This Great And Little Gift von Arianrhod- ([NaLu | Lucy vs. Jude]) ================================================================================ 16. Kapitel, in dem Lucy ein neues Leben beginnt ------------------------------------------------ Am nächsten Tag hatte Lucy eine Erkältung und pochende Kopfschmerzen. Sie rollte sich unter ihrer Decke zusammen und ließ sich von Natsu Frühstück ans Bett bringen. Doch als er versuchte, mit ihr zu reden, blockte sie ihn ab mit der Bitte, dass er ihr eine Weile Zeit ließ, die Sache zu verarbeiten. Natsu war sichtlich nicht begeistert davon, aber er ließ ihr ihren Willen, wofür sie ihm unglaublich dankbar war. Trotz ihrer Unwilligkeit zu Reden ertrug sie es nicht, allein zu sein und rollte sich auf dem Sofa im Wohnzimmer zusammen. Es war nicht ständig jemand da – ein normaler Wochentag bedeutete, dass die Werkstatt normalen Betrieb hatte und Igneel dort voll eingespannt war. Natsu allerdings geisterte immer wieder durch die Räume, fragte, ob sie etwas brauchte, und verschwand dann zwischendurch wieder. Lucy konnte nur vermuten, dass sein Vater ihn freigestellt hatte, um nach ihr zu sehen. Zudem war das Baby den ganzen Tag unruhig und es verging nicht eine Stunde, da es ihr nicht gegen das eine oder andere Organ trat. Vermutlich spürte es ihren eigenen Stress und ihr aufgewühlten Gefühle, mit denen sie nichts anfangen konnte. Was auch immer es war, sie war unglaublich dankbar darum – ein weiteres Zeichen dafür, dass sie nicht alleine war. Auch Erza und Gray kamen vorbei und erkundigten sich, ob sie etwas für sie tun konnten. Natsu musste ihnen gesagt haben, was geschehen war, auch wenn er selbst nur die Grundzüge kannte. Sie hatte es einfach nicht über sich gebracht, mehr als für ein paar Worte auf einmal den Mund aufzumachen. Erza brachte einen Stapel Brettspiele mit und sie, Gray und Natsu erfüllten das Wohnzimmer am Nachmittag mit lebhaftem Geplauder, während Lucy daneben saß, mitspielte und größtenteils zuhörte. Niemand war ihr böse, als sie sich nach dem dritten Spiel auf einen Sessel im Hintergrund verzog und gar nichts mehr tat. Sie versuchte, sich einen Reim auf ihre Gefühle zu machen, die gleichzeitig aufgewühlt und dumpf zu sein schienen. Eigentlich sollte das nicht so schwer werden. Immerhin hatte sie sich darauf vorbereitet, damit gerechnet. Warum fühlte es sich trotzdem beinahe so an, wie damals als Layla gestorben war? Sie hatte hier keinen Trauerfall zu beklagen, verdammt noch mal! Ihr Vater war selbst schuld an all dem! Aber warum tat es trotzdem so weh? Sie wusste, dass es nicht lange so weitergehen konnte, immerhin fing in ein paar Tagen die Schule wieder an. Dort würde sie mit genug Problemen zu kämpfen haben, für die sie auch noch keine Lösung wusste – all das Gerede und Geflüster, das ihr durch die Gänge folgen würde, sobald die Schülerschaft von ihrer Schwangerschaft erfuhr, das Problem mit dem Unterricht und den Prüfungen, sobald das Baby da war, die Prüfungen selbst, die im Hintergrund aufragten und die sie auf keinen Fall verhauen, sondern mit Bravour bestehen wollte. Aber im Moment konnte sie es kaum über sich bringen, auch nur mit jemandem zu reden. Allerdings sagte sie sich immer wieder, ganz egal, was geschah, zumindest auf drei Personen konnte sie zählen, denn Natsu, Erza und Gray standen hinter ihr und dann natürlich auch so viele andere – Loke, Igneel, Ur, Grandine und noch so viele andere. Das brachte ihr jedes Mal Erleichterung und nahm etwas von der Angst, wenn sie sich zu sehr in ihre Gedanken hineinsteigerte. Sie bekam kaum mit, wie Erza und Gray sich wieder verabschiedeten und Natsu sich bis zum Feierabend wieder in die Werkstatt verzog. Allerdings schreckte sie auf, als jemand in der Küche mit Töpfen und Pfannen hantierte und schloss sich dann Igneel an, der eine kleine Mahlzeit zubereitete. Nach dem Essen half sie auch beim Abwasch – sie wollte keinen Moment den Eindruck erwecken, dass sie sich als Schmarotzer hier eingenistet hatte. Sie wollte unbedingt ihren Teil der Arbeit tun, denn auch wenn sie noch nicht wusste, wie es genau weiterging, bis zum Ende ihrer Schulzeit würde sie auf jeden Fall hier leben. Danach verzog sich dann mit ihrem Zeichenblock auf die Terrasse in einen der alten, klapprigen Stühle. Doch sie klappte den Block nicht einmal auf, stattdessen spielte sie nervös mit dem goldenen Anhänger ihrer Kette. Ihre Hand hatte im Laufe des Tages immer wieder dorthin gefunden, das kleine Herz war wie ein Anker, an dem sie sich festhalten konnte. Eine Versicherung – Du bist nicht allein – ich bin hier. Wir sind hier. Es war still, nur von der Ferne drang Verkehrslärm an ihr Ohr und das Geräusch eines Rasenmähers. In der Tiefe des Gartens zwitscherten Amseln und ein paar Spatzen stritten sich um einen besonderen Leckerbissen. Hin und wieder raschelte der Wind durch die Bäume, doch ansonsten war es überraschend still. Vielleicht verstarb der Betrieb hier nach Feierabend, immerhin befanden sie sich hier am Rande des Industrieviertels. Der Himmel war bedeckt von fluffigen Wolken, doch er färbte sich langsam golden und orange. Bald würden sie den Anblick eines farbenfrohen, spektakulären Sonnenuntergangs genießen können. Sie sollte aufstehen und ihre Buntstifte holen, damit sie ihn einfangen konnte, doch sie brachte es einfach nicht über sich, sich aufzuraffen. Sie zuckte heftig zusammen, als jemand sich hinter ihr räusperte, und blickte auf. Doch es war nur Igneel, der im Rahmen der offenen Glastür stand. „Darf ich mich setzen?