Der Schwur des Wolfes von Kaname-chan ================================================================================ Kapitel 6: 6. Kapitel - Nur ein kleiner Sonnenstrahl wäre genug --------------------------------------------------------------- Ich hatte genauso viel Lust auf einen Ausflug zum Strand, wie ein Eisbär auf die Sahara. Und trotzdem stand ich pünktlich im Vorgarten und stieg anstandslos zu meiner besten Freundin ins Auto, als diese am Nachmittag vor dem Haus hielt. Mein Vater war bereits arbeiten gefahren, hatte mir aber viel Spaß gewünscht. Ihm konnte mein zweifelndes Gesicht unmöglich entgangen sein, doch er kommentierte es nicht. Ich hatte es aufgegeben über diesen Tag selbst zu bestimmen, wenn es doch vielleicht besser war, es einmal andere Menschen tun zu lassen. Als wir auf der von Wald gesäumten Straße Richtung Strand unterwegs waren, glaubte ich kurz einen Wolf neben uns herlaufen zu sehen, aber ich sank enttäuscht im Sitz zurück, als ich feststellte, dass ich mich geirrt hatte. Ich musste mir endlich selbst eingestehen, dass er seine Meinung nicht ändern würde. Wieso sollte er auch? Er war auch schon damals fest davon überzeugt gewesen und Taylor war jemand, der nur schwer von seiner Meinung abrückte, geschweige denn sich umstimmen ließ. Auch eine der Eigenschaften, die ich an ihm so gemocht hatte. Mein Gott, selbst wenn ich ihn vergessen wollte, konnte ich es nicht. Er war ständig in meinen Gedanken, auch die wirren Träume handelten nur von ihm. So zum Beispiel sah ich ihn immer in anderen Gestalten hinter mir im Wald herschleichen, mal als Hirsch, dann als Falke. Oder aber ich träumte davon, wie ich ihn in meinen Armen hielt und dann aufschrie, wenn er sich in den schwarzen Wolf verwandelte. Einmal sogar, war ich in einem solchen Traum gestorben. Der Schwarze hatte mich zerfleischt, als ich ihn von mir stoßen und nach Taylor suchen wollte. „Kelly hat noch ein paar Leute eingeladen. Sie war richtig wild auf die Party“, plapperte Carly fröhlich. Mich beschlich der Gedanke, dass es meine beste Freundin gewesen war, die die Party geplant hatte und nun versuchte es anderen in die Schuhe zu schieben, um bei mir keine Minuspunkte zu sammeln. Seit gestern Nachmittag hatten wir beide seinen Namen nicht mehr erwähnt und sie versuchte mich so gut wie möglich von allem, was ihn betraf, abzulenken. Ich war ihr wahnsinnig dankbar dafür, doch es klappte nicht im Geringsten. Doch das sagte ich ihr nicht. „Wen denn?“ „Keine Ahnung, einige unserer Freunde aus der Schule. Bestimmt die Jungs der Parallelklasse. Und sie hat wohl noch ein paar kennen gelernt, als sie mit ihren Eltern in Iron City war. Lassen wir uns also überraschen, mh?“ „Ja.“ Mussten wir wohl. Ich zog die Beine auf den Sitz und umschlang meine Knie, während ich wieder aus dem Fenster sah. Immer in der Hoffnung, doch noch einen Wolf zu sehen.   Es war ein riesiges Feuer, viele Menschen waren da; viele, die ich nicht kannte. Das mussten dann wohl die aus Iron City sein, die anscheinend auch noch Freunde mitgebracht hatten. Kelly war mittendrin, tanzte und amüsierte sich köstlich mit ein paar Jungs. Mia hatte sich mit Jamie ans Feuer gesetzt und Ellie hatten wir auch kurz vorbei tanzen sehen. Alles in allem hatte jeder gute Stimmung mitgebracht und ein paar Leute Alkohol. „Süße, ich besorg uns was zu trinken. Setz dich doch ans Feuer und ich bin gleich wieder bei dir.“ Ich nickte und zog die Kapuze meines weiten schwarzen Sweatshirts über meinen Kopf. Ich tat brav, wie mir geheißen worden war und sah Kelly dabei zu, wie sie einen Typen nach dem anderen mit ihrem Lächeln um den Finger wickelte. Ein Seufzen entstieg meiner Kehle und ich verfluchte mich, dass ich mich zu diesem Ausflug hatte überreden lassen. Es war ein Trauerspiel mit ansehen zu müssen, wie sich jeder um mich herum amüsierte. Ablenkung, das ich nicht lache. Um ehrlich zu sein ähnelte es mehr einem ›mit der Nase draufstoßen‹. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich war meinen Freundinnen nicht böse, ich wusste ja, dass sie es nur gut meinten. Und ich gönnte jeder von ihnen ihr Glück. Aber zwischen all den fröhlichen Leuten und Freunden zu sitzen, während man selbst am liebsten zu Hause in seinem Bett gelegen und geheult hätte, war grausam. Nur konnte ich das auch schon nicht mehr, weinen meine ich. Carly reichte mir einen Becher aus dem mir bereits eine Fahne zuwinkte. Das war ein Alkoholgemisch, das es in sich haben würde, doch ich zuckte mit den Schultern und genehmigte mir einen großen Schluck. Die verschiedensten Schnäpse rannen meinen Rachen herunter und brannten wie Feuer in der Kehle, doch ich nahm es kaum wahr. Sonst floh ich nicht in den Alkohol, aber vielleicht half es mir in dieser Nacht durchzuschlafen ohne an Ihn zu denken. Mia lächelte mir kurz aufmunternd zu, dann lachte sie über einen Witz, den Jamie gemacht hatte und wandte sich wieder ihm zu. Ich verübelte es ihr keineswegs und freute mich wahnsinnig, dass die beiden sich anscheinend gefunden hatten. „Kommt Sean gar nicht?“, fragte ich Carly, die kurz zusammenzuckte. Vielleicht, weil sie nicht mit einem Gespräch gerechnet hatte oder aber, weil sie die Frage überraschte. Ich war mir da nicht ganz sicher. „Doch, er wollte auch kurz vorbei schauen. Aber er kann wohl nicht lange bleiben. Du kennst ihn ja…“ „Ja, so schnell wie er auftaucht, ist er auch schon wieder weg. …Wie läuft es so zwischen euch?“ Sie warf mir einen zweifelnden Blick zu, doch ich nickte aufmunternd. „Es geht mir gut, ich würde nur gern wissen, ob ihr zusammen seid.“ „Irgendwie nicht. Ich bin mir da auch nicht ganz sicher, es könnte vielleicht irgendwann etwas Festes werden. Doch manchmal glaube ich, dass es da etwas gibt, dass ihn davon abhält. Er öffnet sich nie vollständig, weißt du? …Ach, es klingt albern, aber…“ „Nein, klingt es nicht. …Carly, ich möchte nur, dass du weißt, dass es nichts gegen dich persönlich ist. Sie sind alle Drei so verschlossen. Du musst dich nicht ausgeschlossen fühlen, sie sind eben einfach so. Okay?“ „Danke“, sie drückte sich kurz an mich und begann dann zu lachen. „Meine Güte, da schlepp ich dich hierher und will dich ablenken und dann tröstest am Ende du mich.“ Wir kicherten beide und ich spürte, dass der Mix in dem Becher seine Wirkung entfaltete. Ich war noch nicht betrunken, aber es löste meine miese Stimmung etwas. Da sah ich plötzlich Sean auf uns zukommen. Gott, ich hatte ganz vergessen, wie ähnlich sich die Brüder sahen. Mein Herz verkrampfte sich und ich drängte die Tränen zurück. „Ich hol mir noch was zu trinken.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, erhob ich mich und schritt schnurstracks durch die wild tanzende Menge. Nachdem mein Becher wieder gefüllt und dann geleert war, beschloss ich einen Spaziergang am Strand zu machen. Der Sonnenuntergang war wunderschön und ich setzte mich auf einen der großen Findlinge, die hier überall am Strand verteilt waren. Meine Zehen gruben sich in den Sand und ich beobachtete die Wellen, die sich sanft am Ufer brachen. Der Pier, ein langer Holzsteg mit kleinen Geschäften und Buden, befand sich einige hundert Meter weit weg und leerte sich langsam. Jeder wollte jetzt nach Hause und ich beneidete die Leute, die in einem der Strandhäuser lebten und jeden Abend einen solchen Sonnenuntergang betrachten konnten. Wieder seufzte ich und zeichnete mit meinen Füßen Kreise in den Sand. „So weit weg von all den Anderen? Man könnte fast glauben, du hast gar keine Lust zu feiern…“ Ich sah zu dem lachenden Mann auf und zuckte kurz mit den Mundwinkeln, um ein Lächeln anzudeuten. Sean ließ sich neben mir auf dem Stein nieder und blickte aufs Wasser. „Wahnsinnig schön hier, nicht? Ich wünschte, die Menschen würden sich mehr Zeit nehmen und einfach mal innehalten. Man verpasst so viel, wenn man immer hektisch seinem Leben nachrennt.“ „So poetisch heute?“, fragte ich und stimmte ihm dennoch zu. „Ich habe schon ein bisschen was getrunken, verzeih.“ „Hast du nicht.“ Wir sahen uns gleichzeitig an und er zeigte mir eine perfekte Reihe weißer Zähne. „Stimmt, hab ich nicht. Noch nicht, sollte ich hinzufügen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich nicht noch jemanden irgendwo hinfahren muss beziehungsweise soll.“ Er zwinkerte kurz, doch ich reagierte nicht darauf. „Wieso bist du nicht bei Carly? Sie hat sich so auf dich gefreut…“ „Ich wollte nach dir sehen. Sie sagte, du wolltest nur kurz was zu Trinken holen und bist dann nicht wieder aufgetaucht. Du solltest ihr sagen, wo du noch hingehst. Sie macht sich sonst mehr Sorgen als nötig.“ „Das war eine spontane Entscheidung. Aber beim nächsten Mal geb ich bescheid.“ Sean nickte, machte allerdings keine Anstalten zu der Party zurückzugehen. Wir schwiegen eine ganze Weile, erst als die Sonne nur noch ein hauchdünner orange-roter Streifen am Horizont war, sprach er wieder. „Wie geht es dir? Ganz ehrlich.“ Ich sah ihn nicht an, antwortete jedoch wahrheitsgemäß: „Bescheiden.“ „Das dachte ich mir schon.“ Wieder Stille. „Du weißt, dass er…“ „Was weiß ich? Dass er es nicht persönlich meinte? Dass er es für das Beste hielt?“ Ich sprang auf und machte ein paar Schritte auf das Wasser zu, wirbelte dann zu ihm herum. „Das hat er mir bereits selbst gesagt. Aber sieht es denn so aus, als wäre das hier das Beste für mich? Ich denke nicht, denn ich erkenne mich selbst kaum wieder. Er fehlt mir, ich bin alleine. Ja, ich mag meine Freundinnen haben, meinen Vater, aber ohne ihn bin ich einfach allein. Ich fühle dieses tiefe Loch, in das ich mich selbst immer weiter reinrangiere. Er wäre der Einzige, der mich hinauf ziehen könnte, aber er wird es nicht. Ich weiß, dass er es nicht wird. Weil er ein Sturschädel ist; weil er glaubt, diese Entscheidung für mich treffen zu müssen; weil er ein blöder Idiot ist, der mir so unglaublich viel bedeutet. Was dieses Loch nur noch tiefer, schwärzer und größer macht.“ Seans Schultern sanken ein kleines Stück tiefer und ich setzte mich wieder neben ihn. „Entschuldige,…du kannst ja nichts dafür. Es ist nur…jeder denkt, er müsse mich ablenken. Niemand spricht völlig offen mit mir darüber. Mein Vater ist heilfroh, dass er sich jetzt darüber keine Sorgen mehr machen muss, was ich so mit Ihm treibe und… Und ich bräuchte jetzt eine Mutter mit der ich über all das reden könnte. Doch sie ist nicht mehr da.“ „Ich verstehe dich, aber du solltest sie nicht alle zurückweisen. Carly und deine anderen Freundinnen, sie möchten nur kein Salz in die Wunde streuen und dein Vater…nun, ich denke, er leidet tatsächlich irgendwie mit dir. Möchte aber vor dir keine Schwäche zeigen. Stoß sie nicht weg, wenn sie alle nur dein Bestes wollen…“ Ich sah Sean an, der in diesem Moment so unglaublich viel Ähnlichkeit mit Taylor hatte und dann brach alles in sich zusammen. Die Schutzwand, die ich feinsäuberlich errichtete hatte, um den vollständigen Schmerz abzublocken fiel und Sturzbäche von Tränen rannen über meine Wangen. „Wieso reiche ich Ihm nicht?“ Er zog mich in seine Arme und reichte mir ein Taschentuch. Es dauerte wohl so um die zehn Minuten bis ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, dann sah ich ihn an und nickte dankend. Ich hatte nicht geahnt, was für ein wunderbarer Freund er mir in den letzten Wochen geworden war. „Er fehlt mir so wahnsinnig…“ „Glaub mir, du fehlst ihm ebenso sehr. Er ist nur…er ist eben Taylor Wood. Und er weiß auch, dass du ihn liebst.