lesson von michischreibt ================================================================================ Kapitel 1: lesson 1 ------------------- Es war, als ob Nebel heraufzog. Ein weißer Schleier, der in jede noch so kleine Ritze dringen konnte. Doch der Nebel war warm und vermittelte ein Gefühl von Geborgenheit. Zumindest empfand Martin es so. Er saß in seinem Klassenzimmer, Grundkurs Geschichte, und lauschte der Stimme des Lehrers, die sanft und beruhigend in seinen Ohren widerhallte. Eigentliches Thema waren die Zustände der Bevölkerung im achtzehnten Jahrhundert, das hatte er zu Beginn der Stunde noch mitbekommen, doch er hörte nicht wirklich zu. Zwar waren seine Augen auf das aufgeschlagene Geschichtsbuch vor ihm auf der Schulbank gerichtet, doch sein Blick wanderte durch die Seiten hindurch. Er nahm weder die geschriebenen, noch die gesprochenen Worte wahr. Dabei mangelte es ihm grundsätzlich nicht an Interesse. Doch wie man dem aufziehenden Nebel nicht entkommen konnte, so konnte auch er der Stimme, die sich seiner bemächtigte, nicht entrinnen. Still saß er da und lauschte, nicht auf das, was gesagt wurde, nicht den Sinn hinter all den Sätzen suchend. Stattdessen ließ er diese Stimme in sich eindringen. Diese Stimme, die etwas in ihm bewirkte, die sich allmählich in seinen Gehörgang schlich und dort haften blieb, in jedem Winkel und jeder Nische. Er konnte nichts dagegen tun. Der Lehrer blickte kaum in das Buch in seinen Händen, schaute die meiste Zeit auf seine Schüler und schritt vor der Tafel auf und ab, mit den Händen dezent das Erklärte untermalend, wobei seine Schuhe bei jeder Berührung des Bodens ein leises Geräusch verursachten. Bilder tauchten vor Martins Augen auf. Er wusste, sie entsprachen nicht der Realität und hatten auch nichts mit dem zu tun, was eigentlich besprochen wurde, doch sie waren wunderbar. Die Worte des Lehrers schienen sich für ihn zu verändern und ihre eigene Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, die nur für ihn war. Er merkte, wie sein Blick immer verschwommener wurde, die Buchstaben auf den abgegriffenen Seiten sich auflösten und die Geräusche seiner Klassenkameraden - leises Gekicher neben ihm, gelangweiltes Blättern im Schulbuch vor ihm, oder das kaum wahrnehmbare Rascheln eines zusammengeknüllten Papiers, das den Kopf eines seiner Mitschüler traf - sich mehr und mehr entfernten. Lediglich die Stimme blieb und ließ ihn aus dem Klassenzimmer fort treiben in seine Welt, in seine Freiheit. Nach und nach sackte ihm das Kinn auf die Brust und sein Blick trübte sich. Eine Landschaft schälte sich aus dem Grau heraus und Martins Gedanken drifteten nun endgültig aus dem Klassenzimmer davon. Die Wirklichkeit – beigefarbene Wände, verschmierte Tische und der überfüllte Parkplatz draußen vor dem Fenster – entglitt ihm vollends, stattdessen nahmen Bäume Gestalt an, ein Wald erstreckte sich unter ihm bis zum Horizont, wo die Sonne in einem Strudel aus Orange und Rot die Wolken färbte und langsam unterging. Martin flog über die Wipfel der dunkelgrünen Tannen und sog die frische Luft, die verspielt um seine Nase wehte, begierig in seine Lungen. Die Worte, die aus dem nichts zu kommen schienen, formten immer mehr Details und ließen ihn das Geräusch des Windes vernehmen, der über sein Gesicht und durch die Haare strich. Der riesige Vogel, in dessen Federn er sich gekrallt hatte, stieß einen kratzigen Schrei wie zur Begrüßung aus und stieg im nächsten Moment noch ein wenig höher. In der Ferne tauchte das Glitzern von Wasser auf, ein See, der halb schon im Schatten der Bäume ringsum und halb noch im letzten Licht des Tages lag. Der Vogel schwenkte ein wenig nach links, schlug ein letztes Mal mit seinen weit gespannten, braun gemusterten Schwingen und sank dann allmählich tiefer und tiefer. Dicht über dem Wald steuerte er auf das Gewässer zu. Martin beugte sich etwas zur Seite und schaute an dem Kopf des Vogels vorbei nach vorne auf den See, der jetzt durch die vielen Baumkronen fast vollständig verdeckt war. Gerne wäre er noch weiter geflogen, doch die Geschichte war, wie sie erzählt wurde, und so überflog er die Naht, an der die Bäume unter ihm durch das klare Blau des Wassers abgelöst wurden. In weiten Kreisen verlor der Vogel weiter an Höhe und steuerte knapp oberhalb der Wasseroberfläche auf das mit saftig grünem Gras bewachsene Ufer zu. Die Landung war kaum spürbar, und nach ein paar trabenden Auslaufschritten kam das vogelähnliche Wesen zum Stehen. Martin glitt von dem gefiederten Rücken und bedankte sich bei dem Tier, indem er kurz dessen Hals streichelte. Der Vogel krächzte leise und schritt dann mit seinen vier Beinen, die ihn auf der Erde einem Pferd ähnlich werden ließen, auf das Wasser zu. Das Gefieder des Tieres glänzte in den letzten Sonnenstrahlen in leichten Goldschattierungen und Martin beobachtete es dabei, wie es seinen Kopf senkte und den gebogenen, hakenartigen Schnabel ins Wasser tauchte. Er setzte sich ins Gras und wartete gedankenverloren, bis die Dämmerung fast vorbei und es dunkel um ihn geworden war. Der Vogel hatte sich inzwischen wieder in die Lüfte erhoben und ihn am Ufer des Sees zurückgelassen. Doch Martin fühlte sich nicht einsam. Das hier war ein wunderbarer Ort, der sich nur für ihn allein in seiner ganzen Schönheit zeigte. Eigentlich war er kein Träumer, doch in diese eine Traumwelt, in der niemand ihn störte oder schlecht über ihn redete, kehrte er jedes einzelne Mal gerne zurück. Es gab nur eine Person, die ihn von dort losreißen konnte, und das war die gleiche Person, die es ihm überhaupt erst ermöglichte, den Weg dorthin zu finden. Eine Weile betrachtete Martin das Wasser, das sich leicht unter dem Wind kräuselte und in sanften Wellen gegen die Steine am Rand schlug. Doch als der Mond und die ersten Sterne blass am Himmel erschienen, wurde die Wasseroberfläche zu einer glatten, schwarzen Scheibe, und er erhob sich langsam wieder. Einen letzten Blick warf er über den See, dann wandte er sich um und ging die leichte Anhöhe vom Wasser hinauf auf den Wald zu. Etwas bewegte sich vor ihm zwischen den Bäumen, als er näher kam. Er hörte es mehr, als dass er es wirklich sah. Ein Schatten, der sich aus dem Gebüsch löste und auf ihn zu schritt. Martins Herz machte einen Sprung, als er das Wesen erkannte, das vor ihm stand. Es war einer seiner Freunde. Im weit entfernten Klassenzimmer gab es dagegen niemanden, den er als solchen bezeichnet hätte. Traurig war er darüber aber nicht, denn bislang war er auch so gut zurecht gekommen. Auf lautlosen Pfoten schlich das Tier auf ihn zu, das man im ersten Augenblick für einen Tiger halten konnte. Doch bei Licht, und da genügte schon der fahle Schein des Mondes, wurde das silbergraue Fell mit den weißen Streifen sichtbar. Vielleicht war es ja ein Tiger, ein Fantasie-Tiger. Darüber machte Martin sich keine Gedanken, stattdessen schwang er sich, einer nickenden Kopfbewegung des Tieres Folge leistend, behände auf dessen Rücken und hielt sich mit den Händen im Fell über den Schulterblättern, die sich bei jedem Schritt kraftvoll und gleichmäßig bewegten, fest. Der Tiger verfiel in einen leichten Trab und sprang dann mit einem gewaltigen, aber trotzdem sehr leichtfüßigen Satz zwischen die Bäume und verschwand zusammen mit dem Mensch auf seinem Rücken in der Dunkelheit des Waldes. Es war anders als das Fliegen vorhin, doch auch jetzt überkam Martin ein Gefühl der Freiheit, während er durch den Wald preschte, der kräftige, warme Körper unter ihm. Obwohl das Tier mit großen Sprüngen dicht an den Bäumen vorbei kam, schlug ihm nie ein Ast ins Gesicht und er wusste, dass er das auch nicht zu befürchten brauchte. Einer nach dem anderen rauschten die mächtigen Stämme an ihm vorüber und irgendwann - Martin hatte hier kein Gefühl für die Zeit - stieg der Boden an und der Tiger trug ihn einen kleinen Berg hinauf ohne ein Anzeichen von Müdigkeit zu zeigen. Natürlich war er nicht müde, denn die Geschichte war so festgelegt, dass er niemals erschöpft wurde. Ein letzter, großer Sprung, dann wurde das Tier langsamer, trabte aus und blieb schließlich stehen. Wie bei dem Vogel vorhin wusste Martin, dass es nun Zeit war, abzusteigen. Er war jetzt nicht mehr direkt im Wald, sondern stand auf einem großen, länglichen Felsen, der vom höchsten Punkt des Berges waagerecht abstand, über allen Wipfeln. Seinen Rücken dem geschützten Weg nach unten zugewandt ging Martin langsam geradeaus über den Felsen auf dessen Ende zu. Der Mond verbreitete inzwischen ein klares, helles Licht, sodass er erkennen konnte, dass der Fels vollkommen in der Luft zu hängen schien. Unter ihm, vor ihm und ringsherum, überall war Wald. Soweit sein Blick reichte - und die Aussicht war selbst bei Nacht gewaltig - war der einzige unbewaldete Fleck dieser merkwürdig geformte Brocken Stein, der alles zu überragen schien. Der See war von hier aus nicht mehr zu sehen. Staunend stand Martin eine Weile da, drehte den Kopf von links nach recht und ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen. Dabei wunderte er sich, ob Mondlicht wirklich so hell sein konnte, wie es im Moment schien, oder ob das bloß ein weiteres, fantastisches Element dieses speziellen Traumes war. Aber eigentlich war das unwichtig. Das Tappen von Pfoten näherte sich von hinten und der Tiger stupste ihn sanft mit seiner Schnauze an der Hand. Martin sah zu ihm hinab, schaute in die Augen, die weißlich leuchtend den Glanz des Mondes widerspiegelten und verstand. Er wich ein paar Schritte von der Spitze des Felsens zurück, obwohl er wusste, dass ihm nie etwas passieren konnte, setzte sich auf den Stein und wartete, bis der Tiger sich neben ihm zusammengerollt hatte. Dann legte er seinen Kopf auf das weiche Fell, das sich bei jedem Atemzug leicht hob und wieder senkte, streckte seine Beine aus und starrte in den von Sternen übersäten Himmel, der nur von einigen Schleierwolken durchzogen war und dachte an nichts. Alle Probleme wurden bedeutungslos, denn sie spielten hier überhaupt keine Rolle. Sein Kopf wurde frei und er genoss die Atmosphäre der Ruhe. Ganz und gar ließ er den Eindruck dieses wundervollen Traumes in sich einwirken, während er völlig entspannt auf dem Felsen lag, der kein bisschen rau und unbequem war. Eine leichte, warme Brise strich über ihn hinweg. Der Gong ertönte; schrill und aufmüpfig plärrte er durch das Gebäude und riss Martin zurück in die Realität. Das Geplapper im Klassenzimmer nahm an Lautstärke zu, Stifte klapperten und Bücher wurden hektisch geschlossen. Der Lehrer hatte aufgehört zu reden und blickte mit einem leichten Ausdruck der Verwunderung auf seine Armbanduhr. „Tatsächlich“, murmelte er mit einem Lächeln und schaute wieder in die Klasse. „Das war’s für heute. Lest bitte das Kapitel bis Montag zu Hause zu Ende. Ihr könnt gehen.