkontakt fiel ihnen schwer. Bevor er riskierte, dasselbe mit seiner Kindheitsfreundin zu erleben, versiegelte er seine Lippen und hütete Geheimnis. Takeru wurde sich seiner Gefühle nun durchaus bewusst und umso mehr der Tatsache, dass es das Beste war, sie einfach runterzuschlucken. Damit tat er das einzig Richtige, auch wenn es ihn verletzte. Irgendwann würde es ihm sicher leichter fallen, das Chaos in seinem Inneren zu verdrängen. Hauptsache, es änderte nichts an ihrem Zusammenhalt. Ganz ohne Vorwarnung fiel die Wohnungstür ins Schloss. Natsuko war wieder da. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr verriet dem Jungen, dass es bereits kurz nach Mitternacht war. Schon etwas ungewöhnlich, da sich seine Mutter stets bemühte, noch vor Beginn seiner Nachtruhe heimzukommen. Überrascht streckte sie den Kopf durch die offen stehende Tür und musterte ihren Sohn. Dass jetzt noch Licht brannte, erlebte sie auch relativ selten. Normalerweise verschlug es ihren Jüngsten durch den stressigen Schulalltag früh ins Bett. Da fielen ihr die Ferien wieder ein. Natürlich war er da noch auf und gönnte sich ein paar Stunden mehr. „Tut mir leid, T.K. Ist etwas später geworden als geplant. Mein Chef hatte ständig was an dem Artikel auszusetzen und-…“ Sie stoppte, als der Blondschopf den Finger an die Lippen legte und auf seine Freundin neben sich deutete. „Ach, Hikari übernachtet heute hier? Dann will ich selbstverständlich nicht stören.“ „Schon okay“, erwiderte Takeru und erhob sich von seinem Platz, „Der Film ist sowieso gerade vorbei.“ Flink machte er das Gerät aus und wandte sich Hikari zu, die er ganz im Brautstil auf seine Arme hievte. „Ich bringe sie noch schnell ins Bett und lege mich dann auch schlafen. Du hast das Wohnzimmer also ganz für dich, Mama.“ „Gut… wie du meinst…“ Irritiert schaute sie ihm hinterher, als er an ihr vorbeiging und kurz darauf in seinem Zimmer verschwand. Bildete sie sich das ein oder war er irgendwie niedergeschlagen? Ob etwas zwischen ihm und Hikari vorgefallen war? Die Blondine entschied sich dafür, die Dinge auf sich beruhen zu lassen und löcherte ihn nicht weiter, nachdem er kurz in die Wohnstube zurückkehrte und die schlummernden Digimon einsammelte. Wenn er schon von allein das Weite suchte, würde das sicher einen Grund haben. Sachte schloss der Digiritter die Zimmertür hinter sich und platzierte die wie Stofftiere aussehenden Wesen am Fußende seines Bettes, in dem seine Herzensdame lag. „Keru?“, ertönte ihre leise schlaftrunkene Stimme. Dösig blinzelte sie ihn an, versuchte in der Dunkelheit sein Gesicht zu erkennen. Er lächelte ihr nur zu und tätschelte ihr sanft den Kopf. „Schlaf ruhig weiter. War nur ein kurzer Szenenwechsel rüber ins Bett. Auf dem Sofa schläft es sich nicht halb so gut wie hier.“ Eigentlich wäre ihr nun mindestens eine Entschuldigung für die durch sie entstandenen Umstände über die Lippen gekommen, aufgrund ihrer Müdigkeit aber nickte sie nur und gehorchte ihm, mummelte sich wieder in die Decke und widmete sich ihrem Schlaf. Ein liebesvolles „Gute Nacht“ richtete Takeru noch an sie, wonach er sich dann an den Aufbau seines Nachtlagers auf dem Boden machte. ~ Schwungvoll stießen die Gläser aneinander und verursachten einen klirrenden Ton. „Herzlichen Glückwunsch, Yolei. Das freut mich wirklich für dich!“ Der verträumte Ausdruck der Älteren machte Hikari selbst ganz fröhlich. Nachdem der Film sie gestern halb zu Tode interessierte, hatte sie die folgenden Benachrichtigungen von Miyako völlig verpasst. Ihr Gespräch mit Ken war ein voller Erfolg, woraus letztendlich wirklich eine Partnerschaft der beiden resultierte. „Danke. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie peinlich mir das war… Und dann hab ich einfach losgeplappert. Kennst mich ja. Wenn ich nervös werde, kann ich einfach meine Klappe nicht halten!“, berichtete sie mit hochroten Wangen und schlürfte einen großen Schluck aus ihrer Cola. Die Freundinnen hatten sich gleich für den Nachmittag in ihrem Stammlokal verabredet, um wild darüber zu diskutieren. Hikari grinste bei diesem Anblick und spielte an ihrem Strohhalm herum. „Siehst du? Ich hab’s dir doch gesagt. Ken und du, ihr passt schließlich zusammen wie…“ Grüblerisch legte die Brünette ihre Hand ans Kinn und zupfte ihren nicht vorhandenen Bart. „Wie Eis im Sommer?“, half ihr Gegenüber ihr auf die Sprünge. „Zum Beispiel!“ Ein Lachen konnten sich die beiden nicht verkneifen. Ja, auch für Hikari sah die Welt heute schon wieder ganz anders aus. Als sie vorhin nach Hause kam, hatte Taichi bereits auf ihrem Bett geparkt und bestand darauf, nicht eher dort wegzugehen, bis sie sich richtig aussprachen. Gesagt, getan. Im Anschluss wusste sie nun, dass ihr Bruder sie nicht aus der Ruhe bringen wollte. Es stand wohl tagelang nicht fest, ob er einen Zuschlag für die gewünschte Wohnung bekam oder nicht. Deshalb wollte er nicht die Hühner scheu machen. Typisch Tai eben, stokelig und durcheinander nahm er jedes Fettnäpfchen mit, was sich ihm in den Weg stellte. Kein Wunder, dass es da zu Missverständnissen kam. Jedenfalls freute Kari sich riesig über die Versöhnung mit ihm und selbstredend auch für Miyakos Erfolg. „Und, wann wollt ihr es den anderen sagen?“, fragte sie nach einer Weile der Plauderei schließlich. „Jetzt gleich.“ „Jetzt gleich?“ Damit rechnete die Japanerin nun nicht unbedingt. Das war eigentlich nur ein Treffen zwischen ihnen beiden. „Das heißt…“ „Ja, die anderen kommen gleich dazu. Hab allen bis auf Cody eine Nachricht geschrieben. Den müssen wir wohl vor vollendete Tatsachen stellen, wenn er wieder in heimischen Gefilden ist“, schwatzte die Lilahaarige ohne Punkt und Komma drauf los, „Davis ist Kens bester Freund. Wenn er davon Wind kriegt, weiß es sowieso jeder. Und ich würde das gern selbst verbreiten, bevor diese Quatschtüte es tut!“ Etwas Ärgerliches schlich sich auf die Züge der Brillenträgerin. Kari konnte die Überlegung gut nachvollziehen. Solche wichtigen Angelegenheiten sollten nicht über den Klatsch und Tratsch die Runde machen. „Kommen wir aber mal zu dir, liebste Kari…“ Die Angesprochene schluckte. Wenn Miyako diesen Ton anschlug, würde es wieder um ein leidiges Thema gehen. „Schon irgendwelche neuen Erkenntnisse bezüglich T.K.?“ „Ich hab gestern bei ihm übernachtet.“ „Ach ja? Erzähl!“ „Na ja… Wir haben Nudelauflauf gegessen.“ „Ja?“ „Danach haben wir uns einen Film angesehen.“ „Jaa?“ „Dann haben wir geredet.“ „Jaaa?“ Kari wurde das Gefühl nicht los, dass die gute Yolei mit jedem Detail erwartungsvoller wurde. Verkraftete sie die schockierende Wahrheit überhaupt? „Und dann bin ich auf dem Sofa eingeschlafen.“ „…“ „…“ „Das war jetzt nicht unbedingt das, was ich von dir hören wollte“, entgegnete sie und rückte das Gestell auf ihrer Nase zurecht. „Ja, schon klar. Aber was soll ich denn machen? Ich bin selbst ganz verwirrt… Hab dir doch neulich von der Sache mit Tai erzählt.“ Ihre Freundin war die Erste, die um den Konflikt mit Taichi Bescheid wusste. Noch bevor sie sich Takeru oder sonst jemandem anvertraute, wandte Hikari sich an sie. Hatte sich so ergeben. „Das hat mich gestern echt runtergezogen, deshalb bin ich auch mit zu T.K. gegangen, als wir fertig waren mit lernen. Ich hab angefangen zu weinen und dann hat er mich getröstet, bis es mir wieder besser ging.“ „Typisch“, zischte Yolei, „Den spannendsten Teil enthältst du mir vor!“ Ihre Bestürzung in Cola ertränkend, wurde sie aber schnell ruhiger und zog ihre mütterliche Seite der verwirrten Kari gegenüber vor. „Was denkst du darüber?“ Die Yagami-Tochter verschränkte die Arme ineinander und legte den Kopf schief. Da gab es nicht viel zu sagen. Nach wie vor war ihr nicht klar, was sie anhand ihrer Gefühle aus dem gestrigen Abend ableiten sollte. „Ich weiß nicht. Auf jeden Fall bin ich heilfroh, dass er da war und mir zugehört hat. Das hab ich in dem Moment gebraucht. Deshalb bin ich mir nicht sicher, ob ich mich jetzt nach seiner Nähe oder lediglich einer Schulter zum Anlehnen gesehnt habe“, gestand die Oberschülerin ganz offen und tippte auf der Zitronenscheibe herum, die auf dem Rand ihres Glases steckte. „Ich wünschte, das wäre so einfach wie bei dir.“ Ob das nun das passende Adjektiv war, um den Zinnober vom Vortag zu beschreiben, sei mal dahingestellt. Miyako blieb lieber bei der Sache. „Dann wäre es das Beste, du lässt dir Zeit, um das zu ergründen. Ich weiß, mit meiner Fragerei setze ich dich sicher unter Druck, aber lass dich davon nur nicht beeindrucken, Kari. Lieber lässt du mich ein wenig nerven als dass du die falsche Entscheidung durch die ganze Hektik triffst.“ Gerade wollte Hikari etwas auf den lieb gemeinten Rat ihrer Gefährtin erwidern, als diese durch das leise Piepsen geweckt, ihr Digiterminal zur Hand nahm. „Oh, eine Mail von T.K.“ „Was schreibt er?“ Aus Miyakos Blick las sie gleichermaßen Überraschung wie auch Enttäuschung ab. „Er hat abgesagt. Meinte, ihm wäre was dazwischengekommen und er würde es nicht mehr zum Treffen schaffen. So was aber auch…“ Verdutzt ließ die Jüngere von ihrem Getränk ab und schaute auf. „Seltsam… Dabei meinte er vorhin noch zu mir, er hätte den ganzen Tag nichts zu tun.“ „Tja, dann müssen wir das wohl nur Davis erstmal erklären, ohne viel Aufsehen zu erregen. T.K. wird damit ja sicherlich erwachsen und vernünftig umgehen.“ „Ja, bestimmt…“ Eher abwesend kamen diese Worte aus Karis Mund, während sie aus dem Fenster neben sich schaute. Irgendwie beschlich sie ein ungutes Gefühl. Es war gar nicht seine Art, seine Freunde zu versetzen. ~ Nur ein paar Meter von dem Lokal entfernt, stand der Blondschopf und umklammerte Patamon, das in seinen Armen lag. „Takeru? Warum hast du denn abgesagt? Wir sind doch fast da!“, bemerkte das Digimon und hielt inne, als sein Partner zu zittern anfing. Dabei war es doch so warm heute… Der Blick des Jungen lag konstant auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf zwei bestimmten Personen, die er um diese Tageszeit nie hier vermutet hätte. In ihm kroch ein widerliches Gefühl hoch, das er am liebsten schnellstens wieder losgeworden wäre. Doch das, was er da gerade beobachtete, brannte sich in sein Bewusstsein wie eine schmerzhafte Stichflamme. „Mir ist die Lust aufs Quatschen vergangen…“, presste er wütend heraus und drehte sich mit Schwung um. Er musste weg von hier, ganz dringend. Kapitel 10: Verunsicherung -------------------------- „Bist du dir ganz sicher? Das sieht aus, als hättest du jemanden abgestochen.“ Zweifelnd begutachtete Hikari den ersten Pinselstrich an der kalkweißen Wand. Das dunkle Rot passte nicht wirklich zu den Möbeln, die er sich vor kurzem noch ausgesucht hatte. Taichi runzelte nur die Stirn und entgegnete: „Bist du zum Streichen gekommen oder zum Palavern?“ Sie zog einen Flunsch. Der genervte Tonfall passte ihr gar nicht. „Ich wollte dich nur vor einem schwerwiegenden Fehler bewahren. Aber wer nicht will, der hat schon.“ Beleidigt streckte sie ihm die Zunge heraus und tunkte das Malutensil zurück in den Farbeimer, um ihre „Bluttat“ fortzuführen. „Keine Sorge. Ich war mir noch nie in meinem Leben so sicher wie mit dieser Farbe!“ „Glaub ihm bloß kein Wort, Kari. Genau denselben Satz hat er bei unserer Verlobung gebracht.“ Mit ihrem Kommentar nahm Mimi, die soeben das Zimmer betrat, ihm jeglichen Wind aus den Segeln. Der vermeintliche Grund seines Auszuges war ja sein Studium, da die Wohnung näher an der Uni lag. So lautete zumindest die Version, die Tai seiner Schwester verkaufte. Dass Mimi Tachikawa die Hauptschuld daran trug, ahnte sie nämlich bis vor kurzem noch nicht. Sie und Taichi waren schon seit drei Jahren ein Paar. Da sie aber blöderweise mit ihrer Familie in den USA lebte, kamen sie um eine anstrengende Fernbeziehung nicht drum herum. Eigentlich klappte das auch über einen langen Zeitraum hinweg erstaunlich gut, weshalb alle dachten, an diesem Zustand würde sich so schnell nichts ändern. Bei einem ihrer letzten Besuche hatte der Student aber die Backen zusammengekniffen und ihr einen romantischen Heiratsantrag gemacht. Der Moment, in dem sie wusste, dass sie nach Japan zurück wollte. Hier entstand also keine luschige Studenten-WG, sondern das traute Heim eines jungen Liebespaares, das auf dem besten Wege in ein geregeltes und stinknormales Leben war. Zuerst hätte Kari wieder explodieren können. Wie Yolei es vor einigen Wochen noch so treffend formulierte: > Den spannendsten Teil enthältst du mir vor! < Aber so wie sie ihren Bruder kannte, war es ihm schlicht und ergreifend ungenehm, so detailreich über seine Gefühle zu reden. „Hat aber Wirkung gezeigt“, schnaubte der Wuschelkopf und deutete auf den Ring an ihrem Finger. „Wie du meinst. Aber du solltest nicht so garstig zu Kari sein. Sie hilft schließlich freiwillig und könnte es sich ganz schnell anders überlegen.