“ „Nur scheint ihm genau das einfach nicht genug zu sein.“ Ich erhob mich und brachte ein gekünsteltes Lächeln zustande. „Darum geht es bei der ganzen Sache doch nicht. Es ist eine völlig andere Situation, die ihn dazu gedrängt hat…“ „Sag Carly, bitte, dass ich zu schätzen weiß, was sie für mich getan hat. Aber ich werde jetzt nach Hause fahren. Ich ruf mir am Pier ein Taxi.“ „Ich kann dich…“ „Nein, Sean, das ist lieb gemeint, aber ich muss jetzt... Ich brauche Zeit… Danke, noch mal. …Und, bitte, kein Wort davon zu Taylor.“ Ich drehte mich nicht noch einmal zu ihm um, schnappte mir nur meine Schuhe und legte die Strecke zum Pier zu Fuß zurück. Als ich im Taxi saß und das Fenster einen Spalt breit öffnete, hörte ich es. Das Heulen eines Wolfes und es ließ mein Herz in tausend Stücke zersplittern.   15. August Heute hat das hübsche, junge Mädchen bitterlich geweint. Mein Herz riss fast entzwei, als ich sie im Traum am Strand habe sitzen sehen. Irgendetwas oder irgendjemand muss sie ganz furchtbar verletzt haben. Als die Tränen über ihr Gesicht liefen, wollte ich sie fest in die Arme nehmen, wollte sie trösten und ihr Halt geben. Sie sagte jemandem, dass sie im Moment eine Mutter bräuchte, die aber nicht mehr da wäre. Es muss grausam sein, in solchen Momenten allein zu sein. Ohne mütterlichen Rat, ohne den Trost, den man so dringend bräuchte. Ich hätte ihr, wenn sie meine Tochter wäre, diesen Rat gegeben: „Niemand kann dir versprechen, dass er dich nicht irgendwann verletzen, enttäuschen oder traurig machen wird. Doch auf jeden Schmerz, auf jede Träne folgt ein glücklicher Moment. Es ist hart von den Menschen enttäuscht zu werden, die man liebt, doch auch sie sind nur Menschen. Jeder macht Fehler, jeder trifft eine Entscheidung, die einem anderen nicht gefallen wird. Man kann es niemals allen recht machen. Aber man sollte sich von so etwas auch niemals unterkriegen lassen. Jede Enttäuschung macht uns stärker, lässt uns über uns selbst hinaus wachsen. Im ersten Moment ist es schmerzhaft und man darf auch darüber weinen, aber man darf nicht vergessen, dass man nur ein Leben hat. Und jeder, der uns verletzt, hat auch die Chance es wieder gutzumachen, wenn ihm klar wird, dass er einen Fehler begangen hat. Also vergiss nicht, dass dein Leben kostbar ist und du es nicht all zu lange mit Trauer verbringen solltest.“ Ich hätte ihr gern geholfen. Vielleicht wird alles wieder gut. Ich wünsche es ihr so sehr.   „Dad, kannst du mich heute bei der Autohandlung absetzen?“ Mein Vater sah erstaunt von seiner Zeitung auf, die er neuerdings zum Frühstück zu lesen pflegte. Es war Samstagmorgen und es war erst einige Tage her, dass ich mit Sean am Strand gesessen hatte. Ich hatte seither nicht viele Worte mit meinem Vater gewechselt, doch es war an der Zeit nach vorn zu sehen. Taylor würde nicht zu mir zurückkommen und ich musste endlich etwas für meine Selbstständigkeit tun. Und so hatte ich beschlossen diesen Neuanfang mit einem Gebrauchtwagen zu beginnen. Ich hatte zwar noch nicht ganz so viel Geld zusammen, wie ich brauchte, aber vielleicht konnte ich etwas feilschen oder eine Ratenzahlung vereinbaren. Schließlich war der Besitzer der Autohandlung mal ein Verehrer meiner Mutter gewesen und auch heute noch ein Freund meines Vaters. Für irgendwas musste das ja auch mal gut sein, oder? „Sicher, soll ich dir vielleicht bei der Auswahl helfen? Ich meine, wegen dem Technikkram, wie du es immer so gern bezeichnest.“ Wirklich viel Ahnung hatte ich davon tatsächlich nicht. „Ja, gut, aber ansonsten hältst du dich doch raus, ja?“ „Versprochen.“ „Schön, wollen wir so gegen Zehn los?“ „Ist gut, Lils.“ „Danke, Dad“, sagte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, um mir dann noch eine Tasse Kaffee zu holen. Bereits drei Stunden später verließ ich als glückliche Besitzerin eines nachtblauen Skoda Fabia, mit meinem fahrbaren Untersatz den Platz der Autohandlung. Ich hatte einen guten Preis herausgeschlagen und mein Vater hatte die Technik auch für 1a befunden. Da ich sogar noch etwas Geld übrig hatte, beschloss ich zu Carly zu fahren und sie ins George einzuladen. Als Dankeschön und natürlich zum Feiern. Mein Vater blieb noch etwas bei seinem Freund, unterhielt sich mit ihm und winkte mir zufrieden lächelnd nach. So etwas nannte ich mal einen guten Neuanfang. Strahlend blauer Himmel, ein schicker Gebrauchtwagen, der erst zwei Jahre alt war, und die Aussicht auf einen schönen Tag mit meiner Freundin. Was konnte diesen Tag noch kaputt machen? Ich konnte gerade noch reagieren, als direkt vor mir ein schwarzes Ungetüm auf die leere Straße sprang. Meine Bremsen quietschten und ich kam leicht schräg auf der Fahrbahn zum Stehen. Seine Augen brannten sich in mein Gehirn. Die Zähne waren gebleckt, was sein Gesicht zu einer schaurigen Fratze werden ließ; die Krallen ausgefahren, bereit zu töten; die Beine leicht angewinkelt, bereit zum Sprung. Es trennte uns nur eine Armlänge und ich begann stoßweise zu atmen. Meine Hände, noch immer ums Lenkrad gekrallt, zitterten und dann blinzelte ich und er war weg. Was zur Hölle, hatte das zu bedeuten? Eben noch sah er aus, als würde er gleich durch die Frontscheibe springen wollen und dann verschwand er so blitzschnell wie er gekommen war? Meine rechte Hand tastete sich zum Beifahrersitz, wühlte in der Tasche und zog dann mein Handy hervor. Ich drückte auf die Kurzwahltaste und wagte es nicht meine Augen von der Straße zu nehmen. Es tutete nur einmal, dann hörte ich die vertraute Stimme und sank erschöpft in meinem Sitz zusammen. „Lilly?“, fragte er und ich wollte am liebsten durch den Hörer steigen, um mich von ihm einhüllen und festhalten zu lassen. „Tut mir leid, ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte…“ Schweigen am anderen Ende, er wartete. Meine Stimme zitterte leicht, als ich weitersprach: „Er war hier. Kannst du herkommen, bitte?“ „Wo bist du?“ Ich seufzte erleichtert. Was hatte ich denn erwartet? Dass er mir eine Szene machte, mich abwimmelte, einfach auflegte? „Auf der Hauptstraße, ungefähr ein oder zwei Kilometer hinter der Autohandlung von Mr. Kennedy.“ „Ich weiß schon, bleib wo du bist. Ich beeil mich.“ Dann knackte es kurz in der Leitung und es tutete schnell hintereinander. Er hatte aufgelegt und wieder überkam mich das Gefühl der Einsamkeit. Das war es also mit dem Neuanfang. Alles war wieder wie vorher und ich saß klein und ängstlich in meinem Auto und wartete darauf, dass mich wieder einmal jemand anderes rettete. Es war vollkommen still um mich herum, bis ich von innen die Zentralverriegelung betätigte. Ein geringer Schutz, aber es half mir ruhiger zu werden. Jetzt bloß nicht hysterisch werden, dachte ich und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Kurz bevor ich sie wieder öffnete, betete ich dafür, dass der schwarze Wolf nicht wieder vor mir auf der Straße auftauchte. Er machte aus mir ein Nervenbündel erster Klasse, kam es mir in den Sinn und mit einem Mal verflog die Angst und machte der unbändigen Wut Platz. Furchtbar, wie sehr Er mich in der Hand hatte. Ich war eine Marionette an hauchdünnen Fäden in Seinem Spiel. Die Reifen eines herannahenden Autos quietschten und dann fuhr er rasant um die Kurve, um kurz vor meinem Wagen zu halten. Ich löste die Verriegelung und stieg mit wackligen Knien aus. Das Geräusch seiner zuschlagenden Autotür war noch nicht einmal verklungen, da stand er auch schon vor mir. Mein Herz hüpfte wild auf und ab, doch ich versuchte es zu beruhigen. Schließlich war er nur gekommen, um kurz zu helfen, nicht um mich zurückzunehmen. Er war da, um sein Versprechen zu halten. Nichts weiter. Nachdem ich mir das dreimal vorgebetet hatte, hörte auch mein Herz auf mich. Es verstummte wieder und wurde zu dem harten Klumpen, der es seit dem Abend auf der Veranda war. Aber ich kam nicht umhin zu bemerken, wie sehr mir allein das Glitzern seiner Augen gefehlt hatte, die kleine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen, die Art, wie er seine Hände immer wieder kurz zu Fäusten ballte, wenn er nicht genau wusste, was los war. „Ist alles in Ordnung bei dir?“ „Ja“, meinte ich und ging dann auf die Stelle zu, wo der schwarze Wolf noch vor wenigen Minuten gestanden hatte. Ich musste von ihm weg, durfte ihn nicht ansehen, weil sonst mein Herz wieder ein paar Töne von sich gegeben hätte. „Er war hier, direkt vor mir auf der Straße. Zumindest glaube ich, dass Er es war. Er war so schnell wieder weg, dass ich mir nicht ganz sicher bin. Und…“ Ich wagte nicht, ihm direkt in die Augen zu sehen und begnügte mich mit seiner Brust. „Tut mir leid, dass ich dich angerufen habe, aber es war wohl eine eher unbewusste Entscheidung. Weil ich…na ja,…denkst du Er war hier?“ Nicht mit einem Wort erklärte er, ob es ihn störte, dass ich mich gemeldet hatte. Aber sagen, dass es ihn freute, tat er ebenso wenig. Na fein, dachte ich, jetzt fühle ich mich sogar noch beschissener. Stattdessen meinte er: „Ich kann nichts riechen, dass auf Ihn schließen würde, aber das heißt ja nichts.“ „Um ehrlich zu sein schon.“ Ich spürte, wie er mich ansah und betete insgeheim, dass es sich noch ein wenig so hinziehen würde. Er trug eine schwarze Jeans und ein olivefarbenes T-Shirt, zusammen mit seinen geliebten Sneakers. Wie immer sah er gut aus. Mein Blick streifte kurz den seinen und ich sah verlegen zu meinem Wagen. Der Schmerz, der mein Herz schon seit Tagen quälte wurde übermächtig, aber ich genoss es. Denn schließlich war er hier. Allein seine Stimme war so wundervoll anzuhören. Er hatte damals also doch Recht: Ich war masochistisch veranlagt. Wäre es mir möglich gewesen, ich hätte mich in seine Stimme gehüllt, und mich auf ewig nach seinen Worten verzehrt. „Es bedeutet, dass jetzt auch die letzte Sicherung bei mir durchgeknallt ist“, wisperte ich und kehrte zu meinem Auto zurück. „Nochmals, tut mir leid, dass du herkommen musstest. Ich hab nicht viel nachgedacht. Danke.“ Ich stieg ein und schlug die Tür fest hinter mir zu. Als ich den Schlüssel herumdrehte und der Motor ansprang, wartete ich noch wenige Atemzüge. Vielleicht würde er mir doch noch etwas sagen wollen. Ein »schon gut« oder »macht doch nichts«. Selbst ein »Okay« wäre für mich ausreichend gewesen. Aber ich wartete vergeblich und fuhr dann los. Die Tränen drängte ich wie immer zurück. Es war bereits zu einer Art Reflex geworden. Der feste Klumpen, der sich anstelle eines Herzens in meiner Brust befand, wollte sich kurz regen, weil ich an Taylors wundervolles Gesicht dachte, an das behütete Gefühl, wenn ich in seinen starken, warmen Armen lag. Doch ich ermahnte ihn und er trollte sich in seine dunkle Ecke zurück. Noch mehr würde ich einfach nicht ertragen können und ich wollte es auch nicht. Ich fuhr an Carlys Haus vorbei, als ich die silberne Maschine in der Auffahrt stehen sah. Ein erfreuliches Bild, dann fuhr ich weiter und entschied mich für den Strand. Vielleicht, dachte ich, als ich barfuss das Ufer entlangschritt, ist das auch besser so. Ich bereute nicht einen Moment mit Taylor, nicht eine einzige Sekunde. Doch was war, wenn er uns damit nur noch mehr Schmerz und Leid erspart hatte? Was, wenn er mit dieser Trennung unser beider Leben gerettet hatte? Ich war ihm deswegen nie ernsthaft böse gewesen, nur eben verletzt, weil er diese Entscheidung allein gefällt und mich dann damit konfrontiert hatte, ohne einen Einwand gelten zu lassen.   