“ Stühle rückten über den Boden, Rucksäcke wurden lautstark geschlossen und ohne sich zweimal darum bitten zu lassen stürmten die meisten Schüler ausgelassen aus dem Zimmer. Das Wochenende stand vor der Tür. Nur Martin blieb an seinem Platz sitzen und starrte mit leerem Blick nach vorne. Erneut hatte ihn die Wirklichkeit mit all ihren Komplikationen und Schwierigkeiten eingeholt. „Nun, worauf wartest du?“ Freundlich schaute ihn sein Lehrer an. „Ich…“, nuschelte Martin ohne zu wissen, was er sagen sollte. Schnell senkte er den Blick, denn er konnte den Augen des Lehrers nicht standhalten, und fegte kurzerhand seine Sachen von der Schulbank wild durcheinander in seine Tasche. Dann stand er kraftlos auf, warf sie sich über die Schulter und schlurfte die Tischreihen entlang nach vorne in Richtung Tür, die nur leicht offen stand, sodass er die anderen Schüler auf den Gängen zwar hören, aber nicht sehen konnte. Sein Blick blieb an den sauber polierten Schuhen des Lehrers hängen, der in einer lässigen Pose am Pult lehnte und ihn beobachtete. Während er sich ihnen näherte, den Blick starr zu Boden gerichtet, bewegten sie sich leicht, verursachten dabei das gleiche, leise Geräusch wie während des Unterrichts, und als er schließlich auf gleicher Höhe war und sich nach rechts zur Türe drehen wollte, machten sie einen Schritt vom Pult weg genau auf ihn zu. Ein Arm legte sich um seine Taille und drehte ihn herum. Mit einem Lächeln zog der Lehrer ihn zu sich hin und meinte leise: „Mach doch nicht immer so ein Gesicht. Das steht dir nämlich überhaupt nicht.“ Schweigend hob Martin den Kopf und blickte nun doch in die blauen Augen. Für einen kurzen Moment vergaß er zu atmen. Er und der Lehrer, sie waren fast gleich groß, sodass er seinen Kopf nur ein wenig anheben musste. Er wusste, was jetzt kommen würde und senkte in einer Erwartung, die er sich nur ungern eingestand, die aber ohne Zweifel vorhanden war, seine Lider. Das Gesicht des anderen kam näher an sein eigenes, er spürte leicht dessen Atem; doch im letzten Moment, bevor die fremden Lippen seine eigenen berühren konnten, drehte er den Kopf zur Seite. „Nicht hier“, flüsterte er, aber er wehrte sich nicht weiter, als der Lehrer langsam statt seines Mundes die Seite seines Halses berührte. Er spürte die feuchte Zunge des Mannes und musste mit aller Kraft ein Seufzen unterdrücken. Ein Kribbeln lief durch seinen Körper und seine Beine fühlten sich mit einem Mal wie gelähmt an. Sein Verstand schien es ihnen gleich zu tun, denn für einen Moment verlor er sich ganz in dieser Umarmung. Draußen schien die Sonne und das Licht fiel durch die Fenster auf den Boden des Klassenzimmers. Millionen winziger Staubkörner schwebten in der Luft, die jetzt aber, als Martin leise aufstöhnte, durch seinen Atem durcheinander gewirbelt wurden. Seine Gedanken kehrten sogleich ins Klassenzimmer zurück. Er wurde zurück gedrängt, bis er mit den Oberschenkeln von hinten gegen einen der Tische in der ersten Reihe stieß, spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte und lange, schlanke Finger sich am Kragen seines Hemds zu schaffen machten. „Musst du dann nicht…“ - Der oberste Knopf sprang auf - „…zur Kunst-AG?“ Die Stimme des Lehrers klang ruhig und gedämpft. Martin riss seinen Kopf nach hinten und sog scharf Luft durch seine Nase und den halb geöffneten Mund ein, als die warmen Lippen von der Vertiefung unterhalb seines Kehlkopfes langsam seine Brust hinunter wanderten. Er merkte, dass seine Arme, mit denen er sich an der Tischkante abstützte, zu zittern anfingen und nachzugeben drohten. Die Schultasche war ihm schon längst von der Schulter gerutscht. „Besser, du beeilst dich ein wenig…“ Der Druck gegen die Tischkante ließ nach und der Griff um seinen Körper löste sich. Er blinzelte und erkannte die beiden himmelblauen Augen direkt vor seinen eigenen. Dann richtete sich der Lehrer wieder zu seiner vollen Größe auf, machte lächelnd einen Schritt von ihm weg und sagte: „Weißt du, ich muss jetzt noch zu einer Lehrerkonferenz.“ Bei dem Ausblick darauf verzog er das Gesicht und setzte eine gelangweilte Miene auf. „Wie lange…?“, fing Martin an zu fragen, während er sein Hemd wieder zuknöpfte und den Blick des Lehrers konsequent mied. „Um drei auf dem hinteren Parkplatz“, kam die Antwort ohne Zögern. Martin nickte, schnappte sich seine Schultasche und stolperte eilig zur Türe. Als er noch einmal kurz inne hielt, sah er den Lehrer - die Hände in den Hosentaschen seines Anzugs - gedankenverloren aus dem Fenster schauen. Das Zimmer lag im ersten Stock, sodass man von außen nicht viel von dem erkannte, was drinnen vor sich ging. Er konnte jedoch das Spiegelbild des Mannes mehr als deutlich in der Glasscheibe erkennen und im letzten Moment, bevor er aus dem Raum verschwunden war, trafen sich darin ihre Blicke. Kapitel 2: lesson 2 ------------------- Mit schnellen Schritten bog Martin um die Ecke des Flurs und steuerte auf seinen Spind zu. Schritte und Stimmen näherten sich von der anderen Seite, als er den Metallkasten aufsperrte und darin nach seinen Malsachen kramte. Er steckte den Kopf noch weiter hinein, hielt die Luft an und hörte, wie die kleine Gruppe von Schülern in einiger Entfernung stehen blieb. Noch mehr Spindtüren flogen auf und beruhigt atmete er nach einigen Sekunden wieder aus, als sich die anderen weiterhin vergnügt miteinander unterhielten. Zwischen seinem Mathebuch und den Sportschuhen fand er Farben, Pinsel und Zeichenstifte. Er stopfte sie ebenfalls in seine Schultasche und schloss anschließend den Spind. Dann machte er sich auf zu den Kunsträumen im Keller. Auf dem Weg dorthin kam er an den Getränkeautomaten vorbei. Da er noch genügend Zeit hatte, bevor die nächste Stunde begann, beschloss er, sich einen Kaffee zu gönnen - wobei die braune Brühe, die der Automat bislang immer ausgespuckt hatte, kein wirklicher Genuss gewesen war. Er warf ein paar Münzen ein und wartete, dass der Pappbecher sich mit dem dampfenden, koffeinhaltigen Getränk füllte. Dann ging er weiter, während er vorsichtig an dem heißen Kaffee schlürfte. Obwohl es draußen eigentlich warm genug war, war das jetzt genau das Richtige für ihn. Noch knapp zwei Stunden bis drei Uhr, dachte er und achtete in Gedanken versunken gar nicht mehr darauf, wo er hinging. So bemerkte er auch zu spät seine zwei Mitschüler, die ihm entgegenkamen. Ein heftiger Stoß gegen die Schulter riss Martin herum. Erschrocken über seine Unachtsamkeit und noch bevor er irgendetwas tun konnte, schwappte der halbe Inhalt des Kaffeebechers über den Rand des Bechers und landete auf seiner Hose und mit einem platschenden Geräusch auf dem Boden. „Ooooh, `tschuldigung, wirklich“, rief der Typ, der ihn angerempelt hatte, bestürzt, konnte aber das feixende Grinsen auf seinem Gesicht nur schwer unterdrücken. „Hab dich gar nicht gesehen.“ Der zweite hielt sich die Hand vor den Mund und das Lachen hörte sich darunter nach einem Grunzen an. Wie versteinert starrte Martin auf die braune Lache vor seinen Füßen und wollte schon eine mechanische Entschuldigung vorbringen, als der erste Typ, an seinen Kumpanen gewandt, weiter redete: „Ich glaube, der schläft immer noch, was meinst du?“ „Stimmt“, antwortete der zweite kichernd und wirkte bemüht, nicht auf der Stelle lauthals loszulachen. Martin rührte sich nicht. Er wollte etwas sagen, doch sein Mund klappte nur mehrmals auf und zu, ohne dass er einen Ton hervorbrachte. Er kannte die beiden, sie waren aus einem seiner Kurse, doch er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Namen zu erfahren. Die Leute, die er kannte, waren doch alle gleich. Zumindest fast alle. „Genau. Im Unterricht hält er auch immer Nickerchen, der Versager. Und nicht mal Strafarbeiten kriegt er dafür.“ Der Rempler wurde jetzt ernster und blickte Martin finster an. „Warum das, häh? Ich durfte schon zweimal nachmittags zum Nachsitzen hier antanzen. Hast du etwa `ne Sondergenehmigung für Schlafen im Unterricht?“ Drohend trat er einen Schritt näher auf Martin zu. „Was machst du dafür? Ich bin doch nicht blöd, der Pauker sieht das doch ganz genau, dass du jedes Mal vor dich hin schnarchst in seinem Unterricht. Was…?“ „Halt doch deinen Mund!“ Martin starrte dem Typ durchdringend in die Augen. Er trat einen Schritt zur Seite und wollte sich gerade umwenden und einfach weitergehen, als der andere ihm hinterher rief: „Ha! Hab ich da etwa ins Schwarze getroffen? Wahrscheinlich besorgst du’s ihm jeden Tag so richtig, oder? Vielleicht aber auch…“ „Halt den Mund!“ Ohne länger auf die zwei zu achten, stürmte Martin mit klopfendem Herzen an ihnen vorbei, um die nächste Ecke und verschwand hinter der erstbesten Türe. Er war auf dem Klo. Schwer atmend lehnte er an der Wand und spürte, wie sein Gesicht heiß war. Hoffentlich hatten die beiden nicht gesehen, dass er knallrot angelaufen war. Wie kamen die bloß auf solche Gedanken? War das etwa so offensichtlich? In einem Zug trank er den immer noch heißen Rest seines Getränks und warf den Becher in einer wütenden Geste in den Papierkorb. Den Tränen nahe und mit zitternden Händen tappte er zum Waschbecken und wusch erst den klebrigen rechten Arm, an dem der Kaffee herunter tropfte, und versuchte dann, den Fleck aus seiner Hose irgendwie wegzubekommen. Ohne Erfolg. Er warf einen Blick auf seine Uhr: noch eine Minute. Jetzt war doch eh alles egal. Mit nassem Hosenbein riss er die Türe auf und rannte fast schon in den Keller zu dem Zimmer für die Kunst-AG. Diesmal begegnete ihm niemand, wofür er dankbar war. In letzter Sekunde, kurz vor dem Läuten, erreichte er sein Ziel und hetzte durch die sperrangelweit offen stehende Türe. Die Kunst-AG bestand nur aus sieben Mitgliedern, doch heute waren außer ihm bloß noch zwei Mädchen da, die ihm jeweils einen flüchtigen Blick zuwarfen, als er das Zimmer betrat, und sich dann wieder eifrig diskutierend einander zu wandten. Lautlos ging er zum Schrank, in dem sein Skizzenblock war, und setzte sich auf seinen Platz in der Ecke. Eine geschlagene halbe Stunde lang stierte er auf das weiße Papier vor sich, setzte immer wieder mit dem Stift an, brachte