“ Bestätigend nickte sein jüngeres Ebenbild ihm auf Mimis Worte hin zu. Frauen… Die schlossen sich immer zu einem aufgeregten Haufen zusammen, gegen den er absolut keine Chance hatte, egal was er sagte. Wurde allerhöchste Zeit, dass seine Unterstützung endlich eintraf. „Meine Güte, wo bleiben denn Matt und T.K? Die sind echt spät dran…“ Zu diesem besonderen Anlass ließ es sich sein bester Freund nicht nehmen, ihm bei der Renovierung ein wenig unter die Arme zu greifen und hatte sich und seinen Bruder für den Nachmittag angekündigt. Hikari wurde leicht nervös. Seit dem Treffen, dem Takeru ohne großherrliche Erklärungen fernblieb, waren mittlerweile drei Wochen vergangen. In dieser Zeitspanne hatten sie eher sporadisch Kontakt zueinander. Auf ihre Frage hin, ob alles bei ihm in Ordnung sei, antwortete er mit einem klaren ‚Ja’. Es sei nur eine Nichtigkeit gewesen, die ihm dazwischenkam und es hätte sich von selbst geklärt. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass das eine Lüge war und er sie nicht beunruhigen wollte. So genau konnte sie das selbst nicht beschreiben, aber er benahm sich seltsam. Immer wenn sie sich trafen, lag eine gewisse Spannung in der Luft, die sich nicht wirklich definieren ließ. Ursprünglich war Kari sogar mal der Gedanke kommen, sie wäre an seinem komischen Verhalten schuld. Am Tag zuvor war sie bei ihm zu Besuch und kaum ein paar Stunden später fing das alles an. Die Türklingel riss sie aus ihren wilden Fantasien heraus. Mimi klopfte ihrem Verlobten auf die Schulter und schubste ihn Richtung Tür. „Da sind sie doch schon, also reg dich nicht auf. Sei froh, dass dir überhaupt jemand hilft!“ Als ihr Blick zu Hikari wanderte, verzog sie erschrocken das Gesicht. „Hey, du tropfst!“ Tatsächlich hatte sich zu den Füßen des Mädchens eine kleine Pfütze gebildet, da sie den frisch getunkten Pinsel einfach mit der Spitze runterhängen ließ, während sie so überlegte. „Ich hab euch doch gesagt, es sieht nach Massenmord aus, wenn ihr alles in Rot streicht!“ „Ja… deshalb sollte die Farbe auch ursprünglich an die Wand und nicht auf den Boden, Schätzchen“, grinste ihre zukünftige Schwägerin. „Hallo, ihr beiden!“ Freudig winkte ihnen Sora entgegen, mit deren Erscheinen keine von ihnen rechnete. Würde Yamato etwas mehr von diesen „Gefühlsduseleien“ halten, wäre er mit Sicherheit auch schon mit ihr verlobt. Da man aber seine Zeit brauchte, um aus einem harten Kerl wie ihm einen Romantiker zu machen, führten sie eben solange eine normale Beziehung miteinander. „Sora! Das ist ja eine schöne Überraschung!“ Strahlend fielen sich die Mädchen um den Hals und drückten sich ganz fest. Hikari begrüßte den Neuankömmling mit einem fixen Küsschen links – Küsschen rechts und steuerte direkt Takeru an, der im Flur stand und der hitzigen Diskussion von Taichi und Yamato lauschte. Kaum trafen diese Kerle aufeinander, gab es wieder Anlass, damit die Fetzen flogen. „Ohje, worum geht’s denn?“ Mit einem kurzen Seitenblick vergewisserte er sich, dass es Hikari war, die neben ihm zum Stehen kam und zuckte dann mit den Schultern. „Gute Frage. Nach dem Händeschütteln hab ich irgendwie den Faden verloren. Ich glaub, sie reden über die Möbelmontage. Und dass Tai zu lange mit den Renovierungsarbeiten getrödelt hat“, erklärte der Teenager und seufzte leise. Die Streithähne waren auch nur glücklich, wenn sie sich gegenseitig die Köpfe einschlugen. Vergnügt kicherte Kari und nahm ihren besten Freund bei der Hand. „Dann machen wir uns mal unauffällig aus dem Staub und verziehen uns ins Hinterzimmer. Da haben wir wenigstens unsere Ruhe!“ Ehe er auf die Idee kam, Widerworte zu geben, zog sie ihn hinter sich her in den hintersten Winkel der Wohnung. Für diesen Raum stand etwas ganz Besonderes auf dem Plan und sie wusste, dass sie dadurch eine Weile mit T.K. allein sein konnte. „Du bist doch sicher so nett und hilfst mir dabei, nicht wahr?“ ~ „Ich hoffe doch schwer, das hier wird nicht das Schlafzimmer…“ Zweifelnd sah der Blonde über seine Schulter, bekam aber nur das Signal zurück, weiterzumachen. „Das hat alles seine Richtigkeit, keine Sorge. Außerdem wird das nicht das Schlafzimmer sondern Mimis Arbeitszimmer.“ „Mimi bekommt ein Arbeitszimmer?“ Jetzt war’s ganz mit dem Jungen vorbei. Er legte sein Malwerkzeug beiseite und musterte seine Mitschülerin prüfend. Damit löste sich das Rätsel, warum er diese Wand gerade knallig Pink strich. Aber wozu brauchte die zukünftige Hausherrin denn ein Arbeitszimmer, wenn sie momentan sowieso in einem Bekleidungsgeschäft jobbte? Für Taichi hätte sich das doch viel eher angeboten. „Ich glaube auch, sie meinte einen Hobbyraum. Aber mir hat sie es als Arbeitszimmer verkauft“, fügte Kari hinzu. Skeptisch drehte er sich wieder um und wandte sich der liegen gebliebenen Arbeit zu. Die machte sich ja nicht von allein. „Wieso habt ihr eigentlich Sora mitgebracht?“ Sie wusste selbst nicht ganz, warum sie das fragte. Wahrscheinlich, um die anhaltende Stille so lange wie möglich zu durchbrechen. Da lag wieder diese Spannung zwischen ihnen, die ihr so unerträglich vorkam. Im Affekt fing man dann schon mal an, blödsinniges Zeug zu reden. „A-Also nicht dass ich ein Problem damit hätte. Nur mal so aus Interesse.“ „Matt hat ihr am Telefon davon erzählt und als sie das gehört hat, wollte sie unbedingt mitkommen. Sie hat übrigens Schokomuffins gebacken, für die Pause nachher“, erwähnte er so nebenbei. Schokomuffins. Bei dem Wort lief ihr schon das Wasser im Munde zusammen. Und Sora besaß durchaus großes Talent, wenn’s um typischen Hausfrauen-Kram ging. Da gehörte Backen wohl oder übel dazu. Bei ihren Treffen zum ersten August brachte sie jedes Mal eine andere Leckerei mit und immer übertraf sie sich wieder. Diese Stärkung für die harte Arbeit würde ihre aufgebrauchten Kraftreserven im Nu wieder auffüllen. Aus irgendeinem Grund konnte sich Hikari gar nicht so richtig darüber freuen. Denn auch heute wirkte Takeru so einsilbig. Als wäre er mit den Gedanken eigentlich ganz woanders. „Du, Keru?“ „Mhm?“ „Hab ich irgendwas falsch gemacht?“ Sofort unterbrach er seine Tätigkeit und schaute sie überrascht an. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkte er den traurigen Ausdruck in ihren rehbraunen Augen. „Wovon redest du?“ „Du bist seit meiner letzten Übernachtung so komisch…“, druckste sie unsicher herum, kratzte nebenbei an einem Farbkleckser auf ihrem Arm herum, „Auf einmal hast du kaum noch Zeit für mich, obwohl noch Ferien sind und wenn wir uns dann mal treffen, bist du so nachdenklich und abweisend. Ich hab gedacht, es wäre vielleicht meine Schuld…“ Der plötzliche Druck auf ihren Schultern veranlasste sie dazu, den Blick zu heben. Er stand direkt vor ihr und sah sie todernst an. „Schlag dir das bitte ganz schnell wieder aus dem Kopf. Du bist wirklich die Letzte, die mir Kummer bereitet, das kannst du mir glauben. Tut mir leid, wenn ich dir Sorgen gemacht habe, das wollte ich nicht. Weißt du, ich war in den letzten Wochen sehr in die Schularbeiten vertieft und habe nebenbei noch an dem Manuskript geschrieben. Deshalb haben wir nicht so viel miteinander unternommen.“ Im Nachhinein könnte Takeru sich ohrfeigen für seine Nachlässigkeit. Natürlich entging dem feinen Gespür seiner Freundin nicht, dass seine Laune am Nullpunkt angelangt war und er seit seiner Entdeckung neulich an etwas zu knabbern hatte. Nun dachte sie doch tatsächlich, es sei ihre Schuld gewesen… So ein Mist. Nie im Leben wollte er sie beunruhigen. „Wirklich?“ Bedenklich zog sie die Brauen hoch. Die Nummer schien sie ihm nicht ganz abzunehmen. „Du weißt, dass du jederzeit mit mir reden kannst, wenn dich was bedrückt, ja, Keru? Ich bin immer für dich da!“ Er lächelte leicht und zog sie in seine Arme. Ihr so nahe sein zu können, entspannte ihn. Trotz des unwohlen Gedanken an seine heimlichen Gefühle. In diesem Moment war es das Richtige. „Na klar weiß ich das. Es ist alles gut, keine Angst, Hika.“ Eine Weile standen sie da, schmiegten ihre Körper ungeachtet der sommerlichen Hitze draußen aneinander und genossen diese enge Vertrautheit, bis er sich von ihr löste und in die Hände klatschte. „Was hältst du davon, wenn wir einen Ausflug machen als Entschädigung? Nur wir und die Digimon. So als krönenden Abschluss, bevor die Schule wieder losgeht.“ „Einen Ausflug?“, wiederholte sie fragend. „Lass dich einfach überraschen. Ich bin sicher, dir wird’s gefallen. Also, was sagst du?“ Gespannt wartete er ihre Reaktion ab. Hatte er damit ihre Zweifel vertrieben und sie davon überzeugt, dass alles bestens war? „Ich freu mich drauf!“ Gegen Abend machten sich die Geschwister Takaishi-Ishida schon früh auf den Heimweg. Die halbe Wohnung war gestrichen – Von Prinzessinnen-Pink bishin zum mörderischen Rot war vieles dabei, was wohl genau den Geschmack des Paares traf, das dort Ende nächster Woche einzog. Yamato musste schon jetzt los, da er heute mit dem Abendessen an der Reihe war und seinen Vater nur ungern warten lassen wollte. Er schuldete ihm noch eine Mahlzeit und wie er eben so war, blieb er auf Schulden nicht lange sitzen. Zwar hätte er Sora gern noch nach Hause gebracht, doch die weigerte sich schlichtweg. Zu lange war ihre letzte Begegnung mit Mimi her – Zu viel gab es, was getratscht werden musste. Taichi würde sich schon um sie kümmern, da war der Hobbymusiker sich sicher. Was seinen kleinen Bruder allerdings mit hierher verschlug, konnte er sich noch nicht ganz erklären. „Willst du auch mitessen, T.K? Warst schon lange nicht mehr zu Besuch.“ Bislang lief der Jüngere stumm neben Matt her, die Hände in den Hosentaschen vergraben und den Boden fixierenden. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, war er sich doch nicht sicher, ob er das Thema wirklich anschneiden sollte. „Das trifft sich ganz gut. Ich wollte sowieso fragen, ob das möglich wäre.“ „Hast schon Sehnsucht nach meinen Kochkünsten, was, Kleiner?“, lachte Matt, was Takeru dazu verleitete, in seiner Bewegung inne zu halten und stehen zu bleiben. „Stimmt was nicht?“ „Wir müssen uns dringend unterhalten. Es gibt da etwas, was du wissen solltest…“ Kapitel 11: Falscher Frieden ---------------------------- An diesem Morgen wachte Takeru mit Bauchschmerzen auf. Sein Gespräch mit Yamato vor ein paar Tagen lief alles andere als gut – Sie waren sogar im Streit auseinander gegangen. Daran knabberte er schon ein Weilchen, da seitdem Funkstille zwischen ihnen herrschte. Dieser Umstand lag ihm schwer im Magen. Nicht einmal für seine Lieblingssorte Cornflakes konnte er sich begeistern. Lustlos stocherte er in der Schüssel herum und dachte scharf nach. Sollte er sich für seinen Wutausbruch entschuldigen? Schließlich war Yamato eine der wenigen Personen, mit denen er sich so gut wie nie zoffte. Eben ein richtiger großer Bruder, der einem stets mit Rat und Tat zur Seite stand. Nur nicht bei einem gewissen Thema, was Takeru nun mal das Herz so schwer machte. Das schien die einzige Ausnahme zu sein. Die elende Scheißegal-Haltung machte den Jungen rasend. Es war nicht scheißegal. Nicht für ihn. Nein, auf eine Entschuldigung konnte er lange warten. Seine Bestürzung war mehr als berechtigt. „Alles in Ordnung, T.K? Du siehst irgendwie missgelaunt aus.“ Natsuko stand direkt vor ihm am Tisch. Dass sie jetzt noch in der Wohnung herumwuselte, obwohl sie zu der Zeit längst auf der Arbeit sein müsste, verdankte sie dem Wochenendjob, der ihr zugeteilt wurde. Den Artikel konnte sie auch daheim schreiben, dafür musste sie nicht im Büro hocken und die wechselhaften Launen ihres Chefs ertragen. Wohl aber die ihres Sohnes, der sie gar nicht bemerkt hatte bis eben. „Oh, äh… Ich hab schlecht geschlafen, nichts weiter“, log er sie ziemlich schlecht an und wich ihren bohrenden Blicken aus. Sie war die Letzte, der er von den Streitigkeiten erzählen wollte. Nicht, wenn ihn immer dieses beißende Gefühl überkam, wenn er mit ihr sprach. Der mütterlichen Wahrnehmung konnte sich der Teenager aber nicht entziehen. Dass „nichts weiter“ bei ihm meistens mehr bedeutete, als er zugab, kannte sie aus der Vergangenheit bereits zu gut. Ihr Jüngster hasste es, über seine Probleme und Sorgen zu reden und machte diese weitestgehend mit sich selbst im Stillen aus. Für diesen Umstand machte Natsuko oft ihre Scheidung verantwortlich. Ihr kleiner Takeru, damals in seinem zarten Alter – noch nicht verstehend, was das für seine Familie bedeutete – tröstete sie immer, wenn sie dem Druck nicht mehr standhielt und in Tränen ausbrach. Er kam zu ihr, nahm sie bei der Hand und lächelte ihr aufmunternd zu. „Wein doch nicht, Mama. Ich bin doch bei dir.“ So sehr bauten diese einfachen Worte sie auf und schenkten ihr Kraft. Sie musste stark sein für ihr Kind, immerhin war das für alle kein leichtes Unterfangen. Leider bemerkte sie dadurch erst viel zu spät die Distanz, die zwischen ihr und T.K. entstand. Sein heimlicher Rückzug von ihr, indem er an ihrer Stelle den Starken spielte und seine Angst stets hinter einem Lächeln versteckte. Er war so ein guter Junge… Je mehr sie sich das vor Augen führte, desto weniger traute sie sich, ihn darauf anzusprechen. Würde er sich dann noch mehr vor ihr verschließen? Aber gleichzeitig gab sie keine besonders gute Mutter ab, wenn sie ihn wohl wissend mit seinem Kummer allein ließ. „Hör mal…“, begann sie zaghaft, „Ich weiß, dass ich in letzter Zeit viel gearbeitet habe und selten zu Hause war.