Als ich nach anderthalb Stunden zu meinem Wagen zurückkehrte, klingelte dort bereits mein Handy. Ich sah auf das Display und ging ran. „Hey, Sean, was gibt‘s?“ Er klang atemlos. „Gott sei Dank… Sag mal, ist Taylor bei dir?“ „Nein, wieso? Ist was passiert?“ „Ich hoffe nicht, es ist nur… Sein Auto steht hier verlassen auf der Straße, sein Handy liegt auf dem Beifahrersitz und die Letzte, die ihn angerufen hat…“ „War ich. Ja, aber ich bin wieder gefahren. Hab mich aber nicht danach umgesehen, ob er ebenfalls gefahren ist. Was er ja nicht zu sein scheint. Wo bist du jetzt? Noch bei seinem Auto?“ Ich startete bereits den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. „Ja, aber ich wollte jetzt weiter fahren und nach ihm suchen.“ „Ich würde gern helfen. Kannst du bei mir zu Hause vorbei kommen, dann fahren wir zusammen. Vier Augen sehen mehr als Zwei.“ „Und es wäre vielleicht auch ganz hilfreich, dass du ihn verstehst, wenn er als Wolf eine Nachricht schickt. Ich müsste mich erst verwandeln. Ist gut, wir treffen uns bei dir!“ Schon hatte er aufgelegt und ich trat das Gaspedal kräftig durch. Wenn Taylor etwas zugestoßen war, dann wäre das allein meine Schuld. Ich hatte ihn angerufen, ihn zu dieser Stelle gebeten und ihn einfach so stehen lassen. Der schwarze Wolf, schoss es mir durch den Kopf. Er war also doch da gewesen und ich, dumme Kuh, hatte ihm Taylor auf dem Silbertablett serviert. „Das wirst Du mir büßen“, schrie ich, „Wenn Du ihn auch nur angefasst hast, dann…“ Ich bog in unsere Straße ein, parkte in der Auffahrt und lief in die Garage. Irgendwo musste mein Vater noch ein Stilett haben. Und wenn ich diesem Wolf schon begegnen musste, dann nicht ohne Waffe. Nur wenige Augenblicke nachdem ich den Dolch in meiner Tasche verstaut hatte, hielt ein silberner Skoda vor unserem Haus. Ich wartete nicht lange, stieg zu Sean und schon fuhr er weiter. „Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?“, fragte er mich und ich erzählte, was vorhin vorgefallen war. „Ich bin an allem Schuld, Sean, es tut mir leid. Wenn ich ihn nicht…“ „Ihr seid euch viel ähnlicher, als ihr denkt, echt. Hör auf, dir selbst Schuldgefühle einzureden. Du hattest doch keine Ahnung, dass Der so etwas vorhatte. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Taylor auf eigene Faust gehandelt hat und Ihm hinterher gehechtet ist. Wie ich ihn kenne, hat er dich beruhigen wollen, gesagt der Wolf sei nicht da und sobald du außer Gefahr warst, die Fährte aufgenommen.“ Sein Handy klingelte, er sah aufs Display und drückte auf die Auflegen-Taste. Wir schwiegen und ich hatte das Fenster der Beifahrerseite heruntergelassen, um jeden Fetzen eines Heulens oder Hilferufs Taylors aufzuschnappen. Sean fuhr ebenso rasant, wie ich es vorhin war. Ich mochte gar nicht daran denken, wenn wir zu spät kamen. Wieder klingelte sein Handy, bereits zum fünften Mal. „Du solltest rangehen“, wisperte ich. „Dafür hab ich jetzt keine Zeit und ich muss die Leitung freihalten, falls mein Vater sich meldet.“ „Carly?“ Er blickte mit leicht zusammengekniffenen Augen aus der Frontscheibe und antwortete nicht. „Du solltest rangehen. Sean, glaub mir, wenn du sie immer wieder wegdrückst, wird sie sich nur noch mehr Sorgen machen. Sag ihr, du rufst zurück, sobald du Zeit hast. Es ist nicht leicht für sie, wenn du sie ausschließt…“ Er seufzte, warf mir einen kurzen Blick zu und ging dann ran, als es das nächste Mal klingelte. „Hey.“ Carly sprach und er hörte aufmerksam zu. „Ja, ich… Tut mir leid, aber mein Bruder ist verschwunden. Lilly und ich suchen ihn gerade. Ich muss die Leitung freihalten, falls sich mein Vater mit Neuigkeiten meldet. Das darfst du nicht persönlich nehmen, okay?“ Sie antwortete und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. „Danke.“ Wieder sie. „Ist gut, das mach ich. Bis später.“ Er legte auf und fuhr dann rasant Richtung Wälder. Ich lauschte gespannt, doch da war gar nichts zu hören. Weder ein Wolf noch Vogelgezwitscher oder andere Tiere. Als wären wir in vollkommener Stille gefangen. Wie im Auge eines Sturms. „Du hattest Recht, danke“, meinte Sean dann leise und ich blickte erstaunt zu ihm. „Gern geschehen. Aber ich weiß ja, wie es auf der anderen Seite ist. …Du solltest ihr irgendwann die ganze Geschichte erzählen.“ „Nichts gegen dich, aber ich will nicht, dass sie da so reingezogen wird, wie du.“ „Erstens, mein Lieber, würde sie das nicht und zweitens ist es um einiges schlimmer, wenn man von gar nichts weiß. Sie spürt, dass es da etwas gibt, dass du ihr nicht erzählst und sie hat Angst, dass sie dich dadurch verliert. Carly ist eine starke Persönlichkeit, sie verkraftet die Wahrheit. Oder willst du, dass sie es eines Tages selbst herausfindet?“ „Was, so wie du?“ Er lachte leise. „Na ja, passieren kann es doch. So vorsichtig, wie ihr immer denkt, seid ihr gar nicht.“ Sean sah mich mit Schmollmund an und ich musste mir das erste ehrliche Lachen seit Tagen verkneifen. Gerade wollte er etwas entgegnen, als… „Halt an!“ Er trat fest auf die Bremse und die Räder des Wagens hinterließen tiefe Spuren auf dem Waldboden. Ich stieg aus und blickte in die Richtung aus der ich die Geräusche vermutete. „Ist er da?“ „Ich bin mir nicht sicher, ich…“ Sean stellte sich neben mich und versuchte auf seine Weise nach seinem Bruder zu suchen. „Das ist nicht Taylor…“ „Er wird das Auto gehört haben und verhält sich jetzt ruhig“, flüsterte ich und Sean nickte. Ich wusste einfach, dass es so war. Mein Gefühl sagte es mir, doch das steigerte auch die Angst um Taylors Zustand. „Wir sollten deinen Vater anrufen.“ „Nein, Lilly, das dauert zu lange. Bleib du hier, ich gehe näher ran und versuche was rauszukriegen.“ „Du denkst doch nicht ernsthaft, dass ich hier in aller Ruhe stehen bleibe, während Taylor vielleicht gerade getötet wird?“ „Einen Versuch war es ja wert. …Na dann, komm!“ Wir hatten uns einige Meter herangeschlichen. Albern, wenn man bedachte, dass es sich um einen Wolf handelte, der das Jagen und Töten blind beherrschte. Er hatte uns hundertpro bereits gewittert. Ich sollte Recht behalten. Das schwarze Monster saß auf einem Baumstumpf und blickte uns direkt ins Gesicht, als wir nah genug dran waren. „Ich dachte, ihr wärt schneller. Du enttäuscht mich wirklich, Lilly. Gerade von dir, hatte ich mehr erwartet“, knurrte er und ich spürte, wie Sean mir einen Seitenblick zuwarf. „Er hat auf uns gewartet“, erklärte ich ihm und ließ unser Gegenüber nicht aus den Augen. Ich blinzelte, da hatte sich Sean bereits in den wunderschönen dunkelbraunen Wolf verwandelt. Anscheinend wollte er sich nicht ständig übersetzen lassen, was der Wolf sagte. „Wo ist Taylor?“, fragte ich und erntete damit nur eine ekelhaft verzogene Fratze, als er kurz die Zähne bleckte. „Sag schon. Wo ist mein Bruder?“, wiederholte Sean. „Tja, wer weiß das schon. Hier oder dort. Er könnte überall sein. Lebendig oder tot.“ Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, hätte er wahrscheinlich noch ahnungslos die Schultern gehoben. Es war widerlich und ich wollte ihm am liebsten eigenhändig sein blödes Grinsen aus dem Gesicht prügeln. Ihm irgendetwas gegen seinen Schädel schlagen oder werfen. „Vielleicht jedoch könntet ihr ihn noch retten…“ Sean schabte mit seinen Pfoten über den feuchten Waldboden und zog seinen Kopf zwischen die Schulterblätter, bereit zum Sprung. Ich legte beruhigend eine Hand in seinen Nacken, der sich ein Stück höher als mein Kopf befand. „Ich könnte es euch sagen, aber was bekomme ich dafür?“, meinte der Schwarze und blickte mir direkt in die Augen. Natürlich, zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte ich. Uns blieben wahrscheinlich nur noch wenige Minuten, ehe Taylors Kraftreserven aufgebraucht waren. Wir mussten handeln. „Was willst du?“, fragte ich und hörte Sean aufgeregt knurren. Er wollte es nicht, aber was blieb uns schon anderes übrig? Wir wussten schließlich nicht, was Er mit Taylor gemacht hatte. In welcher Verfassung sich dieser befand. Der schwarze Wolf erhob sich und schlich bedrohlich auf uns zu. „Wenn du schon fragst“, begann er und ich verdrehte die Augen, „dann werde ich dir meine spontane Idee präsentieren.“ Spontan? Dass ich nicht lache. Es war von Anfang an alles so geplant gewesen und wir waren natürlich direkt in Sein Spiel hineingetappt. „Ich werde deinem kleinen Begleiter sagen, wo sich sein süßer Bruder befindet und dafür bekomme ich zehn Minuten allein mit dir. Nur wir zwei, was sagst du?“ Es war meine Schuld, dass das alles passiert war, also würde ich alles tun, um die Familie Wood zusammen zu halten. „Unter einer Bedingung!“ Sean knurrte und stieß mich sachte mit seinem Kopf zurück, doch ich achtete nicht auf ihn. „Du wirst mich nicht verwandeln.“ „Na ja, da du irgendwann sowieso von ganz allein auf mich zukommen wirst, kann ich mit diesem Handel durchaus leben. Abgemacht!“ „Abgemacht! Also, wo ist er?“ Es war mucksmäuschenstill um uns herum und ich fühlte, wie sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufstellten, als Er endlich damit herausrückte. „Fünf Kilometer von hier entfernt befindet sich eine kleine Lichtung, rechts davon wird er einen Baumstumpf vorfinden. Ein kleines Stückchen dahinter befindet sich ein trockener Graben, in diesem Graben ist ein Loch, groß genug für einen Wolf.“ Du Scheusal, dachte ich und Tränen stiegen in mir auf. „In diesem Loch liegt dein, ach so geliebtes, kleines Schoßhündchen. Es ist natürlich zugeschüttet, aber…“, er wandte sich zu Sean, „du wirst ihn da schon irgendwie rausgebuddelt kriegen. Und wenn du uns nun entschuldigst, aber ich habe ja nur zehn Minuten mit Lilly.“ Sean blickte mich aus traurigen dunkelgrünen Augen an, hin- und hergerissen, was er nun tun sollte. Er wollte seinen Bruder retten, mich jedoch nicht hier allein zurücklassen. Ich kraulte die Stelle zwischen seinen Ohren und flüsterte: „Keine Sorge. Er mag kein guter Wolf sein, aber ich denke, er hält sein Wort. Und Taylors Leben ist jetzt soviel wichtiger. Wenn er nicht da ist, gib mir bescheid. Und nun lauf schon, wir haben nicht viel Zeit!“ Ein paar Atemzüge lang blieb er bewegungslos vor mir stehen, dann nickte er resignierend, sprang über den schwarzen Wolf hinweg und verschwand in den dunklen Wäldern. „So, so. Du vertraust also meinem Wort, kleine Lilly?“ „Nein, aber er wäre nicht gegangen, wenn ich ihm das gesagt hätte. Und Sean und sein Vater haben genug durchgemacht, sie müssen nicht auch noch Taylor verlieren.“ „Du opferst dich, obwohl er dich verlassen hat?“ Er kreiste wie ein hungriger Löwe um mich herum. „Wenn ihm das das Leben rettet…“ „Aber ich habe deinen Zorn gespürt. Du warst so wütend und verletzt. Er hat es gar nicht verdient, dass du ihm hilfst.“ „Du hast Recht, ich war es. Aber so sind Menschen nun mal, das verstehst du nicht.“ Er blieb abrupt vor mir stehen, beobachtete mich aus seinen schwarzen kalten Augen. „Ich war auch mal ein Mensch, aber das ist Ewigkeiten her. Niedere Kreaturen, die ein Leben lang Träumen nachjagen. Aber als Wolf ist man frei. Es gibt keine Regeln, außer man stellt sich selbst welche auf. Und du bist niemandem Rechenschaft schuldig.