“ Er deutete auf den Stuhl, der neben ihrem stand. Sie nickte hastig. Es war immer noch sein Haus und sie fühlte sich ein wenig ungelenk. Er hatte nicht viel Wahlmöglichkeiten in dieser Angelegenheit gehabt, denn sie hatten einfach die Bombe auf ihn fallen lassen. Aber Igneel schien das nicht zu stören und hatte sich keinen Moment weniger als hundert prozentig unterstützend gezeigt, tatsächlich übertraf er ihre kühnsten Erwartungen. Jetzt setzte er sich still neben sie, faltete die Hände und sagte gar nichts. Es war, als wollte er ihr einfach nur Gesellschaft leisten oder den Abend mit ihr genießen. Die Wolken färbten sich inzwischen rosa, was einen wunderschönen Kontrast zu dem Blau abgab, das dahinter noch durchschimmerte. Lucy wandte sich wieder ab und spielte nervös mit ihrem Bleistift. „Es wird besser werden, weißt du.“, sagte er plötzlich. Überrascht blickte sie auf. Igneel sah sie kurz an, ehe er wieder über seinen verwilderten Garten schaute und sich dann zurücklehnte. Vielleicht wünschte er sich, ein Bier mit herausgebracht zu haben. „Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, der … eine andere Wahl gehabt hat.“ Lucys Atem stockte für einen Moment. Sie wusste nicht viel über diese Sache, nur was Natsu ihr in einer mondhellen Nacht unter wütenden Trauertränen erzählt hatte. Aber sie wusste, dass Carolina Dragneel sich umgebracht hatte, als ihr Sohn sieben Jahre alt gewesen war. Anscheinend war sie schwer depressiv gewesen, aber wie genau das verlaufen war, hatte Natsu ihr nicht erzählt. Vielleicht wusste er es selbst nicht genau. Lucy wollte gar nicht wissen, wie es war, auf diese Weise eine geliebte Person zu verlieren. Igneel schien damit Frieden geschlossen zu haben, auch wenn seine Worte zeigten, dass es nicht einfach gewesen sein konnte. Natsu jedenfalls war noch nicht an diesem Punkt angelangt, das wusste Lucy genau. Aber hier ging es nicht um Carolina, auch das konnte sie erkennen. „Ich vermisse ihn.“, sagte sie leise. „Aber ich bin immer noch so wütend und … und … enttäuscht und traurig, dass er mich lieber hat gehen lassen, als mich und das Baby und Natsu zu akzeptieren. Bin ich ihm nur so wenig wert?“ Sie schniefte und wischte sich ärgerlich die Tränen weg. Vielleicht war es doch Trauer, die sie so aus der Bahn warf. „Und ich habe ein schlechtes Gewissen. Was würde Mama nur sagen?“ Igneel wandte sich ihr zu und nahm ihre Hand. Sein Händedruck war fest und sicher. „Ich weiß, es ist schwer zu glauben und ich weiß nicht, wie lange ich selbst gebraucht habe, um zu diesem Punkt zu gelangen, aber du hast dir rein gar nichts zuzuschreiben. Du hast alles richtig gemacht. Dein Vater war es, der dich nicht aufgehalten hat und die Herausforderungen nicht mit dir bestehen will. Aber du bist nicht Schuld.“ Lucy wusste, dass er Recht hatte. Sie sagte sich das selbst schon seit dem Tag an dem sie den Entschluss gefasst hatte, Jude vor diese Entscheidung zu stellen. Aber das half ihr nicht, mit den Gefühlen zurecht zu kommen und dem verräterischen Gedanken, dass sie es war, diese Entscheidung heraufgezwungen hatte. Sie hatte mit Jude gesprochen, ihn vor die Wahl gestellt und diesen Entschluss forciert, in dem sie auf ihren Standpunkt beharrt hatte. Dann war sie es gewesen, die ihre Sachen gepackt und ihn verlassen hatte. Aber was hätte sie anderes tun sollen? Hier ging es nun mal nicht um ihn und auch wenn die Entscheidung hart gewesen war, es war die Richtige gewesen. „Und wer weiß?“, fügte Igneel nach einem Moment hinzu. „Du und dein Vater, ihr mögt noch eine zweite Chance bekommen.“ Anders als er und Carolina – ihre Lösung war sehr viel endgültiger gewesen. Lucy schenkte ihm ein kleines Lächeln. Trotzdem fühlte sie sich jetzt schon ein kleines Bisschen besser als vorhin. Vielleicht hatte es einfach geholfen, von jemandem wie Igneel zu hören, dass sie nichts falsch gemacht hatte, jemandem, der verantwortungsvoll und dem man vertrauen konnte. „Ich hoffe es. Bis dahin muss ich aber damit zurechtkommen und ich weiß nicht, wie.“ Er lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Es ist okay, dich niedergeschlagen zu fühlen. Sogar, dass du trauerst. Du hast gestern deinen Vater verloren und auch wenn er noch lebt, im Moment ist er nicht mehr Teil deines Lebens. Das ist auch ein Verlust.“ Lucy gab ein unbestimmtes Geräusch von sich und wandte sich auch wieder nach vorn. Sie hoffte nur, dass sie sich schnell mit diesem neuen Leben abfinden konnte, damit, dass Jude nicht mehr da war. Sie hatte an anderes zu denken als an ihren Vater! Am Montag ging die Schule wieder los und für die damit zusammenhängenden Probleme musste sie noch eine Lösung finden. Ende Januar stand noch eine weitere, große Veränderung an, immerhin stand dann die Geburt des Babys an. Und dann hatte sie ganz sicher keine Zeit mehr, sich mit Jude auseinanderzusetzen, der ihr klipp und klar gesagt hatte, dass er sie nicht wiedersehen wollte! Sie gab sich nicht irgendwelchen Illusionen hin, dass es nach der Geburt einfacher oder weniger stressig werden würde, ganz im Gegenteil. Dann würde alles erst anfangen und auch wenn sie im Moment noch nicht wusste, wie sie mit all dem zurechtkommen würde, irgendwie musste sie es schaffen. Sie hatte gar keine Zeit, jemandem nachzutrauern, der nicht über seinen Schatten springen konnte, um ihr ein kleines Stück entgegen zu kommen. Nicht einmal, wenn dieser Jemand ihr eigener Vater war. Doch Bestätigung zu haben, dass ihre Gefühle und ihr Kummer nicht völlig unbegründet waren, tat gut. Zudem war es tröstlich zu wissen, dass jemand sie verstand, auch wenn sie wusste, dass Igneels Lage so völlig anders war als ihre. Sie schniefte erneut und zog die Nase hoch. „Dieser Garten sieht scheußlich aus.