jedoch keinen Strich zustande. Er hatte in Thema, zu dem er Ende des Monats eine Arbeit abliefern sollte, doch im Moment war er mit seinen Gedanken ganz woanders und konnte sich nicht darauf konzentrieren. Das Geschnatter der zwei Schülerinnen, die auch mit etwas Wichtigerem beschäftigt zu sein schienen als zu zeichnen, lag ihm unerträglich in den Ohren. Er hielt es nicht mehr aus. Wieso kam er eigentlich jede Woche hierher, wo er doch auch zu Hause daran arbeiten konnte? Zu Hause... Ja, das sagte man doch so, wenn man von dem Ort sprach, an den man für gewöhnlich jeden Abend zurückkehrte. Ruckartig stand er auf, vielleicht darauf hoffend, dass dieser Gedanke dadurch in irgendeinen möglichst weit hinten liegenden Winkel seines Gehirns geschüttelt wurde. Den Block wollte er schon achtlos zurück in den Schrank werfen, doch dann nahm er ihn mit und eilte zur Türe und aus dem Raum. Die Mädchen beachteten ihn gar nicht. Raus hier, bloß weg. Martin schaute auf die Uhr. Er war viel zu früh dran, fast eine ganze Stunde, aber das machte nichts; dann wartete er eben. Er kehrte nicht zu seinem Spind zurück um die Kunstsachen abzuladen, sondern lief vom Keller direkt zum Ausgang der Schule und dann auf einem schmalen Kiesweg um das Gebäude herum zum hinteren Parkplatz. Die frische Luft tat ihm gut und der braune Fleck auf seiner Hose war, wie er feststellte, mittlerweile vollständig eingetrocknet. Auf dem Parkplatz, der fast komplett von Bäumen umringt und struppigem Gebüsch eingewachsen war, standen nur wenige Autos. Der Platz gehörte nicht speziell zur Schule und für die meisten war der Weg vom Auto etwas abseits des Gebäudes bis zum Eingang auf der anderen Seite wohl zu weit, weshalb sie lieber auf dem großen, geteerten Platz direkt davor parkten. Was seinen Lehrer dazu veranlasste, sein Auto hier abzustellen, wusste Martin nicht, aber es war ihm doch deutlich lieber hier zu warten, wo normalerweise niemand hinkam, als auf dem häufiger besuchten großen Platz. Er entdeckte das dunkle Fahrzeug an der üblichen Stelle, ganz am Rand neben ein paar trockenen Büschen, und ging langsam darauf zu. Ein wenig hatte er gehofft, dass der Lehrer schon da war, doch er war alleine. Vorsichtig stellte er seine Tasche auf dem Boden ab, den Block daneben und lehnte sich dann gegen den Wagen, seine Augen fest auf den Weg gerichtet, den er gekommen war. Die Zeit verstrich nur langsam und auch das ständige auf die Uhr Schauen änderte nichts daran. Lediglich am Weiterwandern der Schatten, die die Bäume auf den Kiesplatz warfen, konnte er sicher sein, dass sie nicht stehen geblieben war. Es war zermürbend, das Warten. Von irgendwo her klang Motorenlärm, der sich mit dem Gezwitscher der Vögel in den Bäumen vermischte. Obwohl es hier doch recht friedlich war, erinnerte nichts an das Gefühl, das er in seiner Traumwelt gehabt hatte. Dort war er frei, richtig frei, und glücklich. Warum konnte er nicht für immer an jenem Ort bleiben? Er ließ sich neben seiner Tasche zu Boden sinken, den Rücken an das Auto gelehnt; die Hose war eh schon dreckig, also was sollte das jetzt noch machen. Auf diese Weise hatte er zwar keine Sicht mehr auf den Weg zur Schule, denn ein anderes Auto versperrte sie ihm, aber er würde die knirschenden Schritte schon hören, wenn sie näher kamen. Halb drei. Martin seufzte nach einem weiteren Blick auf seine Uhr und schloss die Augen. Er merkte, wie er zu dösen begann und versuchte sich wach zu halten, indem er nach einer Idee für sein Kunstprojekt suchte, doch die Hitze tat ihren Teil und so glitten seine Gedanken allmählich von bunten Formen hinüber in eine graue, farblose Welt. „Was machst du denn da auf dem Boden?“ Martin blinzelte mehrmals und schaute sich verwirrt um. Jetzt bin ich doch eingeschlafen, schoss es ihm durch den Kopf. „Na komm erst mal hoch.“ Mit einem fürsorglichen Gesichtsausdruck reichte ihm der Lehrer seine Hand, doch Martin rappelte sich ohne dessen Hilfe selbstständig, wenn auch etwas umständlich, auf. Wie immer fehlten ihm die Worte und so klopfte er wortlos seine Kleidung ab und nahm die Tasche und den Block vom Boden auf. „Wartest du schon länger hier? Ich hoffe, du hast die Kunst-AG nicht geschwänzt“, bemerkte der Lehrer augenzwinkernd, während er um das Auto herum zur Fahrerseite ging und es entriegelte. Martin schüttelte nur den Kopf, öffnete die Beifahrertür und stieg ein. „Wir hatten früher Schluss“, fügte er hinzu, um wenigstens irgendetwas gesagt zu haben. Dann sah er schweigend aus dem Fenster. Der Wagen fuhr los und er spürte die Blicke, die der Mann ihm immer wieder zuwarf, doch er tat so, als nahm er sie nicht wahr. „Was ist los mit dir?“, fragte der Lehrer nach einer Weile, als sie an einer roten Ampel halten mussten. „Du machst ein Gesicht, als ob…“ „Ich glaube, sie wissen Bescheid“, entfuhr es Martin auf einmal. Zögernd wandte er den Kopf und wartete auf eine Reaktion. Die Ampel schaltete auf Grün und das Fahrzeug setzte sich wieder in Bewegung. „Wer weiß über was Bescheid?“ Die Stimme des Lehrers klang in keinster Weise beunruhigt, sie war so sanft und wohlklingend wie immer. „Meine Mitschüler“, antwortete Martin, „über… uns.“ Das letzte Wort kam nur widerwillig über seine Lippen, es klang so dumm, so endgültig. Der Lehrer lachte leise auf, lachte nicht über ihn, sondern über das, was er gesagt hatte und meinte dann amüsiert: „Keine Sorge. Wenn du ihnen nichts ins Gesicht gesagt hast, wissen sie nichts. Sei also bitte beruhigt, denn wenn du weiterhin so schaust, fange ich noch an, mir Sorgen um dich zu machen.“ Dann wurde sein Gesicht ernst. „Hast du inzwischen denn etwas von deinen Eltern gehört?“ „Nichts.“ So einfach war das. Seine Eltern, eigentlich Pflegeeltern, waren vor fast drei Monaten ohne irgendeinen Hinweis auf ihren Verbleib über Nacht verschwunden. Er wusste nicht, wie und warum, doch er konnte es sich denken: Sie hatten ihn satt gehabt und wollten ihn loswerden. Lange Zeit hatte er im Heim gelebt. Immer wieder war er, nachdem er von einer Pflegefamilie aufgenommen worden war, letztlich dorthin zurückgekehrt, um Monate später erneut jemanden zu finden, der ihn aufnahm und kurz darauf wieder abschob. Schon oft hatte er den Grund dafür gesucht, dass es jedes Mal so ausging, ihn aber nicht gefunden. Und jetzt hatte er nicht vor, dass dieses Spiel von Neuem begann. Außer seinem Lehrer wusste niemand davon, dass seine Eltern abgehauen waren und ihn mit der Wohnung und vielen ihrer Sachen allein gelassen hatten. Das sollte sich auch nicht ändern. Er ging weiterhin normal zur Schule und Freunde, denen möglicherweise etwas auffallen konnte, hatte er keine. Bis zu seinem achtzehnten Geburtstag in einigen Wochen wollte er unbedingt noch durchhalten. „Mach dir keine Gedanken. Du kommst doch ganz gut alleine zurecht.“ Das ermutigende Lächeln wirkte nur bedingt, denn Martin war trotz dieses Zuspruchs noch nicht überzeugt. Doch bevor er etwas erwidern konnte, fuhr das Auto in die Tiefgarage des Wohnblocks ein, in dem sich das Apartment des Lehrers befand. Kapitel 3: lesson 3 ------------------- Die Wagentüren schlugen in dem unterirdischen Raum viel lauter zu als gewöhnlich. An den leeren Betonwänden und der niedrigen Decke hallte das Geräusch wider. Das künstliche Licht der Neonröhren flimmerte, als Martin und der Lehrer nebeneinander auf den Aufzug zu gingen, der sie aus der Garage heraus nach oben bringen würde. Sie warteten einige Sekunden, bevor sich die Türen mit einem leisen Zischen öffneten und sie eintreten konnten. Martin sprach kein Wort, während der Fahrstuhl mit mäßiger Geschwindigkeit aufwärts fuhr und erst im siebten Stock wieder stoppte und die beiden hinaus ließ. Sie gingen über den Flur bis zu der vertrauten Wohnungstür mit dem Namen „Alexandre L. Weiss“ auf dem Klingelschildchen. Der Lehrer zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche des braunen Jacketts, schloss auf und ließ Martin vorbei, bevor er selbst eintrat. Mit einem leisen Klacken fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Martin schaute sich um und stellte fest, dass sich seit dem letzten Mal, als er hier gewesen war, nichts verändert hatte. Wie immer war das Apartment ordentlich und aufgeräumt. Es lag weder ein überflüssiges Teil achtlos herum, noch stand ein Buch schief im Regal. Vor der Garderobe streifte er sich die Turnschuhe von den Füßen, warf seine Tasche und den Zeichenblock daneben und ging auf Socken weiter zur Couch ins Wohnzimmer. Mittlerweile wartete er nicht mehr auf eine Einladung. Mit einem tiefen Seufzer warf er sich in die weichen Kissen und lehnte sich zurück. Zwar war er froh darüber, hier zu sein und nicht bei sich zu Hause, doch er fühlte sich nicht gut. Er empfand eine nervöse Beklommenheit, die er sich nicht erklären konnte und die schwer auf ihm lastete, war irgendwie ausgelaugt und ein Gefühl des Elendseins hatte ihn ergriffen. „Hast du Durst? Was willst du trinken?“ Der Lehrer stand in der Tür zur Küche und schaute ihn fragend an. Martin zuckte nur mit den Schultern und brummelte eine unverständliche Antwort. Er wusste selbst nicht, was er im Moment wollte. „Das hieß wohl ja? Eine Tasse Kaffee?“ „Bitte nicht. Alles außer Kaffee“, stöhnte Martin auf. Von diesem Gebräu hatte er für heute genug. Er sah, wie der Blick des Lehrers seine fleckige Hose streifte und wäre am liebsten im Boden versunken. Egal was er tat, er kam einfach nicht aus seiner Haut. „Kann ich ein Bier haben?“, fragte er dann nach einem Moment der Stille trotzig, rutschte tiefer ins Polster und erwiderte den Blick, indem er ohne zu blinzeln zurück starrte. Die Augenbrauen des Lehrers hoben sich wissend und er schmunzelte. „Ein Bier?“ Er machte eine kurze Pause, in der er über diesen Vorschlag nachzudenken schien. „Na gut, wie du willst.“ „Kann ich vorher…?