“ War das gerade die Steilvorlage für eine Entschuldigung? Trotz ihrer Arbeit fühlte Natsuko sich manchmal wie eine absolute Anfängerin im Umgang mit Sprache. Bei wachsender Nervosität fand sie einfach nicht die richtigen Worte. „Das tut mir leid.“ Also doch eine Entschuldigung. „Es kommt mir vor, als würdest du dich seit kurzem nicht wohl fühlen. Kann ich… Kann ich etwas für dich tun, T.K?“ Er hielt in seiner Bewegung inne und traute sich zum ersten Mal seit Beginn dieser Unterhaltung Augenkontakt herzustellen. „Soll ich mir den Nachmittag vielleicht frei nehmen? Dann könnten wir was unternehmen, wenn du Lust hast. Wir haben schon lange nicht mehr-…“ Der Stuhl knarrte laut. Mitten im Satz erhob er sich und nahm die Schüssel an sich, die immer noch halb voll war, um sie im Abwasch zu versenken. „Entschuldige. Hab vergessen, es dir zu erzählen. Ich bin heute mit Hika unterwegs, wir machen einen Ausflug“, erwähnte er und brachte sein Geschirr weg. Seine Mutter wollte ihm erst hinterher, blieb dann aber wie angewurzelt stehen. Konnte sie ja nicht ahnen, dass er bereits Pläne hatte. Aber wieso fühlte es sich wie eine direkte Zurückweisung an? Im Vorbeigehen stoppte der Blondschopf noch kurz, trug wieder dieses gutmütige Lächeln auf den Lippen. „Ich komm schon zurecht, mach dir keine Sorgen. Kümmer du dich lieber um den Artikel, das ist wichtig.“ Wie lange wollte er diese Farce weiter durchziehen und gute Miene zum bösen Spiel machen? Er wusste es nicht. „Takeru.“ So nannte sie ihn schon lange nicht mehr. Wenn sein richtiger Name dran war und nicht der beliebte Kürzel, wurde es ernst. „Nichts und niemand ist mir wichtiger als du, vergiss das bitte nicht. Wenn es dir schlecht geht und du jemanden brauchst, bin ich immer für dich da. Ob ich den Artikel fertig bekomme, spielt dabei keine Rolle.“ Ich bin immer für dich da < Dasselbe was Hikari ihm gesagt hatte. Nur trug diese Phrase bei seiner Mutter einen so bitteren Nachgeschmack, dass es ihm ganz schlecht wurde. Es fühlte sich wie eine eiskalte Lüge an. „Das weiß ich doch, Mama.“ Langsam schob er sich an ihr vorbei, legte ihr nebenher kurz eine Hand auf die Schulter. „Ich muss langsam meine Sachen packen, bin schon spät dran. Warte mit dem Essen nicht auf mich, ich bin erst spät heute Abend wieder zurück.“ Dann verschwand er in seinem Zimmer. Warum nur verlor Natsuko mehr und mehr den Draht zu ihrem Kleinen? Ob er… etwas ahnte? ~ „Willst du’s mir nicht langsam mal verraten?“ Schon das dritte Mal hakte Hikari nach und setzte immer wieder ihren Hundeblick auf. Seit knapp einer Stunde saßen sie schon im Zug, unterhielten sich über alles Mögliche. Aber dieses Thema hatte es ihr besonders angetan. Zu groß wurde die Neugierde, dabei erfuhr sie es ja eh bald. Trotzdem blieb Takeru hart und schüttelte nur mit dem Kopf. „Nein. Da wirst du dich wohl oder übel noch gedulden müssen, kleiner Quälgeist.“ Beleidigt blies sie die Wangen auf. „Gemein“, murrte sie und wandte sich gespielt ernst ab. „Ich will dir nur nicht die Überraschung verderben. Du wirst aber gleich erlöst, keine Sorge“, versicherte er und stupste ihr in die Seite. Bevor er heute früh das Haus verließ, war Takeru wirklich angespannt. Die Unterhaltung mit seiner Mutter hatte ihn noch weiter runtergezogen und das musste er nun den ganzen Tag vor seiner Freundin und den Digimon verbergen. Mit dieser Reise wollte er ja die Wogen etwas glätten und ihr Misstrauen entkräften. Da machte sich schlechte Laune alles andere als gut. Zum Glück fiel ihm die Aufrechterhaltung dieser Maskerade nicht sonderlich schwer in ihrer Anwesenheit. So fröhlich wie Hikari war, steckte ihn das prompt an und verleitete ihn dazu, ständig kleine Witze zu reißen. Die beiden amüsierten sich köstlich, allein schon während der Fahrt. Patamon und Gatomon zogen dabei leider den Kürzeren. Stumm saßen sie auf den Schößen ihrer Partner und rührten sich nicht. Stofftier-Modus. Und das, obwohl sie mindestens genauso gespannt waren wie Kari. Keiner außer T.K. kannte das Ziel, das sie ansteuerten. „Und, hat Taichi sich schon in seiner neuen Bleibe eingelebt?“ Nach der etwas unkoordinierten Renovierung folgte schon bald der Einzug des Paares. Ursprünglich strunzte Tai groß herum, er würde eine Einweihungsparty veranstalten, kam aber noch nicht dazu. Erst wenn alles an Ort und Stelle stand. Bei seiner nicht vorhandenen Ordnung trat dieser Fall wohl erst in ferner Zukunft ein. Auf das fertige Werk konnte der Schüler zumindest noch keinen Blick erhaschen. „Er sagt, es wäre sehr ungewohnt. Mimi hat wohl die Hosen an in der Beziehung und diskutiert seit dem Umzug mit ihm, was für ein Haustier sie sich anschaffen. Tai meint, er dürfte eines bestimmen, da er wegen ihrer Arbeit größtenteils für die Pflege zuständig ist. Sie argumentiert aber dagegen, weil Frauen ein besseres Händchen dafür haben, meint sie.“ „Ein besseres Händchen?“ Takeru war sich nicht ganz sicher, was das eine mit dem anderen zu tun hatte. „Jedenfalls besteht Tai auf einen Hund und Mimi will Kaninchen. Die findet er aber wiederum langweilig und sie denkt, ein Hund würde nicht mit Agumon und Palmon zurechtkommen. Nach jedem Gespräch darüber verbleiben sie dabei, es erstmal bei den Digimon zu belassen.“ Ihr Zugabteil lag in kompletter Dunkelheit, passierten sie doch gerade einen langen Tunnel. Nur ab und zu spendete eine kleine Lampe von draußen Licht. „Als könnte man euch mit einem Haustier vergleichen…“ Schmunzelnd streichelte T.K. Patamon, das sich in seine Hand kuschelte. Bei der knappen Beleuchtung hier würde es niemandem auffallen, wenn sich die Kleinen kurz regten. „Ich frage mich die ganze Zeit, ob es mir später auch mal so geht, wenn ich mit jemandem zusammenziehe. Kann ich mir irgendwie noch gar nicht vorstellen…“, murmelte Kari gedankenverloren. „Du musst ja auch nichts übers Knie brechen. Taichi hatte noch den Druck, seine Beziehung durch die Wohnsituation zu belasten. Aber du bist jung und dir stehen alle Türen offen.“ Langsam wurde es heller. Der Ausgang kam näher. „Du hast sicher recht. Mach ich mir am besten später Sorgen darüber. Jetzt gibt es Wichtigeres.“ Nach einer gekünstelten Pause drehte sie sich erneut zu ihrem Sitznachbarn um. „Glaubst du, Davis wird eifersüchtig, wenn er das rausbekommt? Ich hab Yolei erzählt, dass wir zwei zusammen unterwegs sind.“ Vielsagend deutete er auf das Fenster neben sich. „Wenn er hört, wo wir uns rumtreiben, dann sicher ja.“ Im selben Moment schossen sie aus dem Tunnel heraus, der die Sicht auf die große Überraschung freigab, mit der er bis jetzt nicht herausrückte. Karis Augen weiteten sich vor Faszination. Sofort war ihr eins klar: Diesen Tag würde sie nicht so schnell wieder vergessen. Nicht bei dem, was dort in greifbarer Ferne auf sie wartete. Kapitel 12: Lagebesprechung --------------------------- „WIE BITTE?! Warum erfahr ich das erst jetzt?“ Geräuschvoll zerbrach der Keks in Daisukes Mund, stürzte ab und landete direkt in Demiveemons weit geöffneter Futterluke. „Kari hat es mir gestern erzählt, daher weiß ich es“, gab Miyako zurück, sichtlich über sein Benehmen erstaunt. „Mir hat sie nicht mal geantwortet, als ich ihr eine Nachricht geschrieben hab…“ Der Bursche mit der Igelfrisur wurde immer kleinlauter. „Wann war das denn?“ „Gestern Abend um neun.“ Als würde sich durch diese Info alles klären, grinste das Mädchen wissend. „Alles klar. Dann wundert mich das nicht weiter. Sie ist früh ins Bett, weil sie ausgeschlafen sein wollte.“ Eher beiläufig hatte Miyako eben erwähnt, dass Hikari und Takeru zusammen rausgefahren sind und deswegen nicht bei der zweiten Lernsession erschienen. War ja auch nicht weiter schlimm, dafür sprangen sie und der heimgekehrte Cody ein. „T.K, dieser alte Gauner…“ Während er selbst über dem Rest seiner Aufgaben brütete, vergnügte sich dieser Verräter irgendwo mit Hikari! Wobei… viel mehr ärgerte Davis wohl, dass er nicht dabei sein konnte. Seine beiden Kameraden verstanden sich über die Jahre immer besser miteinander, bis kein Blatt Papier mehr dazwischen passte. Auch er musste eines Tages erkennen, wie hoffnungslos seine Bemühungen doch waren, bei Kari zu punkten. Egal wie viel Sympathie sie für ihn übrig hatte – Ihr Herz gehörte einem anderen. Auch wenn sie selbst noch völlig im Dunkeln tappte. Das akzeptierend, richtete Daisuke sein Augenmerk lieber wieder auf seinen schulischen Erfolg. In Sachen Liebe käme schon noch sein großer Auftritt, auch wenn die meisten in seinem Alter bereits die ersten Erfahrungen sammelten. So auch sein bester Freund Ken. Er und seine neue „Errungenschaft“ tauschten immer wieder verstohlene Blicke untereinander aus, lächelten zaghaft. So schüchtern gab sich Ken eher selten. Seine Freundschaft zu Daisuke hatte gezwungenermaßen seinen Kiefer etwas gelockert und ihn geschwätziger als zu Anfang gemacht. Und Miyako- Ach, da brauchte man gar nicht drüber zu reden. Seit wann war die denn so zurückhaltend? …Anscheinend jetzt, wo sie alle dieser neuen Situation ausgesetzt waren. Der Rothaarige erinnerte sich noch gut an das Geständnis des frischgebackenen Paares in dem Café neulich. Da reagierte er mit einer ähnlichen Bestürzung wie eben gerade. Still und heimlich verliebten sich zwei seiner Gefährten ineinander und er ahnte nicht mal etwas. So blind konnte doch selbst er nicht sein… oder etwa doch? „Was glotzt du denn so? Sag bloß, du bist neidisch!“ Davis verzog sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze. Hatte er sie in seinen Gedanken eben noch als zurückhaltend bezeichnet? Schwerer Fehler… „Neidisch? Auf was für abstruse Ideen kommst du eigentlich? Also beneiden tu ich Ken jedenfalls überhaupt nicht.“ „Wie war das?“ Als wäre das nicht schon gemein genug gewesen, streckte er der Lilahaarigen die Zunge raus. Am liebsten wäre sie ihm an den Hals gesprungen. Trotz ihres vorangeschrittenen Alters steckte in dem Jungen immer noch der freche Kerl von früher, der seine große Klappe nicht halten konnte und sie gern provozierte. Ein lautes Räuspern von der Seite unterbrach ihre kleine Kabbelei wieder. Cody schaute streng von einem zum anderen. Sein Blick war so… tadelnd? „Reißt euch mal ein bisschen zusammen. Wir sind hier um zu lernen. Die Köpfe könnt ihr euch wann anders einschlagen!“ „Men! Do! Kote!“, imitierte Upamon die Kampfschreie aus dem Kendounterricht im Hintergrund und sprang aufgeregt auf und ab. Wenn schon Kopfeinschlagen angesagt war, dann aber auch richtig und ordnungsgemäß! Angesäuert knabberte Daisuke an seinem Schreibwerkzeug herum und beugte sich über sein Buch. Doch auch bei genauerem Hinsehen ging ihm kein Licht auf. Er stöhnte leise. „Gemeinheit… Das zahl ich T.K. irgendwann heim!“ Beschwichtigend wedelte Ken mit den Händen. „Die Rachepläne sollten wir lieber auf später verschieben. Wenn du willst, helf ich dir auch gern bei Englisch, Davis. Und wenn du dich mit Yolei gut stellst, hat sie sicher auch nichts dagegen, dir ein wenig unter die Arme zu greifen.“ „Pff… als hätte ich das nötig“, paffte er und brachte damit die Horde zum Lachen. Dabei hatte er doch gar keinen Witz gemacht?! ~ In einem anderen Bezirk der Stadt fiel eine Tür ins Schloss, durch die sich Yamato zuvor schleppte. „Setz dich schon mal, ich bin sofort bei dir“, verkündete Taichi und verschwand Richtung Küche. „Was zu trinken?“, schallte es hinterher. Kurz überlegte der Blonde, bis seine Wahl auf die Limonade fiel, die sein Kumpel ihm im nächsten Satz anbot. Nebenbei ließ er sich aufs Sofa fallen und beäugte den Zustand des Wohnzimmers. Seit des Umzuges hatte sich nicht viel getan. Anscheinend fand Tai noch keine Zeit, alles zu verwüsten. Oder seine Mitbewohnerin gab eine bessere Hausfrau ab als vorher angenommen. „Ist Mimi gar nicht da?“, fragte er mehr desinteressiert und nahm das kühle Getränk dankend an, während der Gastgeber sich ebenfalls dazubequemte. „Ist auf der Arbeit. Wieso? Legst du gesteigerten Wert auf ihre Anwesenheit?“ „Seh ich vielleicht so aus?“ Zur Antwort bekam Yamato ein schiefes Grinsen zurück. „Na ist ja auch egal. Ich würde jetzt viel lieber wissen, was dich herführt. Wo drückt denn der Schuh?“ „Ich hab wohl ganz schön Scheiße gebaut“, gestand der Musiker nach kurzem Zögern. Sein Freund legte die Stirn in Falten und lehnte sich in den kuscheligen Stoff des Sessels. „Das ist ja nichts Neues“, kommentierte er und fing sich einen giftigen Blick dafür. „Schnauze, Yagami. Du solltest nicht immer von dir auf andere schließen.“ Zuerst setzte Tai zum Widerspruch an, sah dann aber relativ schnell ein, dass da durchaus was Wahres dran war. Er zuckte mit den Schultern und wartete auf den Rest der Geschichte. „Ich hatte Streit mit T.K.