“, knurrte Igneel plötzlich und unterbrach damit ihre Gedanken. „Ein wenig überwachsen.“, gab Lucy amüsiert zu und versuchte, ihre Tränen wegzublinzeln, die ihr plötzlich in die Augen stiegen. „Aber gar nicht so schlimm.“ Sie stand auf und trat an den Rand der Terrasse. Igneel hatte nicht übertrieben. Von einer Wiese war nicht viel zu sehen, die Beete waren nicht mehr zu erkennen und Unkraut hatte sich überall breitgemacht. Eine ganze Ecke war von Brennnesseln eingenommen und die Hecken wuchsen unkontrolliert in alle Richtungen. Es war offensichtlich, dass sich schon lange niemand mehr darum gekümmert hatte. Er schnaubte. „Carolina rotiert sicher in ihrem Grab. Sie hat diesen Garten geliebt, er war ihr Zufluchtsort. Sie konnte Stunden hier verbringen.“ Lucy wurde plötzlich getroffen von den Parallelen zu ihrer eigenen Mutter – auch für Layla war der Garten etwas Besonderes gewesen. Wie seltsam, dass zwei so verschiedene Menschen, die zwei so verschiedenen Hintergründen und Lebenseinstellungen gehabt hatten, so etwas geteilt hatten. Sie fragte sich, ob die beiden Frauen Freundinnen hätten werden können, wenn sie noch leben würden. Sie lachte, etwas unsicher und erstickt, weil die Tränen einfach nicht aufhören wollten und immer wiederkommen, so dass ihre Augen überflossen. „Es ist wirklich nicht so schlimm.“, versuchte sie es erneut, obwohl das eine glatte Lüge war. Igneel stand plötzlich neben ihr. „Dann macht es dir sicher nichts aus, ihn wieder auf Vordermann zu bringen.“ Sie wollte ihm antworten, dass es kein Problem sei, dass sie das gerne machte, dass ihr dieses Angebot sogar entgegenkam und sie ihn auch danach hatte fragen wollen. Stattdessen schluchzte sie laut aus und ließ ihren Tränen endlich freien Lauf. Als er sie in eine tröstende Umarmung zog, schlang sie die Arme um ihn, so fest sie konnte, presste das Gesicht gegen sein T-Shirt und weinte. ~~*~~❀~~*~~ „Du siehst aus, als würde es dir schon wieder bessergehen.“ Grays dunkle Stimme schreckte Lucy aus ihrer Arbeit hoch und sie blickte auf. Er stand in der Tür, einen Arm gegen den Rahmen gelehnt, und schaute auf sie hinunter, wie sie da inmitten von einem Berg Designerkleidung auf dem Boden saß. „Brauchst du Hilfe?“, wollte er wissen und sie blickte kurz demonstrativ um, eine Augenbraue hochgezogen. Sie kauerte vor dem Schrank und um sie herum waren Stapel an Klamotten verteilt, die nach Art und teilweise auch Farbe sortiert waren. Auf einer Seite stand ihr Koffer, der noch nicht vollständig leer war. Während der letzten Tage hatte sie sich nicht dazu aufraffen können, Ordnung in ihr Zimmer zu bringen und im Grunde aus ihrem Reisegepäck gelebt. Aber die Arbeit erledigte sich nicht von allein (nicht wie in der Hearphiliavilla, wo Scharen von Bediensteten ihr alle Arbeit abnahmen, wenn sie dies denn wollte, und das war etwas, an das sie sich auch erst noch gewöhnen musste – dabei hatte sie gedacht, selbstständig zu sein und das meiste allein zu machen!) und morgen fing die Schule wieder an. Dann wollte sie sich eigentlich nicht mehr mit solchen Kleinigkeiten wie Umzugsgepäck herumschlagen. Also hatte sie sich hingesetzt und räumte nun ihr Zimmer ein, so dass es wohnlich war und sie nicht mehr alle drei Schritte über eine Kiste oder Tasche stolperte. Dass Gray ihr helfen wollte, war zwar eine süße Geste, aber… Sie schnappte sich einen BH aus einem Stapel und hob ihn grinsend hoch. „Wirklich?“ Gray schaute peinlich berührt weg und seine Ohren glühten rot. „Ich sehe, dir geht es besser.“ Lucy lachte, warf das Kleidungsstück auf den Haufen zurück und erhob sich. „Man sollte meinen, du hast schon genug Mädchenunterwäsche gesehen.“, zog sie ihn auf und diesmal färbten sich auch seine Wangen rot. Er hatte wirklich genug Freundinnen gehabt und sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass sein Sexleben schon länger sehr viel lebendiger war als ihres. „Aber nicht die von einer guten Freundin, die auch noch mit meinem besten Freund zusammen ist!“, protestierte er ohne sie anzusehen und stopfte die Hände in die Hosentaschen. Lucy grinste, wurde aber rasch wieder ernst. „Gibt es etwas, das du wolltest?“ Er räusperte sich und nickte dann. „Hast du einen Moment Zeit?“ Sie gestikulierte zu dem Sofa, das gegenüber den großen Glastüren stand, die auf einen kleinen Balkon hinausführten. Dieser befand sich zwar nur etwa einen Meter über dem Erdboden, aber nichtsdestotrotz nahm sie sich vor, ihn zu nutzen und ein paar Pflanzen darauf zu ziehen – Tomaten vielleicht, da er überdacht war durch einen zweiten Balkon im oberen Stock. Von hier hatte man einen überaus tollen Blick über den Schrottplatz hinter dem Haus. Aber Bettler konnten nicht wählen und sowieso konnte sie nicht verlangen, dass der Ausblick ihres neuen Heims ebenso schön war wie der von ihren Zimmern in der Villa. Sie hatte eine Kiste auf dem Sofa abgestellt und daneben lag die geöffnete Zeichenmappe mit Laylas Bildern, doch das war schnell beiseite geräumt und sie ließen sich auf die bequemen Polster fallen. „Also.“, begann Gray, der offensichtlich nicht genau wusste, wie er anfangen konnte. Lucy faltete die Hände über ihrem inzwischen schon gut bemerkbaren Bauch und wartete geduldig. Man musste ihm nur etwas Zeit lassen, dann würde er schon die richtigen Worte finden. „Es tut mir leid.“, erklärte er schließlich rundheraus und sie blickte ihn erstaunt an. Von was redete er? „Dass ich dir das alles an den Kopf geworfen habe, du weißt schon, bevor ich ins Sommercamp bin.“ Er verzog das Gesicht. „Ich hätte nicht so harsch sein dürfen.“ „Aber du hast jedes Wort so gemeint, wie du es gesagt hast, nicht wahr?“, wollte Lucy wissen. „Und du meinst sie immer noch so.“ „Ich…“ Gray verstummte und errötete, was ihr genug Antwort war. Er nahm seine Worte nicht wirklich zurück, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Trotzdem versuchte er, sich herauszureden: „Aber ich hätte dich trotzdem nicht so anfahren und dir diese Vorwürfe machen dürfen. Ich hätte einen anderen Weg finden müssen, dir das zu sagen, ohne dich so herunterzuputzen und dir zu erklären, du hättest Natsu nicht verdient.“ Sie dachte an den Moment zurück, als er ihr dies gesagt hatte, und den Schmerz, den sie darüber verspürt hatte. Und ihre Unfähigkeit, sich selbst mit diesen Worten zu konfrontieren. Denn jetzt im Nachhinein konnte sie sagen, all das stammte nur daher, dass sie der Wahrheit entsprochen hatten. Wenn sie sich selbst gegenüber glaubhaft alles von sich hätte weisen können, hätte sie Gray damals einfach ins Gesicht gelacht. Doch ihre eigenen Zweifel waren es, die alles so schmerzhaft und schwierig für sie gemacht hatten. Und darum wusste sie heute, dass es für sie absolut notwendig gewesen war, diese Worte zu hören. Außerdem, hatte er ihr nicht im gleichen Augenblick versichert, dass sie eine teure Freundin für ihn war und er sie bewunderte? Gray hatte absolut nichts falsch gemacht, im Gegenteil, heute war sie froh darum, dass er zu ihr gekommen war um ihr dies alles zu sagen. Für eine Weile war es still zwischen ihnen und Lucy spürte, wie er sich immer mehr versteifte, während sie fieberhaft nach den richtigen Worten suchte, um ihm zu antworten, ihm diese Last zu nehmen und gleichzeitig den letzten Rest Spannung zu entfernen. Sie nahm seine Hand und versuchte es einfach: „Gray, ich bin dir ehrlich gesagt dankbar, dass du mir an diesem Tag den Kopf gewaschen hast. Das hat mir einen neuen Blickwinkel gegeben. Einen, den ich bitter nötig hatte. Also. Wenn du wieder mal etwas siehst, worüber du mich zur Rede stellen willst, dann tu das. Vielleicht bin ich dir im ersten Moment böse, aber wenn du Recht hast, dann werde ich dir zustimmen. Ich baue darauf, auf dich zählen zu können. Manchmal … manchmal sehe ich es einfach nicht und ich will nicht die Leute, die mir am wichtigsten sind, verletzen, weil ich zu verbohrt war.“ Er drückte ihre Hand und sie fühlte, wie die Anspannung von ihm wich. „Ich werde mich bemühen. Ich wollte nur nicht, dass das zwischen uns steht.“ „Keine Sorge, das tut es nicht. Tatsächlich wollte ich auch noch mit dir reden, um alle Missverständnisse aufzuklären.“ Sie grinste ihn an. „Und denke daran, ich werde nicht zögern, das gleiche auch mit dir zu tun, wenn ich denke, dass du dich falsch verhältst und jemanden verletzt!“ Sie drohte ihm spielerisch mit dem Finger und Gray lachte erleichtert. „Deal.“, erklärte er und schlang einen Arm um ihre Schultern, um sie in einer Art Halbumarmung an sich zu ziehen. Lucy erwiderte die Geste und lehnte sich gegen ihn. Für einige Augenblicke saßen sie einfach so da und sie war froh, diese Sache zwischen ihnen endlich bereinigt zu haben. „Ich war trotzdem ziemlich hart zu dir.“, murmelte Gray schließlich und fuhr sich durch die Haare. „Vielleicht ein bisschen.“, gab sie verschmitzt zu. „Denke also nicht, dass ich Gnade mit dir haben werde, wenn deine Zeit kommt, und glaube mir, sie wird es tun.“ „Ich mache mir schon in die Hosen.“, war die spöttische Antwort und sie blickte zu ihm hoch und hielt ihm eine Faust unter die Nase. „Gray Fullbuster, machst du dich etwa lustig über mich? Glaub mir, wenn es so weit ist, wirst du hoffen, dass ich mich gnädig erweisen werde.“ „Ich habe keinen Zweifel daran.“ So ganz war sie sich nicht einig, ob er sie aufzog oder es ernst meinte. „Hey, man, das ist meine Freundin, such dir eine eigene!“, mischte Natsu sich gespielt beleidigt ein. Er stand in der Tür und grinste sie an. „Es gibt übrigens Essen.“ Gray feixte herausfordernd und zog Lucy demonstrativ näher an sich. „Jetzt gehört sie mir, geh weg, damit wir durchbrennen können.“ Er wedelte mit der freien Hand, wie um Natsu wegzuscheuchen. Lucy boxte ihm gegen die Rippen. „Ich glaube, ich habe da auch noch ein Wörtchen mitzureden. Und jetzt lass mich los, ich habe Hunger.