“ Martin machte eine unbestimmte Geste mit den Händen und deutete mit seinem Blick auf seine schmutzigen Klamotten. „Natürlich. Du weißt ja, wo alles ist“, sagte der Lehrer mit einer mitfühlenden Selbstverständlichkeit, die Martin dankbar annahm, und fügte in leicht verändertem Tonfall hinzu: „Aber lass dir nicht allzu viel Zeit…“ Martin wandte den Blick ab, stemmte sich umständlich aus den weichen, seidenbezogenen Kissen hoch und schlurfte auf das Badezimmer zu. Hinter seinem Rücken verschwand der Lehrer in der Küche und machte sich dort zu schaffen. In dem kleinen Badezimmer warf Martin die Kleidung achtlos in eine Ecke, dann stieg er in die Duschkabine und zog den Vorhang vor. Der nasse Strahl prasselte auf seinen Körper und schon nach kurzer Zeit schwebten dicke Dampfwolken in der engen Kabine, denn er hatte das Wasser so heiß gestellt, dass er es gerade noch aushalten konnte. Er glaubte, dass Hitze das einzige war, das er im Moment spüren konnte, und jeder der winzigen Tropfen schmerzte ein wenig auf seiner Haut. Die pappigen Überreste des Kaffees, die durch den Stoff der Hose gedrungen und sich an sein Bein geklebt hatten, wurden fortgespült genauso wie ein wenig seiner schlechten Laune, von der er nicht genau wusste, woher sie gekommen war, und die er vor allem nicht an der einzigen ihm zugewandten Person auslassen wollte. Die grauen Wolken in seinem Kopf lichteten sich allmählich und als er nach ein paar Minuten, in denen er unbeweglich unter dem brennenden Wasserstrahl gestanden hatte, aus der Dusche trat, konnte er wieder freier atmen. Die Angespanntheit, die ihn noch vor wenigen Augenblicken beherrscht hatte, war von ihm abgefallen genau wie der Dunst nun aus dem Raum entwich, als er das kleine Fenster aufriss. Von einem Stapel mit sauberer Wäsche nahm er sich ein Handtuch und trocknete sich gründlich ab. Dann fiel sein Blick auf seine Kleidung und er verzog das Gesicht. Er konnte die Sachen jetzt nicht mehr anziehen. Allein schon bei dem Gedanken schüttelte er sich. Neben dem Stapel mit den Handtüchern lag in dem Regal noch ein sorgfältig zusammengefalteter Bademantel. Er nahm ihn heraus, schlüpfte hinein und band ihn fest um seine Taille. Barfuß ging er zur Tür, öffnete sie und tappte zurück ins Wohnzimmer. Mit geschlossenen Augen saß sein Lehrer zurückgelehnt auf der Couch, die Arme nach links und rechts auf der Lehne ausgestreckt. Er hatte sich nicht umgezogen, trug noch immer das weiße Hemd und die feine Hose vom Vormittag. Lediglich das Jackett seines Anzugs hatte er abgelegt. Anzüge standen ihm wirklich gut, kam es Martin in den Sinn. Als er näher trat, lächelte der Mann und sagte ohne die Augen zu öffnen: „Bedien' dich.“ Martin erblickte die beiden Flaschen auf dem niedrigen Couchtisch. Er nahm sich eine davon und setzte sich neben seinen Lehrer auf das Sofa. Ein Arm fasste augenblicklich seine Schulter und zog ihn näher heran. Martin ließ es geschehen, blickte kurz auf die Bierflasche in seiner Hand und nahm einen tiefen Schluck, ehe er sie auf den Tisch zurückstellte und seinen Kopf gegen die Brust des anderen sinken ließ. „Geht’s dir besser?“ Erst jetzt war Martin entspannt genug, um sich auf die sanft vibrierende Stimme konzentrieren zu können. Es tat so gut, sie zu hören und er wollte jede noch so kleine Schwingung in sich aufnehmen. Sie musste unbedingt weiter klingen. „Ja.“ Seine Antwort kam ihm so rau und disharmonisch vor; er wollte nicht mehr sprechen. „Das ist gut. Du bist ganz warm, weißt du das?“ Martin sah, wie die freie Hand des Lehrers mit ruhigen, gemächlichen Bewegungen den Knoten seines Bademantels öffnete. Er schloss die Augen, lauschte der Stimme und lauschte auf den Herzschlag an seinem Ohr. „Wie gut du riechst…“ Eine Hand strich durch seine feuchten Haare. Die andere schob sich unter den Frotteestoff des weißen Mantels, schlang sich um seine Taille und zog ihn seitlich auf den Schoß des anderen. Martin legte den Kopf nach hinten, blickte nach oben und sah in das Gesicht des Mannes, der sich langsam, mit einem verträumten Lächeln auf den Lippen, zu ihm hinab beugte und ihm einen langen, innigen Kuss gab. Martin schloss die Augen, genoss diesen Augenblick und verschwendete keinen Gedanken daran, dass es für den anderen wahrscheinlich überaus scheußlich nur nach Bier schmecken würde. Seine Finger krallten sich in das Hemd des Lehrers und er spürte dessen raue Wange auf seiner eigenen, glatten Haut. Es kitzelte. Erst nach vielen Sekunden lösten sich ihre Lippen voneinander und ließen ihm wieder Luft zum Atmen. „Alexandre“, flüsterte Martin unwillkürlich und wünschte sich, der andere hätte nicht aufgehört. „Bitte… hilf mir, bring mich fort…“ Willenlos, aber voller Vertrauen, sank er in die Arme des Lehrers, die sich nun unter seinen Nacken und seine Kniekehlen schoben und ihn dann langsam hochhoben. War er wirklich so leicht? Sofort schüttelte er diesen störenden Gedanken wieder ab. „Für dich tue ich alles“, klang die geheimnisvolle Stimme an seinem Ohr und jagte ihm einen Schauer durch den Körper. Der Mann trug ihn ins Schlafzimmer, schob die Tür mit dem Fuß zu und legte ihn vorsichtig auf das große Bett. Ruhig blieb Martin liegen, wartete und beobachtete, wie der Lehrer sein Hemd aufknöpfte, es in einer eleganten Bewegung abstreifte und darunter der schlanke, aber durchtrainierte Oberkörper, die wohlgeformten Schultern und die starken Arme zum Vorschein kamen, die ihm mittlerweile so vertraut waren. Ich tue alles für dich, schoss Martin der letzte Satz durch den Kopf. Er lächelte zufrieden. Alexandre kam näher, setzte sich neben ihm auf die Bettkante und schaute ihm lange in die Augen. Und dann, scheinbar vollkommen gelassen, wanderte der Blick des Mannes weiter nach unten über seinen nackten Körper, den der geöffnete Mantel preisgab. Martin war das schon lange nicht mehr unangenehm. Noch nie war der andere grob oder unsanft geworden, noch nie. Während sich Alexandre nach vorne beugte, schwang er beide Beine aufs Bett und kniete nun über Martin, der wie von selbst den Atem anhielt und sich nach der nächsten Berührung sehnte. Bedächtig senkte Alexandre den Kopf, öffnete den Mund ein wenig und fuhr mit Lippen und Zunge, angefangen beim Hals, über Martins Körper in Richtung Bauchnabel. Martin seufzte auf, spürte seinen Herzschlag stärker werden und als sich der weiche Mund des anderen um seine Brustwarze schloss, zuckte er merklich zusammen. Seine linke Hand krallte sich in die Matratze und sein rechter Arm langte nach oben, bis er die Schulter Alexandres zu fassen bekam. Immer tiefer glitt die Zunge über seine empfindliche Haut und hinterließ an jeder Stelle, die sie berührt hatte, ein angenehmes Prickeln. Als sie an seinem Bauchnabel angelangt war, hielt Martin es nicht mehr aus und wand sich auf den weißen Laken, bog sich dem anderen entgegen und warf den Kopf in den Nacken. Eine Aufforderung. Die aufwallende Hitze in seinem Körper verlangte nach mehr. Er spürte, wie ihm behutsam der Bademantel abgestreift wurde. Ein Arm schob sich in den Freiraum zwischen Matratze und seinem Rücken und drehte ihn auf die Seite. Instinktiv zog Martin seine Beine an, bevor er in eine sitzende Position hochgezogen wurde. Ein fester Griff um seine Hüften zwang ihn weiter nach hinten, bis er mit dem Kopf gegen Alexandres kräftige Brust stieß, die mittlerweile ebenfalls erregt bebte. Die Hände ließen kurz von ihm ab und er hörte das raschelnde Geräusch von fallen gelassener Kleidung. Sein Körper zitterte und ein Keuchen drang aus seinem Mund, als er den stoßweisen Atem des Mannes von hinten an seinem Hals spürte und Alexandres lange, schlanke Finger behutsam, in leicht massierenden Bewegungen an den Innenseiten seiner Oberschenkel näher hin zu seinem Körper strichen. Eine Hand legte sich um seine Brust und presste ihn stärker an den Oberkörper des anderen. Martin hatte das Gefühl, als wäre sein Herz kurz davor zu zerspringen. „Aah... Alexandre...“, entfuhr es ihm. Seine Stimme zitterte. Er wollte noch mehr Nähe, eine Steigerung all dessen, wonach sein Körper bettelte. Heftige Atemzüge drangen an sein Ohr, jagten ihm einen wohligen Schauer über die Haut, und eine Hand packte seinen pochenden Penis. Er keuchte auf, sein Herzschlag beschleunigte sich. Während Alexandre ihn zunächst sanft, dann immer intensiver streichelte und drückte, spürte er die harte Erektion des anderen an seinem Rücken. Er rieb sich daran und konnte an nichts anderes mehr denken, als daran, ihn in sich zu spüren. Ein Finger berührte seine Lippen, schob sich in seinen Mund, und er leckte daran, umspielte ihn mit seiner Zunge und stellte sich vor, es wäre der harte Schaft, der sich in seinen Rücken bohrte. Mit einem Mal drehte Alexandre ihn herum, drückte ihn wieder auf die Matratze und langte mit der einen Hand unter seinen Hintern. Alexandre kniete bebend, mit glänzenden Augen über ihm, während sein nasser Finger sich in Martin schob. Zunächst war es nur die Fingerkuppe, die in ihn drang, dann glitt der Finger ganz hinein. Martin zuckte zusammen, biss die Zähne aufeinander, doch er erwiderte den fragenden Blick des anderen mit einem flehenden Laut, der sich aus seiner Kehle löste. Alexandre gab ihm einen Kuss, während sich ein zweiter Finger neben den ersten schob und sanft die Öffnung dehnte. Dann grinste er Martin kurz an, kurzatmig und mit Schweiß bedeckter Haut, ohne einen Hehl daraus zu machen, wie erregt er selbst war. „Bist du bereit?“ „Mmh“, presste Martin hervor und wand sich schon jetzt auf der Matratze. Allein der Gedanke an das, was gleich kommen würde, trieb ihn weiter an. „Na dann.“ Alexandre zog seine Finger wieder aus Martin, drückte dessen Beine weiter auseinander und hob seinen Unterleib an. Mit halb geschlossenen Augen, den Kopf in den Nacken gelegt, brachte er sich in Position, rieb seine harte Erektion an Martins Hintern und stieß dann in einer kraftvollen Bewegung in Martin. Beide stöhnten laut auf. Martin verspannte sich, zwang auch Alexandre kurz dazu, inne zu halten, bis der erste Schmerz nach wenigen Sekunden verklungen war. Dann bewegten sie sich, zunächst langsam, dann immer schneller und fordernder. Alexandre keuchte hörbar, während er sich rhythmisch ein wenig zurückzog, nur um gleich darauf wieder gierig in Martin einzudringen. Martin beobachtete wie gebannt die geschmeidigen Bewegungen des anderen, doch schon nach kurzer Zeit hatte er nur noch sein eigenes pochendes Glied im Kopf. Er umfasste seinen Penis, spürte sofort eine neue Woge, die ihn weiter fort riss, und passte seine Bewegungen intuitiv dem vorgegebenen Rhythmus an. Alexandre trieb ihn immer weiter, und Martin gab sich ganz hin. Seine Umgebung verschwand komplett aus seinem Sichtfeld. Er warf den Kopf in den Nacken, krümmte sich wieder zusammen, krallte sich in die Schultern des anderen. Er war so erfüllt, Alexandre war einfach überall. Er konnte spüren, wie sich sein Verlangen konzentrierte, sich irgendwo in seinen Lenden zusammenballte, um sich gleich darauf... „Alex...!