Another You von Black-Starshine ================================================================================ Kapitel 3: Memories of the past -------------------------------     Memories of the past   In der Gestaltung der Zukunft liegt die Bewältigung der Vergangenheit. Andreas Hoffstadt (*1965), Vertriebsexperte, Rhetorikspezialist, Vortragsredner und Buchautor   Es war ungewohnt, ihre müden Lider zu öffnen und nicht in das schlafende Gesicht ihres Freundes zu blicken. Auch, wenn sie nicht zusammenwohnten, so verbrachten sie doch fast jede Nacht gemein. Hier in Amerika hatte sie beschlossen, die Zeit bei ihrer Familie und nicht bei ihren Freunden im Hotel zu verbringen. Sie hatte sich vorgenommen, irgendwie zu ihrer großen Schwester durchzudringen und sie endlich zum Sprechen zu bringen, doch wie sie feststellen musste, würde sich das schwerer als erwartet gestalten. Denn als sie ihren Kopf zur Seite wand‘, war die andere Seite des Bettes leer und kalt. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es erst kurz nach neun war. Mimi war noch nie die Langschläferin gewesen, doch nun schien sie noch früher als sonst aufzustehen. So beschloss auch Mira, sich allmählich aufzurichten, sich den Schlaf aus den Augen zu wischen und sich noch einmal umzusehen.   Mimis Zimmer hatte sich verändert, genau wie ihre Persönlichkeit. Keine Bilder ihrer Freunde, nichts von Taichi und ihr oder Bilder von den anderen Mädels. Ein Familienfoto stand einsam auf der Vitrine, ansonsten nichts Persönliches. Auf dem Schreibtisch lagen allerhand Notenblätter, Bleistifte, Textmarker und andere Utensilien, die man benötigte, um sich für ein Studium vorzubereiten. Es war trist und wirkte so, als würde Mimi nur zum Lernen herkommen. Dabei war sich Mira nicht mal sicher, ob dem wirklich so war, denn viele Dinge wirkten unberührt.   Auch der Inhalt von Mimis Kleiderschrank hatte sich verändert. Wo sie damals eine fast ekelerregende Farbenpracht entgegengesprungen war, zeigte sich nun en Bild der Trist ab. Weite, graue und schwarze Pullover, ein Übermaß an schwarzen Kleidungsstücken, mehr Hosen als Röcke, alles in dunklen Tönen. Mira trieb es fast die Tränen in die Augen, als sie das Ausmaß von Mimis Veränderung in jeder Sparte ihres Lebens wiedererkannte. Sie war sich sicher, dass Mimi Taichi nicht aufgrund mangelnder Gefühle verlassen hatte. Etwas war am Abend zuvor geschehen, was Mimi innerlich zerstört hatte. Ihr wurde schlecht, wenn sie daran dachte, wie sie Mimi gefunden hatten. Sie lehnte erschöpft, mit Tränen in den Augen, an der Steinmauer. Miyako schloss gleich darauf, dass sie zu viel getrunken hatte. Warum hatte sie der Brillenträgerin nur geglaubt? Irgendwas anderes war passiert. Was, wenn ihr jemand wehgetan hatte? Was, wenn sie jemand bewusst zerbrochen hatte und sie sich selbst dafür verantwortlich machte. Mira wurde erneut schlecht.   Als sie sich selbst nicht mehr unter Kontrolle halten konnte, stürmte sie aus Mimis Zimmer und verschwand mit einem lauten Knall im Badezimmer. Natürlich blieb dies nicht unbemerkt.   Bis dato war Makoto in der Küche gestanden und bereitete das Frühstück für sich, seine Verlobte, seine kleine Schwester und seinen besten Freund vor. Dass Mimi nicht mehr in der Wohnung war, wunderte ihn nicht. Sie interessierte sich nicht für gemeinsame Aktivitäten und aß meist in der Mensa der Universität. Wenn man bedachte, dass sie aktuell vorlesungsfreie Zeit hatten und wohl keiner freiwillig in die Uni kam, war das Verhalten mittlerweile typisch für Mimi. Die junge Frau vermied großes Personenaufkommen, hielt sich zurück, sich an Gruppenaktivitäten zu beteiligen und kümmerte sich auch weiter um keinerlei Teilhabe am öffentlichen Geschehen.   