“ Bilder tanzten vor meinen Augen: Freiheit, Laufen und Springen, wie, wann und wo man wollte, Wälder, Flüsse, Berge, Graslandschaften von Horizont zu Horizont. „Und trotzdem gibst du dich mit mir ab… Mit einer niederen Kreatur.“ Er entblößte eine Seite seiner Zähne. „Nun, du… Du bist eine besondere Ausnahme. Allein die Kraft, die du ausstrahltest, als ich mich in der Nähe eurer kleinen Stadt befand, war enorm. Und jetzt, wo du so nah vor mir stehst, kann ich sie fast schmecken. Wirklich beachtlich, dass ein einfacher Mensch so viel Stärke besitzt. Hätte ich es nicht selbst gespürt und gesehen, ich würde es nicht glauben.“ Ich lauschte nebenbei auf die Geräusche des Waldes. Doch noch immer kein Zeichen von Sean. Was nur war da los? Müsste er nicht längst dort angekommen sein? Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Wie tief ist das Loch?“, fragte ich und begann zu zittern. „Na ja, es musste natürlich tief genug sein, um ihn vollständig da unterzubringen. Fünf…sechs Meter. Oder war es tiefer? Ich weiß nicht mehr so genau…“ „Du Mistkerl“, schrie ich und schlug mit meinen Fäusten auf seine Flanke ein. Es störte ihn nicht. Stattdessen lachte Er sogar. „Ach ja, das ist immer wieder erheiternd. Wenn Menschen denken, sie könnten etwas gegen einen Wolf ausrichten. Mit ihren kleinen Händen und Füßen. Ach, Lilly…“ Er stieß mich mit dem Kopf zu Boden und drückte meine Arme in die Erde, indem er seine Pranken draufstellte. Seine Hinterläufe blockierten gleichzeitig meine Beine, damit ich nicht nach Ihm treten konnte. „Wir haben doch nur noch fünf Minuten miteinander und du machst es uns so schwer.“ „Wenn Taylor stirbt, dann…“ „Was dann? Willst du ihn rächen?“ „Du wirst dir wünschen, niemals hergekommen zu sein.“ „Oh, mir schlottern schon die Knie. Bringen wir es also hinter uns. Wie hättest du es gern? Nacken, Hals, dein Bein? Was letztes Mal übrigens sehr gut ausgesehen hat.“ Angewidert wandte ich mich von seiner Zunge ab, die langsam über sein Maul fuhr. Ich versuchte mich aus Seinem festen Griff zu befreien, stemmte mich mit aller Kraft, die mein Körper aufbringen konnte, entgegen. Doch es rührte sich nichts. Meine Tasche mit dem Stilett lag ein ganzes Stück von mir entfernt. Sie war heruntergefallen, als Er mich zu Boden gestoßen hatte. Selbst wenn ich mich hätte befreien können, so würde ich niemals bis dorthin kommen, um es ihm in den Körper zu rammen. Denk nach, Lilly, denk nach. Wie könnte ich ihn ablenken? Nur ein paar Sekunden. Wieder entblößte Er seine Zähne und kam mit seinem Maul bedrohlich nahe. Merkwürdigerweise fühlte ich nicht mal Angst, da war gar nichts. Ich hoffte nur, dass Sean Taylor würde retten können. Sonst nichts. Wenn Kenneth noch ein Familienmitglied verlieren würde,…das könnte ich nicht ertragen. „Nun sag schon“, drängte der Wolf über mir. Ich blickte zu ihm auf und schluckte. Es gab nur diese eine Chance. Wenn ich die vertue, dann ist es aus, dachte ich. „Ich bevorzuge den Nacken.“ „Wirklich hochinteressant. Diese Stelle nehmen nur wenige. Aber du überrascht mich ja immer wieder, kleine Lilly.“ Er erlöste mich endlich von seinem Gewicht und das war der Augenblick, den ich brauchte. Ich schlüpfte unter seinem Bauch hindurch, warf mich auf meine Tasche und zückte den Dolch. Gerade wollte ich mich umdrehen, weil ich bereits seinen heißen Atem durch meine Kleidung spürte, bereit ihm die Waffe in jedes beliebige Körperteil zu stoßen, als er laut aufjaulte. Ein weiterer Wolf war zu uns gestoßen und hatte sich mit voller Wucht mit dem Kopf gegen ihn geworfen, sodass Er gegen einen Baum geprallt war. Der schwarze Wolf krümmte sich auf dem Waldboden, wimmerte vor Schmerz und ich sah das stolze Tier vor mir. Dessen Flanken hoben und senkten sich mit seinem rasselnden Atem, sein Fell war voll dunkler Erde und Blut, doch er fixierte seinen Gegner, den Kopf leicht geduckt. Mein Herz raste vor Erleichterung und erst jetzt spürte ich die kalte feuchte Schnauze Seans, die sich unter meinen Arm schob und mir aufhalf. Noch immer umklammerte ich den Dolch und ging dann vorsichtig zu Taylor. Sean wollte mich zurückhalten, biss ganz vorsichtig in den Bund meines Pullovers, doch ich schüttelte leicht den Kopf. Streichelte die Stelle zwischen seinen Augen und er ließ mich gehen. Ich berührte sachte das Fell an Taylors Rücken, strich weiter, während ich mich neben ihn stellte und dann meine Hand hinter seinem linken Ohr ruhen ließ. Er wurde ruhiger und wandte seinen Kopf leicht zu mir um, sodass er aus dem Augenwinkel aber noch immer den Schwarzen unter Kontrolle hatte. Auch in seinen Mundwinkeln klebte Blut. „Bist du schwer verletzt?“, fragte ich zaghaft, meine Stimme klang brüchig. In seinem braunen glänzenden Auge konnte ich mein Spiegelbild sehen, er knurrte leise. „Nein, und du?“ Ich ahnte schon, dass er log, denn das Blut bewies mir eindeutig das Gegenteil. Es verklebte einige Stellen seines Felles und am liebsten hätte ich ihn hier auf der Stelle untersucht. „Du hast mich doch gerettet. Es geht mir bestens…jetzt.“ „Ist das nicht niedlich?“, keuchte der Wolf vor uns und ich zog meine Augenbrauen zusammen. „Endlich wiedervereint. Das sollten wir feiern, findet ihr nicht?“ Mühsam erhob er sich. Seine rechte Vorderpfote schien verletzt zu sein, da er diese nicht auf dem Boden aufsetzte. Taylor schob bereits seinen Körper vor mich, er würde sich auf ihn stürzen und genau das musste ich verhindern. In diesem Zustand würde er verlieren, das wussten wir alle. Ich kraulte ihn sanft hinter dem Ohr und meinte entschlossen: „Deine zehn Minuten sind vorüber. Verschwinde!“ Er fletschte seine Zähne und blickte mich direkt an. „Denk an meine Worte, kleine Lilly. Wir wissen beide, dass du eines Tages freiwillig zu mir kommen wirst. Du wirst eine Wölfin, so oder so.“ Mit diesen Worten wandte er sich von uns ab und lief, so schnell er es mit drei Beinen konnte, tiefer in den Wald. Wir drei sahen ihm nach, bis er nicht mehr zu erkennen war. Dann jaulte Taylor leise auf und brach zusammen. Seine Beine knickten einfach unter ihm weg und er ließ sich bereitwillig fallen. Es musste schlimmer sein, als ich vermutet hatte. „Bringen wir ihn nach Hause“, wisperte ich Sean zu und streichelte Taylor beruhigend über seine Flanke.   Ihm war schrecklich kalt. Aber wie sollte es auch anders sein, wenn die Sonne verschwand? Normalerweise hätte ihm seine Körpertemperatur ausgereicht bis sie endlich wiederkehrte, doch heute… Es war alles anders. Er lag einfach da, spürte nichts als Kälte und war sogar zu schwach, um seine Augen zu öffnen. Aber selbst wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, hätte er es nicht getan. Wozu auch? Die Sonne war weg. So wie es ihm vorkam schon eine Ewigkeit, aber zeitlich gesehen konnten es maximal zwei Stunden sein, die sie jetzt fort war. In letzter Zeit war sie immer in seiner Nähe gewesen und selbst dann sehnte er sich nach ihrer Wärme. Vielleicht war es mehr eine…Sucht. Ja, das erklärte es wohl besser. Doch jetzt fehlte ihm seine Droge. Ihre Strahlen waren zwar stark, doch so weit reichten sie einfach nicht. Eine Stimme drang an sein Ohr. Gemurmel, sollte man es wohl eher nennen. Es war tief, vielleicht sein Vater. Jemand berührte seine Stirn, hob seinen Kopf, um das Kissen zu richten. Doch wo war es? Das Licht, das ihm die Kraft geben würde aufzustehen. Dann hörte er ein weiteres Gemurmel, ebenfalls tief, doch höher als das Erste. Sean. Sie unterhielten sich leise, doch in seinen Ohren klang es so, als würden sie sich anbrüllen. Er verstand keine einzelnen Worte, doch das stete Brummen war nervenaufreibend. Seid doch still, wollte er sagen, doch auch sein Mund war wie eingefroren. Die beiden verschwanden endlich und ließen ihn in der Kälte allein zurück. Er brauchte die Sonne, dringender als die Luft zum Atmen. Ihn überfiel ein solch heftiges Zittern, als läge er in Eiswasser. Nur ein Strahl, ein einfacher Strahl und er wäre erlöst. Wieder verging eine Ewigkeit. Die Minuten krochen zäh dahin und noch immer keine Wärme. Er wollte so gern nach ihr rufen, sie anflehen, sie möge doch zurückkehren. Ihn befreien aus dem Eiskäfig. Doch er blieb stumm. Das Zittern erreichte seinen Höhepunkt, wahrscheinlich waren seine Lippen bereits blau angelaufen. Und dann endlich öffnete sich die Tür und das Licht erfüllte jeden noch so dunklen Winkel des Zimmers. Ihre Strahlen durchdrangen seine Haut, fluteten sein Herz. Sie war so schön. Selbst wenn er die Augen geschlossen hatte, konnte er sie vor sich sehen. Jede Faser seines Körpers streckte sich ihr entgegen, als sie seine Hand berührte. Ihre weiche Haut, die sonst kälter war als die seine, fühlte sich plötzlich so unglaublich heiß an. Er genoss ihre Nähe und versuchte jeden Strahl in sich aufzunehmen, um endlich genug Kraft zu sammeln. „Es tut mir so leid“, wisperte sie und ihre Stimme klang wie Musik in seinen Ohren. „Wenn ich gewusst hätte, was Er vorhat… Ich schwöre, ich hätte dich doch niemals angerufen.“ Wieso fühlte sie sich schuldig? Er war der Dummkopf gewesen, der sie fortgeschickt hatte. Die Tage ohne sie waren unerträglich gewesen. In seinem Zimmer hatte er sich verkrochen bis zu dem Tag, als auf dem Display des Handys ihr Name erschienen war. Nie hatte sein Herz kräftiger geschlagen als in diesem Moment. Und als er später aus dem Auto ausgestiegen war und sie vor ihm stand, da wollte er sie anflehen ihm zu verzeihen. Ihn zurückzunehmen, weil er ohne sie nicht er selbst war. Doch dann hatte er ihr Herz gehört. Erst hüpfte es vor Freude und dann erstarrte es beinahe. Er hatte sie zutiefst verletzt und sie hatte allen Grund auf ihn wütend zu sein. Und jetzt fühlte sie sich schuldig? Das durfte nicht sein, das war nicht richtig! Sie entzog ihm langsam ihre Hand. Die Strahlen wurden schwächer. Nein, schrie er innerlich, verlass mich nicht. Sein Griff wurde fester, er hielt sie auf, wollte sie an sich ziehen, doch mehr als leicht ihre Finger zu drücken, funktionierte einfach noch nicht. Geh nicht, flehte er immer wieder in seinem Kopf. Er war so viel abhängiger von ihr, als sie ahnte. Mehr als sie von ihm, das wusste er. Es wurde wärmer, als sie sich neben ihn legte und ihre Finger mit den seinen verschränkte. Ihr langes Haar bedeckte seinen Arm. Floss warm und weich über ihn hinweg. Der Duft, der von ihr ausging, war einfach atemberaubend. Lavendel, ihr Parfum und ihr ganz eigener süßer Körpergeruch. Eine Mischung, die ihm schon so oft den Verstand geraubt hatte. So muss der Himmel sein, dachte er. Sie war alles, was er je brauchte. Es konnte kein Zufall sein, dass sie ausgerechnet hier in Crystal Falls gelandet waren. Nach all den Jahren der Suche, war er endlich dort angekommen, wo er hingehörte. Sie hatte einmal gesagt, dass sie sich geborgen bei ihm fühlte. Und endlich verstand er es, denn auch sie war sein Zuhause. Er roch die salzige Nässe, lange bevor sie ihre eigene Haut berührte. Tränen, auch die hatte er vermisst. Endlich atmete er freier. „Wach, bitte, bald auf, okay? Wir machen uns alle große Sorgen um dich. Mein Vater macht schon Druck, er will, dass ich endlich nach Hause komme. Und ich…ich würde so gern dabei sein, wenn du deine Augen wieder aufmachst. Ich möchte doch nur wissen, ob es dir gut geht… Wir vermissen dich.