Momenta von Valenfield ================================================================================ Kapitel 1: Auf der Jagd ----------------------- Es hätte ein völlig normaler Tag werden können, als Chikara Ennoshita auf seine Schulaufgaben konzentriert die Mittagssonne genoss, die auf seinen Schreibtisch schien. All das endete, als er einen verhängnisvollen Namen auf seinem Handydisplay aufleuchten sah: Yuu Nishinoya. Egal, was jetzt passierte, Chikara wusste, dass es mit dem Lernen in Ruhe in Frieden ab sofort offiziell vorbei war. Vorsichtig wartete er einen Moment, um es nicht so wirken zu lassen, als habe er ernsthaft Zeit für blöde Späße, bevor er abhob. Er bekam nicht die Zeit, sich zu melden. „Chikara! Ich hab eine großartige Idee, wie ich mehr Pokémon fangen kann als Ryu, hahahahaha!!!!“ „Das...freut mich, Nishinoya. Was bringt dich dazu, mir das mitzuteilen?“ Es war nicht so, als lebte Chikara hinter dem Mond, aber die explosionsartige Begeisterung über Pokémon GO bei gefühlt jedem seiner Bekannten seines Alters konnte er sich einfach nicht erklären und demnach auch nicht nachempfinden. Dass Nishinoya und Tanaka dem jeweils anderen allerdings an Tag eins bereits den Krieg erklärt hatten, war nicht an ihm vorbeigegangen, und seitdem hatten sie sich auf beinahe stündlicher Basis neue Wege ausgedacht, schneller als der jeweils andere gute Pokémon zu fangen oder im Level aufzusteigen. „Denkst du, ein Deckenventilator dreht sich mit mehr als zwanzig Kilometern pro Stunde?!“ Kurz seufzte er und schloss die Augen. Er hatte eine vage Vorstellung davon, was diese Frage sollte, und wägte kurz ab, in welchem Falle der Kollateralschaden geringer sein würde. „Auf der langsamsten Stufe vielleicht nicht. Aber du solltest trotzdem davon absehen, dein Handy an den Ventilator zu binden.“ Auf die euphorische Frage „Was soll schon schiefgehen, Chikara?!“ wären ihm auf Anhieb mindestens genügend Antworten für ein ganzes Jahr eingefallen, was schiefgehen könnte. In Anbetracht der Umstände, dass jedoch jedes seiner Worte zwischen Nishinoyas Ohren durchgerast wäre, sparte er sich die Mühe, es auch nur zu versuchen. „Bitte, mach einfach nur nichts kaputt, Nishinoya.“ „Niemals, Chikara. Danke! Du wirst sehen, Ryu wird morgen Augen machen!!“ Damit legte der Libero auf, und obwohl Chikara versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass bisher trotz massiv dämlicher Einfälle noch nichts Schlimmeres passiert war, ließ ihm der Gedanke, dass Nishinoya sein Handy an einer Schnur vom Deckenventilator baumeln lassen wollte, keine ruhige Minute mehr. Wie kam man überhaupt auf einen solchen Einfall? Es war schließlich nicht so, als sei Nishinoya bewegungsfaul – im Gegenteil. Seufzend schüttelte Chikara den Kopf. All diese Gedankengänge brachten ihm überhaupt nichts, also beschloss er, sich wieder den Schulaufgaben zuzuwenden. Es würde schon alles in Ordnung sein. Morgen hatten sie Unterricht, und spätestens danach würde er seine Teamkameraden alle im Clubraum wiedersehen. Gesund, munter und mit völlig intakten Handys. Alles würde gutgehen.   ----------------------------------   Dass überhaupt nichts gutgehen würde, erfuhr Chikara erst am nächsten Tag, und das auch nur, weil er mit Nishinoya und Tanaka nach dem Training noch zum Lernen verabredet war, was beide ohne ihn schlicht und ergreifend nicht auf die Reihe bekamen. „Nishinoya“, begann er vorsichtig – unsicher, ob er die Frage stellen und die Antwort wissen wollte – und bereute schon fast ein bisschen, dass sie beschlossen hatten, dieses mal nicht bei Tanaka zuhause zu lernen. „Was ist mit der Schranktüre passiert?