Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 3: Der Tag, an dem sie heimkehrten ------------------------------------------ 5 Wochen vor der Opferung Wenn im Rest von Fiore Frühsommer herrschte, waren die Winde auf dem Spaltengletscher unstet und tückisch. Sie trieben Gletscherläufern Tränen in die Augen und behinderten so die Sicht auf das Panorama des Spaltengletschers, einer zerklüfteten Wand aus uraltem, stetig wanderndem Eis in geheimnisvollen Blau- und Grüntönen. Ein Labyrinth aus Schluchten und Eisgebilden, die teilweise sogar an menschliche Gebäude erinnerten, immer wieder durchsetzt von riesigen Findlingen. Gewaltige Schneewehen sammelten sich an Wänden und in Kratern und machten letztere zur Todesfalle. Hier nichts sehen zu können, war lebensgefährlich. Auch für Gray blieb die wilde Schönheit des Gletschers weitgehend verborgen, während er sich in den Rückenwind lehnte, um nicht nach vorn zu stolpern, und seine Schritte nur langsam und immer vorsichtig tastend setzte. Sein Gespür für Eis und seine Sinne suchten seine unmittelbare Umgebung ab, achteten auf alles, was eine Gefahr darstellen könnte, und verfolgten den sicheren Pfad, dessen gut versteckte Anzeichen zu lesen, Gray vor vielen Jahren gelernt hatte. Ein Ruck an seiner Hüfte ließ ihn innehalten. Schwerfällig drehte er sich herum und blickte hinter sich zu der Person, die mit ihm über ein Seil verbunden war. Die Kleidung war so dick, dass keine Körperkonturen zu erkennen waren, aber eine pinkfarbene Strähne hatte sich aus der Kapuze aus Elchfell gemogelt und flatterte nun im schneidend kalten Wind vor und zurück. Gray konnte ihr Gesicht nicht erkennen, denn sie hatte sich herum gedreht und blickte zur dritten Person ihrer kleinen Gruppe zurück. Schnaubend stapfte er mit seinen mit Eiskrallen bewehrten, pelzverbrämten Stiefeln zurück. Eisiger Wind pfiff ihm nun wieder ins Gesicht, aber dennoch erreichte er Lyon noch vor Meredy, obwohl diese den kürzeren Weg hatte. Sie war es eindeutig nicht gewohnt, sich auf solchem Terrain und mit so klobiger Kleidung zu bewegen. Irgendwann musste selbst ihre Anpassungsfähigkeit an ihre Grenzen stoßen. In eine Jacke aus Elchfell gekleidet, kniete Lyon am Boden und strich mit der bloßen Rechten über eine Stelle im blaugrünen Gletschereis. Stirn runzelnd trat Gray näher und hockte sich daneben. Unter der Einflussnahme seines Bruders schwand ein kleiner Teil der oberen Eisschicht – oder vielmehr wurde er durchsichtig – und offenbarte ein etwa faustgroßes Knochengebilde. „Was ist das?“ Meredy kniete nun zu Lyons anderer Seite, wo sie besser vom Wind geschützt war. Dennoch konnte Gray sehen, wie sie erzitterte. „Eine Gletschermarke“, erklärte Lyon, dem genau wie Gray überhaupt nicht anzumerken war, ob ihm kalt war. „Gletscherläufer hinterlassen sie einander, um vor Gletscherspalten und ähnlichen Gefahren zu warnen.“ „Und wovor warnt diese Gletschermarke hier?“ „Vor einer eingebrochenen Brücke, etwa hundert Schritte vor uns“, antwortete Lyon und zeigte auf zwei schmale, parallel ausgerichtete Knochen, gekreuzt von einem dicken, kurzen. Drüber waren zehn kleine, dunkle Steinchen eingesetzt. „Woher wisst ihr, welche Richtung gemeint ist?“, stellte Meredy eine sehr folgerichtige Frage. Gray zog ebenfalls einen Handschuh aus – er bemerkte, wie Meredy bei dem Anblick erschauderte – und deutete auf den längsten Knochen, etwa so lang wie ein Zeigefinger. Er stand senkrecht zum Brückensymbol und an ein Ende war ein Splitter gesetzt worden. Verstehend nickte Meredy, ehe sie mit ihrem Fäustling aus Schneehasenfell auf die übrigen Knochen und Steine deutete. „Und was bedeutet das?