“ ~~*~~❀~~*~~ Die erste Schulwoche war noch ziemlich ruhig. Man musste sich schließlich erst einmal wieder einleben nach den langen Ferien, sich auf die neuen Lehrer und Räume einstellen und den neuen Schulstoff, vielleicht auch auf neue Gesichter in den Reihen der Mitschüler. Die ersten paar Tage galten sowieso der Organisation und den ersten Versuchen, sich wieder in das Arbeiten einzufühlen. Lucys Gespräch mit der Rektorin ihrer Schwangerschaft bezüglich war gut verlaufen, auch wenn die Frau erst einmal ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut hatte. Aber dann war sie erstaunlich offen und erstaunlich verständnisvoll, was Lucy einen großen Stein vom Herzen fallen ließ. Die anderen Lehrer, die von der Rektorin benachrichtigt wurden, ließen sie nur wissen, dass sie Bescheid wussten und schwiegen ansonsten darüber. Wie es mit ihrer schulischen Laufbahn nach der Geburt weitergehen würde und das mit den Prüfungen ablaufen würde, musste allerdings noch geklärt werden. Die Rektorin hatte keine handliche Lösung parat, erklärte aber, dass ein Baby im Unterricht nichts zu suchen hatte. Lucy allerdings hatte auch nicht vor, ein Schuljahr auszusetzen und erst weiterzumachen, wenn ihr Sohn alt genug war. Vielleicht würde sie ausgewählte Stunden aussetzen oder nachholen können, wenn ihre Noten dabei nicht absackten? Über Lucy wurde jedoch auch in dieser ersten Woche geredet, allerdings nicht über das Baby, sondern über ihren plötzlichen Auszug bei ihrem Vater. Anscheinend kochte die Gerüchteküche über, weil niemand den genauen Grund wusste, aber natürlich hatte weder ihr Vater noch sie verbergen können, dass es einen Bruch zwischen ihnen gegeben hatte. Und Jude war nun einmal eine stadtbekannte Persönlichkeit, den eigentlich jeder in Magnolia kannte. Sie direkt darauf anzusprechen wagte allerdings niemand. Ihr war klar, dass dies nicht ewig so bleiben würde – spätestens, wenn ihr Bauch größer wurde, so dass einfache T-Shirts ihn nicht mehr verdecken würden, wäre es soweit. Sie hoffte, diesen Moment so lange herauszuzögern, wie nur möglich, um noch eine Weile Ruhe vor all dem Gerede zu haben, das damit einher gehen würde. Zwei Wochen ging das gut, dann fand es irgendwer doch heraus. Vielleicht hatte ein Lehrer unvorsichtig geplaudert, vielleicht hatte jemand ihren Babybauch gesehen und zwei und zwei zusammengezählt, vielleicht kam es von außerhalb der Schule über die Firma oder von den Bediensteten in der Villa. Auf jeden Fall explodierte die Schule vor Aufregung und die Luft schien zu Summen vor Gerüchten. Weil aber Natsu ständig an ihrer Seite war, wagte es niemand, zu laut über sie zu lästern oder sie direkt anzusprechen. War es nicht Natsu, war Erza da und feuerte wütende Blicke in die Richtung von allen ab, die auch nur den Anschein machten, eine negative Bemerkung fallen lassen zu wollen. An sie traute man sich noch weniger heran, also bekam Lucy eher weniger von dem ganzen Trara mit. Hin und wieder fing sie ein paar böse Worte auf, die teilweise sehr wenig Sinn machten (warum sollte sie Natsu mit einem Kind an sich binden wollen wenn sie – objektiv gesehen – ohne ihn eine weit bessere Stellung hätte? Hallo! Sie hatte in einer Villa gewohnt und mehr Geld gehabt, als sie jemals hätte ausgeben können!) Ein paar Leute waren jedoch so freundlich, ihnen zögerlich zu gratulieren. Einen Jungen ohrfeigte sie, nachdem er angedeutet hatte, dass das Baby vielleicht nicht von Natsu war. Grays neue Freundin Amanda (die nicht an ihre Schule ging) schickte ihr eine niedliche Glückwunschkarte, über die Lucy sich sehr freute. Sie war jedenfalls sehr froh, dass sie von alledem nicht viel mitbekam und ziemlich zuversichtlich, dass das ganze Gerede bald wieder aufhören würde. Irgendwann würde es schon zur Normalität werden und die Schülerschaft sich auf die neueste Sensation stürzen, über die man sich das Maul zerreißen konnte. Sie hatte auch den Verdacht, dass Natsu, Erza und Gray sie absichtlich abschirmten und ausnahmsweise war sie ihnen nicht böse über diese Gluckenhaftigkeit. Klar, sie wäre auch ohne diese Hilfe allein damit zurechtgekommen, aber so konnte sie sich auf andere Dinge konzentrieren. Alles in allem verlief die Zeit in der Schule eigentlich ganz gesittet und angenehm, so dass Lucy sich drauf konzentrieren konnte, ihre Noten zu halten und Punkte bei den Lehrern zu sammeln. Sie hatte schon einen vagen Plan, wie sie die Zeit zwischen der Geburt und den Prüfungen zu überbrücken, aber das hing stark von dem Zuspruch ihrer Lehrer ab und davon, ob diese ihr zutrauten, den erforderlichen Stoff alleine durchzupauken. So könnte sie für den Nachmittag oder ausgewählte Stunden Zuhause bei ihrem Sohn sein, ohne das Jahr aussetzen zu müssen. Das einzige, was ihr im Bezug auf die Schule wirklich Sorgen machte, war Natsu. Er sprach nicht darüber, aber sie konnte sehen, dass etwas an ihm nagte. Doch wenn sie ihn darauf ansprach, wehrte er unwillig ab und er ließ auch nicht zu, dass sie einen Blick auf seine Arbeiten warf. Sie hoffte nur, dass er von alleine zu einer Lösung kam oder irgendwer anderes ihm helfen konnte, wenn er sie schon nicht mit einbezog. Die nächsten Wochen vergingen ohne weitere Zwischenfälle. Oder zumindest fanden keine größeren Tragödien statt, wenn man von den üblichen Schuldramen absah, die in jedem Jahr so stattfanden und nach zwei, drei Wochen wieder vergessen waren. Erza kämpfte mit zwei Verehrern, die neu in die Klasse gekommen waren und einfach nicht glauben wollten, dass man sie wirklich besser in Ruhe ließ. Irgendwann machte sie einen auf Red Sonja und versprach den beiden ein Date, wenn sie es schafften, sie im Zweikampf zu besiegen. Natürlich rammte sie beide