“ Nishinoya blinzelte ein paar Mal, kratzte sich dann am Hinterkopf und lachte lauthals. „Das ist eine laaange Geschichte, Chikara, und wir haben-“ „Sag mir nicht, dass das wegen dieses Spiels passiert ist.“ Augenblicklich verstummte der Libero, wissend, was ihn erwartete. Es war nicht so, dass Chikara jemals auf eine ähnliche Art fies sein würde wie beispielsweise Tsukishima, und zweifelsohne war er auch nicht ansatzweise so angsteinflößend wie ein wütender Sawamura, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Nishinoya, sobald er seinen leicht genervten Blick sah, für gewöhnlich Reißaus nahm. „M-möglicherweise“, murmelte er deswegen nur und schien ein wenig ängstlich. Zurecht, denn: „Ich glaube, ein wenig mehr zu lernen würde dir helfen, nicht so besessen von einem Spiel zu sein. Wie sieht es mit deinen Noten in Gegenwartsliteratur aus?“ Nishinoyas Schweigen war ein Paradebeispiel dafür, dass keine Antwort manchmal eine sehr aussagekräftige Antwort sein sollte, und war schlussendlich auch der Grund dafür, dass Chikara beschloss, Tanaka zwar zu ihrer festgelegten Uhrzeit zu verabschieden, bei Nishinoya aber keine Gnade walten zu lassen. „Chikaraaaaaaaaa. Ich bekomme nie und nimmer auch nur noch einen einzigen Gedanken in diesen Kopf rein! Ich habe das Gefühl, mein Kopf besteht aus Gegenwartsliteratur.“ Dabei machte der Libero eine unnötig dramatische Pose und verstellte seine Stimme, aber Chikara ließ das kalt. Er wusste darum, der Einzige zu sein, der die anderen Zweitklässler bändigen konnte, und auch wenn er es selten tat, so gab es eben Momente, in denen er dieses Wissen ausnutzte. „Sicher. Aus Gegenwartsliteratur und Pokémon, hm? Ni-“ „Ahhhhh! Ryu fängt auf dem Heimweg sicher Unmengen an Pokémon!! Ich muss mir etwas überlegen, ich muss unbedingt auch-“ „Nishinoya!“ Wie in seiner Bewegung festgefroren hielt er auf dem Weg zur Zimmertüre inne und drehte sich wieder um. „Chikara“, dabei klang er wieder wichtigtuender als nötig. „Du verstehst das nicht.“ „Nein, wirklich nicht.“ „Chikara, ich muss-“ „Lernen, Nishinoya. Ganz richtig.“ „Chikara!“ „Nishinoya.“ Sie starrten sich eine Weile lang an, und es amüsierte Chikara, dass er damit tatsächlich Erfolg hatte, Nishinoya aufzuhalten. Bei jedem anderen wäre der Libero wahrscheinlich ohne Rücksicht auf Konsequenzen in seine Schuhe gehüpft und Tanaka nachgerannt. „Das ist grausam, Chikara. Folter! Du bist herzlos! Wie kannst du mir das antun!“ „Würdest du lernen, statt dich zu beschweren, könntest du Tanakas Vorsprung umso schneller aufholen.“ Seine Augen begannen zu leuchten und er blinzelte mehrfach, schien darüber nachzudenken, sich vielleicht zusammenzurechnen, wie er schnellstmöglich aufholen konnte, nachdem er von Chikara entlassen wurde. „Beeil dich, Chikara!! Wir können keine Zeit verschwenden! Je schneller das hier!“ - er zeigte unnötig euphorisch auf die Lernblätter - „in meinem Kopf drin ist, desto weniger Zeit hat Ryu, sich einen unfairen Vorteil zu verschaffen. AAAHHHH!