“ Kurz herrschte Stille zwischen den jungen Männern. Damit hatte der Brünette nicht gerechnet. „Und weiter? Jetzt lass dir doch nicht alles einzeln aus der Nase ziehen.“ Seufzend fuhr sich Matt mit der Hand über die Stirn und beseitigte so ein paar Schweißperlen, die durch die Hitze draußen ihren Weg dorthin fanden. Ähnlich wie sein Bruder redete er nicht gern über Dinge, die ihn bedrückten. Die Funkstille zwischen ihnen ging aber nicht spurlos an ihm vorbei, weshalb er es schlussendlich doch für das Beste hielt, sich jemandem anzuvertrauen. Und der Einzige, der dafür infrage kam, war nun mal Taichi. „Als wir dir neulich beim Streichen geholfen haben, ist er anschließend mit zu mir nach Hause. Er meinte, er müsste dringend mit mir reden. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, aber als ich gehört hab, worum es geht…“ Seine blauen Augen wanderten durch die Gegend, scheinbar auf der Suche nach den passenden Worten, mit denen er den Schlamassel hätte beschreiben können. Nur würde er die hier nicht finden. Mit einem Kopfschütteln beendete er dieses sinnlose Unterfangen. „Ich hab total dicht gemacht und ihm die kalte Schulter gezeigt. Gemeint, es würde mich nicht interessieren. Das hat ihn ziemlich hart getroffen. Und dann ist er ausgerastet, hat mich beschimpft und ist abgedampft. Seitdem haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. So hab ich ihn noch nie erlebt.“ „Es interessiert dich nicht? Wow… so nett gehst du selten damit um, wenn jemand ein Problem hat.“ Tai schloss sich dem Kopfschütteln ebenfalls an. Bei ihm war dies allerdings eine Geste der Verständnislosigkeit. „Aber jetzt, wo du’s erwähnst… Auf mich hat T.K. auch einen sehr nachdenklichen Eindruck gemacht, als er hier war. Ich dachte aber, das wäre nur Einbildung gewesen.“ Yamato sagte nichts dazu, starrte das Glas an, das er zuvor in wenigen Zügen leerte. Lediglich zwei Eiswürfel blieben zurück, die langsam schmolzen und eine wässrige Pfütze bildeten. „Und was willst du jetzt tun? Wenn du ihm mit deiner Ablehnung so auf den Schlips getreten bist, wäre es vielleicht ein feiner Zug, sich bei ihm zu entschuldigen. Auch wenn er im Anschluss ausgetickt ist. Ohne Grund verliert T.K. nicht die Beherrschung dir gegenüber. Er hat dich immer respektiert und zu dir aufgesehen“, argumentierte der Student. Seinem Gegenüber stand das schlechte Gewissen förmlich ins Gesicht geschrieben. Das passte überhaupt nicht zu dem sonst so taffen Mädchenschwarm. „Weiß ich doch, deswegen macht mir das ja solche Probleme. Mir fällt einfach nichts ein, was ich ihm sagen könnte. Er ist echt sauer.“ „Meine Güte, Ishida. Immer noch der alte Dickschädel. Klar ist er sauer, wenn du ihm so vor den Kopf stößt. Wenn ihr euch mit Nichtachtung straft, klärt sich das erst recht nicht. Als großer Bruder wäre es das Vernünftigste, wenn du den ersten Schritt machst.“ Matt zog erwartungsvoll die Brauen hoch. „Dann hast du sicher auch einen ganz heißen Tipp für mich, wie ich das am geschicktesten einfädele.“ „Hmmm…“ Nachdenklich legte der ehemalige Anführer den Kopf schief, grübelte ganz offensichtlich. „Ihr könntet euch zum Beispiel auf neutralem Boden treffen. In einem Restaurant oder so. Da ist die Gefahr nicht so groß, dass ihr euch wieder an die Gurgel geht. Wenn’s etwas gesitteter als letztes Mal abläuft, könnt ihr euch sicher aussprechen!“ Von seinem eigenen Vorschlag begeistert, schlug Tai mit der Faust auf seine geöffnete Handfläche. Die Freude darüber wollte zwar nicht so ganz überspringen, aber das war immerhin schon mal ein Anfang. „Ich weiß nicht so recht. Irgendwie hab ich Sorge, dass das Thema meine Nerven wieder zu stark strapaziert. Damit würde ich alles nur noch schlimmer machen als ohnehin schon“, murmelte er leise. Mittlerweile waren die Eiswürfel komplett geschmolzen. Einzig die übrig gebliebenen Tropfen erinnerten noch an ihre Existenz. „Darf ich fragen, worum es denn bei eurem Streit ging oder ist dir das zu persönlich, um es mir zu sagen?“ Matt fasste sich ein Herz. Wenn sein Genosse um die Thematik bescheid wusste, würde er vielleicht ein gutes Stück weit seine Reaktion nachvollziehen können. „Um unsere Mutter.“ „Ach du dickes Ei…“ Im selben Moment, wie ihm dieser Satz rausgerutscht war, tat es Taichi auch gleich wieder leid. Kein Wunder, dass Yamato nicht darüber reden wollte. Auf seine familiäre Situation war er gar nicht gut zu sprechen. Vor allem nicht, wenn es die Hälfte der Eltern betraf, die er nur alle Jubeljahre mal zu Gesicht bekam. „Sorry“, fügte der Japaner schnell hinzu. Sein Kommentar war alles andere als angebracht. „Willst du noch ein Glas Limo? Ich glaube, das könnte sich noch ein Weilchen hinziehen…“ Ishida schob das Glas von sich weg, mittig auf die Tischplatte. „Hast du auch Bier da? Vielleicht lockert mich das ein wenig auf.“ Kapitel 13: Sanfte Meeresbrise ------------------------------ Sie entließ einen halblauten Schrei, als das kalte Wasser sie ohne Vorwarnung traf. Schützend hielt sie die Hände vors Gesicht, doch auch das rettete sie nicht vor der willkommenen Abkühlung. „Das ist unfair!“, lachte sie vergnügt und tauchte daraufhin unter. Wenigstens eine kleine Chance auf einen ordentlichen Gegenangriff wollte sie haben. Wachsam versuchte er ihren Bewegungen zu folgen, verlor bei den wilden Wellen um sich herum aber schnell den Überblick. Er wollte vorbereitet sein, wenn seine Begleiterin gleich aus dem Nichts heraus vor ihm aufsprang und ihm seinen Spieltrieb heimzahlte. Allerdings rechnete er nicht mit der Raffinesse, die sie dabei an den Tag legte. In seiner Konzentration bemerkte er nicht, wie sie hinter ihn schwamm und ihm mit Schwung ein Bein wegzog. PLATSCH! Eindeutig zehn Punkte für Hikari, die ihr überlegenes Gewinnergrinsen aufrecht hielt, mit verschränkten Armen darauf wartete, bis ihr Freund ebenfalls wieder zum Vorschein kam. Bei seinem geknickten Anblick konnte sie gar nicht anders, als in wildes Gelächter auszubrechen und sich über ihn lustig zu machen. „Solche hinterhältigen Tricks hab ich dir gar nicht zugetraut, Respekt. Und mich vorher noch zur Schnecke machen. Das war ja wohl unfair!“ Seiner Beschwerde schenkte sie gar kein Gehör, zu sehr freute sie sich über ihren geglückten Rachefeldzug. Letzten Endes entpuppte sich ihr Reiseziel nämlich als der weiße Sandstrand und dem leuchtend blauen Meer, wo sie sich nun mal gerade befanden. Schon seit einer halben Ewigkeit tollten sie wie die Kinder herum, spritzten sich gegenseitig nass, veranstalteten ein Wettschwimmen nach dem anderen oder tauchten nach Muscheln und anderen Schätzen auf dem Meeresboden. Dass sein Tag diesen Morgen so bescheiden anfing, vergaß Takeru völlig. Zu viel Spaß machte ihm die Spielerei, bei der er sich richtig austoben konnte. Fernab von den Alltäglichkeiten kümmerte es ihn nicht, was seine Mutter für Geheimnisse hatte und wie wütend er auf Yamato war. Im Moment zählte nur die Zeit, die er mit Kari verbrachte. Seitdem sie ihn damals auf seine Abwesenheit ansprach und sich auch noch selbst dafür verantwortlich fühlte, war Takeru das personifizierte Schuldbewusstsein. Alles wollte er, nur keine solchen falschen Anschuldigungen ihr gegenüber, für die sie sich selbst runterputzte. Umso größer wurde seine Erleichterung über die erfolgreiche Überraschung. Nachdem sie den Tunnel verließen und sie das Meer erblickte, strahlte sie fast noch heller als die Sonne am Himmel. Schon dafür allein lohnte sich die lange Fahrtzeit von ungefähr zwei Stunden. Wenn er selbst den Trauerkloß spielte – Schön und gut. Aber seiner Hika wollte er das um jeden Preis ersparen. „Ich weiß nicht… Sieht mir irgendwie nicht sonderlich ähnlich.“ Gatomon brauchte eine ganze Menge Fantasie, um den Sandklumpen vor sich als das zu identifizieren, was es darstellen sollte: Nyaromon. Während seine eigene Kreation – ein formvollendetes Tokomon – vor Perfektion nur so strotzte, schien sein Spielgefährte mit nicht einmal halb so viel Talent gesegnet zu sein. Die Digimon hatten es sich an einer ruhigeren Stelle des Strandes bequem gemacht, nahe der Klippen, wo sich weniger Leute hintrauten. So fiel es gar nicht weiter auf, dass zwei sprechende Plüschtiere Sandburgen bauten. Da das Katzenwesen nicht gut auf Wasser zu sprechen war und einen trockenen Pelz bevorzugte, war Patamon so nett und blieb ebenfalls an Land mit ihm. „Nicht? Dabei hab ich mir so viel Mühe gegeben…“ Das orange Bündel ließ die Flügel hängen und warf einen weiteren prüfenden Blick auf sein Werk. Nun… Ein Auge war größer als das andere, die Zähne wirkten zu gigantisch und der Rest bröckelte etwas auseinander. Dennoch sah man dem Gebilde an, mit wie viel Liebe und Eifer es zusammengeschustert wurde. „Weißt du was? Es sieht mir vielleicht nicht ähnlich, aber ich finde es gut so!“, beschloss Gatomon und lächelte ihm aufheiternd zu. „Woah, wirklich? Klasse!“ Genau wie es bei ihren Partnern der Fall war, verstanden sich die digitalen Monster untereinander blendend. Ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten ergänzten sich ganz wunderbar, sodass ihnen keine Sekunde langweilig wurde, während T.K. und Kari planschten. „Hach, bin ich froh.“ Begleitet von einem wohligen Seufzer setzte Patamon sich auf den warmen Untergrund, den Blick in die Ferne gerichtet. „Froh? Worüber denn?“, fragte das Kätzchen neugierig und spitzte die Ohren. „Weißt du, in letzter Zeit hat Takeru sich irgendwie seltsam verhalten. Er sitzt die ganze Zeit an seinem Schreibtisch und notiert was in seinem Buch. Nicht mal zum Sport ist er viel rausgegangen, dabei liebt er Basketball doch so sehr. Mir wollte er nicht sagen, was los ist. Ich habe mir echt Sorgen gemacht, aber heute sieht er richtig glücklich aus. Die beiden scheinen riesigen Spaß zu haben.“ Gatomon hätte lügen müssen, würde sich das nicht wirklich verdächtig anhören. Es überlegte kurz, entschied sich dann aber auch dafür, von seinen Beobachtungen zu berichten. „Wenn ich ehrlich sein soll, war Hikari auch sehr komisch die letzten Wochen. Taichi hat sie anvertraut, sie hätte Angst, Takeru könnte sauer auf sie sein. Bei so einer dicken Freundschaft wie der ihren merkt man es sofort, wenn mit dem anderen etwas nicht stimmt. Daran hat sie echt lange geknabbert.“ „Sauer?!“, wiederholte das dickliche Geschöpf ungläubig. Streit gehörte zu einem der wenigen Dinge, mit denen sich die Jugendlichen bislang noch nicht konfrontiert sahen. Meinungsverschiedenheiten? Fehlanzeige. Rangeleien? Höchstens spaßeshalber. Auf einer solch harmonischen Wellenlänge miteinander zu sein, träumte jeder andere nur. Umso mehr schockierte Patamon der Gedanke, Hikari könnte sich für die Ursache von Takerus abweisendem Betragen halten. „So ein Unsinn… Sie hat schließlich nichts getan, was ihn verärgern könnte. Es war doch alles wie immer bei dem DVD-Abend neulich.“ „Schon vergessen? Wir haben tief und fest geschlafen. Keine Ahnung, was in der Zwischenzeit vorgefallen ist.“ „Oh. Da ist was dran…“ Egal, welche Szenarien sich der Langschläfer auch ausmalte, es kam zu keinem nennenswerten Ergebnis. Kein Thema erschien gravierend genug, als dass es der Auslöser für einen Streit zwischen den Freunden sein könnte. Von dieser Tatsache überzeugt, schüttelte Patamon sich. „Aber wenn sie nicht zerstritten sind… was war dann los?“ Unschlüssig schauten sich die Digimon an. Existierte dafür überhaupt eine befriedigende Antwort? Womöglich lag es am bevorstehenden Ende der Sommerferien, den liegen gebliebenen Hausaufgaben… vielleicht sogar einfach an der Jahreszeit, in der es so oft regnete und alles an solchen Tagen trüb und düster wirkte. Für derartige Schlussfolgerungen fehlte ihnen eindeutig das Verständnis. Kari und T.K. standen vor vielerlei Problemen, auf die Wesen wie sie niemals stoßen würden. Digimon und Menschen blieben eben immer verschieden. „Jedenfalls“, unterbrach Gatomon die Rätselraterei, „Es geht ihnen schon viel besser, was auch immer sie bedrückt hat. Sieh dir die zwei doch mal an.“ Auf den Pfotenzeig hin wandte sich der kleine Flieger erneut den Kindern zu, die anscheinend nass genug waren und langsam wieder Richtung Festland trotteten. „Du hast recht. Wir sollten uns lieber freuen, dass sie wieder fröhlich sind“, stimmte Patamon zu. „Bin ganz schön aus der Puste.“ Takeru schnaufte hörbar und machte es sich auf der Sonnenliege bequem, auf der er sein Handtuch ausgebreitet hatte. „So was mal aus deinem Mund zu hören. Dabei habt ihr Basketballer doch immer eine Ausdauer, mit der ihr alles und jeden in den Schatten stellt.“ Klang fast so, als scherte sie alle Anhänger dieses Sports über einen Kamm. Wobei es ja so gesehen gut auf ihn zutraf. Seine Gegner staunten meist nicht schlecht, mit was für einem Energiebündel sie es zu tun bekamen. „Das macht das Wasser. Darüber haben wir mal in Physik gesprochen, soweit ich weiß. Irgendwelche Kräfte in der Flüssigkeit, die einen physikalischen Effekt hervorrufen, durch den man sich federleicht fühlt, in Wahrheit aber gegen einen enormen Widerstand ankämpft.