“ In vollkommener Ekstase bog er seinen Rücken durch. Mit einem krächzenden Ausruf explodierte etwas in Martin, befreite sich aus seinem tiefsten Inneren und brach sich tosend an der Oberfläche. Und nur einen Moment später durchfuhr auch Alexandre ein heftiges Zucken, das Martin durch seine verschleierten Augen fasziniert betrachtete, ehe er befreit ausatmete. *** „Du möchtest nicht nach Hause?“ Alexandre stützte sich auf die Ellenbogen und schaute ihn eindringlich an. Martin blickte nicht zu ihm hin, sondern starrte weiterhin an die Decke und schüttelte den Kopf. „Warum sollte ich dorthin wollen?“ Er machte eine kurze Pause, in der keine Antwort kam, dann fuhr er fort. „In dieser Wohnung, die du mein Zuhause nennst, ist nichts, was mir wichtig ist oder mir irgendetwas bedeutet. Ganz im Gegenteil…“ Er stockte und sprach nicht weiter, schloss stattdessen die Augen, als er merkte, dass sie feucht wurden, und drehte sich auf die Seite, weg von Alexandre. Er wollte nicht wie ein sentimentaler Schwächling wirken. Alexandre seufzte leise neben ihm und legte einen Arm um ihn, der ihn wieder auf den Rücken drehte. Vor diesem Mann konnte er einfach nichts verheimlichen, doch die Umarmung tat wirklich gut. „Erzähl mir etwas, einfach irgendetwas“, flüsterte Martin kaum hörbar. „Bitte, lass mich deine Stimme nur lange genug hören.“ Er streifte die blauen Augen, die nachdenklich auf ihm ruhten, doch er hatte nicht die Kraft, ihnen standzuhalten. „Bitte…“ Er umklammerte den Rand der Bettdecke und presste sein Gesicht gegen Alexandres Brust, die sich unter ruhigen Atemzügen gleichmäßig hob und senkte. Martin wollte nur so weit weg wie möglich von der Realität, die er so sehr hasste und die ihn doch früher oder später unausweichlich wieder einholen würde. Für immer konnte er nicht hier bleiben, aber ein bisschen Zeit, während der es ihm möglich war, frei zu sein und alles andere zu vergessen, stand ihm wohl zu. Für kurze Zeit herrschte Stille im Raum, dann jedoch erklang das tiefe, warme Timbre von Alexandres Stimme, das sich zärtlich in seinen Gehörgang schlich. Die Worte formten Bilder in seinem Kopf, die so lebendig waren, dass er darin versank. Er tauchte ein in eine Welt voller Sorglosigkeit und Schönheit. Martin war barfuss, versank fast bis zu den Knöcheln im weichen Sand, der von der Sonne aufgeheizt zwischen seinen Zehen kitzelte. Zu seiner Linken lag das Meer, ein riesiger, im Sonnenlicht glitzernder Spiegel, der bis an den Horizont reichte und dessen Wellen in regelmäßigen Abständen den Strand hinauf gekrochen kamen wie ein steter Herzschlag und die Luft mit einem an- und abschwellenden Rauschen erfüllten. In der Ferne erkannte er eine Ansammlung von Häusern, augenscheinlich ein Fischerdorf, das auf einem kleinen Hügel lag. Die Nachmittagssonne warf schräge Schatten einiger kleiner Felsbrocken auf den Boden. Nach rechts hin stieg das Land immer mehr an und der Sand wurde von Grasbüscheln und einigen Sträuchern abgelöst. Keine Menschenseele war in Sichtweite und leichten Herzens begann Martin, von dem sanften Wind im Rücken geleitet, am Meer entlang über den Strand zu schlendern. Mit jedem neuen Schritt, den er machte, verschwand hinter ihm ein alter Fußabdruck und nach und nach die ganze Spur, sodass der Sand so unberührt dalag wie zuvor. Die Sonne sank schnell - viel schneller als in der Realität, hatte er das Gefühl - und so dämmerte es bereits, als die Gruppe kleiner Holzhäuser in greifbare Nähe rückte. Obwohl sie einfach gebaut waren, sahen sie einladend aus und erweckten den Eindruck von Gemütlichkeit und Wohlbehagen. Der Himmel glühte orangerot, färbte das Holz der Häuschen und die Wolken in derselben Farbe, und es schien, dass die Sonne sich den Nachmittag über nur so beeilt hatte, um jetzt mehr Zeit für dieses wunderbare Schauspiel zu gewinnen. Martin erreichte das kleine Fischerdorf in dem Moment, als sie letztendlich doch vom Meer verschluckt wurde und allmählich den Sternen, die zunächst noch ganz blass erschienen, den Vortritt ließ. Das Wasser rauschte währenddessen ungebrochen und von diesem Vorgang unberührt weiter. In den quadratischen Fenstern der meisten Häuschen waren die Vorhänge zugezogen und ließen gedämpftes Licht durch die Scheibe nach draußen dringen. Während er sich umschaute, glaubte Martin, schemenhafte Bewegungen durch den Stoff wahrzunehmen und musste unwillkürlich an glückliche Familien denken, die zusammen friedlich um den Abendbrottisch saßen und sich bei Kerzenschein von der Arbeit und den Ereignissen tagsüber erzählten. Sein Blick blieb an einem der Fenster hängen, durch das ebenfalls schummriges Licht fiel, und ohne zu zögern ging er auf die Türe dieses Häuschens zu. Er klopfte nicht an, sondern drückte vorsichtig gegen das Holz, das sofort nachgab und einen immer breiter werdenden Spalt ins Innere offenbarte. Martin öffnete die Tür weiter und sah sich einem kleinen, flackernden Feuer gegenüber, das unter der Kochstelle munter vor sich hin loderte und den Raum mit seinem Schein erhellte. Er entdeckte einen Holztisch in der Mitte, darum zwei Stühle, einen Schrank an der einen und eine weitere Türe an der Wand rechts von ihm. Es war niemand da, das Häuschen war für ihn. Natürlich war es das. Mit einem Lächeln trat er ein, schloss die Tür und fühlte sich gleich wie zu Hause. Das orangefarbene Flackern löste sich auf, genau wie die übrige Einrichtung des Raumes und zuletzt das Holzhäuschen selbst. Die Bilder verschwommen zu einem tristen Grau und ließen ein leises Gefühl der Leere zurück. Martin schlug die Augen auf. Er blinzelte ein paar Mal und setzte sich dann auf - sein Gesicht spiegelte kurzzeitige Verwirrung wider, während er seine Gedanken ordnete. Er war wieder zurück in Alexandres Apartment, zurück in der Wirklichkeit. Er stieß einen leisen Seufzer aus und presste die Handflächen an seine feuchte Stirn; der kurze Stich in seinem Herzen war sofort abgeklungen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Alexandre nicht mehr länger neben ihm war, sondern in dem Sessel nahe dem Bett saß. Sein Gesicht lag im Schatten und Martin konnte nur das Blitzen der Augen wahrnehmen, die unverwandt auf ihn gerichtet waren. Warum hatte er nur aufgehört, weiter mit seiner Stimme eine Traumwelt für ihn zu weben? Er hatte doch gesagt, dass er alles für ihn täte… „Es wird Zeit…“ Der Ton der Stimme hatte sich nur leicht verändert. „Du kannst nicht hier bleiben. Ich fahre dich nach Hause.“ „Ich…“ Martin wusste nicht, was er sagen sollte; natürlich konnte er nicht bleiben. Aber warum so plötzlich? Resigniert nickte er, richtete sich auf und fand seine Kleidung sauber und ordentlich zusammengelegt neben sich. Schweigend zog er sich an. Als er fertig war, sagte er leise: „Du brauchst mich nicht zu fahren. Ich nehme den Bus.“ „Die letzte Linie ist vor fünf Minuten abgefahren“, erwiderte Alexandre mit einem Schmunzeln um die Mundwinkel und erhob sich von dem Stuhl. „Dann lauf ich halt. Das ist sowieso…“ „Kommt nicht in Frage.“ Der Mann schnitt ihm das Wort ab und trat um das Fußende des Betts vor ihn. „So ein hübscher Junge ganz allein unterwegs, noch dazu bei Dunkelheit…“, hauchte er und streifte mit dem Handrücken Martins Wange. „Also keine Widerrede. Gehen wir.“ Er wich wieder einen Schritt zurück und ließ Martin den Vortritt aus dem Zimmer. Im Vorübergehen entdeckte Martin auf dem Couchtisch seine angetrunkene Flasche Bier, die noch so da stand, wie er sie hinterlassen hatte. Es wäre doch pure Verschwendung des Inhalts, wenn er jetzt einfach so ginge… Kurz entschlossen leerte er die Flasche in einem Zug und spürte das warme Gefühl des Alkohols seinen Hals hinab bis in den Magen rinnen. Dann drehte er sich um und ging zurück zur Garderobe, wo er in seine Schuhe schlüpfte und sich seine restlichen Sachen schnappte, den leeren Zeichenblock und die Schultasche. Alexandre kam aus dem Badezimmer, nahm die Wohnungs- und Autoschlüssel von dem kleinen Tischchen und bedeutete Martin mit einem Nicken aufzubrechen. Der Aufzug brachte sie erneut in die Tiefgarage, sie stiegen ins Auto und fuhren los. Martin war mit den Gedanken woanders, im Nirgendwo. Er meinte zwar, kurze, flüchtige Seitenblicke zu bemerken, doch sagte weiterhin nichts und ließ die verschwommenen Lichter der Straßenlaternen still an sich vorbeirauschen. Er hätte gerne noch länger so weiterfahren können, doch nach einer guten Viertelstunde war die Fahrt vorbei und der Wagen stoppte. Alexandre drehte sich jetzt offen in seine Richtung und blickte ihn mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. Er schien etwas sagen zu wollen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Das Auto stand direkt am Straßenrand unter einer Laterne, deren gelbliches Licht schummrig ins Innere drang. Der Lehrer beugte sich nach vorne - seine Augen spiegelten den Glanz von draußen -, packte mit einer Hand Martins Kopf von hinten und presste seine Lippen gegen die Martins. Martin schloss die Augen, spürte, wie die Zunge des anderen in seinen Mund drang und hielt die Luft an. Der Kuss löste ein seltsames Gefühl in ihm aus, ein Gefühl des Abschieds, und er merkte, wie seine Stimmung immer weiter bergab ging. Nach einigen Sekunden ließ Alexandre wieder von ihm ab und blickte nach vorne durch die Windschutzscheibe. „Gute Nacht.