“ Nicht weinen, Lilly, dachte er und versuchte die Augen zu öffnen. Es fehlte nicht mehr viel, nur noch ein bisschen ihrer Wärme. Die Tür öffnete sich erneut und sie hob ihren Kopf. Ihr Haar strich sanft über seine Haut. Das Zittern, das ihn jetzt erfasste, war anders. Es war um einiges angenehmer. Wieder Gemurmel seines Vaters. „Wieso jetzt?“, fragte sie, „Kannst du ihn nicht…? Nur noch eine halbe Stunde, bitte!“ Er antwortete, es klang nüchtern. Erstaunlich, dass er sie klar und deutlich hörte, seinen Bruder und Vater aber nicht im Geringsten. „Bitte, versuch es doch. Ich spüre einfach, dass es nicht mehr lange dauert. Er…er wird bald aufwachen, ich weiß es einfach.“ Sie schluchzte leise und hob seine Hand an ihre Wange. Sein Vater hatte es noch nie ertragen können ein Mädchen oder eine Frau weinen zu sehen. Leises Murmeln, dann wurde die Tür geschlossen und sie lehnte sich wieder in die Kissen zurück. Eine einzelne Träne rann über seinen Handrücken und hinterließ eine brennende Spur der Sehnsucht auf seiner Haut und in seinem Herzen. „Ich hab die Geduld meines Vaters schon sehr überstrapaziert, Taylor. Ich möchte dich wirklich nicht drängen, aber… Ich kann nicht noch länger bleiben. Deine Familie erträgt mich bestimmt auch nicht mehr. Sie brauchen beide Ruhe.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und setzte sich auf. „Lass deinen Vater nicht mehr warten. Er will dich nicht verlieren. Keiner will das.“ Die Strahlen entfernten sich und er flehte alles an, was ihn in diesem Zustand hören konnte. Sie hauchte: „Auch ich will es nicht!“ Ich will nicht in die Dunkelheit zurück, nicht in die Kälte, dachte er. Sie ist mein Leben, mein Licht. Bitte, lass mich zu ihr, bat er und versuchte nochmals die Augen zu öffnen.   „Lilly.“ Ein fast unhörbares Flüstern hielt mich zurück. Ich hatte bereits den Türgriff heruntergedrückt, wollte hinunter gehen und mit meinem Vater nach Hause fahren. Dann ging alles ganz schnell: ich setzte mich neben ihn aufs Bett, umrahmte mit beiden Händen sein Gesicht, hielt seine Wangen und brach wieder mal in Tränen aus. „Du bist wieder da!“ Und als er dann auch noch dieses schiefe Lächeln aufsetzte, konnte ich nicht anders und küsste ihn. Selbst, wenn er mich danach wieder von sich stieß, mir sagte, dass es bei der Trennung blieb, das war es mir wert. Doch stattdessen umschlangen seine Arme meine Taille, er zog mich an sich und erwiderte den Kuss. Meine Hände fuhren durch sein Haar, streichelten seine Wangen, verharrten auf seiner Brust und auf seiner Wange. Während er mich auf den Rücken rollte, mit seinem Körper den meinen bedeckte und mich schützend an sich zog. Ich hatte ganz vergessen, wie weich seine Lippen waren, wie zärtlich seine Zunge, wie wunderbar sein Geruch. Er presste mich fest an sich und dann spürte ich eine vereinzelte Träne von ihm, die an meinem Finger haften blieb. Auch er hatte gelitten. Wären eine Etage tiefer nicht ein paar Leute gewesen, die darauf warteten, dass Taylor aufwachte, ich hätte ihn niemals mehr losgelassen. Er wischte mir die Tränen vom Gesicht, blickte mich mit glänzenden Augen an und hielt mich einfach nur in seinen Armen. „Ich gebe den anderen bescheid…“ „Nein“, seufzte er. „Aber sie müssen doch erfahren…“ „Mein Vater und mein Bruder haben sicher deinen heftigen Herzschlag gehört. Ich bin mir sicher, dass sie ahnen warum. Bitte, geh nicht weg.“ Er sah mich an wie ein Ertrinkender das sichere Festland. Was nur war mit ihm während seiner Bewusstlosigkeit passiert? „Bitte, verzeih mir, Lilly. Ich habe dich beschützen wollen, in dem ich mich von dir trenne und hab es dadurch nur noch schlimmer gemacht. Du warst mit ihm allein, weil du mich retten wolltest. Ich…“ „Scht…“ Ich legte ihm einen Finger über die Lippen und schmiegte meinen Kopf an seine Brust. „Was hältst du davon? Wir vergessen das und starten einen Neuanfang. Du und ich…als Paar?! Keine Entschuldigungen mehr für das, was war. Es ist nun mal passiert und wir können es nicht rückgängig machen.“ „Danke“, wisperte er und umschloss mich nur noch fester. Ich sah zu ihm auf und war verliebter in ihn als je zuvor. Er erwiderte meinen Blick und sagte: „Weißt du, ich hatte viel Zeit zum Nachdenken und ich weiß endlich, was du mit Zuhause meinst. Ich dachte immer, ich habe meinen Vater und Sean und das ist alles, was zählt, aber…dann traf ich dich. Du hast meine Welt komplett gemacht und du gibst mir das Gefühl, genau da zu sein, wo ich hingehöre…“ „Zu Hause“, wisperte ich. „Zu Hause“, bestätigte Taylor und küsste mich auf die Stirn. Wir lagen noch ein oder zwei Minuten einfach so da, als er plötzlich flüsternd fragte: „Willst du meine Frau werden?“ Ich schluckte und kniete mich neben ihn. „Ähm…was?“ Unter leichtem Ächzen richtete er sich auf, blickte mir tief in die Augen und wiederholte: „Willst du meine Frau werden?“ „Wir sind Teenager, Taylor.“ „Es bedeutet doch nicht, dass ich dich gleich morgen zum Altar schleppe. Wenn du es wolltest, ich würde es tun, aber… Wir wären eben verlobt.“ „Geht es dir wirklich gut?“ Er seufzte. „Mir ging es nie besser… Hör zu, Lilly, ich liebe dich so sehr… Und ich möchte dich nicht verlieren. Ich möchte, dass jeder weiß, dass wir zusammengehören. …Als du mir von dem Traum erzählt hast, schienst du nicht so abgeneigt, wie jetzt… Liegt es an deinem Vater?“ „Nein…und ich bin auch jetzt nicht »abgeneigt«… Aber…ich bin siebzehn, Taylor!“ „Soll ich dich an deinem 18. Geburtstag noch mal fragen?“ Ich lachte kurz auf und schlug mir die Hände vors Gesicht. „Willst du mich nicht?“, fragte er vorsichtig und nahm meine Hände in die seinen. „Stell mir nie wieder eine so dumme Frage. Ich liebe dich doch auch und ich will dich für nichts auf der Welt verlieren.“ „Wenn es dir so wichtig ist, dann verraten wir es eben keinem.“ „Eine heimliche Verlobung?“ Taylor zuckte mit den Schultern. „Ich möchte aber nicht, dass du glaubst, dass ich dich verleugnen will“, erklärte ich und strich sanft über seine Wange. „Das denke ich nicht.“ Ich sah ihn eine ganze Weile einfach nur an. Wie konnte ich nur einen Mann wie ihn finden? Aber wenn ich ehrlich war, hatte er mich gefunden. Und deshalb, und weil ich wusste, wie es war ohne ihn zu sein, durfte ich ihn nicht verlieren. Wollte es nicht. Ich biss mir verlegen auf die Unterlippe. „Fragst du noch mal?“ Er setzte sein schiefes Lächeln auf, zog mich fest an sich und fragte leise: „Lillian Connor, willst du meine Frau werden?“ „Ja,…ja, das will ich.“ Er küsste mich ganz sanft. „Ich hätte ja gern einen Ring für dich gehabt, aber das war eine ziemlich spontane Idee und ich war ne ganze Weile ohne Bewusstsein, also…“ Wir lachten beide. „Ich denke, ich werde es überleben. Wichtig ist, dass du endlich wach bist.“ „Wie lange musstest du denn warten?“ Ich drückte ihn in die Kissen zurück und fuhr mit einer Hand durch sein Haar. „Vier Tage, du hast uns echt einen Schrecken eingejagt. Sogar Kenneth hat langsam Angst bekommen.“ „Du duzt ihn?“ Ich nickte langsam und klemmte mir eine meiner Haarsträhnen hinter das Ohr. „Er meinte, da ich sowieso schon so oft bei euch zu Besuch bin und eh fast zur Familie gehöre, könne man das auch so besiegeln. Bei meinem Vater wirst du es allerdings nicht so einfach haben, das kannst du mir glauben.“ „Oje…“ „Er hat täglich angerufen und gefragt, ob er mich endlich nach Hause holen dürfe. Wir konnten ihn immer irgendwie beruhigen, aber heute ist er einfach hier aufgetaucht. Ich habe entweder bei dir geschlafen oder im Gästezimmer übernachtet, aber das hat ihm wohl nicht so gefallen. Er ist dir böse, weil du dich von mir getrennt hast und mich in…“ Ich räusperte mich und fuhr dann fort: „Na ja, sagen wir einfach, er hatte es nicht einfach mit mir in den letzten Tagen. Aber ich denke, er wird sich schon wieder einkriegen. Das hat er am Ende immer, gib ihm ein bisschen Zeit.“ „Dein Auto gefällt mir übrigens sehr.“ „Ja, nicht? Er ist erst zwei Jahre alt und super in Schuss. Die Technik hat mein Vater für 1a befunden und ich habe sogar noch einiges an Geld gespart. Mr. Kennedy wollte gar nicht so viel dafür, wie ich anfangs dachte.“ Er hörte mir aufmerksam zu, streichelte oder küsste mich gelegentlich. Es war, als wären wir nie getrennt gewesen. „Ich sollte jetzt wirklich bescheid geben. Und ich werde mit meinem Vater fahren, okay?“ „Na, schön. Kommst du morgen wieder vorbei?“ „Natürlich. Vielleicht komme ich mit Carly, die wird sich auch freuen, dass du wieder unter uns weilst.“ „Carly?“ „Ja, dein Bruder hat jetzt auch eine Freundin. Und sie weiß über euch bescheid.“ „Tatsächlich?“ „Mhm. Sie hat es sehr gut aufgenommen und ich habe beide, seitdem ich sie kenne, noch nicht glücklicher gesehen.“ „Meine Güte, ich hab ja eine Menge verpasst.“ „Keine Sorge, mein Schatz, das holen wir alles bald wieder auf.“ Ich küsste ihn und fügte hinzu: „Jetzt ruh dich noch ein bisschen aus, ehe die Meute hochkommt. Bis morgen!“ Er lächelte mich an und kuschelte sich in sein Kissen. „Bis morgen!“ „Er ist wieder da“, verkündete ich und wurde stürmisch von Sean umarmt, der kurz darauf mit seinem Vater nach oben verschwand. Mein Vater indessen saß regungslos auf der Couch, blickte zu mir hoch und meinte: „Können wir dann?“ Ich nickte und zog mir meine Schuhe an. „Willst du dich nicht verabschieden?“ „Ach ja… Wiedersehen, Kenneth, Sean und Taylor!“ „Bis morgen und danke!“, riefen sie im Chor zurück und ich öffnete die Haustür. „Na komm, schon. Wir haben doch nicht ewig Zeit, Dad.“ „Haha.“ Mir ging es nie besser. Zum einen war Taylor wieder wach und zum anderen waren wir zusammen, sogar verlobt. Mein Leben verlief wieder in geregelten Bahnen und das mit dem schwarzen Wolf würden wir auch noch hinkriegen. Carly war ebenso in das Geheimnis eingeweiht und ich hatte endlich eine Verbündete, die mit mir durch dick und dünn ging, und mir bei diesem Männerhaushalt beistand.   Ich hatte bei Henry gekündigt. Es tat mir leid und die Männer schienen alle ein wenig geknickt zu sein, doch ich wollte mich jetzt wieder meinen Freunden und meiner Familie widmen. Die letzten Tage hatten mich sehr mitgenommen und der Gedanke einen Teil meines Lebens zu verlieren war furchtbar erschreckend gewesen. Mein Vater ließ mich noch weniger aus den Augen, seitdem er wusste, dass Taylor und ich wieder zusammen waren. Er achtete darauf, dass ich nicht zu spät nach Hause kam und nicht allein zu den Woods fuhr. Was in Anbetracht der Tatsache, dass ich ein eigenes Auto hatte, nicht sehr einfach für ihn war. Außerdem arbeitete er ja auch noch in der Praxis und war im Jagdverein. Ich hoffte sehr, dass er sich nicht übernahm. Schließlich war er auch nicht mehr der Jüngste und ich erinnerte mich noch lebhaft an den Abend, als ich ihm davon erzählt hatte, dass Taylor und ich ein Paar waren. Er war purpurrot angelaufen, für mich eine gefährliche Farbe. Doch immer wieder schaffte ich es zu meinem Verlobten, wie war das merkwürdig das zu sagen. Zum Schein war Taylor noch nicht außer Haus unterwegs. Normale Menschen erholten sich schließlich von solchen Wunden nicht so schnell. So verbrachten wir viel Zeit in seinem Zimmer oder mit Sean und Carly, gelegentlich auch Kenneth, draußen. Die Jungs spielten Football und wir Mädels unterhielten uns über sie. Wir waren uns natürlich im Klaren darüber, dass sie es mit ihren guten Ohren hören würden, aber es waren ja keine Geheimnisse. „Habt ihr euch schon überlegt, wie ihr es deinem Vater sagt?“, fragte Carly, nippte an ihrem heißen Kaffee und bedachte meinen Ring mit einem kurzen Nicken. Vor einigen Tagen hatte Taylor ihn mir angesteckt, an der falschen Hand, damit niemand gleich Verdacht schöpfen würde, aber zu Hause nahm ich ihn meistens ab. Sonst trug ich keine Ringe und ich dachte, dass es mein Vater sofort bemerken würde. Er war ja nicht dumm! Es war ein silberner schmaler Ring mit drei kleinen eingefassten weißen Zirkoniasteinen. Wunderschön, einfach und elegant. „Keine Ahnung. Wie sagt man als Highschool-Schülerin seinem Vater, dass man verlobt ist?“ Sie lächelte Sean zu, der ihr kurz zugezwinkert hatte und blickte dann wieder ernst zu mir. „Ich wüsste es auch nicht. Aber so lange solltet ihr es nicht mehr aufschieben. Je länger es dauert, umso schlimmer wird es schließlich.“ „Ich weiß ja, aber… Es ist ja nicht so, dass ich zu ihm gehen und sagen kann: Hey, Dad. Nur das du es weißt, ich bin verlobt mit dem Jungen, den du seit einer Weile nicht mehr leiden kannst. Vielleicht solltest du dich langsam mit ihm arrangieren, denn von ihm bekommst du deine Enkelkinder?! Zumindest eines.“ „Ehrlich und direkt, ich finde das gut“, meinte nun Taylor und ließ sich vor mir auf dem Boden nieder. Sein Bruder warf ihm eine Wasserflasche zu und ich gab ihm einen Klaps gegen die Stirn. „Willst du gleich erschossen werden? Dann nur zu, erzähl es ihm genau so.“ „Apropos, wo wir gerade beim Planen sind…“, eröffnete Carly und blickte mich mit strahlenden Augen an. Ich kannte diesen Blick, der war es, der mich schon viele schlaflose Nächte gekostet hatte. Obwohl ich in letzter Zeit sowieso nicht viel schlief, und es mir deshalb wohl diesmal nichts ausmachen würde. Taylor missfiel dies natürlich - das mit dem nicht schlafen -, aber ich hatte eine Menge aufzuholen und beschlagnahmte ihn jede Nacht. Wir redeten auch, aber die meiste Zeit verbrachte ich damit ihn zu küssen. Weiter traute er sich nicht, weil er Angst hatte, dass er mich, wenn er nur zwei Sekunden nicht aufpasste, ernsthaft verletzen würde. Ich ging da etwas unbedenklicher ran. Schließlich war das Schlimmste eine angebrochene Rippe gewesen und die hatte ich auch verkraftet. Ich hatte es mit allen mir erdenklichen Tricks versucht, aber bisher war er standhaft geblieben. Doch zurück zu Carlys Frage: Ich stellte mich blöd. „Was willst du planen? Die Enkelkinder meines Vaters?“ „Ach, Dummchen. In drei Wochen…? Du erinnerst dich?“ „Dunkel.“ Ich räusperte mich und senkte den Blick. Eine Sache, die ich gern verdrängt hätte und sich wohl dennoch nicht vermeiden ließ. „Was, bitte, meint sie?“, fragte Taylor und stupste mich leicht an. „Du hast es nicht mal ihm erzählt?“ Sie klatschte aufgeregt in die Hände. Für sie war das eine Art Freudenfest, solche Dinge Unwissenden preiszugeben. Aber für mich… Sagen wir mal, ich war nicht unbedingt ein Fan von dieser Art von Feiern. Und schon gar nicht zu dieser Zeit. „Deine Liebste wird 18 in drei Wochen. Etwas, das unbedingt gefeiert werden muss. Also, schieß los, Süße. Ideen? Vorschläge? Wo willst du feiern?“ „Ähm, ich denke…gar nicht?“ „Kommt nicht in die Tüte. Ich durfte schon deinen 16. und 17. Geburtstag nicht so zelebrieren, wie ich es gern getan hätte. Und auch die davor nicht. Mit dem 18. kommst du mir nicht so einfach davon.“ Taylor blickte mich verdutzt an. Ich sah förmlich die Frage in seinem Blick: Wieso erzählst du mir so was nicht? Genau wegen dem, was danach folgte: „Wir könnten hier feiern… Oder am Strand! Da kann man sich doch bestimmt ein Strandhaus mieten. Falls es regnet auch drinnen machbar und Schlafplätze genug für alle, ohne das wir wild campen müssten.“ Wieder klatschender Jubel neben mir. „Ach, wie wunderbar. Endlich mal ein Mann mit konkreten Visionen. Schatz, hast du nicht auch ein paar Vorschläge?“ Sean sah etwas verzweifelt aus. „Weißt du, ich halt mich da zurück. Ich hasse es auch Geburtstage zu feiern. Den meines Vater und meines Bruders okay, aber meinen eigenen oder den von Freunden, nichts für ungut, Lilly, nicht mein Ding…“ Ich stand auf und umarmte ihn. „Du wirst mir immer sympathischer, Sean. Wollen wir uns nicht zusammentun? Wir wären ein schönes Paar.“ „Na, also“, sagte er und zog mich auf seinen Schoß, „das habe ich dir doch von Anfang an gesagt. Endlich kommst du zur Besinnung.“ Er zwinkerte und dann hörten wir beide das tiefe bedrohliche Knurren hinter mir. Wie vom Blitz getroffen drehte ich mich um und hob drohend meinen Zeigefinger. „Sprichst du dieses letzte Wort vollständig in meiner Gegenwart aus, dann kannst du heute Nacht in deinem Bett schlafen. Und die nächste Nacht vielleicht auch.“ Er gab es ja niemals laut zu, doch auch er genoss unsere Nächte. Auch wenn ich ihn mit meinen Experimenten und Tricks wahrscheinlich fast in den Wahnsinn trieb. Na ja, wohl nicht nur fast. Aber ich wusste, dass er eines Tages gar nicht anders können würde. Taylor sank ein Stück in sich zusammen und stieß wütend die Luft aus seiner Lunge. Dann ging ich zu ihm, schlang meine Arme um seinen Nacken und küsste ihn leidenschaftlich. Carly saß verblüfft auf der Bank und blickte Sean überrascht an. „Sie versteht das tatsächlich, ja? Wahnsinn!“ Ich achtete nicht darauf und wisperte Taylor zu: „Du solltest dir doch wohl darüber im Klaren sein, dass du für mich der Einzige sein und für immer bleiben wirst. Und ich muss es wissen, ich hab es bereits gesehen.“ Und wie ich es gesehen hatte. Öfter schon die Hochzeit, unseren Sohn, unser Haus von innen hier in Crystal Falls, ihn und immer wieder ihn. Natürlich erzählte ich ihm von jedem Traum, doch nicht jede Einzelheit - ein paar Überraschungen sollte er ja wohl auch noch erleben dürfen. Sollte nicht nur, er musste. Es gab so wundervolle Dinge in unserer Zukunft… Doch manchmal wünschte ich, ich hätte es noch nicht gesehen. Schließlich fehlte mir dann der Nervenkitzel etwas Neues mit ihm zu erleben. Aber ich freute mich auf seine Reaktionen, sein Gesicht, wenn er das erste Mal seinen Sohn in den Armen hielt, wenn wir unser Haus betraten, wenn mein Vater ihm meine Hand zum Ehebund reichte. Es gab so vieles, dass noch vor uns lag. Und ich konnte es kaum erwarten, auch wenn mir natürlich jeder Moment in der Gegenwart lieb und teuer war. Doch mir war schon aufgefallen, dass sich einige Träume in mancherlei Hinsicht bereits geändert hatten. Wahrscheinlich mit jeder kleinen Entscheidung, die wir trafen oder auch manchmal nur ein einzelner von uns. Vielleicht würde ich dann also doch überrascht werden. Schließlich hatten wir noch einige Jahre vor uns. Die Woods hatten mir erklärt, dass ich keine Art von Hellseherin war, aber dennoch Visionen von der Zukunft erhielt. Sie würden nicht alle so passieren, aber ich bekam einen kleinen Vorgeschmack davon, was noch so auf meine Freunde, meine Familie und mich zukam. „Wie sagen wir es ihm, Taylor? Ich will ihn einfach nicht mehr anlügen. Auch wenn ich weiß, dass er wahrscheinlich tot umfallen wird“, wisperte ich und sah ihm direkt in seine braunen Augen. „Wahrscheinlich ist gerade heraus das Einfachste und auch Beste. Und wir machen es auf jeden Fall gemeinsam, okay? Ich lass dich nicht allein.“ Ich nickte. „Wann?“ „Schlag du was vor!“ „Was hältst du davon, wenn du am Samstag zum Abendessen kommst und wir es ihm danach sagen?! Ich mache sein Lieblingsessen, dann ist er etwas gnädiger gestimmt, hoffe ich.“ „Einverstanden.“ Gut, blieben mir also noch fünf Tage.   Jeden Tag wurde ich nervöser. Niemand schaffte es, mich davon abzulenken. Auch Taylor in der Nacht nicht. Es war furchtbar und jedes Mal, wenn mein Vater mich ansah, bekam ich fürchterliche Angst und Gewissensbisse. Ich liebte Taylor und ich wollte mit ihm zusammen sein, ihn heiraten, aber das meinem Vater zu erklären, der ihn nicht mehr so sehr mochte… Freitagabend saß ich auf der Couch und schrieb an einem Aufsatz, den wir nach den Ferien abgeben mussten, als mein Vater endlich nach Hause kam. „Hallo, Schatz.“ „Hey, Dad. Wo hast du solange gesteckt?“ „Ach, ich war bei Henry. Hab vorher noch ne Menge Papierkram erledigt. Tut mir leid, ich hätte anrufen sollen.“ „Wäre ganz nett gewesen, ja.“ Ich packte den Block und den Stift auf den Couchtisch und stand auf. „Hast du Hunger? Ich hab noch nichts gegessen und wie ich dich kenne, du auch nicht.“ Er küsste mich auf die Stirn. „Klingt super.“ „Was darf es sein?“ „Ich darf mir was wünschen?“ „Ja, was du willst.“ „Dann wünsche ich mir, dass dieser Junge morgen nicht kommt und wir uns einen ruhigen Abend daheim machen.“ „Dad!“ „Du hast gesagt, was ich will.“ „Du weißt genau, was ich meinte.“ „Ja, ja. Wir haben noch eine Pizza im Gefrierfach.“ „Gut, geh dich umziehen, ich schieb sie in den Ofen. Ein Bier?“ „Ja“, antwortete er und trottete in sein Schlafzimmer. „Wieso kommt er morgen noch gleich?“, rief er daraus hervor. „Jetzt sei doch nicht so. Er ist mein Freund und ich möchte, dass du das endlich zur Kenntnis nimmst. Du hast ihn doch mal gemocht. Du hast gesagt, er sei ein guter Junge…“ „Das war bevor er dich so schäbig behandelt hat. Er hat dich in diesen furchtbaren Zustand versetzt, Lils. Wie kannst du ihm das nur so einfach verzeihen?“ Er stemmte seine Fäuste in die Hüften und blickte mich fragend an. „Weil ich ihn liebe, Dad. Taylor hat sich entschuldigt. Er hat gemerkt, dass er einen Fehler begangen hat. Und er hat gelitten, genau wie ich. Du hast mir doch immer gepredigt, dass man Menschen, die einen Fehler gemacht haben, eine zweite Chance geben sollte, wenn sie selbst dazu bereit sind. Jetzt halt dich doch auch daran.“ Mein Vater ließ sich seufzend auf den Sessel sinken und schaltete auf die Nachrichten um. „Fein… Ich werde nett sein, morgen. Außerdem habe ich das von deiner Mutter übernommen. Das mit der zweiten Chance. Aber noch so eine Sache von ihm und er kann sich warm anziehen…“ Die Kühlschranktür fiel mit einem leichten Klicken zu und ich schluckte schwer. „Dad…tust du mir den Gefallen und hältst dich morgen von den Waffen fern? Ich habe ein bisschen Angst um Taylor, wenn du jetzt schon so redest.“ „Wenn er sich benimmt, hat er doch nichts zu befürchten.“ Ich stellte das Bier auf einen Untersetzer vor ihm und in dem Moment, als er dahin sah, fiel mir auf, dass ich den Ring noch nicht abgenommen hatte. Er schluckte schwer und ich zog hart die Luft ein. „Möchtest du mir vielleicht etwas sagen, Lils?“ Er stellte den Fernseher aus und sah mich durchdringend an. Ich öffnete den Mund, ließ mich auf die Couch sinken und bekam keinen Ton heraus. „Sag mir, bitte, dass dieser Ring nicht an die andere Hand gehört!“ Mein Blick senkte sich. „Das kann ich nicht.“ „Lillian Connor…“ Wie ein Wilder ging er vor mir auf und ab. Ich hatte Angst, dass er ein Loch in den Teppich laufen würde. „Dad, bitte.“ „Bist du schwanger? Ist es deswegen?“ „Nein! Ich schwöre. Und so etwas… Wir haben nicht…, okay?“ Ganz und gar nicht, zu meiner Enttäuschung, dachte ich. Er nickte. Dann schüttelte er den Kopf und setzte sich wieder in den Sessel. „Du bist 17. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir.“ „Nur weil wir verlobt sind und planen irgendwann zu heiraten, heißt das noch lange nicht, dass jetzt mein Leben zu Ende ist, Dad. Und ich möchte es mit ihm verbringen, mein Leben. Er ist wundervoll, er beschützt mich und liebt mich, genau so wie ich bin. Und ist es nicht das, was du dir für mich wünschst?“ „Aber du bist doch noch so jung… Willst du jetzt all deine Pläne über den Haufen werfen, wegen ihm?