unangespitzt in den Boden, was die Jungs allerdings nicht abhielt, sie weiterhin anzuhimmeln. Das Gerede um Lucy erstarb, wie sie es vorhergesehen hatte, als man sich anderen Sensationen zuwandte. Hin und wieder erkundigte sich jemand nach dem Verlauf der Schwangerschaft und nachdem Erza stolz hatte verlauten lassen, dass es ein Junge wurde, nahm das Interesse noch einmal zu, wenn auch auf eine positive Art und Weise. Die Rothaarige selbst war sehr aufgeregt über ihr zukünftiges Patenkind, was jetzt immer mehr zunahm. Hin und wieder brachte sie Geschenke, mal war es ein Album, mal ein paar kleiner Schühchen, mal irgendein Spielzeug, und stritt sich gutmütig mit Gray um die Rolle des Paten. Im Grunde war sie noch begeisterter als Lucy und diese wollte sich gar nicht vorstellen, wie das werden würde, wenn Erza einmal selbst Kinder bekam. Gray dagegen nahm die Sache ernst, beinahe zu sehr. Ernster noch als Natsu, der jedoch von Natur aus optimistisch und zuversichtlich war, während sein bester Freund dazu tendierte, die Dinge realistischer zu sehen und sich Sorgen zu machen. Amanda schien ihm in dieser Hinsicht gut zu tun und schaffte es, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Auch Loke verlange regelmäßig eigene Updates über die Schwangerschaft und sein zukünftiges Patenkind. Lucy hoffte, dass die drei es geregelt bekamen, und vor der Geburt entschieden, wer in den sauren Apfel beißen würde und diesen Wunsch aufgeben musste. (Erza, da war sie sich sicher, würde es nicht sein.) Aber mehr als zwei Paten gingen einfach nicht. Das Baby selbst wurde immer lebendiger und aktiver und Lucy lag nicht selten abends noch eine Weile wach, während Natsu neben ihr schon längst schlief, und fühlte einfach, wie sich da eine winzige Person in ihrem Inneren bewegte. Das war ein Zeichen, beschloss sie, ein Zeichen, dass alles so lief, wie es sollte, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen hatte und alles gut werden würde. Nebenbei führte Lucy Krieg gegen den Haushalt. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, auch ihren Teil der Arbeit in ihrer kleinen Familie zu übernehmen. Da Igneel und Natsu sie aufgenommen hatten und Igneel in der Werkstatt einiges zu tun hatte, übernahm sie das, was übrig blieb und darum würde sie einfach das erledigen, was im Haushalt anfiel. Von einfach konnte allerdings keine Rede sein. Sie hätte nie gedacht, dass es so kompliziert war. Beide Dragneels mussten ihr – vor allem zu Beginn – oft genug Schützenhilfe leisten. Natürlich konnte sie den Abwasch übernehmen. Und die Küche sauber halten. Und auch ein wenig alles aufräumen. Aber ihr wurde schon ganz anders, als sie das erste Mal mit der festen Absicht, es zu putzen, im Badezimmer stand und nicht wusste, wo sie anfangen sollte und wie man so etwas überhaupt tat. Schließlich rief sie Natsu zur Hilfe, er sie mächtig dabei aufzog. Außerdem war es gar nicht so leicht, alles unter einen Hut zu bringen, was so anfiel – Wäsche waschen, aufräumen, einkaufen, staubsaugen, kochen… Sie hätte nie gedacht, dass ein Haushalt so viel Arbeit war, und erst jetzt lernte sie richtig zu schätzen, was die Hausmädchen so alles für sie gemacht hatten! Es hatte doch etwas für sich, Leute zu haben, die ihr diese lästigen Arbeiten abnahmen… Vermutlich wäre sie im Büro doch besser aufgehoben, denn obwohl sie sich nie groß dafür interessiert hatte, sie hatte doch einiges von ihrem Vater aufgeschnappt. Aber das war es nun mal nicht, wo ihre Hilfe gebraucht wurde. Also biss sie die Zähne zusammen, hielt sich ihren Laptop in der Nähe (Google wusste alles und konnte ihr immer weiterhelfen) und machte Erfahrungen. Hin und wieder kam sie sich fürchterlich dumm vor – wenn sie mal wieder den Zucker mit dem Salz verwechselte, wenn sie zu viel Waschmittel in die Maschine gab, wenn sie den Wäscheständer auf der Terrasse stehen ließ und ein plötzlicher Regenguss die beinahe trockene Wäsche wieder völlig durchnässte, wenn ihr die Nudeln verkochten und ähnliche Missgeschicke. Igneel und Natsu ertrugen ihre ersten Haushaltsversuche mit großer Geduld und noch größerem Humor, auch wenn sie ihr ständig versicherten, dass alles halb so wild wäre. Auch wenn sie Natsus Gesicht ablesen konnte, dass er ganz und gar nicht einverstanden mit dem misslungenen Essen war, während er ihr gleichzeitig versicherte, dass es hervorragend schmeckte. (Als hätte sie keine eigenen Geschmacksnerven, die ihr versicherten, dass es absolut fürchterlich war.) Aber Lucy hatte trotzdem regelmäßig ein schlechtes Gewissen und nahm sich vor, solche dummen Fehler nie wieder zu machen. Tatsächlich merkte sie, wie sich alles langsam einpendelte und besser wurde und Mitte Oktober war sie inzwischen ganz zufrieden mit ihren haushälterischen Fähigkeiten. Auch gegen das Unkraut im Garten führte sie einen Feldzug an, wenn auch wesentlich erfolgreicher. Auf diesem Gebiet hatte sie immerhin Erfahrung und auch wenn es zu spät war, jetzt noch viel anzupflanzen, zu tun gab es genug. Ein paar Beete mit Spätsommerpflanzen und Herbstblumen konnte sie zumindest anlegen, zu mehr reichte ihr Geld sowieso nicht. (Wie angenommen hatte Jude ihr Konto gesperrt, aber damit hatte sie ja gerechnet.) Nachts schlief sie meistens bei Natsu. (Sie hatten sich extra ein größeres Bett besorgt.) Ihr eigenes Zimmer blieb beinahe ungenutzt, auch wenn