Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 7: Der Abend, an dem sie eine Spur fanden ------------------------------------------------- 4 Wochen vor der Opferung Die Taverne Zum wandernden Eis war die größte von Boscun und sie war an diesem regnerischen, kalten Nordsommerabend brechend voll. Überall grölten betrunkene Männer und hier und da kam es zu Prügeleien, bei welchen der schmähbäuchige, knollennasige Wirt mit seinen beeindruckend muskulösen Armen sofort einschritt und alle Beteiligten ohne viel Federlesen vor die Tür setzte. Ein paar Kinder rannten zwischen den Tischen oder balgten sich mit den Wirtshunden vor dem knisternden Kaminfeuer. Leicht bekleidete Frauen suchten an den Tischen nach gewogenen Kunden, ein Spielmann ließ seine Fidel grauenhaft quietschen und wurde nur deshalb nicht rausgeworfen, weil neben ihm ein furchteinflößender Wolfshund stand, und am größten Tisch nahe dem Kaminfeuer fand ein offenbar hoch dotiertes Kartenturnier statt, das immer mehr Zuschauer anlockte. Lyon bekam von all dem kaum etwas mit. Er saß seinem Bruder in einer halb vom Tresen versteckten Nische gegenüber und starrte finster in seinen Bierkrug. Mit seinen Gedanken war er immer noch auf der anderen Seite des Spaltengletschers. In der Heimat, welche bis auf die Grundmauern zerstört worden war. Am Grab seiner Mutter. Sie hatten Mika Fullbuster in den Trümmern der Schule gefunden, um sie herum ein halbes Dutzend Kinderleichen. Jetzt ruhte sie wie alle anderen Eismenschen, die sie gefunden hatten, in einem Eissarkophag, der sie bewahren sollte, bis die Überlebenden zurückkehren und ihre Angehörigen nach alter Sitte bestatten konnten. Lyon hoffte, dass das irgendwann möglich war. Allein der Gedanke an die Überlebenden – zu welchen hoffentlich auch sein Vater zählte – hielt ihn und Gray im Moment aufrecht. Das und Meredys Beistand… „Darf es für die stattlichen Krieger noch etwas sein?“, erklang neben ihrem Tisch ein Flöten. Ein dralles Schankmädchen, kaum siebzehn oder achtzehn Schmelzen alt, das kokett den Kopf schräg gelegt hatte und Lyon mit einem Lächeln fixierte, über dessen Gesinnung kaum ein Zweifel bestand. Der Weißhaarige schob ihr wortlos seinen leeren Humpen hin. Das Lächeln bröckelte und das Mädchen schnappte sich die Krüge, um sie auffüllen zu gehen. „Dass du tatsächlich mal deinen Charme verlieren kannst“, murmelte Gray, aber er klang gar nicht nach seinem üblichen spöttischen Selbst. Lyon versuchte sich an einem Grinsen, aber es fühlte sich verkrampft an, als hätten seine Gesichtsmuskeln die einfache Geste völlig verlernt. „Immerhin hatte ich mal Charme.“ Sein Bruder quittierte das Bemühen mit einer Grimasse, aber er blieb stumm. Das Mädchen kehrte zurück und stellte die vollen Humpen auf den Tisch. Lyon zählte ihr den Preis für das Bier und drei Jewel Trinkgeld in die Hand und griff dann nach seinem Bierkrug. Aus dem Augenwinkel sah er, wie das Mädchen eine Flunschmiene zog, ehe es sich das Trinkgeld in den Ausschnitt schob und dann provokant mit den Hüften schwingend davon stolzierte. In der Mitte des Raums wäre es beinahe mit einem Gast zusammen gestoßen. Sie fauchte etwas, erhielt eine Antwort und lief dann puterrot an. Der Gast schlängelte sich mit tänzerischer Gewandtheit durch den Schankraum auf den Tisch der Fullbuster-Brüder zu. Erst jetzt erkannte Lyon den dicken, pinken Zopf, der über die rechte Schulter fiel, und er richtete sich auf seinem Stuhl auf. Mit wenigen Schritten