Mit dem Aufspringen von Mimis Zimmertüre, fuhr er zusammen und wollte sich schon von seinem Ei in der Pfanne abwenden, als sich zärtlich eine Hand auf seine Schulter legte. „Ich kümmere mich darum…“, sprach seine Verlobte liebevoll und lächelte ihn an. Er nickte auf ihr zu und sah seiner Verlobten, Sachiko, besorgt nach. Er wusste, dass sie das komplette Gegenteil seinerseits und dementsprechend auch einfühlsamer als er selbst war. Makoto biss sich auf die Unterlippe, als er über seine beiden Schwester nachdachte. Da sie nur eine kleine Wohnung besaßen, schlief Mira natürlich mit im Zimmer ihrer großen Schwester, doch es war nicht vergleichbar zu ihrer gemeinsamen Zeit in Japan. Damals waren sie gemeinsam mit ihren Eltern am Frühstückstisch gesessen, hatten gelacht, gesprochen und den jeweils anderen an ihrem Leben teilhaben lassen. Vieles hatte sich verändert, wenn man bedachte, dass Mimi schon seit gut einer Stunde außer Haus war. Selbst in der vorlesungsfreien Zeit stand diese früh auf und verbrachte die meiste Zeit in der Universität. Unter ihren Kommilitonen hatte sie mittlerweile den Ruf, verschlossen und kühl, aber in ihrer Musik grandios zu sein. Was das Talent seiner Schwester anging, konnte er diesen Meinungen nicht wiedersprechen, nicht jedoch war die Wiedergabe ihrer Musikstücke anging. Mimis Musikstücke waren melancholisch, traurig, distanziert und fast mechanisch. Sie spielte die Stücke mit einer grandiosen Perfektion, doch es waren lediglich perfekte Kopien berühmter Musikstücke. Schrieb sie eigene Lieder, waren sie traurig und spiegelten ihr Innerstes wieder. Er selbst kam an Mimi nicht mehr ran, obwohl sie noch vor einigen Jahren ein sehr inniges Verhältnis hatten. Doch mit den Bruch zu Taichi sowie zu ihren Freundinnen war auch eine Kluft zwischen den Geschwistern entstanden.   Im Verlauf seiner Gedanken bemerkte Makoto gar nicht, dass er gerade dabei war, dass Rührei anbrennen zu lassen. „Hey Alter!“ Erst die laute Stimme seines besten Freundes riss ihn aus den Gedanken und machte ihn auf sein Handeln vor sich aufmerksam. „Du lässt das Ei anbrennen!“, brodelte es aus Christopher heraus, der seinem Kameraden den Pfannenwender aus der Hand nahm. Makoto stand im ersten Moment nur unbeteiligt und verwirrt daneben. „Was?“, fragte er angespannt und hob die Augenbrauen. Sein Freund konnte nur den Kopf schütteln. „Warst du mit deinem Kopf bei Sachi oder was ist los?“, warf ihm der etwas Größere vor. Makoto schüttelte schnell den Kopf. „Nein… Ich… ich hab‘ mir Sorgen um Mira-chan gemacht…“, flüsterte er.   Christopher war ein großgewachsener junger Mann aus den Südstaaten. Seine Arme waren mit zahlreichen Tattoos bestickt, wobei jedes seine eigene Geschichte besaß. Piercing zierten seine Augenbrauen wie auch seine Unterlippe. Er wirkte durch seine große und mächtige Statur einschüchternd auf andere Leute, doch er war ein herzensguter Mensch. In seiner Laufbahn als Streetworker traf Makoto in seiner Anfangszeit auf Christopher. Dieser kümmerte sich um Jugendliche auf der Straße, da sein Leben ebenso wie deren verlaufen war. Sein Engagement faszinierte den Tachikawa von der ersten Sekunde an und nach anfänglichen Schwierigkeiten, bemerkten sie, dass sie ähnliche Ambitionen hatten. Musikalisch war Christopher ähnlich wie