“ „Es ist eine Zeitangabe“, erklärte Lyon und deutete auf ein kreisförmig geschliffenes Knochenstück. „Das steht für den Vollmond. Die drei kleinen Steine davor geben an, der wievielte Mond des Jahres gemeint ist, die Stäbe dahinter sagen an, wie viele Tage vor oder nach dem Vollmond die Marke gesetzt wurde. Horizontal für davor, vertikal für danach. Ein Neumond wird mit einem dunklen Stein gekennzeichnet.“ „Also wurde diese Gletschermarke sechs Tage nach dem dritten Vollmond gesetzt“, kombinierte Meredy und noch während sie sprach, runzelte sie die Stirn. „Ist das nach Dorfzeitrechnung nicht schon einen ganzen Mondumlauf her?“ „Und genau das ist das Seltsame an dieser Marke“, murmelte Gray. „Es hätte schon längst ein neuer Weg gelegt werden müssen. Gletscherläufer lassen einander keine Umwege gehen…“ „Vater wird sicher eine Erklärung dafür haben“, entschied Lyon und stand wieder auf. Gray fuhr mit seiner nackten Hand über die Marke, um das Eis darüber wieder undurchsichtig zu machen. Nur Eismagier und sehr geübte Gletscherläufer konnten sie wieder finden. Eine der Schutzmaßnahmen der Eismenschen. Er stand auch wieder auf und zog sich seinen eigenen Fäustling wieder an, obwohl er ihn kaum brauchte. Die Eisseele schützte ihn wie jeden anderen Eismenschen auch vor Unterkühlung. Dennoch gingen sie immer lieber auf Nummer sicher, auch wenn nicht zu erwarten war, dass sie ihre Magie derartig stark einsetzen mussten, dass die Eisseele zu schwach wurde, um sie zu schützen. Man konnte gar nicht so dumm denken, wie es manchmal kam – und der Gletscher verzieh keine Fehler, pflegten die Eismenschen zu sagen. Sie gingen den Umweg und verfolgten den alten Pfad schließlich weiter. Gray an der Spitze, Lyon hinten und Meredy als unerfahrener Sonnenmensch in der sicheren Mitte. Als das Grau des Himmels sich immer weiter abdunkelte und der Wind noch kälter wurde, hielt Gray nach einem Rastplatz Ausschau. An der Wind abgewandten Seite eines Eisfindlings schlugen sie ihr Lager auf. Sie stellten einen stabilen Rahmen aus langen, dicken Knochen auf und breiteten darüber erst einen Eisbärenpelz, dann zwei wasserdichte Elchlederdecken, die sie innen durch eingearbeitete Ösen mit einem weiteren Eisbärenpelz verknüpften, der als Untergrund diente. In diesem Schutz holte Lyon einen Lichtlacrima hervor und rieb diesen sachte, bis er ein warmes Licht ausstrahlte, das hell genug war, damit sie einander sehen konnten. Ein Zugeständnis gegenüber Meredy. Gletscherläufer verwendeten solcherlei Hilfsmittel nur in Notfällen. Sie gingen sparsam damit um, denn Lacrima waren teuer und das Dorf war nicht darauf ausgelegt, viel Handel zu betreiben. Überwiegend lebten sie von dem, was die Eiswüste ihnen bot. Meredy öffnete ihre Kapuze und schüttelte den langen pinkfarbenen Zopf aus. Gray bemerkte, wie sein Bruder sie dabei hingerissen beobachtete, und er verdrehte die Augen, ehe er den Proviant hervorholte. Pökelfleisch und getrockneter Fisch, dazu ein Tiegel mit fettem Quark und Brot zum Eintunken. Den Quark und das Brot schob er Meredy zu. Ihr Körper kannte die Strapazen des Eises nicht und brauchte viel Fett. Klaglos nahm Meredy dieses für sie eher ungewohnte Mahl zu sich, richtete dabei jedoch den fragenden Blick ihrer smaragdgrünen Augen auf ihren Freund. „Wie weit ist es jetzt noch?“ „Zwei Tage, wenn wir keine weiteren Umwege einschlagen müssen. Wir sind gut voran gekommen.“ „Und das, obwohl Lyon so ein Trödler ist“, spottete Gray, worauf sein Bruder ihm eine wüste Geste machte, die sich in Gegenwart einer hochgeborenen Dame eigentlich ganz und gar nicht schickte. „Du meinst, obwohl ihr mit einem Sonnenmenschen unterwegs seid“, erwiderte Meredy und tätschelte besänftigend den Arm ihres Freundes. Gray zuckte mit den Schultern. „Ich habe bisher noch keine Gletscherüberquerung mit einem Sonnenmenschen gemacht, aber wir sind zumindest nicht gravierend langsamer als bei unserer letzten Überquerung.