war Meredy bei ihnen am Tisch und ließ sich auf den Stuhl zwischen ihnen nieder, ehe sie sich die Kapuze zurückschlug. Ihre Kleidung war durchnässt, aber ihr war nicht anzusehen, ob sie fror. Dennoch hätte Lyon sie gerne zu sich gezogen. Alles erschien ihm leichter zu ertragen, wenn er sie an seiner Seite hatte. Außerdem war sie schon seit Stunden unterwegs. Er hatte sich bereits Sorgen gemacht – dabei war ihm bewusst, dass das albern war, wo sie doch eine voll ausgebildete und sehr erfahrene Assassine war. „Ich musste eine Weile suchen, aber ich weiß jetzt, wem das Wappen mit dem Riesen gehört“, erklärte sie und gönnte sich auf Lyons Einladung hin einen Schluck aus seinem Humpen. „Eine magiefeindliche Sekte namens Avatar. Es gibt sie erst seit etwa zwei Generationen und sie sind nicht besonders zahlreich, geschweige denn vermögend oder einflussreich. Anscheinend werden sie eher als Kuriosität gehandelt, ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass Jellal und Urtear sie jemals in ihren Sicherheitsberichten erwähnt hätten.“ „Aber was soll das?“, mischte sich Gray ungeduldig ein. „Magiefeindlich schön und gut, aber wieso ausgerechnet die Eismenschen? Das muss für diese Sonnenmenschen ein irrsinniger Aufwand gewesen sein. Da hätten sie genauso gut den Turm der Ewigkeit angreifen können.“ „Ich weiß es nicht“, gab Meredy gelassen zu und nahm noch einen Schluck Bier. „Aber wir werden es heraus finden. Die Heimatbasis von Avatar ist in Malba. Ich habe uns bereits Reitkatzen organisiert. In etwas mehr als drei Wochen können wir in Malba sein, aber wir müssen noch heute Nacht aufbrechen.“ Lyon runzelte die Stirn. „Bist du nicht verpflichtet, Ihrer Majestät zu berichten, was im Dorf geschehen ist?“ „Ich war nicht auf Mission, also bin ich zu gar nichts verpflichtet“, erklärte Meredy resolut. „Und wir sollten hierüber mit niemandem reden. Wenn die Urheber erfahren, dass man schon von ihrer Tat weiß und auf der Suche nach ihnen ist…“ „Fangen sie an, die Geiseln zu töten“, murmelte Gray dumpf. Lyon presste die Lippen zusammen. Er konnte gar nicht sagen, wie dankbar er seiner Freundin für alles war, aber der Gedanke, sie mit in die Gefahr hinein zu ziehen, bereitete ihm Bauchschmerzen. Wie sollte er damit leben, wenn ihr etwas geschah? Ein Finger drückte sein Kinn nach oben und er wurde gezwungen in die grünsten Augen der Welt zu blicken, die ihn jetzt streng musterten. „Ich scheue die Gefahr nicht, Lyon.“ „Das habe ich nie auch nur gedacht“, erwiderte er matt. „Aber…“ „Lyon… wie kämpfen Eismenschen?“, mischte Gray sich ein, was für ihn sehr ungewöhnlich war. Normalerweise hielt er sich von jeder Situation fern, in welcher er auf einmal als Vermittler zwischen Partnern landen könnte. Verwirrt sah Lyon zu seinem Bruder, bis er endlich verstand. Er musterte seine Freundin, dann schenkte er Gray ein dankbares Lächeln. „Rücken an Rücken“, antwortete er und streckte seine Faust nach vorn. „Ihr habt meinen Rücken.“ Gray hielt seine Faust dagegen. „Ihr habt meinen Rücken“, sagte auch er. Meredy verstand und hielt ihre Faust seitlich gegen die anderen beiden, ehe sie die Worte wiederholte. Für die meisten Sonnenmenschen mochte das nichts weiter bedeuten, aber für Eismenschen war das einer der wichtigsten Schwüre überhaupt. Einander den Rücken zu „geben“, bedeutete, einander bedingungslos zu vertrauen. Wenn Meredy mit ihnen Rücken an Rücken kämpfte, dann würden Gray und Lyon ihr immer Deckung geben. Mit einem grimmigen Grinsen griff Gray nach seinem Bierkrug und leerte ihn in einem Zug, ehe er den Krug zurück auf den Tisch knallen ließ. „Also dann, auf nach Malba!