ihre Sachen dort untergebracht waren. Nur hin und wieder, wenn sie alleine sein wollte (oder sich mit ihrem Freund gestritten hatte) zog sie sich dorthin zurück. Die Wohnung der Dragneels war erstaunlich groß – drei Schlafzimmer, eine große offene Wohnfläche mit Küche sowie ein geräumiges Badezimmer und eine Extratoilette. Dazu kamen eine Abstellkammer und noch ein zusätzlicher kleiner Raum, der nichts Halbes und nichts Ganzes darstellte. Igneel hatte gemeint, er wäre perfekt für ein Kinderzimmer und jetzt waren sie hier und renovierten ihn. Später, wenn das Kind dann größer war, konnte es ein eigenes Zimmer haben, aber vorerst würde es sowieso in Lucys Nähe schlafen. Darum würde der kleine Raum voll und ganz ausreichen. Lucy zweifelte allerdings ein wenig an der Eignung der Kammer für ein Baby, nachdem sie einen Blick hineingeworfen hatte, denn sie schien dunkel und eng. Renovieren war vielleicht ein hochgestochenes Wort, aber er passte ganz gut, wenn Lucy an all die Spinnweben und Wasserflecken und den Dreck dachte, der sich hier unter all den Kisten und Kartons angesammelt hatte. Natsu hatte ihr verboten, beim Ausräumen zu helfen und nachdem sie eine halbe Stunde zugesehen hatte, wie er eine Box nach der anderen heraustrug, war sie ganz froh darum – es war erstaunlich, wie viel in so einen kleinen Raum tatsächlich hineinpasste. Wenigstens ließ er sie beim Auseinandernehmen der Regale helfen, wenn sie auch nur Bretter halten und nachher die Schrauben einsammeln durfte. Das ganze Zeug wurde in Igneels Kunstwerkstatt zwischengelagert, bis die beiden Dragneels die Kisten durchgehen und aussortieren konnten. Vermutlich würde einiges davon entweder im Müll oder auf Ebay landen. Ein großes Fenster, das vorher hinter Kisten verborgen gewesen war, ließ helles Licht herein, was den gesamten Raum völlig veränderte. Jetzt konnte sie sich sogar vorstellen, dass hier jemand wohnen konnte. Im Laufe der folgenden Wochenenden verlegten sie einen neuen, hellen Holzboden und strichen die Wände in einem freundlichen Hellgrün. Schließlich kam der Freitag an dem sie das Kinderzimmer einrichten konnten. Natsu stand natürlich neben ihr und auch Igneel ließ es sich nicht nehmen, ein Wörtchen mitzureden, also standen sie gemeinsam in der Tür und blickten sich um. „Die Wände sind noch etwas kahl.“, begann Igneel schließlich, als offensichtlich wurde, dass weder Natsu und Lucy den Anfang machen wollten. „Auf die eine Seite könnt ihr Regale hängen, die sind immer gut. Aber gegenüber fehlt noch ein Bild.“ „Vielleicht kann Lucy etwas malen.“, schlug Natsu sofort vor und warf ihr einen Blick an. „Was meinst du?“ Nachdenklich musterte die Angesprochene die Wände und nickte dann. „Sollte sich machen lassen.“ Sie tätschelte ihren Bauch, der inzwischen nicht mehr zu übersehen war. „Du wirst dich hier wohl fühlen, nicht wahr?“ Danach machten sie noch weitere Vorschläge, wo sie was hinstellen konnten, aber dadurch, dass der Raum und die Möbel eingeschränkt waren, artete die Diskussion nicht aus. Am Abend setzte sie sich gleich hin und begann mit den Skizzen für ein großes Wandbild (was sicher nicht das war, an das Natsu gedacht hatte, als er den Vorschlag machte), das sie über die nächsten Wochen fertigzustellen gedachte. Bis Weihnachten sollte sie es hinkriegen. Sie hoffte nur, dass sie ihre Beweglichkeit nicht überschätzte, denn sie merkte schon jetzt, dass ihr Gleichgewicht sich verschob. (Der Sportunterricht fiel jedenfalls schon eine Weile flach.) Am nächsten Tag zog Igneel mit ihnen los, um Möbel abzuholen und zu kaufen, was noch fehlte. Silver und Ur spendeten einen alten Wickeltisch mit praktischem Stauraum, der einen altertümlichen Charme hatte, trotz der vielen Macken. Von Igneels Bruder bekamen sie eine geräumige Kommode aus dunklem Mahagoniholz, die antik aussah, und einige lange Regalbretter mit verschnörkelten, schmiedeeisernen Halterungen, die er irgendwo eingelagert hatte. Makarov schenkte Lucy einen schönen Schaukelstuhl, der, wie er versprach, Wunder bewirkte, wenn der kleine Racker einmal nicht einschlafen will. Nur die Wiege mussten sie im Geschäft besorgen. Wenigstens, dachte Lucy, hatte sie sich schon mit einer Grundausstattung eingedeckt. Die Tüten aus dem Shoppingtrip vor ein paar Wochen waren längst aus Erzas Wohnung in die der Dragneels umgezogen, die immer mehr auch zu ihrem Zuhause wurde. Während der nächsten Tage konnte sie alles in die Kommode und den Wickeltisch einräumen. Jetzt mussten sie erstmal alles aufstellen. „Habt ihr euch eigentlich schon Gedanken um den Namen gemacht?“, wollte Igneel wissen, als er eine kurze Pause mit der Bohrmaschine machte, mit der er Löcher für die Regalbretter vorbereitete. Er stand auf einem Hocker und blickte jetzt zu ihnen herunter, Staub in den Haaren. „Einen Namen?“, echote Natsu verständnislos und Lucy schlug sich gegen die Stirn. Einen Moment fragte sie sich, warum ihr das nicht schon vorher gekommen war. Sie konnten ihr Baby schließlich nicht namenlos lassen. Aber es war so viel anderes los gewesen und das Thema niemals drängend, darum war es wohl einfach unter gegangen. „Nein.“, gab sie betreten zu. „Wir könnten ein Buch ausl…“ „Luigi!