“ Bei dem Geschwafel nahm er sich selbst kaum ernst, währenddessen verdrehte Hikari auch schon genervt die Augen. Ausgerechnet Physik. Der kleine Bruder von Mathematik, den niemand leiden konnte. Katastrophal, wie unspannend der Unterricht jedes Mal ablief. Nur der Lehrer war stets von seinen eigenen Ausführungen begeistert. Erkannte man genau an seinen funkelnden Augen, als würde er gerade irgendwo einen Schatz ausbuddeln. Anstatt weiterhin an diese grauenvollen Szenarien erinnert zu werden, kniete sich die Schülerin neben die Kleinen und bestaunte die Figuren, die sie während ihrer Abwesenheit erbauten. „Na, was macht ihr denn hier? Das sieht ja spitze aus!“ „Findest du, Kari? Wir dachten, wir vertreiben uns mit einem kleinen Wettbewerb die Zeit. Wer das hübschere Sanddigimon baut, gewinnt. Und, was sagst du?“ Der Unterschied zwischen den Bildungskünsten stach ihr förmlich ins Auge. Dennoch stand Patamon mit vor Stolz geschwellter Brust vor ihr und blinzelte sie hoffnungsvoll an. Breiten Lächelns schloss sie die Digimon in die Arme und drückte sie an sich. „Wisst ihr was? Ich finde beide klasse. Die nehmen sich absolut gar nichts.“ Leichte Enttäuschung schummelte sich auf die Gesichter der zwei, doch auch dafür hatte Hikari eine passende Lösung parat. „Wollt ihr nicht zusammen eine Figur bauen? Euer Teamwork kann keiner schlagen, da kommt sicher was viel Schöneres bei raus am Ende.“ Von ihrem Vorschlag angeheizt, sprangen sie zurück und machten sich gleich an die Arbeit. Hikari verschlug es anschließend zurück zum Liegestuhl, auf dem sich Takeru mit geschlossenen Augen sonnte. Sie setzte sich neben ihn, kuschelte sich in das Handtuch, das auf ihren Schultern ruhte und blickte hinaus auf das blaue Wasser. „Ich bin ehrlich sprachlos“, gestand sie leise, fuhr sich mit der Hand durchs feuchte Haar. „Als du mich gefragt hast, ob wir zusammen wegfahren wollen, dachte ich mir schon, dass es toll wird. Aber das hier hat meine Erwartungen um einiges übertroffen. Wie bist du auf das Meer gekommen?“ „Hmmm…“, machte er, als müsste er noch einmal ernsthaft seine Beweggründe überdenken. „Ich dachte, es würde dir gefallen. Und eine Abkühlung ist bei dem Wetter doch genau das richtige.“ „Ist das schon alles?“ Takeru öffnete seine Augen, wollte zu ihr aufsehen. Die Sonne aber blendete ihn, sodass die einzige Rettung für seine verbleibende Sehkraft seine Hand darstellte, mit der er kurzum die helle Scheibe am Himmel verdeckte. Fragend musterte er die Brünette. „Wie meinst du das? Braucht es einen bestimmten Grund, damit wir uns hier vergnügen dürfen?“ „Nein, du Dödel.“ Schmunzelnd verpasste sie ihm einen sanften Klaps. „Ich habe nur das Gefühl, als wäre dieser Ort etwas Besonderes für dich. Du siehst aus, als wärst du angekommen. Irgendwie… glücklich, befreit.“ Er staunte immer wieder über die Einfühlsamkeit dieses Mädchens. Normalerweise tat sie sich etwas schwer damit, sein Verhalten zu deuten. Heute schien es ihr aber leichter zu fallen als sonst. Sie hatte sein Spiel sofort durchschaut. Ein trauriges Lächeln wanderte auf seine Lippen. „Ich kam vor vielen Jahren mit meiner Familie hierher. Es war zwar nur ein Kurzurlaub, aber ich hatte noch nie so viel Spaß wie an diesen Tagen. Einen Monat später haben sich meine Eltern dann getrennt.“ Schlagartig entglitten Hikari sämtliche Gesichtszüge. Die Scheidung war ein absolutes Tabuthema, das sie nie anschneiden wollte. Sie empfand es als höchst taktlos, ihn darauf anzusprechen, auch wenn T.K. sich nie etwas anmerken ließ. Er schüttelte den Kopf, richtete sich neben ihr auf. „Obwohl es mir so gefallen hat, verblasst die Erinnerung langsam. Damals war ich einfach noch zu klein. Deshalb wollte ich noch mal mit jemandem herkommen, der…“ Er hielt inne. „…der mir viel bedeutet. Und ich bin froh, dass meine Wahl dabei auf dich gefallen ist.“ „Keru…“ „Jetzt guck doch nicht so. Es ist alles gut. Trübsal blasen kannst du auch nächste Woche in Physik.“ Als sie auch auf diesen Gag nicht ansprang, nur den Blick senkte, sah er sich gezwungen, seinen letzten Trumpf auszuspielen. „Hikaaa…“ Ein erschrockener Laut entwich ihrer Kehle. Ohne Vorwarnung hatte Takeru von hinten seine Arme um sie gelegt, platzierte sein Kinn auf ihrer Schulter. „Vorschlag zur Güte: Wir bleiben noch ein-zwei Stündchen, planschen ein bisschen und dann gehen wir fein essen. Ich lad euch ein.“ „Das kann ich doch nicht annehmen. Zuerst bringst du mich her und dann willst du mir auch noch das Essen ausgeben? Kommt ja wohl gar nicht in die Tüte! Ich bezahle schön selber!“ „Zwing mich nicht, dich durchzukitzeln, Fräulein. Ich lade euch ein, Punkt.“ „Ist das dein letztes Wort?“, fragte sie den Kopf zu ihrer rechten. „Ja, allerdings.“ „Dann müssen wir das wohl in einer Wasserschlacht auf Leben und Tod ausfechten.“ Der Blondschopf ließ von ihr ab, stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Du hast keine Chance.“ Angriffslustig funkelte sie ihn an. „Das werden wir ja sehen!“ So schnell sie ihre Beine trugen, rannten die Teenager zurück in die Fluten. Erleichterung machte sich in Takeru breit. Seine Hika lachte wieder. Und auch ihm hatte sie für wenigstens einen Tag sein Strahlen zurückgeschenkt. Dass sie so auf seine Geschichte reagieren würde, erwartete er nicht. Doch es zeigte ihm erneut, wie viel ihr an seinem Glück lag. Ihm zuliebe schluckte Hikari den Kloß in ihrem Hals herunter und versuchte den Gedanken an eben zu verdrängen, auch wenn es ihr weiterhin unangenehm war. Für nichts auf der Welt wollte sie es riskieren, diesen traurigen und tiefgründigen Blick von ihm heraufzubeschwören, den sie in den letzten Wochen so sehr fürchtete. Lieber tobte sie weiter mit ihm herum, hoffte, ihn so von seinem Kummer ablenken zu können. ~ Drei Stunden später fanden sie sich im Zug nach Hause wieder, begleitet von einem malerischen Sonnenuntergang und einem gesunden Appetit. „Ich glaube, wir müssen dringend darüber reden, wie du „feines“ Essen definierst.“ „Wieso? Schmeckts dir nicht?“ Überrascht und mit prall gefüllten Backen unterbrach der Junge seine Nahrungsaufnahme. So sehr wie es ihm mundete, konnte Takeru sich gar nicht vorstellen, dass es bei ihr in irgendeiner Art und Weise anders sein könnte. Hikari hingegen senkte die Stäbchen. Auf ihren Schößen und in den Pfötchen der Digimon lagen die Fertig-Bentos, die T.K. fünf Minuten vor der Abfahrt am Bahnhofskiosk gekauft hatte. „Doch, aber irgendwie habe ich etwas anderes erwartet“, erwiderte sie und ließ das nächste Stückchen Omelette in ihrem Mund verschwinden. „Eigentlich war das auch anders geplant. Ein Restaurant wäre mir lieber gewesen, aber das wäre unfair Patamon und Gatomon gegenüber. Die hätten wir ja unmöglich mit an den Tisch setzen können. Und hier im leeren Zugabteil kümmert es keinen, wenn sie sich die Bäuche vollschlagen.“ „Danke für das Essen!“, riefen die beiden synchron und schlangen weiter ihre Portionen herunter. „Verstehe. Das ist ja lieb von dir.“ „So bin ich eben“, grinste er und widmete sich ebenfalls wieder seiner Packung. Verträumt guckte Hikari ihm dabei zu. Dieser Tag läutete das Ende ihres letzten gemeinsamen Sommers ein. Sie war dankbar. Dankbar für eine so wunderschöne Erinnerung wie diese. So viel Spaß hatte sie schon lange nicht mehr und auch die Laune ihres besten Freundes hellte der Trip merklich auf. Je mehr Sorgen von ihm abfielen, desto entspannter wurde auch sie. Auch wenn sie sich trotzdem fragte, was seinen plötzlichen Stimmungswechsel verursachte. „Hab ich was im Gesicht?“ Erst jetzt bemerkte Kari, dass sie ihn die ganze Zeit über anstarrte. Statt aber nervös zu werden oder einen Funken Scham zu zeigen, kicherte sie nur. „Lass uns nächsten Sommer wieder herkommen. Nur wir beide und unsere Digimon.“ Der Erklärung halber fügte sie noch hinzu: „Damit die Erinnerung daran frisch bleibt.“ Ihre Worte ließen Takeru unweigerlich lächeln. So viel Wärme und Liebe steckte hinter dem, was sie sagte. Und mit jeder neuen Minute, die sie gemeinsam verbrachten, wurde ihm mehr bewusst, warum gerade sie diejenige war, an die er sein Herz verloren hatte. „Gern. Du schuldest mir schließlich noch eine Revanche.“ Für nichts auf der Welt würde er diese herzlichen Momente mit ihr eintauschen. Selbst wenn sich ihre Wege bald trennten, so hoffte er, ihre tiefe Freundschaft zueinander überstand diese Hürde und blieb weiter beständig. So gern er ihr auch die Wahrheit sagen und von seinen Gefühlen erzählen wollte, so bremste er sich jedes Mal, wenn er wieder kurz davor stand, es zu tun. Zu viel stand auf dem Spiel. Zu hoch war der Preis, den er bei einem Fehlschlag bezahlte. Lieber wachte er im Stillen an ihrer Seite, als sie auch noch zu verlieren. Kapitel 14: Die Bombe platzt ---------------------------- Während im Hintergrund die Schulglocke das Ende des Tages einläutete, packte Takeru wie mechanisch seinen Kram ein und ließ ihn in der Tasche verschwinden. Dem Unterricht hatte er nur sporadisch Aufmerksamkeit geschenkt, immer mal zwischendurch. Und das, obwohl es gerade mal die erste Woche nach den Ferien war. Normalerweise passte er auf wie ein Lux, legte der Junge doch so viel Wert auf schulische Bildung und gute Noten. Heute aber konnte er sich einfach nicht dafür begeistern. Zum Glück verabschiedete ihr Lehrer sie vor fünf Minuten ins rettende Wochenende, um diese Farce zu beenden. „Hey, Takeru!“ Von Daisukes Stimme geweckt, drehte sich der Angesprochene um. „Wir gehen nachher alle ins Kino und anschließend übers Wochenende zu mir nach Hause für eine Pyjamaparty. Hast du Lust, mitzukommen?“, fragte ihn sein Kumpel, neben ihm Hikari, die erwartungsvoll lächelte. Ein Wochenende mit seinen Freunden? Mit Kino, DVD-Abenden und Kissenschlachten? Vielleicht sogar ein Ausflug in die Digiwelt, wenn sie Lust bekamen? Nichts lieber als das. Außerdem besaß Daisukes Mutter eine Kochkunst, von der so manch anderer nur träumte. Kein Wunder, dass ihr Sohn in Zukunft mit einem fahrbaren Ramenshop um die Welt reisen wollte, wobei ihm sein miserabler Orientierungssinn dabei sicher im Weg stand. Beinahe wäre Takeru eine Zusage rausgerutscht, so verlockend klang das Angebot. So gern er auch hingegangen wäre, verlangte Natsuko ausgerechnet heute, er solle sich die folgenden Tage freihalten und zügig heimkommen nach der Schule. „Sorry, hab leider schon was vor, sonst wäre ich auf jeden Fall dabei.“ Den beiden sah man die Enttäuschung deutlich an und T.K. wohl sein schlechtes Gewissen. Sofort winkte Davis ab und gab ein lockeres „Kein Problem“ zurück, „Ist zwar schade, aber lässt sich wohl nicht ändern. Falls du doch möchtest, komm einfach vorbei. Du weißt ja, wo ich wohne.“ „Klar. Ich wünsch euch dann mal viel Spaß.“ Seinen Rucksack über die Schulter werfend, verließ der Blonde die Klasse und begab sich auf den Heimweg. „Sag mal…“ Nachdenklich sah Davis seinem Klassenkamerad hinterher, bevor er sich an Kari wandte. „Bilde ich mir das ein, oder ist T.K. in letzter Zeit schlecht drauf?“ Die Brünette schwieg. Ihr bester Freund gab sich wie immer, lächelte und begegnete jedem unverändert freundlich und höflich. Wieso fühlte sie sich dann so schlecht bei seinem Anblick? Unentschlossen zuckte sie mit den Schultern, wusste nicht recht, was sie ihm antworten sollte. „Er weiß, dass er uns vertrauen kann. Wenn ihn etwas bedrückt, wird er uns früher oder später sicher davon erzählen“, erwiderte sie, schaute aus dem Fenster. „Komm, lass uns gehen, Davis. Ich will noch kurz nach Hause, bevor es losgeht.