seine Schwester ein Ausnahmetalent. Er war besonders begabt im Umgang an der Gitarre, deren Funktion er sich hauptsächlich selbst beigebracht hatte. Durch Mimis Hilfe schaffte es Makoto, auch seinem Freund eine Perspektive für die Zukunft zu ermöglichen, indem sie gemeinsam einen Weg fanden ihn in die Julliard einzuschleusen. Genau wie bei Mimi bekam er ein Stipendium. Das Problem an seinem besten Freund bestand bedauerlicherweise darin, dass er schrecklich faul war, was seine studentischen Aufgaben anging, so dass er bereits ein Semester unter seiner eigenen und jüngeren Schwester lag, da er durch die Zwischenprüfungen gefallen war. Ihm fiel es schwer, warm mit der Theorie neben der Praxis zu werden, doch Makoto war zuversichtlich, dass er bald den Bogen rausbekam.   „Du bist in letzter Zeit häufiger mit den Gedanken wo anderes…“, murrte der Größere und bewegte die Pfanne vom Herd, um sie auf den passenden Untersetzer auf den Küchentisch zu stellen. Wie häufig war der Tisch nur für vier gedeckt, da Mimi bereits das Haus verlassen hatte. „Mhm…“, murmelte der Japaner nur. Christopher selbst verdrehte nur die Augen. „Wie wär’s, wenn du Sachi einfach mal zur Hand gehst? Ich kann mich schon ums Frühstück kümmern. Schlimmer als bei dir kann es wohl kaum werden…“, meinte er genervt. Gedankenverloren nickte Makoto und trat aus der Küche heraus, nur um nach seiner Schwester zu sehen. Diese saß mittlerweile auf dem Klodeckel und putzte sich die Zähne. „Alles in Ordnung?“, fragte er in den Raum hinein. Mitleidig sah seine Partnerin erst zu Mira, dann wieder zu Makoto, ein Seufzen folgte. „Es ist wohl alles etwas erschreckend für sie…“, flüsterte Sachiko niedergeschlagen.   Blonde Augen, blaue Augen, aus einem wohl behütenden Umfeld und ein bildhübsches Mädchen: Das war Sachiko. Die Freundin von Makoto war das genaue Gegenteil ihres Verlobten. Sie wirkte liebreizend und freundlich, hatte eine hervorragende Erziehung genossen und kam aus guten Hause. Zu Beginn genoss Makoto bei ihren Eltern kein besonders hohes Ansehen, doch das veränderte sich bei genauerem Hinsehen. War er das turbulente Feuer, voller Temperament und Stürmigkeit, war sie das ruhige, stille Wasser, welches ihn stets auf den Boden der Tatsachen zurückbeförderte. Sie kannte die Tachikawa-Geschwister schon seit jungen Jahren, war sie doch die damalige Klavierlehrerin von Mimi und hatte somit auch Makoto kennengelernt. Für sie waren Mimi und Mira stets kleine Schwestern gewesen und genauso belastete es auch sie die extreme Wandlung von Mimi. Daher verstand sie auch, wie schwer das alles für Makoto und Mira sein musste und wollte für die beiden noch mehr als zuvor da sein.   „Ich versteh‘ das einfach nicht… Mimi hat sich von heut‘ auf morgen so sehr verändert. Sie ist gar nicht mehr meine Schwester. Es ist, als habe mich eine völlig fremde Person gestern umarmt…“, schluchze die Jüngste und umarmte sich selbst, nachdem sie die Zahnbürste weggeräumt hatte. Makoto selbst biss sich auf die Unterlippe. „Du konntest nichts aus ihr herauskriegen, oder?“, fragte sie ihn und sah ihn hoffnungsvoll an. Doch sein Gesichtsausdruck ließ die Hoffnung wieder verschwinden. „Nein… sie redet nicht und auch, wenn wir zusammenleben, bekomme ich sie nur selten zu Gesicht. Sie verlässt früh das Haus und kommt erst spät wieder“, erwiderte er ihre Worten ebenso verzweifelt. Erschöpf lehnte Mira die Stirn an das Waschbecken. „Makoto…“, flüsterte sie, „…was ist, wenn man ihr so weh getan hat, dass sie nie wieder die Alte wird? Was, wenn wir sie noch mehr verlieren? Wir müssen was unternehmen… Wir müssen irgendwas machen… Mehr als zuvor… wir alle! Ihre Freunde, Sora… und Taichi… Mimi würde niemals so handeln, wenn man ihr nicht was Schlimmes angetan hätte. Wir müssen ihr helfen!