Snow-En von _Delacroix_ ================================================================================ Kapitel 1: Snow-En ------------------ Eine Schneeflocke löste sich aus dem grauen Meer der Wolken und segelte nur Millimeter an seiner Nasenspitze vorbei zu Boden. Er regte sich nicht. Gebannt starrte er die hohen, schwarzen Felsen an, aus deren Oberfläche Eisblumen sprossen. Sie glitzerten unwirklich im fahlen Mondlicht. Eine bizarre Mischung aus Traum und Wirklichkeit. Die Nacht war still. Kein Käuzchen war zu hören, keine Zikade sang, kein Magi schwebte schreiend über den Hof. Letzteres lag vermutlich daran, dass es keinen Hof gab, über den er hätte schweben können. Er war allein. Ganz allein. Irgendwo in Eis und Schnee.   Unter seinen Füßen knirschte es und veranlasste ihn, einen ersten, skeptischen Blick nach unten zu werfen. Da stand er, seine nackten Füße bis zu den Knöchel im Schnee vergraben. Ihm war nicht kalt und doch schien es ihm, als wäre das alles gerade noch bizarrer geworden. Wieso trug er keine Schuhe? Misstrauisch krümmte er die Zehen. Schnee rieselte langsam von seinem Fuß, doch ansonsten änderte sich nichts. Vorsichtig glitt sein Blick höher. Er gewahrte seine nackten Knie, seine Oberschenkel, seinen… Er faltete eilig die Hände vor seiner Mitte. Zum ersten Mal, seit er hier war, war er froh allein zu sein.   Eine Schneeflocke landete auf seinem Oberarm und hinterließ eine kleine, nasse Stelle auf seiner Haut. Er wusste, dass sie kalt sein musste, aber er spürte sie nicht.   „Da bist Du ja.“   Kouen fuhr auf dem Absatz herum. Da, mitten im Schnee, hockte ein Kind, den zerschlissenen, grauen Mantel tief ins Gesicht gezogen. Vor einer Minute war es noch nicht da gewesen, da war er sich sicher.   „Wieso bin ich nackt?“ fragte er, die Stimme betont desinteressiert. Das Kind sollte nicht glauben, er hätte die Situation nicht unter Kontrolle. Eine weitere Schneeflocke zerschmolz auf seiner Haut. Eine unangenehme Erinnerung daran, dass er sie nicht wirklich unter Kontrolle hatte.   „Normalerweise ist das mein Text.“ Das Kind hatte leise gesprochen, doch jedes seiner Worte war klar und deutlich bei ihm angekommen. Betont langsam richtete es sich auf. Der Stoff raschelte nicht und der Schnee wagte nicht zu knacken. „Also?“   Am liebsten hätte Kouen die Arme vor der Brust verschränkt, aber leider brauchte er seine Hände derzeit für etwas anderes. „Gib mir Deinen Mantel“, befahl er, doch das Kind schüttelte stur den Kopf. „Du hast Deine Kleidung verloren“, urteilte es streng, „ Ich werde nicht zulassen, dass meine das gleiche Schicksal ereilt.“ Kouen sah an sich hinab. „Willst Du, dass ich nackt im Schnee herumirre?“, fragte er verärgert. Der Junge hielt in der Bewegung inne. „Das ist Dir sonst doch auch egal“, entgegnete er.   Dunkle Augen glitten misstrauisch über seinen Körper hinweg. Kouen fand das alles andere als angenehm. „Wieso trägst Du noch kein Blatt?“ Kouen räusperte sich. Wo sollte er in Schnee und Eis ein Blatt hernehmen? Und selbst wenn er eines fand, das von der Größe hinkam, wie sollte er es dazu bringen, gerade an dieser Körperstelle zu halten? Nachdenklich strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das Kind hatte sie scheinbar nicht mehr alle beisammen. Dunkle Augen verengten sich wie aufs Stichwort gefährlich, Metall blitzte auf und es war einzig Kouens Training als Krieger zu verdanken, dass die Klinge nicht seine Kehle durchtrennte als wäre sie ein Leib Brot. Einige Haarsträhnen segelten vor seinen Augen zu Boden.   Lila auf Weiß. Ein hübscher Kontrast. Er stockte. Lila? Erneut sauste eine Klinge auf ihn zu und zwang ihn, sich reichlich unzeremoniell in den Schnee fallen zu lassen. Er rollte sich zur Seite. Seit wann waren seine Haare lila?   Ein weiteres Messer schlug nur Zentimeter neben seinem Kopf in den Schnee. Kouen wollte danach greifen, doch seine Hand hatte kaum den Griff berührt, da landete etwas auf ihm. Der Körper des Jungen war nicht schwer, dennoch presste er ihn hart in den weichen Untergrund hinein. Eine zweite Klinge legte sich an seine Kehle. „Wer bist Du?“, zischte das Kind. Es war ihm nahe, viel zu nahe. Er konnte seinen Atem spüren; sein Gewicht, seine Körperwärme. „Was hast Du mit Sin gemacht?“ In den Augen des Jungen glänzte pure Mordlust. Ein falsches Wort und er würde nie wieder etwas sagen, das wusste er. „Ich weiß nicht wovon Du sprichst“, spuckte er ihm dennoch entgegen. Die falsche Antwort, definitiv. Die Augen seines Gegenübers verengten sich weiter. „Lügner!“ Die Klinge presste sich stärker gegen seine Kehle. „Was hast Du mit Sin gemacht?“ Kouen spürte, wie ihm die Luft knapp wurde. „Ich weiß nicht wovon Du sprichst“, krächzte er stur zurück. Vor seinen Augen tanzten dunkle Punkte. Das Kind öffnete den Mund, vermutlich um die Frage ein letztes Mal zu wiederholen. Dieses Mal, das wusste er, würde die Antwort schmerzhaft werden.   „En-nii-chan, bist du wach?“   Kouen blinzelte und das Kind auf seiner Brust verschwamm. Felsen, Schnee, Messer... Alles verschwand vor seinen Augen und als er das nächste Mal blinzelte, blickte er direkt in große, rosafarbene Augen. „Ich hatte einen Alptraum“, klagte Kouha unglücklich und sprang noch einmal mitten auf seine Brust. Kouen stöhnte in seine Decke hinein, doch sein Bruder schien das gar nicht mitzubekommen. „Da war ein Drache“, plapperte er einfach drauf los, „und er hat Mei-nii-chans Festtagsgewand aufgefressen. Und den Magi, mit all seinen Pfirsichen und dann ist er einfach aus dem Fenster geflogen ...“ Kouen blendete seinen kleinen Bruder aus, der jetzt aufgeregt auf seinem Bett herum hüpfte und von seiner Drachenjagd erzählte. Im Schein seiner Laterne konnte er die Umrisse seines Schlafgemachs erkennen. Da war sein Bett mit all den weichen Decken, mit denen er immer schlief, sein Schreibtisch und … Sein Blick blieb an einem kleinen Stapel voller bunter Schriftrollen hängen, die verräterisch in Kouhas Lampe glitzerten. Nie wieder, schwor er sich, nie wieder würde er in „Sinbads Abenteuer“ vor dem zu Bett gehen lesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)