“ ~ „Bin wieder da“, verkündete der Schüler, der soeben durch die Tür der Familie Takaishi trat. Seit dem Frühstück überlegte er fieberhaft, was für eine „Überraschung“ Natsuko bereithielt, auch wenn es wohl recht offensichtlich war. Bei dem Gedanken daran wurde ihm wieder ganz unwohl. Es traf ihn völlig unvorbereitet an diesem Tag damals. Als er auf dem Weg zum Café war, wo er sich mit Miyako und den anderen treffen wollte, bemerkte er kurz vor seinem Ziel auf der gegenüberliegenden Straßenseite seine Mutter. Eng umschlungen mit einem Kerl, den er noch nie gesehen hatte. Nachdem sich die beiden dann auch noch küssten, brannte bei Takeru eine Sicherung durch. Er musste weg. Sofort. All die Jahre gab es nur sie beide. Sie waren ein so eingespieltes Team und selbst wenn ihre familiäre Situation gewöhnungsbedürftig war, kehrte so etwas wie Alltag bei ihnen ein. Trotzdem hielt er stets an seinem Wunsch fest. Jener Wunsch, aus dem sein Wappen heraus entstand. Hoffnung, dass seine Eltern irgendwann wieder zueinander fanden. Mit dieser Entdeckung erstarb dieses Gefühl aber in ihm. Natsuko hatte kein Interesse daran, sich mit dem Vater ihrer Kinder zu versöhnen. Und während sie ihrem Sohn Zettel an den Kühlschrank klebte, dass sie wieder mal länger im Büro brauchte, er derweil allein zu Hause hockte, und sie sich in der Zeit wohl mit ihrem Liebhaber vergnügte… Takeru könnte explodieren vor Eifersucht. Diese Geheimniskrämerei machte ihn rasend. Es fiel ihm so unheimlich schwer, seinen Unmut vor ihr zu verbergen. Dass etwas nicht stimmte und er abweisend ihr gegenüber reagierte, hatte Natsuko sicher bemerkt. Aber ahnte sie, was der Grund dafür sein mochte? Bevor er seiner Mutter einen Vorwurf machen würde, hätte T.K. sich lieber die Stimmbänder durchgeschnitten, um nicht im Eifer des Gefechts ein falsches Wort zu verlieren. Er liebte sie doch und wollte, dass sie glücklich war. Das verdiente sie. So lange arbeitete sie hart, verdiente im Alleingang das Geld, kümmerte sich liebevoll um ihren kleinen Jungen… Takeru war der Einzige, der ihr zuhörte und ihr eine Stütze bot. Damit ersetzte er aber keinen richtigen Partner, an dessen starke Schulter sie sich lehnen konnte. Der Teenager musste sich damit abfinden, wenn es einen neuen Mann in ihrem Leben gab. Auch wenn es ihm das Herz brach. Manchmal gab es einfach Dinge, auf die man keinen Einfluss nehmen kann. Wem seine Mama ihre Zuneigung schenkte, entschied allein sie selbst. In seinen Augen gab es deshalb nur eine einzige Möglichkeit. Für Natsukos Glück würde er seine Gefühle zurückstellen. Der Traum war endgültig ausgeträumt. Seine Mutter Natsuko, sein Vater Hiroaki, sein Bruder Yamato und er, Takeru. Es würde nie wieder ein wir geben. Auf leisen Sohlen näherte sie sich ihrem Sohn. Obwohl er sie erst spät bemerkte, erkannte er noch flüchtig ihren besorgten Gesichtsausdruck. Schlug sich da etwa jemand mit Gewissensbissen herum? „Schön, dass du wieder da bist. Wie war’s in der Schule?“, begann sie, zupfte sich ihre Strickjacke zurecht. Rein platonische Frage zum Konversationsstart. Zumindest machte sie keinen besonders interessierten Eindruck. Der Blondschopf zuckte etwas unbeholfen die Schultern und antwortete: „Anstrengend und ziemlich langweilig.“ Sie nickte, äußerte sich aber nicht näher dazu. Bildete er sich das ein, oder war sie nervös? Eigentlich brauchte Natsuko meist nicht lange, um die richtigen Worte zu finden. War bei ihr so was wie eine Berufsanforderung. Nur heute schien sie mit sich zu hadern. „Was wolltest du mir eigentlich heute Morgen sagen?“, fragte Takeru und schob sich an der Erwachsenen vorbei in die Küche. Sein erster Weg führte ihn zum Kühlschrank und einer Flasche Cola, die er gestern darin deponierte. „Das sollten wir nicht zwischen Tür und Angel besprechen. Würdest du dich bitte zu mir setzen?“ Gesagt, getan. Fünf Minuten später saßen sich Mutter und Kind am Esstisch gegenüber. Natsuko griff nach der Hand ihres Kleinen, streichelte sanft darüber. „Weißt du, es gibt da etwas, wovon ich dir noch nichts erzählt habe.“ Ihr Griff festigte sich. „Vor einem halben Jahr habe ich jemanden kennengelernt. Einen Mann.“ Ein halbes Jahr ging das schon so? Wie blind war er denn, dass das völlig an ihm vorbeiging? „Einen Mann?“, wiederholte Takeru mit rauer Stimme. Die Anspannung färbte langsam auf ihn ab, was man wohl deutlich hörte. „Ja. Sein Name ist Tetsuya Sarusawa und ich kenne ihn durch ein Interview, was ich mit ihm geführt habe. Wir verstanden uns auf Anhieb gut, trafen uns ein paar mal…“ Sie tat sich wohl sehr schwer damit, ihm die Wahrheit zu sagen. „Ich will ganz offen zu dir sein. Tetsuya und ich führen eine Beziehung miteinander.“ Takeru schluckte. Also stimmte es wirklich. Da sie nicht weiter sprach, erwartete sie anscheinend eine Reaktion von ihm. Er biss sich auf die Zunge, setzte dann aber sein wärmstes Lächeln auf. „Echt? Das ist ja super! Endlich hast du wieder jemanden gefunden. Ich freu mich für dich, Mama.“ Erleichterung schlich sich auf Natsus Gesicht. Vor diesem Gespräch hatte sie sich so sehr gefürchtet. Auf T.Ks Meinung legte sie viel Wert. „Da bin ich beruhigt“, murmelte sie, „Es ist nämlich so, dass er dich gerne kennenlernen würde.“ Der Schüler entzog sich ihrer Berührung und zeigte irritiert auf sich selbst. „Mich?“ Bekräftigend nickte sein Gegenüber. „Er ist Vater eines Jungen und als ich ihm von dir erzählt habe, wollte er dich unbedingt mal mit eigenen Augen sehen. Deshalb solltest du zeitig von der Schule kommen. Ich habe einen Tisch bei unserem Lieblingsitaliener reserviert. Wärst du so lieb, mich dorthin zu begleiten?“, beendete Natsuko ihre Erklärung. Das war also die Überraschung – Die Bombe, die endlich platzte. Der Moment, auf den er so lange wartete. Obwohl ihm allein schon der Gedanke widerstrebte, stimmte er sofort zu. „Wenn du das so willst, klar. Warum nicht?“ Takeru musste dem Typen begegnen, der der Wiedervereinigung seiner Familie im Wege stand. Zu gerne wollte er mit eigenen Augen sehen, woran er seit Wochen seelisch zerbrach. Kapitel 15: Erste Begegnung --------------------------- Gegen Abend stand T.K. unschlüssig vor dem Wandspiegel im Flur. Normalerweise reichte seine gewöhnliche Freizeitkleidung, wenn er mit seiner Mutter Essen ging. Dieses Mal hatte er jedoch das ungute Gefühl, einen Dresscode einhalten zu müssen, um weder sich selbst, noch Natsuko zu blamieren. Der erste Eindruck zählte nun mal mehr als ihm lieb war. Seufzend drehte er sich um und verschwand in seinem Zimmer, ließ sich aufs Bett fallen. „So ein Mist aber auch…“ Da er vor der Tür schon die klackernden Absätze hörte, dauerte es wohl nicht mehr lange. Noch konnte er kneifen. Wobei Takeru blöderweise einer von der Sorte war, der seine Versprechen hielt. Auch wenn draußen ein Tornado tobte, er würde sich trotzdem bis zum Lokal schleppen. Zu schwer wog seine Angst davor, die Enttäuschung in Natsus Augen zu sehen. Wie man es auch dreht und wendet – Dieser Typ bedeutete ihr etwas. Dass sie sich bei ihren Liebsten untereinander auch ein wenig Harmonie wünschte, stand wohl außer Frage. Nur war sich der Teenager noch nicht sicher, wie sich das umsetzen ließ. Wenn er jetzt schon mit so einem schlechten Gefühl im Bauch losging, konnte es dann überhaupt gut laufen? „Takeru?“ Er öffnete die Augen und entdeckte direkt über seinem Gesicht Patamon, das ihn fragend musterte. „Was ist denn mit dir? Ich dachte, du freust dich immer so, wenn ihr essen geht.“ Von dem Treffen hatte T.K. zwar berichtet, aber für seinen kleinen Freund schien der Grund für seine Nervosität immer noch nicht ganz ersichtlich. Bei diesem Anblick musste er leise kichern. Patamon erinnerte ihn zu sehr an ein kleines, naives Kind, das sich die Tragweite der Ereignisse nicht im Entferntesten vorstellen konnte. Schließlich richtete er sich auf und ließ sich zu einer Erklärung herab, während sein Digimon es sich auf seinem Schoß bequem machte. „Normalerweise schon, da hast du recht. Heute gehen wir aber nicht wegen des Essens hin, sondern wegen dem Freund meiner Mutter. Sie will, dass ich ihn kennenlerne.“ „Ist das denn schlimm?“, kam die Gegenfrage zurück. „Na ja…“ Am liebsten würde er mit einem eindeutigen >Ja< antworten. Für Takeru fühlte es sich schlimm an. Total hin und hergerissen zwischen dem Glück seiner Mutter und seinen eigenen Empfindungen, wusste er bald gar nicht mehr, was er von der Sache halten sollte. „Schlimm nicht“, entschied er, „Aber ungewohnt. Seit meiner Kindheit ist Mama alleinstehend. Nach meinem Vater gab es keinen Mann mehr in ihrem Leben. Ich weiß wohl nicht so recht, wie ich damit umgehen soll.“ Zumindest die halbe Wahrheit sagte er. Patamon war – von Hikari abgesehen – sein allerbester Freund, dem er blind vertraute. Eine gute Anlaufstelle, um über bedrückende Gefühle zu reden. „Mach dir mal keine Sorgen, Takeru.“ Verwunderung zeichnete sich in der Mimik des Jungen ab. Obwohl es nicht alle Details kannte, schien sich das Wesen seiner Worte sicher. „Wenn deine Mama diesen Mann liebt, muss er ein guter Mensch sein. Alles andere würde nicht zu ihr passen.“ Er musste zugeben, dass durchaus was Wahres an dieser Aussage dran war. Dabei hieß es doch: „Gegensätze ziehen sich an“. Jedenfalls lag es außerhalb seiner Vorstellungskraft, Natsuko würde sich in den Fiesling des Jahrhunderts verlieben. Mit etwas Glück stellte sich der heimliche Verehrer doch als netter Kerl heraus. Das fand er aber nur heraus, wenn er sich mit ihm an einen Tisch setzte und ihn nicht gleich mit seinen Vorurteilen erschlug. „Da hast du gar nicht mal so Unrecht, mein Kleiner. Vielleicht sollte ich mich überraschen lassen“, stimmte Takeru zu und tätschelte seinem Partner den Kopf, „Geben wir dem Ganzen einfach eine Chance.“ „T.K, bist du fertig? Wir müssen langsam mal los!“, klopfte es an seiner Tür und unterbrach die Unterhaltungen zwischen den beiden. Ein letzter prüfender Blick zu Patamon und seine Entscheidung fiel. „Ich versuch’s mit der Krawatte.“ 20 Uhr. Primetime im Restaurant „Gino’s“. Gleich beim Reingehen stieg Takeru dieser leckere Duft von gebratenem Fleisch und delikaten Soßen in die Nase. Ein guter Grund, warum er dieses Lokal so liebte. Allein schon die Atmosphäre entspannte einen. Leise Musik spielte im Hintergrund, wurde fast schon von dem klappernden Besteck und den Stimmen der Leute übertönt. Im Gebäude selbst befanden sich für normale Verhältnisse wenig Gäste. Zu dieser Jahreszeit nichts Ungewöhnliches. So wie er seine Mutter kannte, hatte sie ebenfalls einen Tisch auf der Terrasse bestellt, von der man den wunderschönen Garten sah, der eher typisch japanisch gehalten wurde. Bei so sommerlichen Temperaturen verschlug es die Mehrheit nach draußen. Ein Wunder, dass die Betreiber überhaupt noch einen Platz für sie frei hatten. Nach einer kurzen Unterredung an der Theke, gaben Natsuko und ihr Sohn ihre Garderobe ab und ließen sich vom Kellner in den Hinterbereich führen. Vorbei an den wohl geordneten Tischen, obwohl Takerus Aufmerksamkeit weniger auf der Einrichtung lag, sondern viel mehr auf den gut befüllten Tellern der anderen. Was für ein wundervoller Gedanke, so einen gleich selbst vor der Nase stehen zu haben. So folgte er wie auf Autopilot gestellt seinem Vordermann nach außerhalb und fand sich keine dreißig Sekunden später an einem Tisch für vier wieder. Natsuko bedankte sich bei dem Mitarbeiter und blickte dann erwartungsvoll zu dem Mann, der sich schwungvoll von seinem Stuhl erhob und sie strahlend anlächelte. Takeru blieb förmlich die Spucke weg, als sich die beiden umarmten und einen flüchtigen Kuss austauschten. Diesen Abend musste er sich bestimmt sehr zusammenreißen. Diese Vertrautheit zwischen ihnen sah er gar nicht gern. Trotzdem ließ er sich nichts anmerken und wartete geduldig darauf, bis sich ihm der Fremde zuwandte. „Du bist bestimmt Takeru. Hast dich aber echt rausgeputzt. Das wäre doch gar nicht nötig gewesen“, lachte der Ältere und reichte ihm die Hand. Sah er wirklich so lächerlich aus mit der Krawatte und dem schneeweißen Hemd? Okay, seine verstrubbelten Haare passten wohl nicht so recht zu dem restlichen – wie geleckten Äußeren – Aber was sollte er schon dagegen tun? Für gewöhnlich versteckte er seine wilde Mähne ja auch unter seinem Hut. Nur empfand er das als äußert unhöflich und ließ das zusätzliche Kleidungsstück entsprechend weg. Sein Gegenüber machte allerdings auch keinen weniger gepflegten Eindruck. Normale Jeanshose, ebenso weißes Hemd und darüber einen blauen Pullunder. Auf seiner Nase parkte eine unscheinbare Brille, hinter der ein blitzendes Paar Augen hervorstach und seine fast dunkelbraunen Haare wirkten auch ein wenig durcheinander. Wobei ihn das nicht weniger sympathisch vom Anblick her machte. Nicht ganz sicher, was er dazu sagen sollte, erwiderte der Schüler den Händedruck. Er lächelte schief und murmelte ein zaghaftes „Freut mich.“ „Ich heiße Tetsuya Sarusawa und das ist mein Sohn, Satoru.“ Mit einer ausladenden Handbewegung deutete er auf die vierte Person im Bunde. Gelangweilt schaukelte der Dreikäsehoch mit den Beinen hin und her, den Kopf auf beide Hände aufgestützt und er zog eine Schnute, wie Takeru sie noch nie gesehen hatte. Bei Satoru handelte es sich um einen schätzungsweise acht Jahre alten Jungen mit schwarzen Haaren und einer sehr… anstrengenden? Ausstrahlung. „Willst du den beiden nicht auch hallo sagen, Sato?