“   Ein zynischer Blick spiegelte sich im Gesicht des Älteren wieder, während Sachiko behutsam über den Rücken der Jüngeren streichelte. Sie spürte selbst den Schmerz in ihren Knochen, während sie über Mimis Wandlung nachdachte. Ehrlich gestanden wollte sie sich gar nicht ausmalen, was die extreme Wandlung der mittleren Tachikawa heraufbeschworen hatte. Es stand außer Frage, dass man ihr wehgetan hatte und sie nun ihr Herz vor weiterem Kummer verschloss. Doch sie alle waren sich in einer Sache einig:   So konnte es nicht weitergehen…   ~♫~♪~~♫~♪~~♫~♪~   Mit starren Blick auf das Notenblatt schwangen sich Mimis Finger über die Tasten des Klaviers. Jede Note war in der Luft zu spüren, sie glänzte durch Perfektion und Engagement, durch Motivation und den Hang dazu, sich abzulenken. Die Tatsache, dass sich nicht nur Mira, sondern auch der Rest der ehemaligen Digiritter in Amerika befanden, schlug ihr auf den Magen, was man mehr durch ihre Musik, anstatt durch ihre Mimik erkennen konnte. Es belastete Mimi, daran zu denken, Taichi in der Nähe zu haben und gleichzeitig sich daran zu erinnern, was sie ihn angetan hatte. Das schlechte Gewissen hatte sie tief in ihrem Inneren einfressen können, den Schmerz und Kummer ebenso, doch nun schien ihr gesamtes Konstrukt deutliche Risse zu bekommen, obwohl sie den Yagami noch nicht mal gesehen hatte und es sicherlich auch nicht vorhatte.   Seit sie in Amerika war, hatte sie sich verändert – das wusste sie selbst. Nichts war übrig von der aufgeschlossenen, lebensfrohen Mimi und gäbe es nicht die Musik und den Willen, damit etwas zu erreichen, wüsste sie nicht einmal, ob sie an diesem Leben teilhaben wollen würde. Die Wunden schlossen sich nicht, egal, was sie auch tat. Sie hatte Angst, erneut verletzt zu werden, hatte Angst, selbst zu verletzen. Daher verschloss sie sich, vergrub ihre Gefühle und ließ niemanden an sich heran, der irgendwelche Gefühle in ihr auslösen konnte. Doch das war einfacher als getan. Mira zu sehen, versetzte auch ihr ein Stich ins Herz. Es war schon schwer genug, ihren Bruder davon abzuhalten, immer mehr nachzufragen, zu bohren oder einfach für sie da sein zu wollen. Sie wollte keine Hilfe, niemand sollte ihr Herz sehen, damit es niemand zerstören konnte. Es war alles nur noch leer und kalt in ihrem Inneren, was sie auch als gut erachtete.   Diesmal half die Musik nicht. Keinen Augenblick. Je mehr sie in die Tasten hämmerte, umso mehr klangen Töne der Trauer an ihr Ohr. Das war nicht die musikalisch perfekte Tachikawa, sondern das tief verletzte kleine Mädchen Mimi, welches es nicht schaffte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ihr was es gelungen, Makoto von sich fernzuhalten, doch wie sollte sie das bei ihrer Schwester tun. Ihr Körper schien nach derlei Nähe zu verlangen, nach Liebe und Zuneigung, doch ihr Verstand dankte es ihr mit Angst und Furcht. Wenn sie zuließ, dass man ihr Innerstes aufdeckte, dann würde sie auch zulassen, dass man erkannte, dass sie Taichi betrogen hatte.   