“, trompetete Natsu grinsend dazwischen und Ingeel stieß ein bellendes Lachen aus. Er kannte – wie jeder andere auch – die Geschichte von Natsus und Lucys erster Begegnung, bei der der Junge ihren Namen missverstanden hatte. Lucy war noch nicht ganz überzeugt davon, ob das nicht doch absichtlich geschehen war. Sie würde es ihrem Freund eindeutig zutrauen! „Nein!“, erklärte sie bestimmt und stimmte die Hände in die Hüften. „Niemals! Luigi ist ein bescheuerter Name!“ Natsu lachte und hob beschwichtigend die Hände. „Okay, okay. Was hältst du von … Tsubasa?“ „Nö.“ „Mike.“ „Nö.“ „Rodolphus?“ „Sicher nicht!“ Wo zog er nur all diese schrecklichen Namen her? „Aragorn.“ „Ich werde meinen Sohn nicht nach einem Charakter aus einem Buch benennen!“ „Buch?“, fragte Natsu für einen Moment verwirrt nach, dann schüttelte er den Kopf und argumentierte: „Aber Aragorn ist cool! Er ist ein König und so.“ Lucy fuchtelte mit dem Zeigefinger in seine Richtung. „Mir egal. Kein Herr der Ringe.“ „Okay.“ Natsu grinste. „Edward.“ Lucy starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Ew. Keine Bücher!“ Igneel lachte und machte sich wieder an die Arbeit, so dass der nächste Vorschlag seines Sohnes in dem lauten Geräusch der Bohrmaschine unterging. Lucy funkelte ihren Freund an, als könnte sie ihn damit zwingen, endlich ernst zu werden und einen anständigen Vorschlag zu machen. Ihr fiel im Moment absolut nichts ein. Wenn es ein Mädchen wäre, ja, dann… Sie würde liebend gerne ihr Kind nach ihrer Mutter benennen, aber eine männliche Form von Layla gab es schlichtweg nicht. „Okay, dann was anderes Cooles.“, brüllte Natsu über den Lärm hinweg. „Was hältst du von Rocky?“ „Nein!“ Natsu hatte offensichtlich ebenso wenig richtige Ideen wie sie, doch anstatt die Sache auf sich beruhen zu lassen, warf er mit den lächerlichsten Vorschlägen um sich, die ihm einfielen. „Wie wär’s mit Harry, dann kann er Zauberer werden.“ Lucy zeigte ihm den Vogel; inzwischen war ihr klar, dass er sie nur aufzog. Natsu lachte so lange, bis sie unwillkürlich einfallen musste. Zum Glück hatten sie noch etwas Zeit dafür, denn heute würde das sicher nichts mehr werden. Igneel grinste nur und setzte endlich seine Bohrmaschine ab. „Wenn ihr euch dann wieder beruhigt habt, kann einer mir die Regalbretter halten? Schließlich wollen wir heute noch fertig werden.“ Natsu griff bereitwillig zu und Lucy blieb nichts anderes übrig als zuzusehen. Dabei streichelte sie mit ruhigen Bewegungen über ihren Bauch, knapp davor dem Baby zuzuflüstern, dass sie einen anständigen Namen für ihn aussuchen würden, für den er nicht gehänselt werden würde. Die Streicheleinheiten waren inzwischen zur Gewohnheit geworden und sie tat es immer, wenn sie Zeit dafür hatte. Innerlich hoffte sie, bald eine Reaktion zu bekommen, die nicht gegen ihre eigenen Organe ging. Sie wollte, dass Natsu ihn auch endlich spüren konnte! Aber bis jetzt hatte er sich noch nicht beschwert. „Ich schlage vor, wir besorgen ein Buch mit Namen aus der Bibliothek.“, meinte sie schließlich, nachdem die letzte Schraube fest saß. „Ihr könnt Listen von Namen machen, die euch gefallen, gemeinsam und unabhängig voneinander und diese dann vergleichen.“, warf Igneel ein und setzte den Akkuschrauber an. „Oder vielleicht hat noch jemand anderes eine nette Idee. Allerdings würde ich vorschlagen, gut zu überlegen, wen ihr fragen wollt.“ Lucy schnaubte belustigt. „Wetten, dass Erza schon den perfekten Namen herausgesucht hat?“ Die Rothaarige hatte sie zwar noch nicht auf das Thema angesprochen, aber wie konnte es anders sein…? Natsu jedoch wurde auf ihre Worte blass. „Wir dürfen sie nicht fragen, sonst bringt sie uns um, wenn wir ihn nicht nehmen! Und Erza hat einen fürchterlichen Geschmack, was Namen angeht! Sprich dieses Thema niemals in ihrem Beisein an, hörst du?!“ Seine Stimme klang beinahe beschwörend. „Du meinst, so wie du?“, konnte Lucy sich nicht nehmen, gutmütig zu sticheln. Natsu warf ihr einen Blick zu und schauderte. „Du hast ja keine Ahnung! Pa, erinnerst du dich noch an ihr Kaninchen?“ Igneel lachte. „Du meinst Monsieur Killer von und zu Hoppel?“ Lucy blinzelte. „Sie hat ihren Hasen Killer von Hoppel genannt?!“, wollte sie ungläubig wissen. Das … klang erstaunlich treffend, auch wenn sie niemals auf diese Idee gekommen wäre. Hoffentlich fand Erza einen Mann, der ihr da einen Riegel vorschieben konnte, wenn es bei ihr soweit war! „Nein.“, widersprach Natsu und schauderte. „Sie hat ihn Monsieur Killer von und zu Hoppel genannt und ist jedes Mal ausgeflippt, wenn man ihn nicht bei seinem vollen Namen genannt hat.“ Er rieb sich den Hinterkopf, als würde er sich an die Schläge erinnern, die er dadurch eingefangen hatte, es nicht getan zu haben. Igneel lachte laut, offensichtlich war er dabei gewesen. Natsu packte Lucy an den Armen und starrte sie an. „Wir können ihr nicht den Namen unseres Kindes überlassen.“, erklärte er eindringlich. „Wer weiß, mit was sie ankommt.“ „In Ordnung, du hast mich überzeugt.“ Nicht, dass sie je vorgehabt hatte, Erza zu fragen… Sowieso würde sie sich nicht nach anderen Leuten richten, wenn es um den Namen des Babys gehen würde. Wer war es, der neun Monate damit herumlaufen würde? Wer war es, der immer dicker und dicker wurde? Wer war es, der nachts nicht schlafen konnte, weil er ständig getreten wurde? Einzig Natsu würde eine Stimme bekommen. „Ich gehe morgen ein Buch besorgen.“, schloss sie das Thema vorerst ab. „Wer hilft mir mit der Wiege?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)