“ Schwungvoll stand Meredy auf und führte die Brüder aus der Taverne und durch das nächtliche Boscun zur Post. Neben dem kleinen Fachwerkhaus befanden sich die Kutschhalle, der Pferdestall und schließlich die Katzenhöhle. Eben diese umrundete Meredy. Am Hintereingang standen drei prächtige Reitkatzen, eine sandfarben, zwei getigert, alle so groß wie Ponys mit muskulösen Beinen und wuchtigen Köpfen, aus deren Mäulern beeindruckend lange Reißzähne ragten. Alle Drei waren bereits gesattelt. Gray pfiff durch die Zähne. „Es hat schon was für sich, mit einer Assassine zu reisen“, meinte er und trat dann zu einer der getigerten Reitkatzen, um die Ausrüstung an den dafür vorgesehenen Sattelschlaufen zu befestigen. Lyon musste seinem Bruder zustimmen. Weil Reitkatzen so selten und so schwierig in der Zucht waren, waren in jeder Stadt nur wenige von ihnen stationiert und durften nur von Trägern einer Kaiserlichen Rolle und von Assassinen geritten werden. Meredy musste ihre Kontakte angezapft haben, damit sie drei Reitkatzen bekamen. Mit ihrer Hilfe würden sie beinahe doppelt so schnell wie zu Pferd nach Malba kommen. Schneller wäre nur Fliegen, aber so nahe am Spaltengletscher waren ohnehin keine Lindwurmreiter stationiert. Ganz zu schweigen davon, dass das Reiten dieser Drachenartigen nur Soldaten der Lindwurm-Schwadron gestattet war. Als Meredy es Gray gleich tun wollte, ergriff Lyon ihre Hand und zog sie in seine Arme. Er konnte die Verwirrung in ihren Augen erkennen, aber sie schmiegte sich dennoch sofort an ihn und ließ auch zu, dass er ihr die Lippen auflegte. Er schob eine Hand in ihren Nacken und bewegte seine Lippen härter gegen ihre. Als sie sich einen Spalt breit öffneten, nahm er die Einladung sofort an. Ihr Seufzen brachte sein Herz zum Rasen und er schlang beide Arme um ihre Taille, um sie noch enger an sich zu ziehen. Diese Berührungen waren wie Balsam für sein angstgepeinigtes, trauerndes Herz. Er hatte sich so sehr gewünscht, Meredy seinen Eltern vorzustellen, ihr seine Kultur näher zu bringen. Alles in der sehnlichen Hoffnung, sie möge bereit sein, ein Teil dieser Kultur zu werden. Im Moment waren diese Gedanken weit in den Hintergrund gerückt. Alles, was er sich jetzt von Meredy wünschte, war ihr Beistand. Als ihnen die Luft ausging, löste er den Kuss, aber hielt Meredy weiterhin fest. Auf ihre Wangen hatte sich ein Rotschimmer geschlichen, aber sie lächelte sanft. Lyon drückte einen Kuss auf ihre Stirn und vergrub das Gesicht in ihren pinken Haaren. „Du hast meinen Rücken“, wisperte er heiser. „Und du meinen“, erwiderte sie leise und hielt ihn fest, bis er endlich bereit war, sich wieder von ihr zu lösen. Gray stand geduldig neben seiner Reitkatze und kraulte diese hinter dem linken Ohr, was sie mit einem lauten Schnurren beantwortete. Die Szene eben ließ er vollkommen unkommentiert. Dabei hätte er früher so einige Sprüche dafür übrig gehabt. Unwillkürlich fragte Lyon sich, wie viel von seinem kleinen Bruder im Eissarkophag ihrer Mutter zurück geblieben war. Und wenn er ehrlich war, fürchtete er sich vor der Antwort. 2 Wochen vor der Opferung Der Geruch von Blut benebelte Wendys Sinne. Selbst das Tuch, das Mest ihr über Mund und Nase gebunden hatte, half da nichts. Ihre Knie drohten bei jedem Schritt einzuknicken. Dabei machte Blut ihr wirklich nichts aus. Sie war nicht nur eine Heilerin, sondern auch eine Ärztin und als solche hatte sie oft genug mit Blut zu tun. Professorin Porlyusica hatte sich während Wendys Sonderausbildung in Crocus nicht geziert, ihre Schülerin mit in die blutigsten Operationen zu nehmen. Insgesamt hatte Wendy sich also für abgehärtet gehalten. Aber Mest hatte ihr und Romeo bereits erklärt, dass es keine Vorbereitung dafür gab, wenn man das erste Mal ein Schlachtfeld betrat. Wieder einmal hatte er Recht behalten… Sie stand am Rande einer Brutkolonie. Versteckt in einer Felsspalte in einem abgelegenen, dicht bewaldeten Tal, mussten hier einmal fünf Nester gewesen sein. Die von den Elterntieren heran geschleppten Moosbrocken zur Polsterung der kostbaren Eier und die hellgrauen, schwarz gefleckten Eierschalen waren noch nestweise zu erkennen, wenn sie auch stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren. In den Nestern und ihrem Umfeld waren die Kadaver von insgesamt einem Dutzend Schlüpflingen zu erkennen, zerrissen, zerquetscht, teilweise sogar aufgefressen. Der Anblick der nicht einmal halbmeterlangen Geschöpfe, von denen doch jedes einzelne für den Erhalt der Tatzelwürmer unabdingbar war, brach Wendy das Herz, was ihr Schwindelgefühl noch verstärkte. Die junge Heilerin konnte wirklich nicht mehr tun, als am Eingang der Kolonie zu stehen und sich an der Felswand festzuhalten, während Mest und Romeo die Spuren untersuchten. Romeo wirkte fahrig und sein Gesicht war bleich, während er krampfhaft zu Boden starrte, um alle Spuren zu deuten. Er war von Mest durch ein mörderisches Training getrieben worden, aber Wendy sah ihm an, dass er sich kaum auf seine Aufgabe konzentrieren konnte. Wahrscheinlich musste er genau wie sie daran denken, wie sie einmal eine kleinere Brutkolonie kurz nach der Schlupfzeit beobachtet hatten. Das hier waren Babys gewesen, unschuldige, unendlich wertvolle Wesen. Gemeuchelt von ihresgleichen… Mest stand auf und winkte Romeo, ihm zu folgen. Die ersten Schritte des jungen Kriegers waren wackelig, ehe er zu seinem Lehrer aufschloss. Behutsam ergriff Mest Wendys Arm und stützte sie auf dem Weg durch den Felsspalt und zurück in den Wald. Wendy bemerkte voller Dankbarkeit, wie der Geruch nachließ, und schließlich wagte sie es, das Tuch von ihrer Nase zu ziehen. Erleichtert atmete sie klare Luft ein, geschwängert mit dem Aroma von Kiefern und Tannen. Auf einer großen Lichtung stoppte Mest und holte einen kleinen Tiegel aus einer Gürteltasche. Er zog den Pfropfen und ließ die Jüngeren daran riechen. Der belebende Duft von Thymian prickelte in Wendys Nase und ihre Glieder entspannten sich endlich. Auf Romeo schien die Geruchsessenz einen ganz ähnlichen Effekt zu haben. „Beschreibt, was euch aufgefallen ist“, forderte Mest und verschloss den Tiegel wieder sorgfältig, ehe er ihn zurück in die Gürteltasche steckte. Wendy tauschte einen Blick mit ihrem Freund. Als er ihr zunickte, ergriff sie zuerst das Wort: „Das waren keine Wunden, die ein hier heimisches Raubtier reißen könnte. Und ich glaube nicht, dass mir der Geruch eines Bären oder so entgangen wäre.“ Mest nickte bekräftigend und Romeo fuhr fort: „Es war kein Jagd- oder Revierkampf. Die Leichen lagen alle sehr nahe beieinander und einander zugewandt. Ich habe auch nur die Spuren von Tatzelwürmern und von Aasfressern gesehen.“ „Was für Aasfresser?