Der Blick fremder Augen von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: Ohnmacht ------------------- Nur mit Mühe konnte Sam die Augen öffnen. Vorsichtig blinzelte er, doch was er sah ließ ihn erstarren. Er kannte diesen Ort nicht. Die ersten Sekunden war das Bild verschwommen, erst nach kurzer Zeit wurde es zunehmend klarer. Seinem ersten Eindruck nach war er in einem Kellergewölbe. Steinerne Wände blickten ihm entgegen. Er versuchte den Kopf zu drehen und sich umzusehen, doch mit Entsetzen musste er feststellen, dass dies nicht möglich war. Sam schien keine Kontrolle über seinen Körper zu haben. Er konnte nicht einmal seinen Kopf drehen. Gerade als er sich fragte, ob er gefesselt war, bewegte sich sein Körper. Langsam schlurfte er vorwärts und wandte sich nachts rechts. Vor ihm ragte ein massiver Steintisch auf. Blutspritzer zierten dessen Fläche. Ohne etwas dazu beizutragen sah er nach unten. Eine Hand griff nach einem blutigen Skalpell. Nicht seine Hand, wie er feststellte. Die Finger waren lang und knochig, überhaupt nicht mit den seinen zu vergleichen. Angst stieg in ihm hoch. Was war hier los? Panik machte sich in ihm breit, doch körperlich konnte er nichts fühlen – nicht mal sein Herz, das angesichts der grotesken Situation gerade rasen müsste. Die Person – die er zu sein schien – zückte ein Tuch und wischte das Messer sorgfältig ab. Sam vernahm ein kehliges Lachen. Es war ganz in der Nähe, als würde er lachen. Aber er tat es nicht. Der Körper, in dem er sich befand lachte. Es war ein hohes, gruseliges Lachen, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Nicht mehr lange“, flüsterte nun die unbekannte Stimme, die zu dem Körper gehören musste. „Bald bist du wieder mein.“ War noch jemand im Raum oder sprach die Person zu sich selbst? Vielleicht träumte er nur. Er erinnerte sich nicht, was zuletzt passiert war. Verschwommen tauchte das Bild einer toten Frau in seinem Geist auf. Doch bei dem Versuch diese mögliche Erinnerung zu greifen, entglitt sie ihm schon wieder. Wahrscheinlich war dies nur ein absurder Traum. Doch so surreal es auch war, fühlte es sich für ihn echt an. Gerade als er sich fragte, was als nächstes Geschehen würde, wurde es wieder schwarz um ihn herum...   Nach Luft ringend fand Sam sein Bewusstsein wieder. Die Bilder vergangener Minuten irrten noch in seinem Kopf, weswegen ihn das Sonnenlicht, das seine schweren Lieder belagerte, zunehmend verwirrte. Seine Hände zitterte, wie er feststellte, als er sich die Augen rieb. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Er blickte sich müde um und erkannte das Gesicht seines Partners. Sorgenfalten zierten dessen sonst so entspannte Mine, mit der er sich über Sam gebeugt hatte. Sam wollte etwas sagen, doch brachte er noch kein Wort heraus. Beim Versuch sich aufzusetzen griffen gleich mehrere Arme nach ihm und halfen ihm. Verwundert sah er zu der anderen Seite. Der Polizist, der sie zum Tatort geführt hatte war neben ihm, seine Züge nicht weniger besorgt. „Mann, was war das denn?“, hörte er Dave auf ihn einreden. „Wieso hast du mir nicht gesagt, dass es dir nicht gut geht? Du hättest dich bei dem Sturz ganz schön verletzten können!“ Er wusste, dass sein Freund vorwurfsvoll klingen wollte, jedoch konnte Sam die Erleichterung in seiner Stimme nur schwer überhören. „Mir geht es gut“, versicherte Sam ihm nun. Er machte einen Versuch aufzustehen, um den Umstehenden zu beweisen, dass er das nicht nur so sagte, doch wurde er gleich wieder auf den kalten Rasen gedrückt. „Nichts da! Officer? Holen Sie meinem Kollegen etwas zu trinken“, wandte er sich an den Polizisten, der mit einem leichten Nicken der Aufforderung umgehend nachkam. „Und jetzt zu dir, du hast mir echt einen Schrecken eingejagt! Was war denn los?“ Sam antwortete nicht sofort. Nachdenklich strich er sich die Haare aus dem Gesicht. Anders als bei einem Traum hatte er die Bilder seiner Ohnmacht klar vor Augen. Die bröckeligen Mauern des Kellers, die knochigen Finger dieser unbekannten Person und nicht zuletzt dessen markerschütternde Stimme, die ihm noch jetzt eine Gänsehaut bescherte. Was hatte das alles zu bedeuten? Er blickte seinen Partner an. Sollte er Dave davon erzählen? Er hatte die Befürchtung, dass dieser sich nur noch mehr Sorgen würde oder ihn gleich zu einem, Psychiater schicken würde, also beschloss er die Sache erst mal für sich zu behalten. Sie hatte ohnehin nichts zu bedeuten. Bei so viel Tod um sich herum, war es für Sam nicht ungewöhnlich derartige Träume zu haben und den anderen Agents erging es da sicher nicht besser. Der Polizist kam mit einer ungeöffneten Flasche zurück. Dankend nahm Sam sie entgegen, öffnete sie und ließ das kalte Wasser seine Kehle runter rinnen. Er hatte vorher gar nicht bemerkt, dass sein Mund trocken war, doch empfand er die klare Flüssigkeit jetzt als Wohltat. „Ich weiß auch nicht“, begann er nun vorsichtig das Geschehene zu erklären. „Mir war auf ein mal ziemlich schwindlig und ehe ich mich versah, war ich auch schon bewusstlos. Mach dir darüber keine Gedanken, mir geht es wirklich gut.“ Sam sah dem Blondschopf an, dass dieser wenig überzeugt war. Ein Seufzen entglitt Dave. „Na gut, aber mir wäre es trotzdem lieber ich würde dich zu einem Arzt fahren. Nur um sicher zu gehen.“ Entschieden winkte Sam ab. „Ärzte braucht man nur, wenn man krank ist und das bin ich nicht.“ Ohne sich nochmal daran hindern zu lassen, erhob sich Sam und klopfte sich die Erde von der Hose. Argwöhnisch blickte er zu der Leiche. Er hatte nur wenige Schritte neben ihr gelegen. Es war mehr als Glück, dass er nach hinten gefallen war. Andernfalls hätte er wertvolle Beweise verunreinigen können. „Ich denke wir sind fertig hier. Ist die Spurensicherung schon da?“, fragte er seinen Kollegen und ignorierte dabei seinen tadelnden Blick. Diesem blieb dennoch nichts anderes übrig als zu nicken und damit war das Thema für Sam beendet. Ohne auch nur ein weiteres Wort über den Vorfall zu verlieren machten sich die beiden auf den Weg zurück ins Büro. Dennoch bestand Dave darauf diesmal selbst zu fahren. Er ließ sich nicht davon abbringen und so stimmte Sam zähneknirschend zu.   Wieder im Büro begann der für Sam unangenehme Teil seiner Arbeit. Bis jetzt hatte er sich erfolgreich davor gedrückt und lieber seinen Partner Dave nach Einzelheiten befragt, doch konnte jedem ein wichtiges Detail entgehen und so blieb ihm nichts anderes übrig als die archivierten, ungelösten Fälle, die mit dem Raven Killer in Verbindung gebracht wurden, durchzukauen. Im Allgemeinen liebte er seine Arbeit. Es faszinierte ihn, wie Kleinigkeiten, Hinweise, die teilweise banal und unschuldig wirkten, den Fall auf eine ganz andere Spur lenken konnten. Die Anspannung, wenn man wusste, dass man kurz davor war das Rätsel zu lösen, man nur noch das letzte Puzzleteil zusammensetzen musste, das war es, was für Sam den Reiz ausmachte. Viele beneideten ihn darum, dass er mit Schusswaffen arbeitete und bewaffnet durch die Gegend laufen durfte, aber das war für ihn nicht relevant. Es war ein notwendiger Schutz, mehr aber auch nicht. Sich dagegen unzählige Akten und Berichte durchzulesen ermüdete ihn. Auch, wenn das ein oder andere wichtig für ihre weitere Arbeit werden konnte. Der Mittag wich dem Nachmittag und schließlich setzte die Dämmerung ein. Sams Augen tränten bereits von der trocknen Luft im Büro. Er wusste nicht mehr, wie viele Kaffee er getrunken hatte, seit er auf seinem Stuhl Platz genommen und den zähen Ausführungen vorangegangener Ermittler und Pathologen seine Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Die Ergebnisse waren mehr als ernüchternd. So sehr er sich auch anstrengte, konnte er an den Morden per se keine Zusammenhänge finden. Natürlich gab es die Rabenfeder. Stets tauchte sie an jedem Tatort in der Hand des Opfers auf. Aber ansonsten? Der Täter hatte seine Opfer meist verbluten lassen oder ihnen andere tödliche Wunden zugefügt, doch war es selten, dass ein Serienkiller dabei unterschiedlich vorging. Manchmal schnitt er die Opfer der Länge nach auf, entnahm Organe oder amputierte gar komplette Gliedmaßen. Dann wieder war es ein einfacher Schnitt durch die Kehle, sauber und zielsicher. Auch die Wahl seiner Opfer schien willkürlich. Alter, Geschlecht, Stand – er hatte die unterschiedlichsten Personen für seine Triebe gewählt. Nur Kinder fanden sich unter seinen Opfern nicht. Sam überlegte, was das bedeuten könnte. Erfüllten Kinder seine Voraussetzungen nicht oder hatte auch ein Mensch wie er eine gewisse moralische Grenze? Sam konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Allerdings fiel es ihm gerade sowieso schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Er wirkte benommen, sein Kopf hatte heute auf Hochtouren arbeiten müssen und teilte ihm nun mit, dass es genug für heute sei. Missmutig erhob er sich, er hatte sich für diesen Tag eindeutig mehr erhofft. Sorgfältig legte er die Akten und seine Notizen zu den einzelnen Fällen zusammen und warf einen Blick auf Dave, der sich am Tisch neben ihm befand. Er war heute außergewöhnlich ruhig gewesen, ebenfalls in Akten und andere Dokumente vertieft. Allerdings schien auch er mit seiner Motivation am Ende. Den Kopf auf seinem Tisch gebettet hing er mehr wie einen Leinensack auf seinem Stuhl als ein arbeitender Agent. Sam schlenderte auf seinen Partner zu, dieser döste vermutlich, denn er hatte sich nicht geregt. Mit einem deftigen Klaps auf den Rücken holte er seinen Freund in das Reich der Lebenden zurück. „Bei der Arbeit wird nicht geschlafen“, tadelte er ihn mit gespielt ernstem Ton. Als Antwort erntete er ein mürrisches Brummen. „Na komm, wir machen Feierabend für heute, Frischling.“ Diesen Namen hatte er Dave an seinem ersten Tag verpasst, aber mittlerweile nutzte er ihn nur noch, um ihn zu ärgern. Dave bediente sich nur eines bösen Blickes, bevor er seinerseits aufstand und Sam aus dem Büro folgte. Ordnung war nicht die Stärke des blonden Mannes, weswegen sein Schreibtisch unberührt blieb und die Akten sich reihenweise stapelten. Sam hatte versucht ihm das auszutreiben, er selbst war ein sehr ordnungsliebender Mensch – allerdings hatte er wenig Erfolg dabei gehabt. Die beiden verabschiedeten sich an der Tiefgarage und machten sich auf den Weg nach Hause. Sein vibrierendes Handy erinnerte Sam daran, dass er tatsächlich noch über ein Privatleben verfügte. June hatte er heute tatsächlich komplett vergessen. Sie war nicht seine Freundin – noch nicht zumindest – die beiden trafen sich seit einigen Wochen regelmäßig. Zumindest wenn Sam die Zeit dafür fand. June war ihrerseits Anwältin und hatte somit Verständnis für die Überstunden, die er täglich machte und darüber war er froh. In ihrer SMS fragte sie, ob Sam noch im Büro sei. Über die Freisprechanlage in seinem Auto rief er die blonde Frau an und teilte ihr mit, dass er auf dem Weg nach Hause war. Er war ziemlich müde und wollte eigentlich nur tot ins Bett fallen, doch June konnte hartnäckig sein und so verabredeten sie sich in einer Stunde bei ihm zu Hause. Sam wusste, dass es sich bei dem gemeinsamen Abendessen nur um einen Vorwand handelte und sie die Nacht gemeinsam verbringen würden. Trotz seiner Müdigkeit freute er sich darauf, denn obwohl die beiden in etwa in dergleichen Branche arbeiteten, redeten sie nur wenig darüber und Sam konnte meistens abschalten und sich entspannen, wenn June bei ihm war. Über die Ohnmacht dachte Sam gar nicht mehr nach, sie war wichtigeren Gedanken gewichen und auch beim Essen verschwieg er June diesen Vorfall. Ob er dies bewusst oder unbewusst tat, konnte er im Nachhinein gar nicht mehr sagen. Es erschien ihm zu dem Zeitpunkt belanglos und er hatte es in seinem Gedächtnis archiviert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)