“ „Was er damit sagen will, dieses ungesprächige, uncharmante Eishirn, ist, dass du dich gut hältst“, sprang Lyon ein und beugte sich zu seiner Freundin. Gray schnaufte und drehte sich mit einem getrockneten Fisch herum, um den Beiden nicht beim Turteln zusehen zu müssen. Stören wollte er sie jedoch nicht, wusste er doch, wie nervös sein Bruder sein musste… 3 Monate vor der Opferung Die Universität von Crocus war die größte und beste von ganz Ishgar. Von Nah und Fern strömten Männer und Frauen allen Alters herbei, um hier zu studieren. Gut zehntausend Studenten waren hier eingeschrieben – und gefühlt die Hälfte von ihnen hatte sich gerade in der Mensa versammelt. Das Klappern des Geschirrs, das Knarren der Stühle, das Trampeln der Füße, das Lachen, Rufen und Diskutieren der Studenten – es war eine immer währende Kakophonie, die das große Gebäude erfüllte. Gray seufzte genervt und senkte den Blick wieder auf die Karte, die auf dem Tisch vor ihm ausgebreitet war. Solange Lucy und die Anderen da gewesen waren, war ihm der Lärm gar nicht so sehr aufgefallen, weil sie ihm so viel auf der Karte von Fiore gezeigt hatten, aber jetzt fühlte es sich an, als würde eben dieser sich in seinen Kopf bohren. Seit vierzehn Jahren lebte er in Crocus, aber er hatte sich nie voll und ganz an dessen Hektik und Lautstärke gewöhnen können. Da war es für ihn sogar einfacher, mit den hohen Temperaturen zu Recht zu kommen. Aber er musste schon zugeben, dass es auch spannend war, so viel zu erfahren. Er schätzte Lucy und Levy und er lernte gerne mehr über ihre Lebensweisen. Auch auf Lucys Einladung, sie in Heartfilia zu besuchen, würde er definitiv irgendwann zurück kommen. Auch wenn ihn das noch mehr in den Süden führen würde. Noch weiter weg von seiner Heimat. Gedanken verloren wanderte Gray mit einem Finger die große Nordstraße entlang, die von Crocus nach Margaret, dann weiter nach Oak und schließlich in das wilde, oft unwegsame Gebirge von Cait Shelter im Nordwesten führte. Hinter Oak zweigte von der Hauptstraße eine kleinere ab, die schnurgerade in den Norden und somit nach Boscun am Rande der Eiswüste führte. Von Boscun aus ging es nicht weiter in den Norden. Zumindest nicht auf öffentlichen Wegen. Nur Gletscherläufer wagten sich über den Spaltengletscher, in die Eiswüste und bis zum Dorf der Eismenschen. Gray fuhr über den Titel über dem kleinen Punkt, der seine Heimat symbolisierte. Es gab keinen richtigen Namen für das Dorf. Für seine Einwohner war es einfach nur die Heimat. Aus Neugierde hatte Gray mal mit Levys Hilfe in der Universitätsbibliothek recherchiert, ob das Dorf jemals einen Namen besessen hatte, aber er war nur auf allerlei Varianten des heute noch gebräuchlichen Titels gestoßen. Vor vierhundert Jahren waren die Eismenschen wie aus dem Nichts in der Geschichte Fiores aufgetaucht und hatten den Spaltengletscher und alles nördlich davon zu ihrem Gebiet erklärt. In den damals herrschenden Wirren hatte niemand diesem Anspruch mit der nötigen Autorität widersprechen können, aber über anderthalb Jahrhunderte lang war es als Rebellen- oder auch als Wildendorf verunglimpft worden, ehe die Unsterbliche Kaiserin das Dorf offiziell anerkannt und mit dessen Anführer den sogenannten Nordfrieden geschlossen hatte. Nicht einmal die Dorfbewohner selbst wussten so richtig, wo ihre noch so junge Geschichte ihren Anfang genommen hatte. Es gab kaum schriftliche Überlieferungen – die ersten erst aus der Zeit des Nordfriedens –, nur viele Lieder und Legenden, allesamt farbenfroh ausgeschmückt, doch viele drehten sich um die Mission der Eismenschen, ihre ewige Aufgabe. Ein Geheimnis, das die Dorfbewohner eifersüchtig hüteten… „Unser letzter Besuch ist vier Jahre her.