“, forderte sein Vater ihn auf und strubbelte ihm über den Kopf, was er mit einem leisen Knurren quittierte. Einen prüfenden Blick auf die Neuankömmlinge werfend, zischte das Kind und brachte ein leises „Tach“ über die Lippen. Takeru setzte sich auf dem ihn angebotenen Platz. Klar, die Sache musste ja irgendeinen Haken haben. So saß er nun diesem Gör gegenüber, das sich nicht sonderlich an dem Hindernis – nämlich T.Ks Beinen – störte und weiter satt ausholte und zutrat. Was für ein reizendes Kind. Statt den Knirps zurechtzuweisen, hielt sich der Blondschopf brav zurück und ignorierte das Getrampel unter dem Tisch. Früher oder später wäre er sicher mit dem Essen beschäftigt und machte nicht mehr so einen Alarm. Damit er auch ja die Nerven behielt und dem Zwerg keinen bösen Blick zuwarf, schnappte er sich die Karte und wandte sich der wichtigsten Frage zu: Mit welcher Speise überdauerte er diesen „perfekten“ Abend des Kennenslernens, ohne einem „unschuldigen“ Kind den Hals umzudrehen? Kapitel 16: Verhärtete Fronten ------------------------------ Endlich die Erlösung. Mit einem freundlichen „Buon appetito“ stellte der Kellner einen dampfenden Teller Polpette in Paprikasauce vor Takeru ab. Auf gut Deutsch fiel seine Wahl also auf Spaghetti mit Fleischbällchen, die der Koch mit einer handvoll Basilikumblätter dekorierte. Natsuko und Tetsuya teilten sich beide eine Salamipizza. Sie war noch nie eine große Esserin und schaffte gerade so mit Ach und Krach die Hälfte von den Portionen, die ihr Sohn so verdrückte. Da hatte sich ihr Freund netterweise bereiterklärt, ihr beim Verzehr zu helfen. Satoru hingegen hatte sich für ein Rindersteak mit Pilzsalat entschieden, eines der teureren Gerichte auf der Karte. Der Salat ließ ihn schon mal völlig kalt, denn er stürzte sich gleich gierig aufs Fleisch, wie ein wilder Tiger auf seine Beute. Von Tischmanieren fingen wir lieber gar nicht erst an. Die besaß dieses Kind nämlich nicht. So drängte sich Takeru permanent die Frage auf, ob die überschwängliche Aufgeschlossenheit und der Frohsinn Tetsuyas Grund für die Entgleisungen in der Erziehung seines Sohnes sein konnten. Da die Erwachsenen sich gerade in ihr Gespräch vertieften, begann Takeru zu essen und schaute sich ein wenig um. Die Terrasse, auf der sie saßen, war eine Art Anbau an das Restaurant und mit einem aus Holz bestehenden Dach versehen. Unter ihren Füßen befanden sich fliesenartige Kacheln, deren grauer Farbton recht gut zu dem Gemäuer hinter ihnen passte. Zwei lange Tischreihen – mal zwei bis drei aneinander stehende, dann wieder Einzeltische – waren dort aufgebaut. In der Mitte entstand dadurch eine kleine Passage, die die Mitarbeiter nutzten, um die voll beladenen Tabletts unfallfrei von A nach B zu bugsieren. Trotz der allgemeinen Hektik, die eben in so einem Laden bestand, verrichteten die Angestellten ihre Arbeit eher gemächlich, um ja niemanden zu stören. Allein das schon fand Takeru so unglaublich entspannend. Er hatte sich sogar vorgenommen, Hikari an ihrem nächsten Geburtstag auf ein Festessen hierher einzuladen. Seine Aufmerksamkeit steuerte direkt den Garten an, der eindeutig den Blickfang des Gesamtbildes darstellte. Neben den üppigen und mit Blumen bepflanzten Grasflächen fand sich dort ein kleiner Teich mit einem künstlich angelegten Wasserfall. Das Wasserspiel, das durch die kühle Flüssigkeit spielerisch hin und herwippte, ging bald unter dem lauten Rauschen ein wenig unter. Zu guter letzt stand noch eine Art Gartenhaus aus weißem Marmor etwas abseits, obwohl es äußerlich eher an eine Art Minitempel erinnerte. Jeder Nachbar wäre neidisch geworden, hätte man so etwas hinter der Garage stehen gehabt. „Also, Takeru“, riss Tetsuya ihn aus seinem gedanklichen Exkurs über Gartenlandschaftsbau, „Erzähl doch mal ein wenig von dir. Es interessiert mich brennend, was für ein Mensch du bist!“ Dem Mann stand die Erwartungsfreude deutlich ins Gesicht geschrieben. Irgendwie bekam es der Schüler nicht recht voreinander, woher diese ganze Begeisterung rührte. Höflicherweise kaute er noch aus, ehe er antwortete: „Na ja… ich bin siebzehn Jahre alt, besuche die Abschlussklasse der Oberstufe und meine Hobbys sind Basketball und meine Freunde.“ Über die Digiwelt bewahrte er lieber erstmal Stillschweigen. Es handelte sich dabei um kein Thema, das für jedermann bestimmt war. „Basketball? Ist ja cool. Wie lange spielst du schon?“ „Seit der Mittelschule. Ich bin momentan Kapitän unserer Schulmannschaft.“ Das Strahlen in den Augen seines Gegenübers wurde immer größer. „Sato spielt Fußball. Ihr könntet ja vielleicht mal zusammen spielen, um euch besser kennenzulernen“, schlug Tetsuya vor. Kam nur nicht so gut an wie gewollt. Während Satoru eine angewiderte Fratze zog, runzelte Takeru vielsagend die Stirn. Wenn er schon zwingend zum Fußball griff, dann tat er das lieber mit Daisuke oder Taichi. Bei denen musste er nicht befürchten, jede Sekunde gebissen zu werden. „Lieber nicht.“ Satorus Worte folgten einer unglaublich unangenehmen Stille und verwunderten seinen Vater ziemlich. Als ihn die anderen eindringlich musterten, stöhnte er genervt auf. „Der „Kapitän“ hat sicher was Besseres zu tun.“ Auf den Punkt getroffen. Anstatt hier Blind Date mit diesem Giftzwerg zu spielen, könnte er den Abend gemütlich mit seinen Freunden verbringen. Das wäre Takeru tausendmal lieber gewesen. Was er nicht alles seiner Mutter zuliebe tat. „Ach, sei doch nicht so schüchtern, Kleiner. Ich wette, Takeru würde sicher zusagen, wenn du ihn lieb fragst.“ Den prüfenden Seitenblick von Tetsuya erwiderte der Blonde mit einem flotten Nicken. Guter Eindruck, guter Eindruck… Jetzt wurde es dem Bengel aber langsam zu bunt. Nun hatte er sich schon zu diesem Treffen überreden lassen und dann sollte er auch noch einen auf gut Freund machen mit diesem Mr. Perfect, der die ganze Zeit anteilnahmslos seine Pasta in sich reinschaufelte?! Allein schon der Gedanke daran machte ihn wütend. „Bist du schwer von Begriff? Ich kann den nicht leiden!“, schnauzte der Junge und sorgte damit kurz für Sprachlosigkeit. Der etwas lautere Tonfall erregte außerdem die Schaulust einiger anderer Gäste. „Satoru, benimm dich gefälligst! Das war sehr unhöflich! Entschuldigt bitte, ihr beiden“, wandte der Braunhaarige sich an seine Verabredung. Die Entgleisung seines Sohnes war ihm mehr als peinlich. Natsuko wedelte nur abwehrend mit der Hand. Sie hatte Verständnis für dieses störrische Verhalten. Es war für sie alle schwierig, mit dieser Situation umzugehen. „Kein Thema. Ihr müsst ja nichts überstürzen. Essen wir erstmal.“ Takeru sagte schon gar nichts mehr dazu. Er fühlte sich nicht danach, eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Weder vor den Sarusawas noch irgendwem anders der hier anwesenden. Seinen Frust spülte er mit einem großen Schluck Cola herunter. Einerseits beruhte die Antipathie auf Gegenseitigkeit, andererseits handelte es sich bei Satoru um ein Kind. Dass er noch kein Gefühl für den nötigen Anstand besaß, konnte man ihm wohl kaum anlasten. Insgeheim erging es T.K. gerade nicht anders. Zumindest gedanklich, wo er sich ein Loch im Erdboden herbeisehnte, durch das er hätte verschwinden können. Der Wunsch ging nur leider nicht in Erfüllung. Trotzdem war er der Meinung, er wäre als Spross nicht halb so anstrengend gewesen. Er wusste sich zu benehmen. ~ Gelangweilt starrte Patamon an die Zimmerdecke, an der eine kleine Spinne entlang spazierte. Es blieb zu Hause und wartete auf die Rückkehr seines Partners. Das Thema Digimon sollte auch weiterhin ein Geheimnis bleiben, weshalb es sich nun in Geduld üben musste. Und die brauchte es auch ganz dringend. Vor zwei Stunden waren Mutter und Sohn aufgebrochen und laut Takerus eigener Aussage würde es spät werden. Also rechnete das Kerlchen mit keinem allzu baldigen Wiedersehen. Freundlicherweise hatte der Schüler ihm die Schreibtischlampe angelassen und für das leibliche Wohl eine Portion selbstgemachter Sandwiches bereitgestellt, die sich bereits allesamt im Bauch des Fliegers tummelten. Dennoch machte das den Umstand, allein zu sein, auch nicht besser. Unkontrolliert ließ sich Patamon über das Bett kullern, versuchte irgendeine Art Spaß daraus zu ziehen. Schnell sah es die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens ein und stoppte seine Bewegungen. Stattdessen wurde es nachdenklich. „Takeru war vorhin echt komisch. So nachdenklich. Ich frage mich, ob er wirklich so ein großes Problem damit gehabt haben könnte, dass seine Mama einen Freund hat.“ Für das Digimon war es schwer begreiflich, warum sein bester Freund sich seit geraumer Zeit so seltsam verhielt. Genau genommen seit dem Tag, an dem sie mit den anderen im Café verabredet waren. Damals verstand es die Tragweite dieser Entdeckung absolut nicht. Heute ehrlich gesagt auch nicht sonderlich. Aus dem Fernsehen hatte es mal aufgeschnappt, Liebe sei eine ganz wundervolle Sache. Warum also machte es Takeru dann traurig? …Traurig? Patamon zog einen Schmollmund. Das war alles so verdammt kompliziert und seltsam. Lag es am Unterschied zwischen Mensch und Digimon, dass es nichts damit anfangen konnte? Nein, sicher nicht. Mit ein bisschen mehr Mühe und Elan würde sich ihm der Zusammenhang bestimmt erschließen. Nun ging das Gekullere wieder los, von dem es sich erhoffte, es förderte in irgendeiner Weise die Hirnaktivität und erleichtere ihm den Denkprozess. Als Takerus treues Anhängsel war es seine Pflicht, ihm zu helfen und das Problem aus der Welt zu schaffen. Und dass etwas nicht in Ordnung war, lag praktisch auf der Hand. So viel Feingefühl besaß der orange Ball dann doch. „Ob er es mir erzählen würde, wenn ich ihn darauf anspreche? Aber er redet doch nicht gern über seine Sorgen… und seine Eltern.“ Erschrocken hielt es inne und krallte sich in der Bettdecke fest. „Was, wenn ich mit meiner Fragerei alles nur noch schlimmer mache?!“ Die Überlegung jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. In seiner Unbedarftheit konnte dieser Fall schneller eintreten als ihm lieb war. Und ihn noch bedrückter als ohnehin schon zu sehen, wollte Patamon überhaupt nicht. Heftig schüttelte es den Kopf, setzte den entschlossensten Blick überhaupt auf. „So darf ich gar nicht denken. Takeru und ich haben uns sehr lieb. Wenn er mir erklärt, was los ist, werde ich ihn verstehen. Und wenn ich dann versuche ihn zu trösten, werden diese Gefühle ihn bestimmt erreichen. Es muss einfach so sein!“ Patamon war sich seiner Position bewusst. Schon lange reduzierte Takeru es nicht mehr auf den Stellenwert eines sprechenden Plüschtieres; eines Digimon; eines Partners oder Freundes, wenn er das überhaupt je getan hatte. Es gehörte zur Familie. Und von dem Digiritter hatte es bereits vor vielen Jahren während ihres ersten Treffens erfahren, wie kostbar eine Familie ist. Etwas Wertvolles, das es zu beschützen galt. Nur weil es keine Gegner mehr gab und Frieden herrschte, beendete das noch lange nicht Patamons Aufgabe. „Genau! So mach ich das!“ Von seiner Idee begeistert, rollte es wieder hin und her, erfreute sich des Lebens – Verlor dann aber das Gleichgewicht und machte unliebsame Bekanntschaft mit dem harten Teppichboden. „Urks…“, presste es hervor. Der Bauchklatscher tat ganz schön weh. Zu allem Überfluss erkannte es schemenhaft vor seinen Augen ein gewisses achtbeiniges Tier, das sich langsam herabseilte und es sich auf seiner Nase bequem machte. „Ha… haa… haaaa… Hatschi!“ Wo auch immer es die Spinne durch die Wucht hinverschlug – Sie befand sich nun an einem besseren Ort. Dem kleinen Kauz blieb jedenfalls keine Zeit mehr, in Ruhe darüber nachzudenken. Irritiert lauschte es, als es meinte, die Wohnungstür gehört zu haben. Und tatsächlich! Da näherten sich kontinuierlich trampelnde Schritte dem Zimmer. „Oh, Takeru! Du bist ja schon wieder da!“, begrüßte es den Blonden entzückt und flog hoch auf dessen Schreibtisch. Doch irgendetwas schien nicht zu stimmen. Die Bewegungen des Jungen wirkten hektisch, seine ganze Haltung war angespannt, während er sich die Krawatte vom Kragen riss und sich aus seiner Kleidung schälte, um etwas Bequemes anzuziehen. Achtlos warf er Hemd und Hose aufs Bett und griff anscheinend willkürlich nach dem erstbesten Fetzen, den er im Kleiderschrank zu fassen bekam. „Ist alles in Ordnung? Du sagtest doch, es würde spät werden…“ Endlich reagierte Takeru und schaute sein Digimon mit einer Mischung aus Trauer und Kraftlosigkeit an. „Ich möchte nicht so gern darüber reden, okay?“ Patamons toller Plan, ihn gleich auszufragen und den Ursprung seines seltsamen Verhaltens auszumachen, war sofort auf Eis gelegt. Diesen Blick kannte es nur zu gut und es erzählte ihm, wie aufgewühlt sein Freund sein musste. Wenn er schon darum bat, Stillschweigen über das Thema zu bewahren, würde es ihn nicht noch weiter damit quälen. Etwas unsicher nickte es und stimmte mit einem leisen: „O-Okay, tut mir leid“ zu. Statt weiter nachzubohren, beobachtete es, wie Takeru seine Tasche nahm, ein paar Klamotten und anderes Zeug hineinstopfte und anschließend zu seinem Tisch wanderte. „Hättest du Lust, übers Wochenende bei Davis zu übernachten? Er hat mich eingeladen, aber wegen des Treffens heute musste ich absagen“, erklärte er beiläufig, während er auf dem obersten Blatt seines Blockes eine kurze Notiz an seine Mutter verfasste. „Davis? Klar, das wäre sicher toll.“ Vielleicht war Ablenkung nun genau das Richtige für ihn. Auch wenn sich Patamon noch immer fragte, was wohl vorgefallen sein könnte. „Prima.“ In T.Ks Mimik erkannte es so etwas wie Erleichterung und Freude. „Dann gehen wir am besten gleich los“, fügte er hinzu, setzte sich seinen Hut auf und schnappte sich seine fertig gepackte Tasche. Er deutete seinem Partner an, dass auf seiner Schulter noch ein warmes Plätzchen frei sei. Am besten machte er sich so schnell wie möglich aus dem Staub. Noch bevor es Natsuko ebenfalls wieder nach Hause verschlug. Einzig der handgeschriebene Zettel auf seinem Pult erinnerte an seine zeitweilige Anwesenheit. Ich bleibe das Wochenende über bei einem Freund. Bitte tu mir den Gefallen und lass mich solange in Ruhe. Bin dann Sonntagabend wieder zurück. Takeru < Kapitel 17: Ein neues Gesicht ----------------------------- „Davis, wer schummelt, wird zeugungsunfähig.