“ „Nacht“, murmelte Martin, während er die Autotür öffnete und mit seinen Sachen aus dem Wagen stieg. Ohne ein weiteres Wort knallte er sie hinter sich zu, ging vor dem Auto über die Straße auf den Fußweg zu seinem Wohnblock zu. Als er auf dem schmalen Weg war, hörte er hinter sich das Auto losfahren. Er schlenderte noch ein, zwei Schritte weiter und blieb dann stehen. Er hatte nicht vor, in seine Wohnung zurück zu kehren. Überhaupt fragte er sich schon seit längerem, wann wohl das erste Beschwerdeschreiben wegen nicht bezahlter Miete oder Stromrechnung ins Haus flattern würde. Es konnte doch unmöglich so weitergehen. Zögerlich wandte er sich um, starrte eine ganze Weile auf die Straße und setzte sich dann langsam in Bewegung. Schritt für Schritt entfernte er sich immer mehr von seiner Wohnung. Ab und zu fuhr ein Auto neben ihm vorbei, doch sonst begegnete ihm niemand. Er wusste nicht, wohin er ging, wohin er gehen konnte, doch alles war besser, als an den Ort zurückzukehren, der ihm wie ein Käfig vorkam. Martin durchquerte das Wohnviertel, vorbei an Gartenzäunen und beleuchteten Fenstern und näherte sich dann der Innenstadt. Hier hielten sich Leute auf, die das gute Herbstwetter ausnutzten, um auch spät abends noch draußen vor den Restaurants zu sitzen. Aber er wollte niemanden sehen und er war müde; vielleicht auch ein wenig angetrunken, denn er wusste, dass er nicht viel vertrug. Ohne nachzudenken ging er immer weiter, bis er erst im Stadtpark wieder realisierte, wo er sich befand. Die großen Bäume schirmten das Mondlicht ab und ließen nur die Laternen den Weg erhellen. Da war eine Bank am Rand des Weges. Er brauchte eine Pause, also ging er darauf zu und setzte sich, die Tasche und den Block ließ er ungeachtet zu Boden gleiten. Er starrte vor sich in das undurchdringliche, schwarze Gebüsch und wurde immer schläfriger, je länger er dasaß. Auch der kühle Wind konnte daran nichts ändern. Seine Augenlider wurden schwer, er konnte sie kaum mehr offen halten, und sein Kopf sackte nach vorne auf die Brust. Etwas raschelte neben ihm und er schrak auf. Im spärlichen Licht erkannte er einen kleinen Schatten über den Weg huschen, irgendein Tier, nichts, worüber er sich Sorgen machen musste. Es verschwand in der Dunkelheit. Erneut fielen ihm die Augen zu und nur noch halb bei Bewusstsein zog er seine Beine an und ließ sich zur Seite auf die Bank sinken. Zusammengerollt lag er auf der harten Sitzfläche mitten im Park, den Kopf mit seinen Händen umschlossen, während sein Geist allmählich in völlige Finsternis abdriftete. Kapitel 4: lesson 4 ------------------- Absolute Hitze empfing ihn, und ein grelles Licht, das sich auf seine Netzhaut brannte und in den Augen schmerzte. Reflexartig verengte er sie zu schlitzen und machte sie nur ganz behutsam Stück für Stück wieder auf, dass sie sich an die Helligkeit gewöhnen konnten. Mit gerunzelter Stirn schaute er sich um. Er befand sich in einem Meer aus Sand; weit und breit war nichts anderes zu sehen. Sand - große und kleine Dünen - bis zum Horizont in allen Richtungen, stickige, drückend schwere Luft über dem Boden, die das Atmen mühevoll werden ließ, und über ihm eine Sonne, die unbarmherzig auf die Erde hinunter brannte. Das kann nicht sein, schoss es Martin durch den Kopf. Trotz der Weite der Landschaft kam er sich furchtbar eingeengt vor. Wieso macht er so etwas? So ein Ort… Ich will weg von hier. Erneut drehte er sich einmal um die eigene Achse, doch es sah alles gleich aus, der Boden, der wolkenlose, blaue Himmel, auch keine Spur eines Windhauchs war zu spüren, der er entgegen gehen konnte. Er schlug willkürlich eine Richtung ein, setzte einen Fuß vor den anderen und zuckte jedes Mal zusammen, wenn der heiße Sand seine Fußsohlen berührte. Niemals war das eine Welt, in der er sich wohl fühlen könnte. Schweiß begann, an seinem Körper hinab zu rinnen, sein Kopf schmerzte unter den stechenden Strahlen von oben und seine Kehle war nach kurzer Zeit wie ausgetrocknet. Jegliches Zeitgefühl war verschwunden und die Landschaft vor seinen Augen verschwamm zu einem flirrenden, überlichteten Bild ohne Konturen, durch das er hindurchtaumelte wie in einem Traum. Natürlich, es war ein Traum, er brauchte doch nur aufzuwachen. Aber solange ihn die Stimme gefangen hielt, war das unmöglich; er konnte nichts ausrichten und war Alexandre völlig machtlos ausgeliefert. Wieso schickte er ihn in so eine Welt? Martins Beine versanken immer tiefer im Wüstensand, der überall an seinem Körper haften blieb wie ein krustenartiger Überzug. Es war fast, als ob er festgehalten wurde. Ein unbehagliches Gefühl ergriff von ihm Besitz. Mit aller Kraft versuchte er, sein linkes Bein zu heben, doch er konnte noch so sehr daran zerren, es gelang ihm nicht. Dass das an der Hitze lag, die ihn vollkommen kraftlos gemacht hatte, konnte er nur vermuten; stattdessen bemerkte er, dass er immer tiefer in den Boden sank. Der Sand verschlang ihn regelrecht, und wie in einer Sanduhr rieselte er unaufhaltbar dem großen Fall entgegen. „Nein!“ Wilde Panik ergriff ihn und er schlug um sich, während der Sand über seine Beine weiter nach oben kroch. „Bitte, hör auf! Wieso…?“ Die Stimme, inzwischen mehr nur ein trockenes Röcheln, versagte ihm den Dienst und der Druck um seinen Oberkörper wurde schier unerträglich. Von allen Seiten drückten immense Kräfte auf ihn ein. Das grelle Licht verblasste, wurde fahl, zuerst zu einem Grau und dann, als der Sand sich wie ein zähflüssiger Brei über seinem Kopf schloss, hatte er nur noch Dunkelheit vor seinen Augen. Er fiel tatsächlich. Durch die Einschnürung der Sanduhr in die zweite Kammer, wo er endgültig bei lebendigem Leib begraben werden würde… Es war doch nur ein Traum? Der Aufprall kam unerwartet heftig und nahm ihm die Luft, als er bäuchlings auf hartem Untergrund aufschlug. Für ein paar Sekunden war er wie benebelt und unfähig sich zu rühren. Seine Fingerspitzen berührten kalten Boden, festen Boden. Sein Gehirn arbeitete schleppend und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Kalt und hart - das war kein Sand, das war nicht… Ruckartig hob Martin den Kopf, als ihm diese Tatsache bewusst wurde. Mit aufgerissenen Augen blickte er um sich. Nicht nur die Sanddünen waren verschwunden, auch das grelle Sonnenlicht war einem düsteren Zwielicht gewichen. Mühsam und schwer atmend stemmte er sich zuerst auf alle Viere und dann in die Hocke. Dabei nahm er den schwachen Geruch von Moder wahr, der durch einen kühlen Luftzug zu ihm getragen wurde; verwesendes Laub und totes Holz - typisch für einen Wald zur herbstlichen Jahreszeit. Aber es war immer noch nicht die Wirklichkeit, er war weiterhin in einem Traum gefangen, der so ganz anders war, als die bisherigen. Leichter Wind raschelte in den Bäumen, doch außer diesem Geräusch war nichts weiter zu hören. Martin blickte sich nach allen Seiten um. Der Wald war alt, was er an den dicken Stämmen erkannte, und an der Stelle, an der er sich befand, standen die Bäume ziemlich dicht und ließen trotz der teilweise schon kahlen Äste nur wenig Licht auf die Erde. Die vereinzelten Sonnenstrahlen, die durch Lücken in der Baumdecke fielen, brachten die rötlich braunen Farben der abgefallenen Blätter auf dem Boden zum Leuchten. Auf wackligen Beinen stakste Martin auf einen dieser Lichtstrahlen zu, der die Bewegungen und Verwirbelungen der Luft sichtbar machte, und blickte nach oben durch die Baumkronen auf ein Stück blauen Himmels, an dem Wolken gemächlich vorbeizogen. Allmählich beruhigte er sich wieder und versuchte, während er ohne bestimmtes Ziel zwischen den Bäumen hindurch streifte, nicht mehr an den Schrecken von vorhin zu denken. Es war wieder alles normal, er war zurück in seiner Traumwelt. Nur wenige Minuten später drang ein leises Plätschern an seine Ohren und er schlug die Richtung ein, aus der er meinte, dass das Geräusch kam. Für einen Schluck Wasser wäre er sehr dankbar, denn nach wie vor war sein Hals ausgetrocknet. Und außerdem klebte immer noch ziemlich hartnäckig Sand auf seiner Haut, den er nur zu gerne abwaschen würde. Das Geräusch wurde zunehmend lauter und nach wenigen Schritten sah er einen im Sonnenlicht glitzernden, schmalen Bach, der sich zwischen den Bäumen hindurch schlängelte. Erleichtert kniete sich Martin an den Rand des Wassers, tauchte seine Hände hinein und schöpfte etwas von der klaren Flüssigkeit an seinen Mund. Es war kalt und zunächst konnte er gar nicht richtig schlucken, doch dann rann das das Wasser wie ein Segen seine Kehle hinab; es war wunderbar. Nachdem er mit ein paar tiefen Zügen seinen Durst so weit gestillt hatte und ein Gefühl des Befreit-Seins in ihm aufkam, hielt er zuerst seine Arme in das gemächlich dahin fließende Gewässer, um die letzten Überreste des Albtraums von vorhin verschwinden zu lassen. Hochkonzentriert hockte er über das Rinnsal gebeugt da, während er sorgfältig den Sand im fließenden Wasser abrubbelte. Dabei kam ihm kurz der Gedanke, wie lange die Stunde wohl noch ging, bevor er sowieso wieder ohne irgendeinen Kratzer auf seinem Platz im Klassenzimmer zu sich kommen würde. Er schlief ja nicht wirklich, und irgendwo in seinem Hinterkopf bekam er auch das mit, was der Lehrer wirklich den Schülern vortrug, doch die unterschwelligen Worte, die nur ihm offenbart wurden, waren einfach viel stärker. Das Läuten zum Stundenwechsel war sicher nicht mehr lange hin. Mit verträumtem Blick ließ Martin das kalte Wasser über seine Hände strömen. Jedes Mal, wenn er versuchte es zu greifen, entwich es seinen Fingern, doch die Sanftheit, mit der es über seine Haut strich, glich so sehr den Berührungen Alexandres, dass sofort bei diesem Gedanken ein Gefühl der Sehnsuch von ihm Besitz ergriff, dessen er sich bislang nicht bewusst gewesen war. Hatte er denn in seiner eigenen Traumwelt nicht alles, was er brauchte, seine Freiheit? Diese sehnsüchtige Empfindung offenbarte ihm auf einmal eine Leere in ihm, eine einsame Stelle in seinem Traum, die ihm noch nicht aufgefallen war. Oder hatte er sie etwa nur nicht bemerken wollen? Aber das spielte keine Rolle; er würde sowieso jeden Moment in die Wirklichkeit zurückkehren. Martin stierte auf den Bach, der jetzt nicht mehr glitzerte, da die Sonne inzwischen weitergewandert war und ein riesiger, knorriger Baum, der seine Blätter noch nicht hatte abschütteln wollen, ihr Licht abfing. Das Wasser lag nun im Schatten und der Wind, der vor Kurzem noch ein wenig frische Luft mit sich getragen hatte, war abgeflaut. Martin bemerkte nicht, wie das Wasser sich langsam schwarz färbte, als hätte jemand Tinte darin ausgeschüttet. Zuerst waren es nur dunkle Schlieren, die unauffällig dahin trieben, doch in kurzer Zeit verdichteten sie sich und als Martin seine Hand aus dem Wasser ziehen wollte, stieß er einen überraschten Schrei aus, denn der komplette Bach bestand mit einem Mal aus schwarzer Flüssigkeit. „Was…?“ Alarmiert sprang er auf und starrte ungläubig auf das Schauspiel, das vor seinen Augen ablief. Gerade eben war doch noch alles in Ordnung, alles wie früher gewesen; wieso tat der Lehrer ihm das an, was hatte er für einen Grund? „Verdammt, was geht hier vor? Was soll das?