“   ----------------------------------   Es war die Kombination aus einem extrem lauten Schnarchen und einer Faust, die seinen Bauch traf, was Chikara schlussendlich dazu brachte, aus seinem Schlaf zu erwachen. Er war kein Morgenmensch, und er war erst Recht kein Frühmorgenmensch, aber da die Sonne schon aufging, spielte es keine große Rolle mehr. Unbegeistert zog er die Augenbrauen zusammen, murmelte etwas, was er selbst nicht verstand, und richtete sich dann auf. „Nishinoya“, schaffte er es genervt hervorzupressen und rieb sich die Augen, doch keine Reaktion. Der Libero war immer noch treudoof grinsend im Land der Träume und holte zum nächsten Schlag aus, doch dieses Mal war Chikara schneller und griff die schwingende Hand in der Luft. „Ich bin nicht mal sicher, ob er von einer Volleyballtechnik oder vom Pokébälle werfen träumt“, stellte er mit einem Seufzen fest und zog unsicher eine Augenbraue hoch. Es war früh, viel zu früh um zur Schule zu gehen, aber viel zu spät, zu versuchen, noch einmal ernsthaft einzuschlafen. Auf dem Weg ins Badezimmer fiel sein Blick noch einmal auf den demolierten Schrank, und urplötzlich war er extrem froh, dass Nishinoya noch nicht wachgeworden war. Wie konnte man nur derart… Er dachte den Satz lieber nicht zuende.   ----------------------------------   „Ich habe noch nie irgendjemanden so etwas Dämliches tun sehen, Nishinoya. Ich bin gleichermaßen schockiert wie begeistert.“ „Aber du bist auch begeistert! Sag es! Sag, dass ich der Held bin, Chikara!!“ „In deinen Träumen!“ Es war besser, sich darauf zu konzentrieren, alle verfügbaren Fenster aufzureißen, um den beißenden Geruch loszuwerden, der sich in der Küche breitmachte. Wie hatte er nur so naiv sein können, zu glauben, dass Nishinoya nicht in der Lage sein würde, auf die Sache mit dem Ventilator noch etwas draufzulegen? „Wie genau kamst du überhaupt auf die Idee, dass so etwas Dummes funktionieren würde?“ „Was meinst du mit dumm? Der Teller dreht sich, drehen ist Bewegung, die Eier brüten sich von selbst!! Das ist eine Win-Win-Si-“ „Das ist nicht mal im Ansatz die Art und Weise, wie man eine Mikrowelle nutzen sollte, Nishinoya! Der Name hat eine Bedeutung, weißt du?“ Er war sich nicht sicher, ob es daran lag, dass er leicht fror, denn ihm war nicht die Zeit geblieben, seine Haare anständig zu trocknen, als ihn ein lautes „Chikaraaaaaaaaaaa!!!“ gezwungen hatte, das Badezimmer frühzeitig zu verlassen. Tatsache war, dass es nicht einmal sechs Uhr morgens war und sich Chikaras Laune weit unterhalb des Kellers befand. Eigentlich war es in Wahrheit idiotisches Glück, dass keines der fliegenden Mikrowellenteile Nishinoya verletzt hatte, und die Angst, dass das passiert sein könnte, war das Einzige gewesen, was Chikara dazu gebracht hatte, derart schnell in die Küche zu rasen, als er seinen Namen gehört hatte. Aber auch wenn er froh war, dass niemand zu Schaden gekommen war – und er war wirklich froh darum, denn bei solch dämlichen Stunts könnte wer weiß was schiefgehen, auch wenn der Wirbelwind von Libero das nicht glauben wollte – änderte das nichts daran, dass er sich den Morgen entspannter ausgemalt hatte, als gefüllt damit, Scherben aufzusammeln und Raumspray um sich zu sprühen, während Nishinoya absolut hoffnungslos versuchte, entweder sein Handy oder die Mikrowelle noch irgendwie zu retten. Dass niemand von Nishinoyas Familie anwesend war, war auch der einzige Segen, der ihn heute treffen sollte, dessen war er sich sicher. Und gerade, als er es wagen wollte, deshalb aufzuatmen: „Chikaraaa? Kaufst du mit mir ein neues Handy?!“   ----------------------------------   Die Stimmung beim Training war unnötig angespannt, und Chikara war sich der Tatsache bewusst, dass er dafür die Hauptverantwortung zu tragen hatte. Er empfand es aber dennoch als überaus schwierig, zu verhindern, dass sich sein Blick wieder und wieder tödlich in Nishinoyas Rücken bohrte, während der nicht nur viel zu laut sondern auch viel zu begeistert Tanaka von seinem Handy-Malheur erzählte. „Er lässt es klingen, als sei es eine Errungenschaft“, murmelte Chikara leise und schüttelte dabei kaum merklich den Kopf, aber es entging Sugawara, mit dem er gerade Aufschläge trainierte, trotzdem nicht. „Ist alles in Ordnung?“ „Für den Moment, ja. Bis Nishinoya sich entschieden hat, welches neue Handy er möchte, zumindest.“ Denn solange würde der Libero kein einziges Pokémon fangen und somit auch keine Gefahr für sich und seine Mitmenschen darstellen. Gerade das war es aber, was Chikara Sorgen bereitete. Er hatte damit gerechnet, dass Nishinoya schmollen würde, oder Tanakas Handy klauen, damit der nicht weiterspielen konnte. Stattdessen schien er ungewöhnlich gut drauf und das konnte nichts Gutes bedeuten. „Er ist heute noch nerviger als Hinata und der König“, ließ urplötzlich Tsukishima verlauten und zog damit in Sekundenschnelle die Wut von nicht weniger als fünf seiner Mitspieler auf sich. Hinata, weil er indirekt als nervig bezeichnet wurde, Kageyama, weil er den Titel König verabscheute – erst Recht, wenn es von Tsukishima kam – Nishinoya, weil er direkt als nervig bezeichnet wurde, Tanaka, weil dieser Idiot von Erstklässler einen Streit anzetteln wollte, und Sawamura, weil keiner von ihnen sich mehr dem Training widmete und wieder einmal alles völlig eskalierte. „Sieh es positiv“, kamen schließlich die versucht aufmunternden Worte von Sugawara. „Es ist schließlich ziemlich motivierend, Nishinoya begeistert zu sehen, nicht wahr?“ Das war nicht zu leugnen, und Chikara seufzte, als ihm das bewusst wurde. Eigentlich waren es ja auch gerade diese extrovertierten Charaktereigenschaften, die ihren Libero so sympathisch machten. Und schließlich hatte alles irgendwo seinen Preis, nicht wahr?   ----------------------------------   „Bis morgen dann!“ „Bis mo-“ „Ooooohhh, Ryu, du Verräter!! Wart's nur ab, wir werden zehn Mal so viele Pokémon haben wie du!“ „Bitte lass es nicht klingen, als würde ich mitspielen, Nishinoya.“ „Chikara! Auf wessen Seite stehst du?!“ Wohlweislich gab er darauf keine Antwort mehr, zog es aber vor, den Libero nicht aus den Augen zu lassen, solange er sein Handy in der Hand hatte. Was ihn dazu gebracht hatte, es herzugeben, wusste er nicht mehr ganz genau. Vielleicht die nervtötende Dramatik, als Nishinoya versucht hatte, ihm zu erklären, dass sein Leben nun keinen Sinn mehr haben würde, bis er die Gelegenheit bekäme, ein neues Handy zu kaufen. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass es ihm eine gute Ausrede gab, heute Abend erneut im gleichen Bett zu schlafen und sich für den Schlag in seine Bauchgegend, der erstaunlicherweise immer noch bei jeder Bewegung spürbar war, zu rächen. „Wooooaaaah!! Da drüben! Da drüben ist ein Pikachu, Chikara! Ein Pikachu! Das müssen wir haben!“ „Musst du das...“ Im Endeffekt war es ihm egal, denn durch die einfache Regel, dass sein Handy nur in seiner Anwesenheit angefasst werden durfte, wiegte er sich selbst in Sicherheit. Die Tatsache, dass das Grinsen nicht mehr aus Nishinoyas Gesicht wich, seit er endlich wieder dieses völlig nutzlose Spiel spielen konnte, war ein weiterer Bonus. „Woooow, hast du das gesehen? Ich bin einfach großartig! Hahaha!“ „Wir sollten uns langsam auf den Heimweg machen.“ „Noch fünf Minuten. Nur fünf!“ „...Von mir aus.“ Zwar würde er dennoch nie verstehen, warum die Menschen nicht-existenten Tieren auf dem Handy hinterherjagten, und warum sie sich lebensgefährliche Methoden ausdachten, unbedingt besser zu sein als andere, aber… „Du bist wirklich echt einfach der Beste, Chikara!!“ ...aber eigentlich war ihm das auch völlig egal. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)