“ Gray blickte von der Karte zu seinem Bruder auf, welcher ihm gegenüber saß und nun ebenfalls von der Karte aufsah. Lyon kam in allem nach ihrer gemeinsamen Mutter Mika mit seinen edlen Gesichtszügen, den mandelförmigen, schwarzen Augen, die allein schon eine Waffe für den Frauenfang waren, und den schneeweißen Haaren, die gezielt verwegen in seine Stirn hingen. Um sie herum registrierte Gray mehrere interessierte Frauenblicke. Dabei musste er seinem Bruder wirklich zugestehen, dass dieser es nicht darauf anlegte. „Vielleicht wäre es an der Zeit, dass wir mal wieder nach Hause reisen. Wir bekommen sicher Urlaub. Womöglich geht es sogar als Mission durch, wenn wir eine Kaiserliche Rolle überbringen müssen.“ „Du willst doch nicht allen Ernstes die Unsterbliche Kaiserin um eine Rolle bitten, damit wir nach Hause können?“, schnaubte Gray. Lyon grinste verwegen – irgendwo hinter sich hörte Gray einen hingerissenen Seufzer – und hob abwehrend die Hände. „Ich dachte, das würde auch leichter erklären, warum eine Assassine uns begleitet…“ Der Schwarzhaarige stutzte. „Du willst Meredy mitnehmen?“ Sicherlich, sein Bruder war schon seit fünf Jahren mit der Pinkhaarigen zusammen, aber ihm war entgangen, wann Lyon begonnen hatte, ernsthafte Pläne zu schmieden. „Vater und Mutter sollen sie kennen lernen… Und sie soll meinen Kulturkreis miterleben“, erklärte Lyon und in seinen schwarzen Augen erkannte Gray für einen Moment Nervosität. Mehr noch, richtige Angst. Wer konnte es ihm verdenken? Es kam so gut wie nie vor, dass sich ein Sonnenmensch für das Leben eines Eismenschen entschließen konnte. Allein der beschwerliche Weg zum Dorf schreckte viele ab. Und Meredy hatte bereits eine Heimat aufgeben müssen. Es stünde Lyon frei, für immer hier in Crocus oder anderswo in Fiore zu leben, aber Gray wusste nur zu gut, dass Lyon genau wie er selbst nichts anderes als ein Eismensch sein konnte. Sie waren nie indoktriniert worden, ganz im Gegenteil sogar, sie waren immer dazu ermuntert worden, Fiore mit all seinen Facetten kennen und lieben zu lernen. Aber es lag ihnen einfach im Blut, Eismenschen zu sein. Das war ein unumgehbarer Teil ihres Selbst. Für Lyon gab es die Wahl zwischen seiner Heimat und der Frau, die er liebte, nicht. Formal vielleicht, aber das bedeutete nichts. Dem Schwarzhaarigen fehlten die passenden Worte und er senkte den Blick wieder auf die Karte. Gewiss, er hatte ein paar wenige Erfahrungen mit Frauen gemacht, aber er hatte nie auch nur ansatzweise darüber nachgedacht, eine von ihnen mit zu seinen Eltern zu nehmen. Er kannte die tiefen Gefühle seines Bruders also nicht wirklich. Wie könnte er da versuchen, ihn aufzumuntern? „Ich denke darüber schon seit einer ganzen Weile nach“, erklärte Lyon leise und Gray blickte wieder auf. Jetzt war es sein Bruder, der den Blick gesenkt hatte, und auf seinen Lippen lag ein seltsames Lächeln, das eigentlich keines war. „Seit Jellals und Erzas Verlobung…“ Ungläubig starrte Gray den Weißhaarigen an. Seit zweieinhalb Jahren schleppte dieser also schon diese Frage mit sich herum?! „Wieso jetzt?“, fragte der Schwarzhaarige vorsichtig. Unschlüssig zuckte Lyon mit den Schultern. „Ich kann es nicht ewig hinaus zögern. Ich will es endlich wissen.“ Er hob den Blick, die Stirn gefurcht, die Augenbrauen zusammen gezogen. „Was glaubst du?