Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 10: Der Tag, an dem sie das erste Mal auf Reisen ging ------------------------------------------------------------- 3 Wochen vor der Opferung „Malba! Fahrgäste nach Malba!“ Das Gebrüll des grobschlächtigen Kutschers ließ Levy zusammen zucken. Sie stand direkt unter dem Messingschild mit der klaren Aufschrift Malba, sie hätte nicht erwartet, dass es eines zusätzlichen Hinweises bedurft hätte – doch dann fiel ihr voller Verlegenheit ein, dass auch nach den Bildungsreformen der Unsterblichen Kaiserin keineswegs jedermann lesen konnte. Sie wuchtete ihren schweren Reisetornister, den sie sich extra gekauft hatte, in die Höhe und schleppte ihn mit zum Kutscher, um diesem die Fahrkarte zu zeigen, die sie im Postamt gekauft hatte. Der bullige Mann musterte sie und ihr Ticket sehr eindringlich, ehe er seinen Kautabak ausspuckte. Levy versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie davon angeekelt war. „Ne Magistra, hä?“ Die Blauhaarige nickte wortlos, obwohl sie sich insgeheim ärgerte. So wie er es aussprach, klang es beinahe demütigend. Lucy hätte den Mann an Levys Stelle bereits ordentlich zusammen gestaucht, bis er sich ohne Erlaubnis nicht einmal mehr getraut hätte, auch nur einen Piep von sich zu geben. Und Gray hätte dem Mann wahrscheinlich einen Satz warme Ohren verpasst, an die er sich auch in zehn Jahren noch erinnert hätte. Levy jedoch schluckte allen Ärger herunter und gab auf Geheiß des Kutschers seinem Gehilfen ihr Gepäck, ehe sie nur mit einer Umhängetasche mit dem Nötigsten in die Postkutsche stieg. Sie rutschte auf den Fensterplatz in Fahrtrichtung und wartete angespannt, während in die Truhe der Kutsche die Briefe und Pakete und auf das Dach das Gepäck der Reisegäste geladen wurden. Sieben weitere Personen stiegen nach und nach ein. Eine vierköpfige Familie, der Kleidung nach Angehörige der Tuchhändlergilde, mit Kindern von vielleicht sieben und vier Jahren. Ein steinalter Geldverleiher oder Notar, der immer wieder ungeduldig nach draußen sah und Levy dabei den Ellenbogen in die Rippen stieß. Und zwei Gesellen, bei denen sich der Kutscher über die Hobelspäne auf ihrer Kleidung beschwert hatte. Vielleicht waren sie auf ihrer Gesellenreise. Levy hatte mal gelesen, dass Malba dabei als erste Reiseetappe sehr beliebt war, weil die Stadt ein wichtiger Handelsknotenpunkt für die Holzarbeiten aus Magnolia war. Levy nickte allen Mitreisenden höflich zu – obwohl diese Geste kaum erwidert wurde –, ehe sie ihren Blick wieder aus dem Fenster richtete. Nach einer Ewigkeit wurde die Kutschentür unnötig laut zugeschlagen und der Kutscher ließ seine Peitsche knallen. Das Gefährt rollte an. Mehrmals erklangen bösartige Warnungen, man solle nicht im Weg herum stehen. Dann veränderte sich der Untergrund: Aus fest gestampfter Erde wurde das Kopfsteinpflaster der Pergamentstraße, die südlich aus dem Stadtkern von Crocus und durch das Seidentor hindurch aus der Stadt heraus hinaus führte. Der Alte murrte über die wackelige Fahrt und das Elternpaar zankte sich über die Mutter des Mannes, während die Söhne sich beide auf den Fensterplatz drängten, um die vorbeiziehenden Straßen betrachten zu können. Levy versuchte, all das auszublenden und sich auf ihr bevorstehendes Ziel zu konzentrieren. Fast eine Woche lang hatte sie mit sich gehadert, ob sie wirklich dieser dubiosen Spur nachgehen sollte. Sie hatte weiter in der Bibliothek recherchiert. Über Malba, über magische Experimente, über den Schwarzen Kometen, über Avatar und über Magiefeindlichkeit in Fiore. Letzteres hatte ihr schwer zugesetzt. Sie hatte immer gedacht, einen guten Überblick über die Geschehnisse in Fiore zu haben, aber dass es schon seit Jahrhunderten immer wieder magiefeindliche Bewegungen gegeben hatte, war irgendwie immer an ihr vorbei gezogen. Die Verfolgungen der Geister begründeten sich teilweise darauf, genau wie die Golem-Kriege, die Werwolfhetzen und die Jagden auf Drachenartige. Selbst gegenüber Menschen hatte die Magiefeindlichkeit immer wieder verstörende Ausmaße angenommen. Magiebegabte Kinder waren in Flüsse geworfen oder in Kerker gesperrt worden. Magierschulen waren bis auf die Grundfesten nieder gebrannt worden. Seit dem Fanal vor über fünfhundert Jahren, als es zu einem unerklärbaren magischen Vorfall gekommen war, der für ein Jahrzehnt Naturkatastrophen und Massensterben über Ishgar gebracht und über eine lange Zeit hinweg die Drachen von diesem Kontinent ferngehalten hatte, hatten Magier sich verstecken oder in friedlicher gesinnte Regionen fliehen müssen. Das alles fiel in die Zeit der Kriegswirren, als die