“, hakte Mest nach. „Ein Fuchs, zwei Dachse, vier Steinmarder, zwei Borsten- oder Kolkraben, mehrere Alpendohlen und mindestens zwei Bartgeier.“ „Drei“, bestätigte Mest und Wendy musste lächeln. Ihr Bruder prüfte Romeo unablässig, aber Romeo war das seit Jahren gewohnt. Sein Vater hatte häufiger Zweifel angemeldet, sogar im Rat war mehrmals debattiert worden, ob Mests harte Gangart gerechtfertigt war. Romeo hatte sich allerdings immer für die Methoden seines Lehrers ausgesprochen und Wendy hatte den Beiden vertraut und abgesehen vom Kampftraining war sie auch durch Mests harte Schule gegangen. Letztendlich war sie dankbar darum. Es hatte sie eindeutig weiter gebracht. „Sie haben also einander angegriffen“, schlussfolgerte Mest. „Zusammen mit eurem Vorfall und den anderen Funden ist das Grund genug, um von einem allgemeinen Problem unter den Tatzelwürmern auszugehen.“ Wendy presste die Lippen aufeinander. Nach dem Angriff des Tatzelwurms vor zwei Wochen waren sie und Romeo auf Grandines Rücken nach Cait Shelter zurückgekehrt und hatten dem Rat davon berichtet. Nach reiflicher Überlegung hatte man sich dort unter anderem dafür entschieden, mehrere Gruppen in die Berge zu schicken, um herauszufinden, ob sich in den bekannten Tatzelwurmgebieten ähnliche Dinge ereignet hatten. Mit Charle und Gogotora für die Luftaufklärung und Gruppenkoordination waren fünf Drei-Mann-Teams ausgesandt worden. Mest, Wendy und Romeo waren seitdem zehn Tage lang unterwegs und hatten einen toten Steinbock, drei tote Gämse und sogar einen toten Braunbären gefunden, den Spuren nach alle von Tatzelwürmern erlegt – obwohl massakriert wohl das bessere Wort war. „Das kann keine normale Magie gewesen sein“, überlegte Mest laut. „Vielleicht ist es etwas Physiologisches, aber die Kadaver waren zu alt, um eine Autopsie durchführen zu können, und ich möchte ungern einen Tatzelwurm nur dafür töten.“ „Wenn wir zurück sind, wird Laki sicher alle in Frage kommenden Bücher gewälzt haben. Vielleicht hat sie einen Anhaltspunkt gefunden. Und wenn nicht, können wir nach Crocus und Le-“ Romeo unterbrach sich sofort, als Wendy zusammen zuckte. Er und Mest blickten sie angespannt an, Romeo mit Pfeil und Bogen in den Händen, Mest mit halb gezogenem Kurzschwert. „Ich höre Tatzelwürmer“, erklärte die Heilerin leise und drehte sich, um die Schallwellen besser aufnehmen zu können. „Fünf aus Norden… und drei aus Nordosten“, fügte sie hinzu, als sie noch mehr der Drachenartigen hörte. Langsam drehte sie sich weiter. Sie wurde bleich. „Sie kommen aus allen Richtungen.“ „Ruf’ Grandine“, sagte Mest und schob sein Schwert zurück in die Scheide. Romeo steckte Pfeil und Bogen in den Köcher und ergriff Wendys Hand, um sie zu führen, während sie sich auf ihre Verbindung zu Grandine konzentrierte, dem Winddrachen, der sie vor zwölf Jahren als ihre neue Reiterin ausgewählt hatte. Die Drachendame reagierte sofort und umfing Wendys Geist mit Wärme, die jedoch von Sorge durchzogen war, sogar von einer Spur von Angst. Du musst uns hier raus holen, flehte Wendy. Ich bin ganz in der Nähe, versprach Grandine sanft. Wendy löste sich aus der Verbindung, um sich darauf zu konzentrieren, hinter Romeo eine Geröllhalde zu erklimmen. Sie erreichten einen kargeren Waldabschnitt und hasteten an krummen Kiefern vorbei immer weiter hinauf. Romeo warf im Laufen einen Blick über seine Schulter. „Wie nahe sind sie?“ „Nur dreihundert Schritte“, antwortete Wendy. „Grandine ist gleich am Abhang.“ Wie auf Kommando flog ein riesiger Schatten über sie hinweg. Die drei Menschen beschleunigten und ließen die letzten Ausläufer dessen, was man tatsächlich noch als Wald bezeichnen konnte, hinter sich. Nicht weit entfernt lag der Abhang, eine der besten Stellen, um wenigstens einen Teil des Gebirges von Cait Shelter zu überblicken. Dort landete Grandine und legte die Flügel an, um auf die Menschen zu warten. Die Drachendame war strahlend weiß mit einem weich erscheinenden, zackenfreien Körper. Ihre tiefblauen Augen spähten den Menschen mit äußerster Konzentration entgegen und ihre Nüstern bebten. „Beeilt euch!“ Hinter sich hörten sie das Schleifen der wuchtigen Tatzelwürmer. Schwer atmend überwanden sie mit einem kräftezehrenden Sprint den letzten Abstand und kletterten schließlich auf Grandines Rücken. Am Fuß des Abhangs – und somit nur noch hundert Schritte hinter ihnen – erkannte Wendy die Tatzelwürmer, sicher ein Dutzend. Sie trugen teilweise klaffende Wunden und ihre entblößten Zähne blitzten im Sonnenlicht. Und in der Ferne konnte sie das Trampeln weiterer Tatzelwürmer hören. „Was haben sie vor?“, fragte Mest, der vor Wendy saß. „Ich bin mir nicht sicher. So haben sie sich in all den Jahren, die ich in den Hohen Bergen verbracht habe, nie verhalten. Vielleicht reagieren sie auf Wendys Drachenmagie.“ „Aber wieso jetzt? Wendy und ich sind früher auch schon auf Tatzelwürmer gestoßen und sie haben sie immer gemocht“, wandte Romeo ein und seine Arme schlossen sich schützend um Wendys Taille. Dankbar legte sie ihre Hände auf seine. „Es muss einen Auslöser von außen gegeben haben“, mutmaßte Mest. Seine Schultern waren angespannt und seine Stimme knirschte. „Könnte das eine Spätfolge der Edolas-Seuche sein?“ Wendys Herz zog sich zusammen. Im Unterricht von Meister Roubaul hatte sie gelernt, was während des Extalia-Kriegs vorgefallen war, aber durch Grandine und Mest hatte sie erst so richtig begriffen, welche Narben dieser Krieg auch bei einzelnen Individuen hinterlassen hatte. Grandine und ihre frühere Reiterin Ralja waren während des Kriegs im Einsatz gewesen. Sie hatten Opfer der katastrophalen Seuchenmagie bergen und retten wollen, aber letztendlich war Ralja von einem panischen Mob zu Tode getrampelt worden. Das war ein schmerzlicher Verlust für den Winddrachen und auch für den Rat von Cait Shelter gewesen, insbesondere für Meister Roubaul, der Wendy auf seinem Sterbebett gestanden hatte, dass diese Reiterin seine Enkelin und letzte Verwandte gewesen war und dass er sich deshalb so vehement für Wendys Kampftraining ausgesprochen hatte. Was genau Mest in den vier Jahren des Krieges durchgemacht hatte, wusste Wendy bis heute nicht, aber es verfolgte ihn auch nach zwölf Jahren noch immer wieder bis in seine Träume hinein. Wendy wollte sich nicht ausmalen, was ihr Bruder während der Aufklärungsmission nach Ende des Kriegs im zerrütteten Edolas alles gesehen hatte. „Ich weiß es nicht, so eine scheußliche Magie wurde nie zuvor angewendet“, erklärte Grandine und Wendy spürte die Steifheit ihrer Partnerin, als diese die langen Flügel ausbreitete. Anstatt sofort abzuheben, schlug der Winddrache einmal kräftig mit den Flügeln und entfachte damit einen magischen Windimpuls, der sich in alle Richtungen ausbreitete und gezielt nur die Tatzelwürmer erfasste. Die Drachenartigen wurden mehrere Meter zurückgestoßen. Bei den Exemplaren am Fuß des Abhangs konnte Wendy beobachten, wie sie verwirrt die Köpfe schüttelten, die Wülste wieder über die scharfen Zähne