“ Gray verkniff es sich, wieder auf die Karte zu blicken. Sein Bruder hatte besseres verdient als irgendwelche Ausflüchte. „Ich kann sie gut leiden, sie hat mächtig was auf dem Kasten, aber… ich habe keine Ahnung… Ich würde mir für dich wünschen, dass es anders wäre, aber bisher habe ich in ihr nie etwas anderes als einen Sonnenmensch gesehen.“ „Und ich habe in ihr Jahre lang nur die perfekte Frau an meiner Seite gesehen…“, gestand Lyon. Und sie verfielen in ein Schweigen, das auch vom alltäglichen Lärm der Mensa nicht durchbrochen werden konnte. 4 Wochen und 5 Tage vor der Opferung Jedes Mal, wenn Gray die Heimat betrat, fühlte es sich an, als würde er zu sich selbst zurück finden. Zu seinem Ursprung, zur Quelle seiner Existenz, zu den Wurzeln seines Lebens. Das Dorf war alles, war seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft. Und nun stand er hier zwischen den Trümmern der Heimat. Die kleinen, runden Eispilze genannten Behausungen der Eismenschen, gebaut aus Gletschersteinen und mit Eismagie versiegelt, waren zerborsten. Einige vollständig, von anderen standen noch Mauerreste. Ganz in der Nähe stand noch ein Stück der Nordwand eines Eispilzes, daran lehnte ein Regal aus Eisbärenknochen, vollgestopft mit Fellen in unterschiedlichen Bearbeitungsstadien. Die Halle, der Versammlungsort des Dorfes für Anlässe jedweder Art, einstmals ein höher aufragendes Gemäuer aus Gletschersteinen, geschmückt mit Knochen und Fellen, war völlig zerstört, die Überreste pechschwarz. Die flachen Kuppeln der Lager, deren Fundamente mit Magie tief in den vereisten Boden getrieben worden waren, waren aufgerissen worden, ihr wertvoller Inhalt zu einem Großteil bereits vom Getier der Eiswüste geplündert. Hinter sich hörte Gray einen Laut, der ihn an seinen ersten erlegten Eisbären erinnerte. Es war der Laut eines Wesens, das nicht glaubten konnte – nicht glauben wollte –, was geschehen war. Es war ein Laut blanker, zerreißender Verzweiflung, unermesslich, unheilbar, todbringend… Von Panik erfasst wirbelte Gray herum. Sein Bruder kauerte am Boden, der Blick flackernd und von Horror erfüllt. Meredy kniete neben ihm, die Arme um seine Schultern geschlungen. Stumme Tränen rannen über ihre Wangen und in ihren grünen Augen stand der Schmerz grausamer Erinnerungen. Wieder wirbelte Gray herum und stolperte durch die Trümmer der Heimat. Er wollte nach seinen Eltern rufen, wollte sich den Druck von der Seele schreien, der sich immer schmerzhafter in ihm aufbaute. Doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Keinen klaren Gedanken konnte er fassen. Sein Blick zuckte von einem zerstörten Eispilz zu zwei übereinander liegenden, halb zernagten Leichen, die untere klein und schlaksig. Dann der nächste Eispilz – größer als die meisten anderen –: Die Schule des Dorfes. Hier hatte seine Mutter die Kinder von der fünften bis zur fünfzehnten Schmelze unterrichtet. Er hatte darauf bestanden schon während seiner vierten Schmelze in die Schule gehen zu dürfen, weil er nicht hinter Lyon hatte zurückstehen wollen… Leichen und Trümmer. Trümmer und Leichen. Ihm kamen Erinnerungen aus seiner Kindheit in den Sinn. Das gütige Lächeln seiner Mutter. Die Hand seines Vaters auf seiner Schulter. Das riesige Säbelzahntigerfell, unter das er und Lyon sich immer gekuschelt hatten. Die alten Lieder, begleitet von rhythmischem Klatschen und Trommeln. Das raue, tiefe Lachen seines Vaters. Seine erste Jagd. Die Grüße der Eismenschen bei seiner ersten Heimkehr. Die Spiele mit den anderen Kindern: Das Zapfenwachsen, das Steinhüpfen, die Schneeballschlachten. Der klare, reine Gesang seiner Mutter… Gray strauchelte und fiel zu Boden, Nase und Mund in Schnee gepresst, der nicht mehr nach dem Schnee der Heimat roch und schmeckte. Er war besudelt, stank bestialisch nach Tod