vielen Fürstentümer in Fiore einander oft für Nichtigkeiten bis aufs Blut bekämpft hatten, und das war wohl auch der Grund, warum in den allgemeinen Abhandlungen über diese düstere Epoche nicht auch noch die Anti-Magie-Bewegungen thematisiert wurden. Erst nach der Thronbesteigung der Unsterblichen Kaiserin war das nach und nach abgeschwächt. Bestandteil jedes Bündnisvertrags der Herrscherin war die Gleichberechtigung aller Gruppen gewesen, Menschen und Nichtmenschen, Magier und Nichtmagier, Adlige und Gemeine, Männer und Frauen. Heute gab es nur noch einige wenige magierfeindliche Sekten, die oft nur lokalen Einfluss hatten – wenn überhaupt. Diese Recherchen hatten Levy letztendlich derartig bestärkt, dass sie zu Professor Neville, dem Dekan der Philologischen Fakultät, und zu Professorin Belno gegangen war und um Heimaturlaub gebeten hatte. Sie hatte mehr als einmal versucht, sich selbst einzureden, dass es nur wissenschaftliche Neugierde war, die sie dazu getrieben hatte, ein teures Postkutschenticket zu kaufen, aber in der letzten Nacht hatte sie sich eingestanden, dass sie Angst hatte. Der Wortlaut der Prophezeiung des Schwarzen Kometen hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt und lag ihr aus irgendeinem Grund schwer im Magen. Es fiel ihr schwer, sich überhaupt noch auf etwas anderes zu konzentrieren, und die ganze Sache verfolgte sie sogar bis in ihre Träume. Beängstigende Träume von Schemen, die ihr bekannt vorkamen, obwohl sie vollkommen unkenntlich waren… Ein heftiges Rucken der Kutsche riss Levy aus ihren Gedanken. Der Ellenbogen des Geldverleihers grub sich so tief in ihre Rippen, dass ihr ein Keuchen entfuhr, und der Jüngere der Jungen purzelte mit einem Schrei von seinem Sitz. Soweit Levy es beurteilen konnte, wurde er dabei nicht verletzt, dennoch begann er, herzerweichend zu weinen. Die Mutter ließ sich neben ihm auf den Boden der Kutsche sinken und zog ihn in ihre Arme, um ihn zu trösten und gleichzeitig nach Verletzungen abzutasten. Höchst wahrscheinlich hatte der Kutscher nichts gehört, denn er fuhr unbeirrt weiter in seinem halsbrecherischen Tempo – oder vielleicht hatte er es auch einfach ignoriert, Levy würde es ihm zutrauen. Der Geldverleiher stöhnte unverhohlen genervt, als der Junge sich nicht sofort beruhigen ließ. Dieses Mal warf Levy ihm einen empörten Blick zu, ehe sie auch von ihrem Platz glitt und aus ihrem Rucksack ein Stück Zuckergebäck zog, um es dem Jungen hin zu halten. Einer ihrer vielen Neffen war im selben Alter gewesen, als Levy das letzte Mal ihr Heimatdorf besucht hatte. Ein zart gebautes Kerlchen, das leicht in Tränen ausbrach, aber dafür ein wunderschönes, strahlendes Lächeln für jeden bereithielt, der nett zu ihm war. Bei ihrem Besuch hatte er Levy jeden Abend angebettelt, ihm eine Geschichte vorzulesen. Endlich konnte der Junge sich beruhigen und die Mutter bedankte sich bei Levy mit einem Lächeln, ehe sie sich und ihren Sohn mit Hilfe ihres Mannes zurück auf die Bank zog. Levy gab dem zweiten Jungen, der seinen Bruder neidisch anstarrte, das ihr verbliebene Zuckergebäck, dann drehte sie sich um, damit sie wieder auf ihren Platz klettern konnte, aber sie musste feststellen, dass der Geldverleiher darauf gerutscht war. Ihr blieb also nur, sich mit dem Mittelplatz zwischen ihm und dem Gesellen auf dem anderen Mittelplatz zu begnügen. Der Geselle bot Levy eine Hand an und so schaffte sie es auf die Bank zurück, nun den rechten Ellenbogen des Alten in der Seite. Seufzend schlang sie beide Arme um ihren Rucksack und schielte am Geldverleiher vorbei aus dem Fenster. Laut den Informationen des Postamtes dauerte die Reise nach Malba je nach Wetterlage drei bis vier Tage. Planmäßige Pausen würde es nur zum Pferdewechsel bei den Raststationen geben. Das war Levys erste richtige Reise und sie war sich sicher, dass sie sie nicht in guter Erinnerung behalten würde. Sie konnte nur hoffen, dass sich diese Strapazen auch lohnen würden…! 10 Tage vor der Opferung Ohne Natsu und Happy war es sehr still in der kleinen Reisegruppe geworden. Nicht dass Lucy und ihre Begleiter einander nichts zu sagen hatten – nein, sie waren Freunde, nicht einfach nur Fürstin und Eskorte –, aber Natsu hatte etwas an sich gehabt, das einen besonderen Schwung in die Gruppe gebracht hatte. In seiner Gegenwart hatte Lucy sich anders als sonst gefühlt. Frei und ausgelassen und zutiefst glücklich. Sie vermisste diese Gefühle und noch viele weitere. Das Kribbeln, das jedes Mal ihren Körper befallen hatte, wenn Natsu ihr nahe gekommen war. Das aufgeregte Herzklopfen, wenn er ihr in die Augen geblickt oder sie angelächelt hatte. