Die Magie des Lesen lernens von Hinatara (...oder es zu lassen.) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „O“ war ein einfacher Buchstabe. Er sah aus, wie ein Kreis. Noch einfacher wäre es allerdings, wenn nicht so viele Buchstaben so ähnlich aussehen würden, wie ein „O“. Cato sah mit leicht zusammengekniffenen Augen auf die aufgeschlagene Buchseite vor sich und versuchte, die Überschrift des Kapitels zu entziffern. Die Oberverzauberin Livia saß zwar mit strengen, aber geduldigen Blick neben ihn. Wie sie so viel Zeit für ihn aufbringen konnte, wusste Cato bis heute nicht. Alle anderen Magier waren eher abweisend, kaum einer wollte sich länger als nötig mit ihm abgeben, aber sie opferte sogar ihre eigene Freizeit, nur um ihm noch einige weitere private Unterrichtsstunden zu ermöglichen. Es war ungewohnt, dass sich jemand so um ihn bemühte. Seit sie festgestellt hatten, dass er magisch begabt war, sahen ihn die Menschen in Tevinter nur noch kritischer an. Ein Sklave, noch dazu ein Elf, der zwischen ihren adeligen Kindern im Zirkel Magie lernen sollte? Das konnten nur die wenigsten Familien akzeptieren. Cato war froh, dass sein ehemaliger Meister ihm erlaubt hatte, hier zu sein, ohne Frage... aber es war schwierig. Manchmal wünschte sich Cato sogar zurück, in die Zeit vor noch wenigen Jahren, als er zusammen mit den anderen Haussklaven in ihrer eigenen, kleinen Welt leben konnte, ohne dass er sich Gedanken darum machen musste, wie er die gefühlt hunderten Buchstaben dieses Alphabets jemals auseinander halten sollte. Nein, diese Welt war vollkommen anders. Eine, in der er nicht aufräumen, in der Küche helfen, Gäste bewirten oder den Sohn des Meisters bespaßen musste – zumindest so lange nicht, bis er zurück in das Anwesen seines Meisters kam. Dann war er wieder in der alten Welt, in der er seine Dankbarkeit dem Meister gegenüber auch jetzt noch mit Arbeit zeigen wollte. Aber hier, in den Mauern des alten Tempels, der zu einer Schule umfunktioniert worden war, war alles anders. Eine, in der er zu lernen hatte, wie man schrieb und las, welche Dämonen wie von ihm Besitz ergreifen wollten, wie magische Rituale und Runen funktionierten und wie er welche Magie wirken konnte. Runen waren so viel einfacher zu lernen als Schrift... Jedes Symbol hatte eine Bedeutung, die er aus der Form ableiten konnte. Buchstaben waren einfach nur... wirr. „Konzentrier dich“, wies die Oberverzauberin ihn an, als könnte sie seine Gedanken sehen. Sie war freundlich zu ihm, einer der wenigen Menschen hier, die es waren. Eigentlich mochte er sie recht gerne. Die anderen Schüler sagten häufig, dass sie sehr großmütterlich wirkte, was Cato nicht bestätigen konnte. Er wusste nicht, wie Großmütter waren. Konzentrierter sah er auf die Buchstaben und blickte hin und wieder auf die Tabelle mit den verschiedenen Lauten, die er zur Hilfe nehmen durfte. Wer immer diese Buchstaben erfunden hatte, hatte darüber nicht gründlich nachgedacht. „Welcher Buchstabe macht dir gerade Probleme?“, fragte Livia, nachdem von Cato doch schon einige Zeit kein Laut mehr gekommen war. 'Alle' war sicherlich keine Antwort, die sie gerne hören wollte, also tippte der Zwölfjährige wahllos auf ein Symbol, das er nicht erkannte. „Der hier.“ Sie schien ihm nicht zu glauben, denn ihr Blick wurde kritischer. „Du musst mehr üben, Cato.“ Wann denn? Sobald der Unterricht vorbei war, begann die Arbeit. Sobald die Arbeit geschafft war, war er froh, ein wenig schlafen zu dürfen. Und dann begann wieder der Unterricht. Er senkte den Kopf, denn er wollte den enttäuschten Blick der Oberverzauberin nicht sehen. „Verzeiht mir“, murmelte er. „Du bist ein kluger Junge.“ Cato bezweifelte das. Aber er widersprach nicht. „Du musst nur mehr üben, dann wirst du bald flüssig lesen können.“ ...irgendwie bezweifelte Cato das. Es fühlte sich falsch an, lesen zu wollen. Er war kein Adeliger. Er war ja nicht mal ein Mensch. Als er nach oben schielte, lächelte Livia jedoch wieder aufmunternd und Cato schaffte es, selbst zaghaft zu Lächeln. Konzentration. Er wollte sie nicht enttäuschen. Sein Kopf rauchte. Cato hatte sich mit einem der Bücher, das er ausleihen durfte, zurück begeben. Der Meister war in einer Sitzung des Magisteriums und würde vermutlich erst spät in der Nacht nach Hause kommen, sodass die Vorbereitungen für das Abendessen ausfielen. Der junge Elf saß in der Küche, das Buch mit den Symboliken verschiedener Ritualzirkel aufgeschlagen, doch anstatt zu lesen, besah er sich viel lieber nur die gezeichneten Erklärungen der einzelnen Darstellungen an. Mina war noch im Raum. Die Elfin, deren Haare schon mit grauen Strähnen durchzogen waren, war Cato noch immer die Liebste Gesellschaft. Seit er von dem Meister gekauft worden war, hatte sie ihm beigebracht, wie er sich verhalten sollte und häufig sogar ein paar seiner Aufgaben selbst erledigt. Sie war freundlich, schien immer gut gelaunt und manchmal, so wie heute, summte sie sogar leise vor sich hin. Musik war hier selten zu hören, umso mehr genoss Cato die leise Melodie, während er die Buchseiten umblätterte. Hier wurden Sternenbilder erklärt. Einige kannte Cato noch, sie hatten sie im Unterricht benannt, und er sah sich interessiert an, wie sie mit den aufgemalten Zirkeln im Zusammenhang standen. „Was ließt du schönes?“, fragte Mina und sah ihm neugierig über die Schulter. „Nichts. Ich schau mir nur die Symbole an.“ „Oh.“ Mina setzte sich neben ihn und lächelte. „Sind das Symbole der Magier?“ „Ja. Für Rituale. Du hast doch schon mal Rituale der Magister gesehen.“ Sie nickte. „Aber ich habe nie auf die Symbole geachtet.“ „Es ist sehr interessant, wenn man weiß, wie das alles zusammenhängt.“ „Erklärst du es mir?“ Ihr... erklären? „Natürlich“, meinte Cato leicht verwirrt. Normalerweise war er es, der von anderen lernte. Gebeten zu werden, etwas zu erklären, war seltsam. „Hm... wo fange ich am besten an?“ Er blätterte ein paar Kapitel zurück. Vielleicht würde er in diesem Leben nicht mehr anfangen, Buchstaben voneinander unterscheiden zu können. Aber sehr vermutlich würde er das auch nicht brauchen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)