und Zerfall und Verzweiflung. Doch Gray vermochte es nicht, den Kopf zu heben. Seine Augen brannten vor Tränen, die nicht zu Tage kommen wollten – oder konnten. Gray suchte nach der lindernde Kälte der Heimat, aber er fühlte sich wie im Fieber. Ob nur Minuten oder Stunden oder Tage vergingen, Gray wusste es nicht, aber irgendwann war da die Hand seines Bruders in seinen Haaren. Sie streichelte ihn nicht, tätschelte ihn nicht, nahm ihn nicht in den Schwitzkasten. Sie war einfach nur da. Ein Stückchen Heimat inmitten der Heimatlosigkeit. Wortlos richtete Gray sich auf und saß schließlich neben Lyon im Schnee, vor ihnen die Trümmer des Eispilzes ihrer Eltern. Das Schweigen zwischen ihnen wurde erst von Meredys Schritten unterbrochen – selbst im knirschenden Schnee und mit den für sie noch so ungewohnten Schneeschuhen war sie beinahe lautlos, nicht umsonst war sie eine Assassine der Unsterblichen Kaiserin. Eine Schrittlänge hinter den Fullbuster-Brüdern blieb sie stehen. Geduldig abwartend. Gray schielte zu Lyon und bemerkte, dass dieser es ihm gleich tat. Ein freudloses und doch warmes Lächeln huschte über Lyons Züge, dann stand er auf und bot seinem Bruder die Hand an. Dieser nahm die Hilfe an und ließ sich in die Höhe ziehen. Länger als nötig hielten sie einander fest, ehe sie sich gemeinsam zu Meredy herum drehten. Ihre grünen Augen waren leicht gerötet, doch ansonsten wirkte sie gefasst und bedacht. Sie trug die Bürde der Erfahrung und sie trug sie, ohne darunter einzuknicken. Vielleicht steckte doch etwas von einem Eismenschen in ihr. „Ich habe hundertdreiundachtzig Tote gezählt. Der Anzahl der Behausungen nach haben hier aber etwas dreihundert Eismenschen gelebt.“ „Dreihundertvierzehn waren es bei unserem letzten Besuch“, bestätigte Lyon leise. „Du meinst…“ Meredy nickte knapp. „Ich kenne euch gut genug, Eismenschen fliehen nicht, also besteht die Chance, dass noch einige eurer Stammesbrüder leben könnten. Und ich habe einen Anhaltspunkt, wo wir zuerst nach ihnen suchen können. Das hier habe ich bei einem der Toten gefunden, aber ich gehe stark davon aus, dass es ihm nicht gehört hat.“ Sie zog eine kleine Wappenbrosche hervor. Auf dem silbernen Grund war ein schwarzer Titan mit erhobenen Händen abgebildet, zwischen dessen Händen ein schwarzer Komet nieder ging. Das war tatsächlich nichts, was ein Eismensch besitzen würde. In der Heimat wurden keine Wappen gebraucht. Das waren Sonnenmenschen-Attitüden, für Eismenschen war so etwas nur Ballast. Gray blickte fragend auf, aber Meredy zuckte nur mit den Schultern. „Ich kenne das Wappen nicht. Noch nicht. Sobald wir zurück in Boscun sind, kann ich es herausfinden.“ „Meredy…“, begann Lyon und Gray rechnete damit, dass sein Bruder die Pinkhaarige bitten wollte, nach Crocus zurück zu kehren. Das hier würde eine gefährliche Sache werden. Doch ein Blitzen in Meredys Augen ließ Lyon jäh verstummen. Obwohl er sich noch immer elend fühlte, musste Gray grinsen. „Schneepuppe“, murmelte er und kassierte dafür einen schmerzhaften Rippenstoß. Meredy klatschte in die mit Fäustlingen versehenen Hände, ihre Miene ernst und unsicher. „Wir müssen zuerst die Toten würdevoll bestatten, danach sollten wir uns gleich auf den Weg machen.“ Sofort war der Anflug von Humor wieder verflogen, aber Gray war dennoch dankbar für Meredys Anweisung. Sie verstand die Situation der Brüder und das vielleicht sogar besser, als diese es selbst taten. Sie warf ihnen in diesem Sumpf aus Schmerz, in dem sie noch steckten, ein rettendes Seil zu. Das würde Gray ihr niemals vergessen. Soweit es ihn betraf, war sie bereits ein Eismensch und seine Schwester! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)