“ Ein Schmunzeln zog sich durch die Runde, als ihm der Schreck ins Gesicht stand. Da hatte sie wohl einen wunden Punkt erwischt mit ihrem Kommentar. „Wer erzählt denn so einen Mist? Das hör ich zum ersten Mal! Außerdem… wer soll hier schummeln?!“, stellte sich der Angeklagte gespielt dumm. Allmählich verlor Miyako ihre Geduld mit ihm. „Wer absichtlich zwei Karten mehr zieht, hat sich in meinen Augen des Betruges schuldig gemacht. Hab ich schon erwähnt, dass lügen unfruchtbar macht?“ „Pff… Dann kauf dir ne neue Brille. Scheint was nicht in Ordnung zu sein mit den runden Dingern in deinem Kopf.“ Demiveemon, das in Daisukes Schoß hockte, war verwirrt. „Aber Davis“, fing es an, „Warum hast du dann acht Karten und nicht sechs, wie die anderen?“ Aufgeflogen. Am liebsten hätte er dem Gnom seinen Hals umgedreht. So ein großes Plappermaul! Bevor er es jedoch zu fassen bekam, hüpfte es davon und versteckte sich zwischen den anderen Digimon. „Du kleines Ungeheuer…“, zischte Daisuke, legte anschließend aber die Hand in den Nacken und lachte hysterisch. „Ach, waren das echt acht? Ich Tollpatsch!“ Er betete inständig, dass seine Wangen nicht halb so sehr glühten, wie es sich gerade anfühlte. Das käme nämlich ungefähr einem Feuerwehrauto gleich. Obwohl Betrug alles andere als lustig war, mussten seine Freunde doch herzlich lachen. Solche Auftritte waren einfach typisch für Daisuke. Bislang verlief das Treffen sehr ruhig und harmonisch. Daheim angekommen, hatte Davis gerade mal genügend Zeit, sich aus seiner Uniform zu schälen, bis die ersten Gäste eintrudelten. Zuerst Cody und Upamon, dann Yolei und Poromon, zusammen mit Ken und Wormmon. Hikari und Gatomon kamen ungefähr zehn Minuten später. Eigentlich wären sie ja damit komplett –bis auf Takeru – gewesen, hätte ihr Gastgeber nicht noch eine Überraschung eingeplant, die kurz darauf vor der Tür stand. Lange schwarze Haare, die ihr weit bis über den Po ragten. Gegensätzlich dazu ein schneeweißes Sommerkleid, das ihre schlanke Figur perfekt betonte und zum Schluss das kleine Ding auf ihrer Schulter, welches neugierig in die Menge blinzelte. Schnell löste Davis das Rätsel um die geheimnisvolle Schönheit und stellte sie als seine Emailbekanntschaft Yukina Himekawa, kurz: Yuna vor. Von Koushiro erhielt er vor einiger Zeit den Tipp, mal einen Blick auf ein Internetforum zu werfen. Ein Forum, speziell für Digiritter aus aller Welt, die sich dort kurzschließen und über verschiedenes austauschen konnten. Man stieß zwar auf die eine oder andere Sprachbarriere, doch zu seinem Glück gab es auch diverse Japaner, mit denen er sich unterhielt. Eine davon war eben Yuna. Sie schien eine der wenigen Personen zu sein, die das so genannte „Internetphanömen“ nicht betraf. Sobald man sich mit jemandem gut verstand, stellte man fest, dass er am anderen Ende der Welt oder zumindest weit genug weg wohnte, damit ein Treffen wohl nie in Frage käme. Yunas Wohnung dagegen befand sich im West-End-Viertel. In der Nähe des Ortes, an dem Taichi und die anderen damals ihren ersten Kontakt mit den Digimon hatten und den spektakulären Kampf zwischen Greymon und Parrotmon beobachteten. Das lag für Davis nur wenige Stationen mit der Bahn entfernt. Einem Kennenlernen stand also nichts und niemand im Weg. Jedenfalls kannten sie sich nun schon ein paar Monate. Ungefähr seit Anfang des Schuljahres ging die Chatterei schon. Einige Verabredungen hatten sie auch schon und was sollte man sagen? Sie verstanden sich ganz wunderbar. Daher hielt Davis es auch für kein Problem, sie zu dem Übernachtungswochenende einzuladen. Selbstverständlich kam sie aber nicht allein, sondern in Begleitung des Wesens, dem sie den Kontakt zu unseren Helden erst verdankte. Aus seinen strahlend grünen Augen schaute es drollig drein und grinste frech. Ein augenscheinlich graziles und unscheinbares Megadigimon, dessen Aussehen dem einer kleinen Fee gleichkam. Es trug um seinen Hals einen heiligen Ring und aus seinem Rücken ragten zwei kleine Flügel, sowie eine Art Fühler aus seinem Kopf. Mit seinen kleinen Ärmchen hielt es sich an Yunas Schulter fest und verdeckte so zum Teil das rote Herzchen auf seinem Bauch. Die Rede war von Marineangemon, ihrem treuen und sehr verschmusten Partner. Laut Yunas eigener Erklärung konnte ihr Digimon als eines der wenigen nicht sprechen. Es beherrschte nur ein einziges Wort: „Puh“. Obwohl nun zur Debatte stand, inwieweit das als richtiges Wort durchging. Außerdem besäße es eine Vorliebe für Schokolade und alles, was damit in Verbindung stand. Da ihr >Marineangemon< etwas zu lang erschien und sie es am Anfang häufig vergaß oder irgendwie durcheinander brachte, taufte sie das Kerlchen kurzerhand auf den Spitznamen Chocolat um. So viel dazu. Es dauerte nicht lange, bis die Neulinge sich in die Gruppe integrierten und auf einer freundschaftlichen Basis miteinander umgingen. Nach einem kurzen Frage-Antwort-Spiel mit Yuna begaben sich die Jugendlichen nach draußen und spazierten eine Weile durch die Gegend, schauten mal hier, mal da. Was es für neue Angebote in der Fußgängerzone gab, was der Eismann dazu sagte, dass dieser wundervolle Rock so unverschämt viel kostete… Ja, Yolei konnte sich gut über so was aufregen. Unterwegs trafen sie noch Taichi und Mimi, die ebenfalls zum Bummeln in die Stadt kamen. So drückte es Mimi freundlicherweise aus. Bummeln hieß bei ihr shoppen, mit Tai als Packesel. Wie sollte man sonst seinen freien Tag genießen und ins Wochenende starten? Blöd in der Bude hocken und Fußball gucken? Nein, ganz sicher nicht! Im Haushalt Yagami/Tachikawa herrschte ein strenges Regiment. Ihr Weg führte sie in ihr Stammcafé, wo sie erstmal eine Weile mit dem Paar über alte Zeiten plauderten, Dinge, die seit ihrem Umzug so passierten, und, und, und. Vor allem Hikari interessierte sich dafür, was ihr Bruder nun so trieb. Ob er seine schlechten Angewohnten immer noch nicht abgelegt hatte. Manches änderte sich wohl nie. Wenn Taichis Name auf dem Putzplan stand, blieb aus Prinzip die Hälfte liegen. Schmutziges Geschirr stapelte sich, auf einmal verschwand jeder linke Socken und die Staubschicht auf dem Sideboard war gefühlt drei Meter dick. Wie schön er die Uni immer als Vorwand, beziehungsweise Ausrede dafür benutzte. Zu blöd nur, dass die Heftseiten immer völlig leer waren, wenn Mimi diese zufällig mal in die Finger bekam. Womit auch immer sie ihm daraufhin meistens drohte, musste ganz schrecklich grausam sein. Zumindest strahlte die Wohnung nach einer solchen Unterredung meist in völlig neuem Glanz. Ja… Mädchen waren gruselig. Das bekam Taichi deutlich zu spüren. Gegen seinen Willen ging also irgendwann die Shopperei weiter und Davis und die anderen steuerten ebenso ihr nächstes Ziel an. Das Kino. Yolei wollte unbedingt den neuen Liebesfilm sehen, rannte bei Davis aber keine offenen Türen ein. „Den willst du doch nur gucken, damit du und Ken nachher unbedingt im dunklen Saal rumknutschen könnt, wenn keiner hinsieht!“, merkte er an und sorgte damit beinahe wieder für eine waschechte Keilerei. Zur weiteren Auswahl standen noch ein Actionfilm, ein Krimi und eine Komödie. Durch die fairste Methode der Welt (Schere-Stein-Papier), fiel die Entscheidung auf die Komödie. Anfangs hielt sich die Begeisterung zwar stark in Grenzen, doch drei Stunden später, als sie wieder das Tageslicht erblickten, war das Gelächter groß. Wieder zurück in Daisukes Wohnung, saßen sie nun hier und spielten Karten, wobei durch seinen versuchten Betrug auch erstmal eine kleine Pause anstand und sich nur locker unterhalten wurde. Hikari sah aus dem Fenster. Es war schon recht spät und die Sonne konnte man nur noch weit hinten am Horizont erahnen. Den Tag mit ihren Freunden hatte sie wirklich genossen. Es machte so viel Spaß, herumzualbern und es tat gut, die Gedanken an die bald nahenden Prüfungen beiseite zu schieben. Und das war erst der Anfang. Samstag und Sonntag sollte es munter weitergehen. Da Davis sturmfrei hatte, gab es auch niemanden, der sie störte. Natürlich aber auch keine liebe Mutter, die ihnen leckeres Essen kochte. Seine Eltern waren übers Wochenende zu Besuch bei Jun, die mit ihren 23 Jahren schon wacker auf eigenen Beinen stand und mit einigen Freundinnen in eine WG zog. Was die Mädels da so veranstalteten, wollten Herr und Frau Motomiya zu gern mal wissen. Dem Gespräch ihrer Kameraden lauschte Kari schon gar nicht mehr. Soweit sie das beurteilen konnte, ging es gerade sowieso nur um eine Diskussion darüber, welche Passage im Film die beste sei. Dazu hatte sie tatsächlich nichts beizutragen. Auf jeden Fall nichts, was nicht schon jemand anderes ansprach. So hing sie lieber etwas ihren Gedanken nach. Seit einer Woche gingen sie schon wieder zur Schule und jeden Tag begleitete sie nach Unterrichtsschluss ihren besten Freund Takeru nach Hause, wo sie den Nachmittag über verbrachte, bis ihre Mutter von der neuen Arbeit heimkam. Nach einigem Überlegen nahm Kari sein Angebot einfach an. Besser als daheim allein zu sitzen und Löcher in die Luft zu gucken. Da er in so ziemlich derselben Situation war, konnten sie sich ja auch zusammentun und gemeinsam die Zeit totschlagen. Nur heute lief es ganz anders. Schon den ganzen Morgen über kam Takeru ihr so nachdenklich vor. Während der Pause sagte er kaum ein Wort, nur wenn ihn jemand direkt ansprach. Und dann seine Absage zu dem Treffen hier. Das musste irgendwie in Verbindung zueinander stehen. Wegen seines schnellen Abgangs wagte sie es auch nicht, ihm zu folgen und zur Rede zu stellen. So wie sie ihn kannte, würde er so oder so bestreiten, dass etwas nicht in Ordnung sei. Vielleicht hatte er aber auch etwas Schönes vor und war einfach nur aufgeregt deswegen. Konnte ja sein. Eins stand jedoch fest. Er fehlte ihr. Wenn sie hier alle so beisammen saßen, lachten und sich unterhielten, bekam sie glatt ein schlechtes Gewissen. Takeru liebte es, Zeit mit seinen Freunden zu verbringen und sie erinnerte sich noch genau, wie sehr seine Augen bei ihrem Campingtrip neulich strahlten. Oder während der Erledigung ihrer Sommerhausaufgaben. Ihm hätte es sicher auch Spaß gemacht, mit ihnen zu übernachten und herumzublödeln. Ohne seine Anwesenheit waren sie einfach nicht komplett. Wie es das Schicksal aber so wollte, blieb das nicht lange so. „Was haltet ihr davon, wenn wir uns eine Pizza bestellen? Ich sterbe vor Hunger!“, jammerte Davis und hielt sich den Bauch, als würde er jede Sekunde an seinem Befinden verenden. „Du hattest doch vorhin erst ein riesiges Stück Kuchen, als wir mit Tai und Mimi unterwegs waren.“ Verständnislos schüttelte Yolei den Kopf. Ein echter Vielfraß, dieser Kerl. „Ich könnte aber ehrlich gesagt auch einen Bissen vertragen“, meldete sich Cody zu Wort und auch vom Rest kam ein einstimmiges Nicken zurück. Yuna fügte noch hinzu: „Es ist zwar schon spät, aber ausnahmsweise sollte man sich so was auch mal erlauben. Wir könnten ja im Gegenzug dafür morgen was leckeres zusammen kochen.“ „Genau!“, bestätigte Ken, „Ihr habt doch einen Grill draußen, Davis. Wie wär’s mit Barbecue?“ „Und Sonntag stellen wir uns dann in die Küche und zaubern einen Eintopf! Oder Curryreis! Vielleicht auch…“ Kari lächelte bei der Vorstellung an das Festmahl, das ihnen wohl bevorstand. Deshalb hielt sie sich auch nicht gerade mit ihren Vorschlägen zurück. Wenn sie hungrig war, hatte sie einfach Appetit auf alles, was man ihren Hüften aber kein Stückchen ansah. Außerdem würden sie mit Sicherheit etwas Gesundes und Nahrhaftes zubereiten. Als dann gerade zur Sprache kam, was denn für ein Belag auf die Pizza sollte, klingelte es an der Tür. „Sag bloß, du hast die Pizza schon heimlich bestellt, Davis“, raunte Yolei ihm zu und schaute ihn erwartungsvoll an. Der Junge mit der Fliegerbrille zuckte nur mit den Schultern, erhob sich etwas gequält, da ihm die Beine eingeschlafen waren. „Nicht dass ich wüsste. Also werde ich wohl nachsehen müssen…“ Etwas ungeschickt stolperte er aus seinem Zimmer heraus, durch den dunklen Flur und landete schließlich bei der Wohnungstür. Wortwörtlich, da er das Gleichgewicht verlor und auf der Nase landete. „Verdammt… Immer muss mir das passieren…“ Davis knurrte beleidigt. Nachdem er sich wieder aufraffte, zog er die Tür mit Schwung auf und starrte verdattert in das Gesicht seines Gegenübers. „Abend, Davis. Was dagegen, wenn wir euch ein wenig Gesellschaft leisten?“, lächelte Takeru ihm entgegen und hob zur Begrüßung die Hand. Patamon, das hinten auf seinem Rucksack hockte und ihm über die Schulter schaute, tat es ihm gleich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)