Ekel schlich sich in ihre Glieder. Mimis Finger zitterten, so dass sie unweigerlich aufhören musste, Klavier zu spielen. Starr sah sie auf ihre Fingerspitzen. Ihre Fingernägel waren blass, kurz und fad, genau wie ihr innerstes. Damals zierten ihre Nägel stets grelle Farben, doch mittlerweile hatte es keinen Zweck. Sie fühlte sich alles andere als hübsch, sie sah sich nicht gern im Spiegel an, sah darin nur das beschmutzte, widerwärtige Wesen, welches zerstört wurde und zerstört hatte. Sie war ein Nichts und hatte es einfach nicht verdient, glücklich zu sein. Ihre Handlungen hatten Taichi das Herz gebrochen, ihre Familie leiden lassen und den Rest der Freunde in Sorge getrieben. Doch sie würden sie verachten, wüssten sie, was der wahre Grund dahinter war. Mimi war dreckig, beschmutzt… Sie war daran schuld, sie hatte Taichi betrogen…einfach so, hatte nichts dagegen unternehmen können. Er hatte etwas Besseres verdient. Sie war ein Schandfleck, der seinen Namen nicht tragen sollte.   Wütend schlug sie mit den Fäusten auf die Tasten des Klaviers. „Verdammt!!“, fluchte sie aufgebracht. „Verdammt, verdammt, Verdammt!“, ging es weiter, immer mit dem dumpfen Ton das Aufschlagens auf die Tasten im Hintergrund. Sie verlieh ihrer innerlichen Zerrissenheit Ausdruck, kämpfte gegen die Tränen und hielt an sich, da sie zu viel Achtung vor dem Klavier hatte. Verzweifelt ließ sie ihre Hände auf den Tasten ruhen. Was sollte sie tun? Sie wollte sie alle nicht sehen, sie war froh, das alles auf die Reihe zu bekommen, auch, wenn dies nur ein realitätsarmes Konstrukt war. Denn das innerste ihrer Seele war leer, zersprungen voller Trauer und Selbsthass.   Als es an der Türe klopfte, zuckte Mimi erschrocken zusammen und hob den Blick zur Türe. Sie hatte sich – wie sie es immer machte – im Piano-Zimmer der Universität verschanzt, um in Ruhe ihrer Leidenschaft nachgehen zu können. Umso überraschter war sie, als ihrer Dozentin das Zimmer betrat. „Miss Mbeki…“, murmelte die junge Frau verwirrt und versuchte sich nichts davon anmerken zu lassen, in welche emotionalen Fassung sie sich noch vor einigen Minuten befunden hatte.   „Es scheint, als wäre es eine gute Idee gewesen, sie nicht zuhause zu kontaktieren, sondern zunächst hier nach ihnen Ausschau zu halten“, erwähnte die dunkelhäutige Frau mit einem warmen Lächeln. Mimi war erleichtert, dass sie ihren Ausbruch scheinbar nicht gehört hatte, den besonders, was die Sorgsamkeit der Instrumente anging, konnte die Schwarzhaarige sehr aufbrausend sein. „Sie haben mich gesucht?“, erwiderte Mimi daher ihre Aussage nur und legte dabei den Kopf schief. Die Angesprochene nickte freundlich. „Ja… Wir hatten gerade eine Konferenz, wo wir wichtige Entscheidungen getroffen haben…“ Mimi hob verwirrt die Augenbrauen. Entscheidungen? Sie verstand nur Bahnhof. „Und was haben diese Entscheidungen mit mir zu tun?“, fragte sie daher höflich nach und hoffte, dabei nicht unverschämt zu wirken.   „Sagt dir die International Music Competition etwas?“, fragte Frau Mbeki die Jüngere. Mimis Augen weiteten sich. Wohl jeder Student der klassischen Musik kannte diesen Wettbewerb: Die Creme de la Creme der klassischen Musik, alle auf einem Haufen, musikalisch begabte Künstler und spätere Stars der Weltgeschichte. Mimi Augen funkelten ein wenig, als sie nickte. „Natürlich…!“ Ihre Dozentin lächelte zufrieden. Scheinbar hatte sie genau die Antwort gegeben, die sie hören wollte. „Jedes Jahr wählt die Julliard eine Handvoll junger Künstler auf, die bei diesem Wettbewerb teilhaben sollen. Jeder Dozent hat die Aufgabe, aus seinen Lehrgängen vielversprechende Studenten zu nennen, die er sich bei diesem Wettbewerb vorstellen kann…“ In Mimi drehte sich alles. Konnte sie nicht einfach auf den Punkt kommen und ihr einfach sagen, in welchem Zusammenhang ihre eigene Person dazu stand?   „Miss Mbeki… Bitte… sprechen sie nicht so lang um den heißen Brei…“, bat Mimi daher höflich. „Und ich dachte, es wäre offensichtlich…du wurdest von mehreren Kollegen vorgeschlagen. Deshalb hast du, als eine von fünf, die Chance, diesen Wettbewerb für dich zu entscheiden!“, brachte die Dozentin euphorisch über die Lippen. Mimi entglitten sämtliche Gesichtszüge. „W-Wirklich?!“, stammelte sie nur. „D-Das…Das… es ist…“ Schnell richtete sich die Tachikawa auf und verbeugte sich vor ihrer Mentorin. „Es ist mir eine Ehre!!“, sagte sie, wobei man den Unglauben noch immer in ihrer Stimme hörte.   ~♫~♪~~♫~♪~~♫~♪~   „Unfassbar! Das ist der blanke Wahnsinn! Ich kann es nicht glauben!!!“, aufgeregt lief Yamato zwischen den letzten Vorbereitungen für seine große Party hin und her. Auch er bekam eine Information, die wohl sein Leben verändern würde. „Ich darf an der International Music Competition teilnehmen. Ich! Das ist eine wahnsinnig große Chance, Ehre… Oh man… Mister Brown, ich kann ihnen gar nicht genug danken!“ Sein Dozent musste schmunzeln. Der Ishida war nicht gerade bekannt dafür, dass er Luftsprünge vor Freude oder dergleichen machte. Doch Tatsache war, dass ihm und ein paar anderen äußerst talentierten Kommilitonen eine Chance ermöglicht wurde, die nur wenige bekamen. Schließlich wurden nur fünf Studenten, verschiedenster Begabungen ausgewählt, die diesem Wettbewerb beiwohnen durften. Ihm selbst war es wichtig, einen Musiker zu wählen, der nicht einseitig und emotionslos war. Yamato war technisch keine Perfektion, doch ihm lag es im Blut, seinen Emotionen Farbe zu verleihen und das würde ihn in besagten Wettbewerb sicher weit bringen und vor allem ihm viele Chancen ermöglichen.   „Möchtest du denn überhaupt teilnehmen?“, fragte der dunkelhäutige, jung wirkende Lehrer. „Ist das ein Witz? Natürlich will ich teilnehmen. Als ob es einen Grund gäbe, daran nicht teilzunehmen!“, kam es ihm aufgeregt über die Lippen. „Man hat die Chance, eine Menge Musiker kennenzulernen und dementsprechend viel Kontakte zu knüpfen. Aus der ganzen Welt werden nur die Besten eingeladen und wenn man gewinnt, bekommt man ein fettes Preisgeld. Entschuldigen sie meine Ausdrucksweise, aber ich wäre schön blöd, wenn ich sagen würde, diese einmalige Chance nicht anzunehmen. Davon mal abgesehene, dass man eine neue Kultur kennenlernt.“   „Mhm…“, nachdenklich musterte Mister Brown den jungen Japaner, „in deinem Fall wird es aber nicht wirklich eine neue Kultur sein, die du kennenlernst…“, sprach er aus und strich sich über das Kinn. Verwirrt sah Yamato zu seinem Lehrer auf. „Was meinen sie…?“ Ein Grinsen umspielte die Lippen des Dunkelhaarigen. „Dieses Jahr findet die International Music Competition in Tokyo statt.“   ~♫~♪~~♫~♪~~♫~♪~   „In Tokyo?“ Unglauben spiegelte sich in den Augen Mimis wieder. Sie konnte ihr doch jetzt schlecht auf die Nase binden, dass ihr Traum in Erfüllung gehen würde und diesen gleich darauf zerstören. Sie sollte für den Wettbewerb zurück nach Japan, noch schlimmer, nach Tokyo?! „Das ist ein Scherz, oder?“ Miss Mbeki schien das Problem nicht zu verstehen. „Wo ist das Problem?“, fragte sie verwirrt, „ich weiß, sie kommen aus Tokyo, da ist es doch schön, nicht nur den Wettbewerb, sondern auch ihre Familie und Freunde besuchen zu können!“, erklärte sie und verstand noch immer nicht die Problematik.   