stülpten und dann torkelnd davon krochen. „Was auch immer es ist, es ist noch nicht so stark wie ein Drache“, stellte Grandine erleichtert fest und stieß sich kraftvoll vom Boden ab. Ihr mächtiger Körper erhob sich mit wenigen kräftigen Flügelschlägen in die Lüfte, dann richteten sich die Flügel präzise nach dem Wind aus. „Vielleicht hat Laki eine Erklärung gefunden und wenn nicht, reisen wir nach Crocus“, schlug Romeo noch einmal vor. „Ihr solltet Charle oder Gogotora nach Crocus schicken“, widersprach Grandine sanft, aber entschieden. „Ich möchte euch mit nach Magnolia nehmen. Es wird Zeit für ein Treffen mit den anderen Drachen und ihren Reitern. Ich fürchte, wir werden hier ihre Hilfe brauchen.“ 2 Wochen vor der Opferung Das Miasma des Windes war weiß und grau und blau, ein ewig wechselnder Wirbel. Mal sanft wie eine Brise, mal wuchtig wie ein Orkan. Wann immer irgendwo Windenergie angewendet wurde, wurde das Miasma dunkler und hektischer. Eine starke, dunkle Böe wirbelte durch das Miasma. Irgendwo hatte ein sehr mächtiger Windmagier von seiner Begabung Gebrauch gemacht – und nun war es Chelias Aufgabe, die Verunreinigung des Miasmas zu beheben. Behutsam kanalisierte Chelia die stetigen Miasma-Ströme mit ihrer eigenen Magie, führte sie durch ihren Körper und filterte sie dort. Als sie das Miasma wieder entließ, war es rein und ruhig und wunderschön. Zufrieden schwelgte Chelia in diesem Anblick. Eine Hand auf ihrer Schulter löste sie behutsam aus der erweiterten Bewusstseinsebene. Blinzelnd fand sie sich im Raum der Reinigung wieder, kreisrund und aus schwarzgeädertem, weißem Marmor gefertigt. Das einzige Mobiliar stellten sieben niedrige Meditationssessel dar. In einem davon saß Chelia. Die junge Frau mit den pinken Haaren hob den Blick zu einem Mann, der dem Anschein nach höchstens zehn Jahre älter als sie war. Er hatte struppige, blonde Haare und gebräunte Haut, war sehnig-muskulös und hochgewachsen. Doch seine Augen waren uralt. Ein Mahlstrom aus Gefühlen und Erfahrungen. Beängstigend und doch gleichzeitig beruhigend. Jetzt blickte er ernst auf Chelia hinab. „Du solltest das Miasma nicht zu oft kanalisieren. So schnell gerät es nicht aus dem Gleichgewicht. Es schadet deinem Körper und deinem Geist, wenn sie immer wieder den Urgewalten ausgesetzt werden.“ Diese Warnung hatte Chelia schon mehrmals gehört, seit sie vor drei Jahren zur Wächterin des Windes ernannt worden war, aber manchmal fiel es ihr schwer, dies zu beherzigen. Manchmal wurde die Sehnsucht nach ihrem alten Leben unerträglich stark und dann blieb ihr nur, sich der Wichtigkeit ihrer Aufgabe wieder bewusst zu werden: Die Reinigung des Miasmas, das durch die Benutzung von Magie ins Ungleichgewicht geriet. Vor der Entdeckung dieser Kausalität durch die Unsterbliche Kaiserin hatte es viele Naturkatastrophen gegeben und über Jahrhunderte hinweg waren die Drachen Ishgar ferngeblieben. Erst vor zweihundert Jahren waren sie zurückgekehrt und hatten mit der Herrscherin Fiores ein Bündnis geschlossen. Diesen Aspekt der Geschichte lernte man nicht an Schulen oder wenigstens an der Universität. Die Aufgabe der Wächter im Turm der Ewigkeit war ein wohl gehütetes Geheimnis. Chelia hatte nicht einmal ihrer Cousine Sherry oder ihren besten Freunden Romeo und Wendy davon erzählen dürfen. Dabei waren alle Drei absolut vertrauenswürdig. „Meister Yuri, wieso nehmt Ihr keinen Schaden?