“ Blasen platzten an der unruhigen Wasseroberfläche auf und spritzten kleine Tröpfchen auf die umliegenden Pflanzen. Ein übler Geruch stieg Martin in die Nase und dann sah er, wie das Unkraut entlang des Bachlaufs erst braun, dann grau wurde, und dann schließlich zu Staub zerfiel - es welkte vor seinen Augen! Martin stolperte einen Schritt rückwärts, sein Atem beschleunigte sich, doch er konnte seinen Blick nicht abwenden. Der Vorgang war nicht nur auf die Pflanzen direkt am Ufer beschränkt: Wie eine Kettenreaktion setzte er sich fort. Der Schatten des Wassers breitete sich weiter wie eine giftige Wolke aus und erreichte den ersten Baum, der sofort in Schwarz gehüllt wurde und unter schrecklichem Ächzen seinem eigenen Gewicht nachgeben musste. Martin sprang zur Seite, um nicht von den herabfallenden Ästen getroffen zu werden und nur der Panik in ihm folgend wandte er sich auf der Stelle um und rannte los. Ein wütendes Gurgeln verfolgte ihn, während er immer weiter lief. Der penetrante Gestank von Verfaulung und Verwesung war ihm ebenfalls auf den Fersen. Aus dem Wald war jetzt sämtliches Licht verschwunden, es war kalt und grau, und die dunkle Wolke hinter ihm kam immer näher. Er sprang über tückische Wurzeln, die ihn zu Fall bringen wollten, und riss sich von den spitzen Nadeln der Sträucher los, die sich in seiner Kleidung verfingen. Er wagte nicht, einen Blick zur Seite zu werfen, denn in den Augenwinkeln konnte er bereits den dunklen Nebel erkennen, der alles zu verschlingen schien. Aber was hatte es für einen Sinn, wenn er davon lief? Früher oder später war er am Ende seiner Kräfte und das grausige Ding, das es ihm kalt über den Rücken laufen ließ, würde ihn erreichen; es war unvermeidlich. Und außerdem war doch alles nur ein Traum, nicht real. Was konnte ihm also schon passieren? Mit den Zehenspitzen verhakte er sich in einer Wurzel und schlug der Länge nach auf dem Boden auf. Schwer atmend blieb er liegen und wagte nicht, sich umzuschauen, diesem Ding entgegen zu blicken, das hinter ihm lauerte. Es wurde immer dunkler und ein Schatten breitete sich über ihm aus. Gleich war es soweit… Ihm konnte doch nichts passieren, oder? Im letzten Moment wälzte er sich auf den Rücken und sah, wie der schwarze Nebel über ihm zu einem Ungetüm anwuchs. Der Reihe nach verdorrten die riesigen Bäume um ihn herum und die Erde wurde rissig. Verzweifelt schüttelte er den Kopf und versuchte, rückwärts über den Boden zu fliehen - sinnlos. Schon neigte sich die schwarze Wolke lautlos zu ihm hinab und riss ihn fort. „Neeeeeeiiin…!“ Stille. Absolute Ruhe. Martin schaute sich um, Schweißperlen auf der Stirn. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, beobachteten ihn, neugierig, überrascht, hämisch. Er befand sich auf seinem Platz im Klassenzimmer. Hatte er etwa laut geschrieen? Wieso schauten sie ihn alle so an? Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz seinen Schädel und er zuckte zusammen; in seinem Bauch kündigte sich ein unangenehmes Gefühl an. „’Tschuldigung, ich… mir ist nicht…“, stammelte er, während er von seinem Stuhl aufsprang und an seinen Klassenkameraden vorbei zur Türe rannte, sie aufriss und aus dem Raum stürmte. Augenblicklich setzte Gemurmel ein und er konnte den Lehrer sagen hören: „Yuri, könntest du…“ Hinter ihm fiel die Türe ins Schloss und den Rest des Satzes bekam er nicht mehr mit. Er hetzte über den verlassenen Korridor und rettete sich in eine Toilette nicht weit entfernt. Seine Beine zitterten und das Kopfweh, das ihn schon die letzten beiden Tage geplagt hatte, hatte sich zurückgemeldet. Ihm war so elend zumute, wie selten zuvor. Er hätte heute noch nicht zur Schule gehen sollen, denn wegen der Erkältung, die er sich vor zwei Tagen während seiner Übernachtung auf der Parkbank zugezogen hatte, war er das Wochenende über erst einmal mit leichtem Fieber flach gelegen. Vielleicht hätte er wirklich noch einen Tag zu Hause bleiben sollen. Das Schulklo hörte langsam auf, sich vor seinen Augen zu drehen und das mulmige Gefühl in der Magengegend klang ebenfalls wieder ab. Das war aber doch nicht die Erkältung gewesen, die ihn eben so heftig angefallen hatte. Mit den Händen auf den Knien abgestützt stand er da, atmete tief durch und schrak zusammen, als der durchdringende Gong von den Fliesen widerhallte und das Ende des heutigen Unterrichts ankündigte. Augenblicklich schlugen überall Türen auf und das zuvor so schläfrig wirkende Gebäude schien unter hunderten von Schritten zum Leben zu erwachen. Martin sprang schnell vor ein Waschbecken und tat so, als würde er seine Hände waschen, als auch schon ein anderer Schüler den Raum betrat. Gute fünf Minuten ließ er das Wasser laufen bis sich der Trubel auf den Gängen gelegt hatte und die meisten Schüler auf dem Weg nach Hause waren. Auch er hatte nicht vor, noch länger hier zu bleiben. Er brauchte nur noch seine Schulsachen aus dem Klassenzimmer zu holen, dann konnte auch er verschwinden. So unauffällig und gelassen wirkend wie ihm möglich war, verließ er die Toilette und ging den Weg zurück an offen stehenden Türen und vereinzelten Schülern vorbei - niemand, der ihm besondere Beachtung schenkte. Kurz vor seinem Klassenraum blieb er stehen und horchte, ob noch jemand drin war, doch es blieb alles still und so trat er ein. Ein wenig hatte er ja gehofft, dass wenigstens der Lehrer noch gewartet hatte, doch das Zimmer war tatsächlich leer. Schnell ging Martin zu seinem Platz und packte die Dinge auf dem Tisch in seinen Rucksack. Was hätte er denn auch sagen sollen, falls der Mann noch da gewesen wäre? Nachdenklich hielt er mitten in der Bewegung inne und dachte mit Unbehagen an die völlig verkehrte Traumwelt, in die er geschickt worden war. Das hatte doch nicht an ihm und seiner Erkältung gelegen, dass so seltsame Sachen geschehen waren. Es war der Lehrer... Es war Alexandre gewesen, aber warum? Er konnte nicht glauben, dass das Absicht gewesen war. Zerstreut eilte Martin aus dem Zimmer und zum Ausgang der Schule. Den Bus nach Hause hatte er mittlerweile zwar verpasst, doch er musste schnellstmöglich an die frische Luft, denn hier drinnen hatte er das Gefühl, als würde er jeden Moment ersticken. Im Freien war es empfindlich kühl und graue Wolken bedeckten den Himmel, die selbst das kleinste bisschen Farbe zu schlucken und stattdessen einen grauen Schleier über die Erde zu legen schienen. Der Sommer hatte sich nun offenbar endgültig nach den vergangenen schönen Tagen verabschiedet. Kaum hatte er das Gebäude verlassen, verlangsamte Martin seinen Schritt und überlegte, ob er gleich nach Hause laufen oder auf den nächsten Bus warten sollte. In Gedanken versunken ging er einfach weiter und merkte gar nicht, dass er automatisch den Weg zum hinteren Parkplatz eingeschlagen hatte. Bevor ihm das bewusst wurde, war es bereits zu spät, denn er hatte seinen Lehrer entdeckt und konnte nicht mehr einfach wieder umdrehen und verschwinden. Er wollte wissen, was los war, auch wenn er sich dabei völlig blamieren sollte. In dem Moment, in dem Martin noch kurz gezögert hatte, drehte sich der Lehrer um und ein überraschter Ausdruck erschien auf dessen Gesicht. Entschlossenen Schrittes näherte Martin sich ihm und hielt erst an, als er direkt vor ihm stand. „Martin - was ist… Ist was passiert?“ „Das würde ich gerne von Ihnen… dir wissen. Wieso hast du das getan?“ Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme laut wurde. „Was getan? Wovon sprichst du?“ Der irritierte Blick Alexandres brachte ihn nur noch mehr in Fahrt. „Na, das heute im Unterricht! Warum hast du mich an so einen Ort gebracht? Warum?!“ Er musste sich anstrengen, seine Augen starr auf sein Gegenüber fixiert zu halten und nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen. „Es… tut mir leid“, sagte Alexandre leise. „Das war nicht… Bitte, geh nach Hause.“ Resigniert und kopfschüttelnd blickte er zu Boden. „Ich soll nach Hause gehen! Offenbar willst du mir keine Antwort geben, was? Ich dachte, du wärst anders als die anderen!“ Ein Stich in Martins Brust ließ ihn bei seinen eigenen Worten zusammenfahren, doch es hinderte ihn nicht daran, sich auf der Stelle umzudrehen und den schmalen Weg zurück zu hetzen, den er gekommen war. Kapitel 5: lesson 5 ------------------- Er fühlte sich mies, wie ein Feigling und wie der größte Idiot auf Erden. Außerdem war er innerlich so unruhig, dass es kaum auszuhalten war. Den Tränen nahe lag Martin auf dem Bett und presste sein Gesicht in die Kissen. Er konnte jetzt nicht mehr sagen, was ihn vorhin nach der Schule geritten hatte, um ihn so aus der Haut fahren zu lassen, aber es war nun einmal geschehen - daran konnte er nichts mehr ändern. Keine Sekunde hatte er sich seitdem auf die Schularbeiten konzentrieren können; außerdem war ein verdächtig unangenehm aussehender Brief in seinem Briefkasten gelandet, den er sich noch nicht zu öffnen getraut hatte. Was hatte er nur getan, dass alles im Moment schief lief, was nur schief laufen konnte? Er schlang die Arme fester um das Kissen, sodass es ihm fast die Luft zum Atmen nahm. Dieses bohrende Gefühl von Unzufriedenheit, dessen er sich zum ersten Mal heute in seiner Traumwelt - der Name schien ihm jetzt völlig falsch, doch er hatte keinen besseren - bewusst geworden war, nagte unaufhörlich an ihm. Und obwohl er sich vorgenommen hatte, Alexandre zu hassen, ertappte er sich dabei, wie er seine Gedanken kaum von ihm fernhalten konnte. Unweigerlich kehrten sie immer wieder zu Alexandre zurück, zu seinem perfekten, von Schweiß glänzendem Körper, aber auch zu seinem Gesichtsausdruck auf dem Parkplatz, dessen Bedrücktheit, wie Martin sich eingestehen musste, nicht bloß gespielt, sondern echt gewesen war. Er hasste nicht Alexandre, sondern vielmehr sich selbst, seine eigene Dummheit. Es war kurz nach sieben Uhr abends, als er zum ersten Mal seit langer Zeit den Kopf vom Kopfkissen hob und seine verschwommenen Augen die grün leuchtenden Ziffern des Weckers erblickten. Stirn runzelnd rappelte er sich hoch und tappte in die Küche auf der Suche nach etwas Essbarem. Seit knapp einem Monat hatte er sich nicht mehr die Mühe gemacht, irgendetwas aufzuräumen und sauber zu machen. Die Küche glich beinahe einer Müllkippe, in der Verpackungskartons, Tüten, Folien und ungewaschenes Geschirr sämtliche Ablageflächen und teilweise auch schon den Boden bedeckten. Es dauerte mit Sicherheit nicht mehr lange, bis er hier sowieso wieder weg war, also störten die Sachen ein paar Tage länger auch nicht mehr. Das Geld, das er sich mit Blumengießen und dem Ausführen des Hundes seiner Nachbarin verdient hatte, war mittlerweile fast komplett aufgebraucht. Er hatte also gar keine Wahl, als zu dem Ort zurück zu gehen, an dem er bisher in seinem Leben so viel Zeit verbracht hatte. Zumindest so lange, bis er volljährig war. Nach einem tiefen Seufzer fand er eine Dose Ravioli, die er sich warm machte und setzte sich anschließend an seinen Schreibtisch vor ein weißes Blatt Papier und den Aquarell- und Acrylfarben. Der Abgabetermin für seine Kunstarbeit rückte unaufhaltsam näher und seine bisherigen Ideen hatte er allesamt wieder verworfen. „Ästhetik - Versuch einer Darstellung“, was sollte er denn mit diesem Thema anfangen? Lustlos begann er, Farben aus seinem Aquarellkasten wahllos auf die blanke Fläche aufzutragen; das Bild - er wollte es gar nicht so nennen - hätte genau so gut von einem Zweitklässler sein können. Bei diesem Gedanken verzogen seine Lippen sich zu einem zynischen Grinsen und er fühlte sich mehr denn je wie ein Versager. Und mit jedem Blatt Papier, das er auf diese Weise bemalte, wuchs die Bitterkeit in ihm wie ein Kloß in seinem Hals. Die Hälfte der Portion Ravioli wurde kalt. Es war kurz nach dreiundzwanzig Uhr, als Martin aus seinem Dämmerzustand gerissen wurde, in den er nach einiger Zeit gefallen war; die Türklingel hatte ihn aufschrecken lassen. In einer automatischen Bewegung stand er auf und ging zum elektronischen Öffner; er zögerte kurz, bevor er den Knopf für die Gegensprechanlage drückte. „Ja? Wer ist da?