In Mimi jedoch wütete ein grenzenloser Sturm der Angst und des Unverständnisses. Sie wollte nie wieder einen Schritt in dieses Land machen, nie wieder Tokyo betreten, nie wieder einen Menschen aus ihrer vermeidlichen Heimat sehen und schon gar nicht mit den Erlebnissen der Vergangenheit konfrontiert werden. Tat man das mit Absicht, um sie zu zwingen, sich ihrer Angst zu stellen? Starr ging ihr Blick wieder auf die Tasten, ihr Blick trübte sich. „Das geht nicht…“ Erschrocken sah ihre Dozentin die Tachikawa an. Mit einer solchen Reaktion hatte sie nicht gerechnet. „Ist das ein Scherz?! Das ist eine einmalige Chance. Wo ist das Problem?!“, fragte die junge Lehrerin nun strenger nach. „Ich kann nicht nach Tokyo…“, hauchte Mimi weiter. Das erste Mal seit Langem brannten ihr Tränen in die Augen, wenn sie daran zurückdachte, zurück nach Japan zu müssen. Ihr wurde schlecht und Bilder schlichen sich in ihren Kopf, die sie nie wiedersehen wollte.   „Miss Tachikawa… Das ist eine einmalige Chance. Ich kann sie nicht zwingen, aber überlegen sie sich nochmal, ob sie diese Chance wirklich nicht wahrnehmen wollen!“, sprach die Ältere verständnislos aus. Mimi jedoch starrte apathisch auf die Tasten des Pianos. Sie liebte die Musik und lebte nur durch die Klänge, die sie spielte. Nun wurden die Klänge zu einem ohrenbetäubenden Schrei, der ihr die Sinne benebelte. Sollte ihre große Leidenschaft nun tatsächlich in Verbundenheit mit ihrer schrecklichen Vergangenheit gebracht werden?   „Das geht nicht… Das kann doch nicht sein…“ Verzweifelt krallte sich die braunhaarige junge Frau in den Ansatz ihrer Haare, beugte sich vor und senkte ihren Blick nach unten. „Ich kann nicht zurück nach Japan… Ich… Ich kann nicht…“, stammelte sie. Nun war es ihr nicht mehr möglich, ihre Angst und die innerliche Zerrissenheit zu verbergen. Sie zitterte am ganzen Leib. Einerseits freute sie sich wahnsinnig, eine solche Ehre zugeteilt bekommen zu haben. Andererseits würde sie mit Dingen aus ihrer Vergangenheit konfrontiert werden, die sie vergessen wollte.   Mimi bemerkte gar nicht, wie ihre Lehrerin und Mentorin sich neben sie setzte. Zärtlich legte diese den Arm um die zierliche Person. Im ersten Augenblick zuckte Mimi erschrocken zusammen, doch die folgenden Worte der Älteren belebten einen Teil ihres Herzens wieder.   „Miss Tachikawa… ich weiß nicht, welche negativen Erinnerungen sie mit Tokyo teilen. Aber Erinnerungen sind Teile der Vergangenheit, unsere Entscheidungen formen unsere Zukunft. Wenn sie in ihrer Erinnerung hängen bleiben und sich davon beherrschen lassen, dann werden sie niemals das finden, was sich Zukunft nennt. Sie können die geschehenen Dinge der Vergangenheit nicht ändern. Egal, wie schwer es auch sein mag: Man muss sich damit abfinden und versuchen, geradeaus zu gehen. Machen sie einen Schnitt hinter ihrer Vergangenheit und treffen sie ihre Entscheidungen für die Zukunft, denn ansonsten wird es die Vergangenheit sein, die ihre Gegenwart bestimmt und sie niemals weitergehen lassen wird…“   Traurig starrte Mimi das Klavier an. Miss Mbeki sprach, als wüsste sie genau, wovon sie da redete. Jeder Mensch hatte in der Vergangenheit etwas Schlimmes erlebt, sie selbst jedoch lebte in dieser. Sicherlich verschloss sie ihre Gefühle, doch die Ereignisse waren es, die sie vor jeglicher Konfrontation fliehen ließen. Mimi senkte den Blick.   „Vielleicht haben sie Recht…“, hauchte sie.   Vielleicht war es Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und ihren Traum zu leben… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)