“ Der Wächter des Blitzes lächelte wehmütig. „Ich bin vor langer Zeit geheilt worden. Also mein Geist zumindest. Und mein Körper kann keinen Schaden nehmen.“ „Weil Ihr unsterblich seid?“ Chelia und Yuri hoben den Blick, als der Wächter des Feuers in den Raum der Reinigung trat. Er war ein schlanker, hochgewachsener Mann in den Endzwanzigern. Seine Haare waren weiß und schwarz und zu einem hohen Zopf gebunden und von Wange zu Wange war über den Nasenrücken ein beidseits unterbrochener, schwarzer Strich tätowiert worden, eine Anspielung auf eine boscanische Tradition, soweit Chelia es wusste. Seine dunklen Augen musterten Yuri scharf, aber nicht feindselig. „Wie kommst du darauf, Totomaru?“ Yuris Ton wirkte gleichmütig, aber Chelia konnte mit ihrem feinen Gehör seinen härteren Herzschlag wahrnehmen. Totomaru grinste spöttisch. „Meister Yuri, ich bin schon seit acht Jahren hier und Ihr seid seitdem um keinen Tag gealtert. Und Ihre Kaiserliche Majestät nennt euch alter Freund. Seid Ihr auch vor dreihundert Jahren unsterblich geworden?“ „Du bist sehr aufmerksam, Totomaru“, lobte Yuri. „Aber auch sehr direkt. Ur hat mich nie darauf angesprochen.“ „Man kann nicht ewig um den Drachen herum reden. Davon verschwindet er nicht“, erwiderte der Feuermagier lässig. Der Blitzmagier gluckste. „Ich wusste gleich, dass du eine gute Wahl bist. Du und Chelia bringt hier Schwung rein.“ „Also seid Ihr wirklich unsterblich?“, mischte Chelia sich ein. „Und Ihr seid schon seit dreihundert Jahren ein Wächter?“ „Die Wächter gibt es erst seit zweihundertfünfzig Jahren, aber ja, Warrod und ich sind Gründungsmitglieder.“ Chelia erschauderte. Sie war von der Wichtigkeit ihrer Berufung voll und ganz überzeugt und sie wusste, dass es Totomaru und Ur genauso ging, aber sie wüsste nicht, ob sie es ertragen könnte, diese Bürde für die Ewigkeit zu schultern. Der Blitzmagier blickte lächelnd von Chelia zu Totomaru und wieder zurück. „Ich kann mir vorstellen, was ihr denkt. Ja, es ist hart, aber ich habe einen Grund gefunden, um damit so lange weiter zu machen, wie es eben nötig ist. Und die Meister vom Großen Baum suchen nach einer Lösung zur Stabilisierung des Miasmas, die den Einsatz von Wächtern nicht mehr notwendig macht. Bis dahin versuche ich, auf euch sterbliche Wächter aufzupassen.“ „Wie ein Vater“, stellte Chelia lächelnd fest, aber sie bemerkte sofort, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Yuris Herzschlag stoppte abrupt, ehe er schmerzhaft raste. Die Miene des Mannes zuckte minimal, ehe er sich wieder im Griff hatte. Unsicher sah Chelia zu Totomaru, der so aussah, als wäre ihm ebenfalls etwas aufgefallen, jedoch nichts sagte. Er fing nur ihren Blick auf und hob einmal die Schultern. „Ja, wie ein Vater“, sagte Yuri und zerzauste Chelias Haare. „Also seid artig und hört auf mich.“ Grinsend ging er zu Totomaru und zauste auch dessen Haare, ehe er den Raum der Reinigung unbeschwert pfeifend verließ. Unwillig strich Totomaru seine Ponypartie wieder glatt und blickte seinem Wächterkollegen hinterher, ehe er zu Chelia sah. „Denk’ nicht so viel darüber nach. Hier hat jeder sein eigenes Päckchen zu tragen und Meister Yuri kriegt das noch am besten hin.“ Nachdenklich nickte Chelia und erhob sich von ihrem Meditationssessel, um sich zu dem Feuermagier zu gesellen. Während sie gemeinsam die Treppen hinab zum Speisesaal gingen, fragte sie sich, welches Päckchen wohl Totomaru zu tragen hatte. Und welches wohl ihr eigenes war… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)