“ Er wartete mit dem Finger auf dem Türöffner. „Ich bin’s.“ Obwohl die Stimme durch die elektronische Anlage leicht verzerrt war, erkannte er sie sofort. „Entschuldige die späte Störung…“ Martins Herz schlug schneller. Mit zittriger Hand drückte er auf den Knopf, der die Tür ins Haus entriegelte. Dann wartete er - die Hand krampfhaft um den Türgriff gefasst, um das Zittern zu unterdrücken - auf den späten Gast. Schritte hallten durch das Treppenhaus, kamen näher und erst als sie direkt vor dem Eingang wieder verstummten, drückte er langsam die Klinke nach unten. Erschrocken zuckte Martin zusammen, als er Alexandre erblickte. Einige Sekunden lang starrte er ihn wie versteinert an und brachte keinen Ton hervor. Der Mann sah völlig fertig aus, hatte ein blasses Gesicht, müde Augen, und die übliche Ordentlichkeit war nur noch zu erahnen. „Hallo, tut mir Leid, dass ich…“ Die Stimme, die einen beklommenen, abgehetzten Unterton an sich hatte, versagte; Alexandre stöhnte leise auf und Martin sah, wie er auf der Stelle zu schwanken begann. Erst da wurde er aus seiner Erstarrung gerissen und sprang im letzten Moment nach vorne, um Alexandre zu halten. Der Mann zitterte noch immer leicht, doch trotzdem brachte Martin es fertig, den schweren, scheinbar kraftlosen Körper auf sich gestützt in seine Wohnung und zur Wohnzimmercouch zu schleppen. Bis jetzt hatte er noch kein Wort gesprochen. „Danke, Martin…“ Alexandre hob den Kopf und schaute ihn mit müden Augen an. Er versuchte zu lächeln. Martin stand schweigend vor ihm; er war hin und her gerissen. Zwar hatte er den Vorfall vom Vormittag noch nicht vergessen und er wollte wütend sein, doch beim Anblick des Mannes spürte er wieder dieses Verlangen und der einzige, auf den er wütend war, war er selbst. Er wandte seinen Blick ab, denn er fürchtete, dass Alexandre sonst sofort merken konnte, was er gerade dachte. „Was ist heute Vormittag geschehen?“, fragte Alexandre mit schwacher Stimme. „Du warst so wütend… warum?“ Martin überlegte kurz, ehe er etwas sagte. „Du weißt es echt nicht?“ Er setzte sich in einen Sessel schräg gegenüber und sah, wie Alexandre den Kopf schüttelte. „Nein, tut mit Leid. Ich habe keine Ahnung.“ Wortlos dachte er über diese Antwort nach. Er konnte sich nicht helfen, doch er wusste, dass das die Wahrheit war. „Und warum hast du mich dann nach Hause geschickt?“ Nachdenklich blickte Alexandre zu Boden. Erst nach einer Weile antwortete er. „Es war nicht wegen dir - das heißt, eigentlich schon. Gerade wegen dir.“ Er stockte kurz, dann fuhr er fort. „Es ist nicht sicher, wenn ich alleine bin… Nicht sicher für dich…“ „Was meinst du damit?“ Martin hatte keinen blassen Schimmer, was er davon halten sollte. „Nun ja, ich bin da in eine Sache verwickelt, auf die ich weiß Gott nicht stolz bin.“ „Was für…?“ Alexandre schüttelte den Kopf. „Es ist besser, du weißt nichts, glaub mir. Keine schöne Angelegenheit. Und leider konnte ich gerade nicht in meine Wohnung zurückkehren. Aber keine Angst, niemand weiß, wo ich momentan bin.“ Martin dachte über diese Geheimniskrämerei nach. Offenbar steckte Alexandre in ernsten Schwierigkeiten; was konnte das sein? Irgendetwas Illegales, ein Verbrechen? Hatte er ihn deswegen vergangenen Freitag so überstürzt hinausgeworfen? Martin verkniff sich irgendwelche Fragen. Er hatte kein Recht dazu, sich in Alexandres Angelegenheiten einzumischen. Vielleicht ist das auch der Grund für die Fehler in der Traumwelt, überlegte er und dachte dabei an seine eigene Ideenlosigkeit im Zusammenhang mit dem Kunstprojekt. Die Sache mit seinen Eltern, ihr plötzliches Verschwinden, beeinflusste ihn mit Sicherheit, und auch Alexandres Probleme hatten sich wohl unterbewusst über dessen Stimme mit auf die Illusion der Traumwelt übertragen. Und schließlich konnte Alexandre nicht bewusst steuern, was seine Stimme bei Martin bewirkte. Martin schien das die einzige Lösung zu sein; sie klang plausibel. „Warum bist du dann hierher gekommen?“, wollte er wissen. „Es gibt doch sicher genug andere Leute, zu denen du hättest gehen können.“ Alexandre blickte auf und sah ihn lange Zeit schweigend an, ehe er sagte: „Kannst du dir das nicht denken?“ Keine Sekunde bewegte er seine Augen von Martin weg. Der Blick war so durchdringend, so intensiv, dass Martin es nicht mehr aushielt und mit klopfendem Herzen seinen Kopf zur Seite drehte. „Ich hol was zu trinken“, murmelte er, sprang auf und wollte an der Couch vorbei in die Küche. Fast im gleichen Augenblick erhob sich Alexandre und stellte sich ihm in den Weg. „Du hast keine Ahnung, wie schwierig das ist. Wie sehr ich mich zurückhalten muss, oder?“, fragte Alexandre immer noch mit diesem eindringlichen Blick. „Sobald ich dich nur sehe…“ Martin schaute an der Schulter des Mannes vorbei ins Leere, seine Kehle war wie zugeschnürt. Was war denn jetzt auf einmal los? Er kam sich so unbeholfen vor. Ihm war warm und kalt gleichzeitig. „Du brauchst dich nicht zurück zu halten…“ drang es leise krächzend aus seiner Kehle hervor. Langsam richtete er seine Augen nach oben und schaute Alexandre an. Martin wusste sofort, dass ihm diese Worte ohne zu überlegen herausgerutscht waren und er spürte, wie seine Wangen rot anliefen. Er bereute sie aber nicht, sondern hoffte nur, dass er Alexandre nicht komplett falsch verstanden hatte. Etwas änderte sich an Alexandres Gesichtsausdruck, eine gewisse Anspannung fiel ab und Martin glaubte sogar, die Andeutung eines Lächelns erkennen zu können. Nichtsdestotrotz täuschte das nicht über den schlechten Zustand des Mannes hinweg, dem kalter Schweiß auf der Stirn stand. Was sollte Martin jetzt tun? „Ich… äh… Vielleicht…“, stotterte er. „Martin?“ Alexandre unterbrach ihn. „Das, was du gerade gesagt hast, war das… Ugh“ Alexandre zuckte zusammen und hielt sich mit schmerzerfülltem Gesicht die Seite. Erschrocken fuhr Martin auf: „Was ist los? Bist du…?“ „Alles okay, das ist nichts, nur…“ Plötzlich brach Alexandre zusammen. Martin sprang nach vorn, doch diesmal war er nicht schnell genug, um ihn noch auffangen zu können, obwohl er doch nur einen Schritt entfernt gestanden hatte „Alexandre!“ Er ließ sich auf die Knie fallen und schaffte es gerade noch zu verhindern, dass der Mann mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Alexandre schien bewusstlos zu sein. Martins Herz schlug ihm bis zum Hals, das war alles zu schnell gegangen. Ob Alexandre verletzt war? Hatte er vielleicht nicht bemerkt, wie miserabel es ihm wirklich ging? Womöglich war das seine Schuld, er hätte nicht zulassen dürfen, dass er sich zu sehr anstrengte. Falls er verletzt war, musste er etwas tun… Martin hatte nicht die Kraft, den Körper alleine vom Boden auf eine weichere Unterlage zu bringen, dafür war er einfach zu schwer. Es blieb also nichts anderes übrig, als ihn so zu lassen, wie er war. Vorsichtig beugte er sich über Alexandre, knöpfte zuerst dessen Jackett auf und dann - jeden Moment auf einen grausigen Anblick gefasst - das Hemd. Mit zitternden Fingern machte er sich am Kragen zu schaffen, aber er brachte es einfach nicht fertig, den kleinen Knopf richtig zu fassen zu kriegen. Tränen stiegen ihm in die Augen - er musste sich doch beeilen. Plötzlich regte sich Alexandre, ein leichtes Zucken durchfuhr seinen Körper, und dann legte sich ein Arm von hinten um Martins Schulter und drückte ihn nach unten. Völlig davon überrascht befand sich sein Gesicht schon im nächsten Moment nur noch wenige Zentimeter von dem Alexandres entfernt. Als ob nichts gewesen wäre schlug der Mann seine Augen auf und flüsterte lächelnd: „Ich sagte doch, mir fehlt nichts. Kein Grund zu heulen.“ „Aber…“ Martin wusste nicht, was er sagen sollte. „Ich frage dich noch einmal: Hast du das vorhin wirklich ernst gemeint?“ „Ich… äh… weiß nicht so recht.“ Der Arm war noch immer fest um seine Schultern gelegt und er konnte spüren, wie Alexandres Körper angespannt unter ihm zitterte. Wo war eigentlich das Problem? Warum konnte er nicht einfach sagen, was er dachte und wollte? „Zu spät.“ Alexandre schlang jetzt auch seinen anderen Arm und ihn und presste ihn so fest an sich, dass Martin Alexandres Herz an seiner eigenen Brust schlagen fühlte. Langsam kam Martin zur Ruhe; die Umarmung war voller Wärme und in diesem Augenblick das einzige, was zählte. Aber er wusste auch, dass das nicht genug war. Bei dem Gedanken daran, dass sie sich irgendwann wieder lösen mussten, wurde das Verlangen in ihm stärker und er klammerte sich noch fester an Alexandre, denn er glaubte nicht, dass er das Gefühl der Einsamkeit danach ertragen könnte. Seine Traumwelt war von nun an kein Fluchtort aus der Realität mehr, das wurde ihm bewusst. Alles, wonach er sich sehnte und was er brauchte, war dieser Mann. Nicht nur dessen Stimme und die Trugbilder, die diese erzeugte, sondern die blanke Wirklichkeit mit ihm. Er war nicht allein und wollte das, so lange und so oft es ging, auch spüren. Regelmäßige Atemzüge drangen an Martins Ohr und erst, als die Umklammerung, in der er sich dankbar hatte gefanden nehmen lassen, ein wenig lockerer wurde, stellte er fest, dass Alexandre eingeschlafen war. Zuerst wusste er nicht, ob der Boden dafür der richtige Ort war und ob er Alexandre nicht lieber wecken sollte, doch er brachte es nicht über sich aufzustehen und so schloss er ebenfalls seine Augen, blieb liegen und lauschte dem gleichmäßigen Ein- und Ausatmen und genoss die Wärme des anderen Körpers. Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)