“ „Welche Pläne?“ „Du wolltest aufs College,…oder nicht?“ „Schon bevor Taylor hier in Crystal Falls auftauchte, hatte ich so meine Zweifel, ob es wirklich das ist, was ich tun möchte. Ich bin mir noch nicht sicher, vielleicht gehe ich aufs College, vielleicht gehe ich aber auch arbeiten oder setze ein Jahr aus. Ich weiß nicht, aber diese Ungewissheit hat nichts mit Taylor zu tun.“ „Warum? Warum hast du dich verlobt?“ Tränen bildeten sich in meinen Augenwinkeln und ich blickte meinen Vater an. „Weil ich ihn liebe. Ich möchte mit ihm zusammen sein, jede Minute meines Lebens. Ich vermisse ihn, wenn er nicht bei mir ist und ich möchte ihn nicht verlieren. Ich bekomme ohne ihn kaum Luft. Manchmal fürchte ich völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es ist verrückt, Dad, das weiß ich. Aber hast du für Mom nicht genau dasselbe empfunden?“ Er lächelte leicht und senkte den Blick. „Ich habe nie verstanden, wie sich diese Frau in mich verlieben konnte. Aber ich hätte mein Leben für sie hergegeben, wenn ich nur die Möglichkeit dazu gehabt hätte.“ „Du verstehst mich also?“ Er seufzte schwer und schloss kurz die Augen, dann streckte er die Arme nach mir aus und zog mich an sich. „Ich verstehe es. Und ich sollte wahrscheinlich froh darüber sein, dass es sich dabei um Taylor Wood handelt und nicht um so einen Dummkopf, wie es viele Jungs sonst in diesem Alter sind. Habt ihr schon einen Termin gemacht?“ „Dad, nein. Ich sagte doch, irgendwann. Wir überstürzen nichts.“ Er lachte trocken. Ich kniff kurz die Augen zusammen und meinte: „Entschuldige. Schlechte Wortwahl.“ Wir aßen dann in Ruhe die Pizza, sahen noch ein bisschen Fern und dann ging ich nach oben. Taylor würde bald kommen und ich wollte vorher noch duschen.   „Hallo, meine Schöne“, begrüßte er mich, als ich aus dem Badezimmer kam. „Hey, ich hab dich vermisst.“ Ich richtete mein Shirt, fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und krabbelte dann zu ihm ins Bett. Er war so herrlich warm und ich fühlte mich bereits geborgen, bevor er überhaupt einen Arm um mich legen konnte. Meine linke Hand ruhte auf seiner Brust und er sah mich leicht verwirrt an. „Ist irgendwas?“ „Er weiß es.“ „Oh, Lilly.“ Taylor drückte mich kurz und blickte mich dann entschuldigend an. „Ich weiß, wir wollten es ihm gemeinsam sagen, aber er hat den Ring gesehen und… Ich wollte ihn nicht anlügen.“ „Und?“ „Er versteht es und er ist, denke ich, damit einverstanden, dass du es bist.“ „War er sehr wütend?“ „Nein. Ziemlich gefasst, er lief auch nicht purpurrot an. Zumindest hätte es schlimmer sein können.“ Er nahm meine linke Hand und drückte die Innenfläche gegen seine Lippen, dann fiel es ihm auf. „Du trägst ihn an der richtigen Hand?!“ „Ja. Weißt du, mir ist klar geworden, dass es falsch wäre, so etwas geheim zu halten. Ich liebe dich und das darf gern jeder wissen. Ich werde nicht verstecken, was ich für dich empfinde. Es war dumm von mir, das zuerst zu tun und das tut mir leid. Aber ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen und damit beginnt es nun.“ Er antwortete nicht, stattdessen drückte er mich küssend in die Kissen zurück und verflocht seine Finger mit den meinen. Sein warmer Körper schmiegte sich an mich und ich wusste nicht, wie mir geschah, als ich plötzlich ein paar Bilder vor mir aufblitzen sah. Ein kleiner Junge mit ein paar kleinen weißen Zähnchen grinste mich an. Derselbe Junge auf den Schultern Taylors, der mit mir an der Promenade spazieren ging. Und dann war ich wieder im Hier und Jetzt und seufzte unter Taylors Kuss. „Was ist?“, wisperte dieser und blickte mich mit glänzenden Augen im Dunkeln an. „Gar nichts“, lächelte ich, „ich bin nur gerade sehr glücklich.“ „Dann bist du dir wirklich ganz sicher?“ Er schluckte schwer, hielt aber noch immer meine Hände mit den seinen verschränkt. „Ich habe keine Angst, Taylor! Und du musst auch keine haben. Ich vertraue dir.“ Seine Lippen senkten sich ganz kurz und hauchzart auf meine, dann richtete er sich auf und zog sein T-Shirt aus. Ich zog ihn wieder zu mir hinunter, schlang meine Arme sanft um seinen Nacken und fühlte das heftige Klopfen seines Herzens. Die warme Haut, die sich fest an mich schmiegte. „Ich liebe dich“, flüsterte ich und er antwortete ebenso leise: „Ich dich auch.“   Meine Augen öffneten sich, lange bevor der erste Sonnenstrahl zu sehen war. Das Glücksgefühl von letzter Nacht war noch immer nicht verebbt. Ganz im Gegenteil. Nie zuvor hatte ich mich besser gefühlt, obwohl ich gestehen musste, dass ich etwas Muskelkater hatte. Ich blickte vorsichtig unter die Decke, überprüfte meinen Körper. Alles war in Ordnung. Taylor lag neben mir, eine meiner Hände war mit seiner verschlungen und mit der anderen zog ich die Decke etwas weiter über meine Brust. Er schlief noch tief und fest, ich wollte ihn auch nicht wecken. Es muss ihn eine Menge Kraft und Konzentration gekostet haben, damit er mir nicht wehtat. Aber es war nichts geschehen. Mir ging es blendend und er war so sanft und vorsichtig gewesen. Am liebsten hätte ich die ganze Welt umarmt, begnügte mich aber dann damit ihn anzusehen. Er träumte und ich verfolgte die wechselnden Emotionen, die sich auf seinem Gesicht abzeichneten. Verwirrung, Freude, Ärgernis und dann schlug er seine Lider auf und blickte mich direkt an. Taylor musste noch nicht einmal etwas sagen, ich konnte die Frage ganz genau in seinen glänzenden Pupillen ablesen. Ehe er die Antwort darauf nicht bekam, würde er den ganzen Tag nicht weiter mit mir reden. „Es geht mir wunderbar“, hauchte ich und senkte verlegen meinen Blick. Das, was gestern Nacht geschehen war, war mir nicht im Geringsten peinlich, aber ich wollte sein Gesicht nicht sehen, wenn er durch meine Antwort unweigerlich daran dachte. „Wirklich nichts? Blaue Flecken, Blutergüsse oder irgendwas anderes?!“ „Nein. …Und wie geht es dir?“ „Mächtig Muskelkater, aber das gibt sich bald wieder. …Und wirklich null Verletzungen? Auch keine…blutigen Kratzer?“ Der Widerwille war kräftig heraus zu hören. „Glaub es mir, gar nichts. Oder möchtest du nachsehen?“ Ich zog sein Kinn ganz nah zu mir und fühlte seinen Atem auf meinem Gesicht. „So unwiderstehlich das auch klingt“, begann er und ich lehnte meine Stirn lachend gegen seine, „aber ich muss zum Haus zurück. Sonst werde ich noch beim Frühstück vermisst.“ „Was freue ich mich auf den Tag, an dem wir uns gemeinsam an unseren Frühstückstisch setzen… Es bedeutet nämlich, dass du morgens nicht von mir weghetzen musst.“ Er lächelte zärtlich. „Ich kann es kaum erwarten,…aber noch ist es leider nicht soweit. Wirst du es überleben?“ Ich seufzte theatralisch und schlang meine Arme um seinen Oberkörper, meine Lippen verharrten kurz an seinem Hals. „Ach, ich bin mir nicht ganz sicher.“ „Gibt es eine Möglichkeit dich zu überzeugen?“ „Probier was aus…“ Er zeichnete mit seinem rechten Zeigefinger meine Wange nach, meinen Hals und kehrte dann um zum Kinn. Wir sahen uns direkt in die Augen und für einen Moment huschte sein Blick zu meinen Lippen. „Oh Mann…“, stöhnte er und wandte sich dann zur anderen Seite um. Ich beobachtete ihn dabei, wie er seine Sachen zusammensammelte und sich anzog. Während ich die Decke an meinen Körper presste und mich im Bett aufsetzte, warf Taylor mir immer wieder einen kurzen Blick zu, bis er sich vollständig angekleidet hatte. Wahrscheinlich verriet mich mein trauriges Gesicht, denn ich begriff einfach nicht, warum er sich so schnell von mir abgewandt hatte. Jedenfalls hockte sich Taylor zu mir ans Bett und griff nach meiner linken Hand. Er küsste die Innenfläche, belächelte den Ring und meinte dann: „Du forderst dein Glück ganz schön heraus, das weißt du, oder? Ich möchte nur einfach, dass du unversehrt bleibst und deshalb beeile ich mich lieber. …Ich bin so gegen Sechs wieder hier, ja?“ „Ist gut. Und, Taylor, ich verstehe es. …Wenn du nämlich nicht bald gehst, kann ich auch für nichts mehr garantieren…“ Ich streckte ihm die Zunge ein Stück heraus und hörte ihn lautstark ausatmen. Seine Lippen bewegten sich lautlos und ich hatte das dumme Gefühl, dass er seine Vorsätze immer wieder aufs Neue herunterbetete. Erst in diesem Moment begriff ich tatsächlich, wie sehr ich ihn körperlich anzog. Sicher, dass hatte er mir schon oft gesagt, aber wirklich bewusst wurde es mir dann erst an diesem Morgen. Dann hatte ich ihn sogar mehr gequält in letzter Zeit, als mir überhaupt klar war. Er schob das Fenster auf, sah sich noch einmal zu mir um, lächelte kopfschüttelnd und huschte dann in den Wald. Ich wickelte die Decke um meinen Körper, schloss das Fenster und strahlte wieder über das ganze Gesicht. Welt, dachte ich, fühle dich umarmt.   Während ich in der Küche die letzten Vorbereitungen für das gemeinsame Abendessen traf, schlich mein Vater von einem Zimmer zum Nächsten. Er machte mich wahnsinnig, aber ich sagte nichts. Ich glaubte, dass ihn das nur noch mehr in Rage bringen würde und so konzentrierte ich mich auf die brutzelnden Schnitzel in der Pfanne und summte ein Lied nach dem anderen vor mich hin. Mein Vater, wie Sie ja sicher bis hierher bemerkt haben, mag es überhaupt nicht im Haus eingesperrt zu werden. Darum fuhr er auch immer mit seinen Freunden angeln oder machte irgendwelche anderen Ausflüge außer Haus, wenn das Wochenende kam. Aber heute hatte er darauf bestanden bei mir zu bleiben. „Wer weiß, wie lange ich solche Zweisamkeit mit dir noch habe“, hatte er gesagt und war dann am Morgen wieder hinter seiner Zeitung verschwunden. Umso mieser gelaunt war er jetzt und ich hatte die leise Vermutung, dass er es auch genau darauf angelegt hatte. Nur eine falsche Bewegung oder Bemerkung Taylors und er würde wie eine Rakete in die Luft gehen. Zuerst wollte ich Taylor per SMS vorwarnen, aber dann dachte ich, dass der dadurch nur nervös werden würde und unterließ es. Auch so war es für ihn ein merkwürdiger Tag und das musste durch so eine Nachricht ja nicht noch schlimmer werden. „Dad, drehst du bitte die Schnitzel immer mal wieder um? Ich will mir nur schnell etwas anderes anziehen…“ Es grummelte mir aus dem Wohnzimmer entgegen und ich flog förmlich die Treppe hinauf. Mein Blick fiel auf mein Bett und ich lächelte unwillkürlich. So würde es mir von nun an wohl immer gehen, wenn ich mein Zimmer betrat. Es war kurz vor sechs Uhr, als ich wieder runter ging und schon klingelte es an der Tür. „Ich mach auf“, rief mein Vater, stürmte zur Tür und ich ging gelassen in die Küche zurück, um das Essen anzurichten. „Guten Abend, Dr. Connor“, begrüßte Taylor ihn freundlich und mein Vater ließ sich einen Augenblick Zeit. Ich stellte mir vor, wie er ihn mit Blicken einzuschüchtern versuchte und schüttelte seufzend den Kopf. „Dad, bitte“, rief ich und konnte förmlich fühlen, wie er die Wut herunterschluckte. „Abend! Komm rein.“ „Danke, Sir. Oh, es riecht wirklich wunderbar.“ „Ja, meine Tochter ist ja auch ein wahres Genie in der Küche.“ Ein leichter Anflug von Stolz schwang in seiner Stimme, aber dann wurde er wieder grimmig und fügte hinzu: „Aber das ist nicht alles, wofür sie da ist. Nicht wahr?“ „Natürlich nicht“, stimmte Taylor ihm zu, „Lilly ist wahnsinnig klug. Sie hat eine großartige Zukunft vor sich.“ Dann erschien er vor mir und grinste. „Hallo…“, sagte ich. Er hielt einen Strauß orangefarbener Gerberas in den Händen. „Hallo. Ich dachte, die könnten dir gefallen.“ Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen und wandte mich dann wieder den Kartoffeln zu. „Sie sind wunderschön, danke. Dad, wärst du so lieb und holst eine Vase aus dem untersten Schrank?“ „Ja, ja!“ Er stellte die Flasche Wein, wohl ein weiteres Mitbringsel Taylors, auf die Theke und schlurfte davon. „Stimmt irgendwas nicht?“, fragte mein Verlobter als mein Vater ein Stück entfernt war und wir glaubten, dass er uns nicht hören würde. „Ach was, ich glaube, er merkt nur gerade, dass ich erwachsen werde und er irgendwann mal allein in diesem Haus leben wird.“ Taylor zog kurz die Augenbrauen hoch, dann lächelte er wieder als mein Vater zurückkam. „Setz dich doch, das Essen ist gleich fertig“, trällerte ich. „Gern.“ Wir hatten im Wohnzimmer einen höheren Tisch aufgestellt und ihn eingedeckt mit dem hübschen Geschirr, das meine Eltern zu ihrer Verlobung bekommen hatten. Darunter hatte ich eine weiße Tischdecke gelegt und cremefarbene Servietten verteilt. Den Strauß stellte ich, nachdem ich ihn ins Wasser gestellt hatte, ans Ende des Tisches. Dann holte ich die Schalen und die Platte mit den Schnitzeln. Am Kopfende nahm mein Vater Platz, auf der rechten Seite Taylor und ich auf der Linken. „Dann einen Guten Appetit“, meinte ich und jeder füllte sich etwas auf. In der nächsten halben Stunde sprach niemand über ein bestimmtes Thema. Taylor sagte, dass sie schlechtes Wetter angesagt hätten, doch bisher schien die Sonne. Mein Vater lobte das Essen und ich erkundigte mich nach Henry und den Jungs in der Billardhalle, wo mein Vater gelegentlich noch abends vorbeischaute. Manchmal vermisste ich sie wahnsinnig, aber ich bereute meine Entscheidung nicht. Dann räumte ich den Tisch ab und brühte frischen Kaffee auf. Ich hatte mich gerade wieder hingesetzt und genoss den wohlriechenden Dampf, der mir in die Nase stieg, als sich Taylor räusperte und meinen Vater ansah. „Dr. Connor, ich weiß, dass ich es falsch angefangen habe und ich möchte nur, dass Sie wissen…“ „Falsch angefangen?“ Nun ging es los. Ding-Ding. Ich hörte förmlich eine Glocke ertönen, wie es bei Boxkämpfen üblich war. „Ja, ich hätte zuerst…“ „Falsch angefangen, ist gar kein Ausdruck. Sie ist 17 Jahre alt, Junge. Und kurz bevor du sie bittest deine Frau zu werden, hast du sie einfach fallen gelassen.“ „Dad!“ „Nein, Schatz, wenn du nicht darüber reden willst, ist das deine Sache, aber ich möchte, dass er weiß, was er dir angetan hat. Ich habe nicht vergessen, was du durchmachen musstest.“ „Sir, ich weiß, dass es sehr dumm war und…“ „Dumm? Dumm ist es, wenn man vergisst jemandem Bescheid zu geben, dass man nicht rechtzeitig zum vereinbarten Treffpunkt kommt. Das, was du getan hast, war schrecklich, widerlich und verantwortungslos.“ Ich verpasste meinem Vater einen leichten Stoß gegen das Schienbein und als er mich anblickte, schüttelte ich verzweifelt den Kopf. Er würde es ihm in jeder Einzelheit sagen. Ihm vor Augen führen, in welchem Zustand er mich zurückgelassen hatte und gerade das, so hatten es Taylor und ich abgemacht, sollte niemals zur Sprache kommen. Wir hatten beide das Gleiche durchgemacht und er hatte sich entschuldigt. Für mich war das ausreichend, aber mein Vater sah das anders. Er wandte sich wieder Taylor zu und funkelte ihn an. „Zwei Tage lang hat sie geweint und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Sie aß nichts, redete nicht und diese beiden Tatsachen änderten sich auch in den Tagen danach nicht. Wo hast du gesteckt, als wir, ihre Freunde und ich, versuchten sie wieder aufzurichten? Du jedenfalls hast dich nicht blicken lassen. Und obwohl du ihr Herz brachst und sie zutiefst gekränkt hast, kümmerte sie sich um dich als du verletzt warst. Ich weiß nicht, woher sie die Kraft nahm, ich hätte sie nicht gehabt. Und an ihrer Stelle hätte ich sie auch nicht haben wollen.“ „Dr. Connor, ich weiß, dass ich Ihre Tochter nicht verdient habe. Sie ist ein wahrer Engel und ich…ich bin ein Monster. Damals dachte ich, ich könnte sie schützen, indem ich mich von ihr trenne, aber das war ein Fehler. Eine Entscheidung, die ich sehr lange noch bereuen werde. Lilly hat mir verziehen und ich habe mir geschworen niemals wieder zuzulassen, dass ihr etwas geschieht. Da ich weiß wie es ist, ihr wehzutun, werde ich alles daran setzen, damit das nicht noch ein Mal passiert. Weder durch mich noch durch jemand anderen. Ich hätte Sie zuerst fragen müssen, ob Sie mit einer Verlobung einverstanden sind, aber ich liebe Ihre Tochter und sie macht mich zu einem besseren Menschen. Und dieses Gefühl werde ich ihr den Rest meines Lebens zurückgeben.“ Er blickte meinem Vater aufrichtig ins Gesicht, doch ich sah, obwohl sich schon wieder Tränen in meine Augenwinkel stahlen, dass er den Kiefer anspannte. Angst. Und dann blickte ich zu meinem Vater und erkannte den aufkeimenden Funken Respekt. Im Hintergrund tickte die Uhr. Zähflüssig vergingen die Sekunden und Minuten. Hätte ich nicht die offenen Augen und sich hebenden und senkenden Brustkörbe gesehen, man hätte denken können, dass sie gar nicht mehr lebten. Dann neigte mein Vater kurz seinen Kopf und sah Taylor wieder an. „Gut, Junge, beweis mir, dass du auf sie Acht geben kannst. …Ich bin einverstanden. Obwohl wir beide wissen, dass ich selbst dann nichts gegen sie hätte ausrichten können, wenn ich dagegen gewesen wäre.“ Er grinste und warf einen kurzen Blick auf mich. Erst danach begriff ich, was er da eben gesagt hatte, sprang dann aber vom Stuhl auf und umarmte ihn stürmisch. „Danke, Daddy“, wisperte ich und drückte mein Gesicht gegen seinen Hals. „Er macht dich glücklich, Lils, und das ist es, was für mich zählt.“ Taylor reichte ihm die Hand und meinte: „Danke, Sir. Ich werde Sie nicht enttäuschen.“ „Nenn mich Daniel, schließlich gehören wir ja bald zu einer Familie.“   „Ich dachte wirklich, er springt dir gleich an die Gurgel“, wisperte ich, fest an Taylor gekuschelt, als wir draußen auf der Veranda saßen und den Sternenhimmel betrachteten. „Frag mich mal. So viel Angst hatte ich lange nicht…“ Ich kicherte und spürte, wie Taylor seine Jacke öffnete und mich darunter an seinen Oberkörper zog. Es war sehr kalt geworden, ungewöhnlich für den Sommer in Michigan. Gut, hier herrschten natürlich nie solche Temperaturen wie in L.A., aber ein wenig wärmer war es normalerweise schon. „Würdest du mir einen Gefallen tun?“, fragte er leise und ich sah zu ihm auf. Mein Gesicht war nur Millimeter von seinem entfernt und ich genoss den leichten Hauch seines Aftershaves, der mich umgab. „Wenn es machbar ist, sicher!“ „Lass uns deinen Geburtstag feiern. Wir haben in letzter Zeit nicht oft die Möglichkeit gehabt, etwas Fröhliches zu erleben. Das wäre doch die Gelegenheit.“ Ich seufzte und Taylor sah mich mit einer solch umwerfenden Liebenswürdigkeit an, dass ich mich nur schwer beherrschen konnte, nicht über ihn herzufallen. „Na schön, aber anstatt, dass ich Geschenke kriege, steuert einfach jeder irgendwas zu der Party bei. Was weiß ich, Getränke, Salat oder Grillzeug. Dann können wir auch am Strand feiern.“ Er zog mich noch näher an sich, küsste mich auf die Wange und sagte: „Danke, danke, danke!“ „Du bist meinetwegen in die Höhle des Löwen gegangen, dann ist es nur fair, wenn ich dir auch einen Gefallen tue.“ „Also dann ist das aber ungerecht…“ „Du meinst, dein Erlebnis war viel furchterregender?“ „Das möchte ich doch wohl meinen.“ „Du hast wirklich keine Ahnung davon, wie furchtbar ich es finde, meinen Geburtstag zu feiern, nicht?“ „Nein. Aber warum?“ Ich senkte meinen Blick und spürte, wie Taylor mich instinktiv fester an sich zog, als er das salzige Wasser roch, das in mir aufstieg. „Weil an meinem Geburtstag einer der wunderbarsten Menschen meines Lebens starb. Ihr sechster Todestag, fällt auf meinen 18. Geburtstag.“ „Oh, Lilly… Hätte ich das gewusst, würde ich niemals darauf bestehen, dass…“ „Das weiß ich doch. Aber Carly hat Recht, ich sollte endlich feiern und nicht mehr weinen. Sie hätte das auch nicht gewollt und nur weil ich diesen Tag mit Freunden verbringe, heißt das noch lange nicht, dass ich sie vergesse, nicht wahr? Am Morgen werde ich, wie jedes Jahr, mit meinem Vater zu ihrem Grab gehen. Weißt du,…sie hätte dich sehr gemocht. Und sie würde dir wahrscheinlich jetzt tausend Mal dafür danken, dass du mich so glücklich machst, wenn sie könnte. Ihr hättet euch beide wunderbar verstanden!“ Taylor setzte zwar sein schiefes Lächeln auf, das ich so sehr mochte, aber seine Augen blickten traurig. „Oh je, ich wollte dich nicht auch noch mit runter ziehen. Entschuldige!“ „Mach dir darüber keine Gedanken. Es ist nur, dass mir gerade auffiel, dass ich über meine Mutter und dich dasselbe sagen könnte.“ Ich kletterte auf seinen Schoß und schlang meine Arme um seinen Körper. „Na, wir sind schon Zwei. Ein so wundervoller Abend und wir reden über unsere Mütter. Obwohl wir doch feiern sollten, dass mein Vater uns seinen Segen gibt.“ „Das machen wir ja auch noch. Wir haben doch noch genug Zeit miteinander!“ Solche Worte aus seinem Mund zu hören, war wirklich das Schönste am ganzen Tag. Er dachte an die Zukunft, die noch vor uns lag. Etwas, dass er sich früher nie eingestanden hätte. Damals dachte er nie weiter als an den nächsten Tag und jetzt plante er weiter - ein herrliches Gefühl.   18. August Das Mädchen ist wieder glücklich und ich habe wieder einmal im Traum geweint. Als ich die Augen aufschlug, quoll mein Herz fast über vor Freude. Ich bin mir jetzt ganz sicher, dass es meine Tochter ist. Aber das bedeutet auch, dass ich nicht lange an ihrer Seite sein werde. Sie wird ohne mich erwachsen werden, heiraten und ihre eigene Familie gründen. Die Ähnlichkeit zwischen uns ist frappierend. Es hätte mir gleich auffallen müssen, aber das Naheliegendste sieht man ja bekanntlich oft nicht. Sie ist ein kluges, schönes und unglaublich liebes Mädchen, dass sich für ihre Freunde aufopfert. Daniel schien anfangs nicht allzu begeistert darüber zu sein, dass sie den gut aussehenden jungen Mann heiraten möchte. Ich hoffe, er hat es ihr nicht zu schwer gemacht in ihrem Leben. Ich jedenfalls finde, dass sie eine wirklich sehr gute Wahl getroffen hat. Er wird sie glücklich machen und das ist doch das, was zählt. Auch wenn sie sich noch nicht lange kennen, aber ich schätze meine Tochter so ein, dass sie so etwas nicht nur aus Spaß an der Freude tut, sei es ihnen vergönnt. Sie haben sich wohl beide vom ersten Moment an geliebt. So wie es auch bei Daniel und mir war und noch immer ist. Und dennoch… Ich habe unglaubliche Angst. Wenn ich sie nicht auf ihrem Weg begleiten kann und mein Leben nicht mit Daniel verbringe, was bleibt mir dann? Sicher, wir werden einige Jahre zusammen sein, aber ich scheine genau dann gehen zu müssen, wenn sie mich am meisten brauchen. Ist das fair? Es ist wahrlich ein Fluch, bereits zu sehen, dass man stirbt und so vieles verpasst. Ich möchte nicht, dass man um mich trauern muss, dass sie mich gehen lassen müssen, dass ich sie alleine lasse. Ob man das noch verhindern kann? Wie sagte meine Großmutter immer? Schicksal gibt es nicht, denn jeder bestimmt selbst über seine Zukunft. Ich werde nichts unversucht lassen, um bei ihnen bleiben zu können. Dafür liebe ich sie beide zu sehr. Ich werde selbst über mein Leben bestimmen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)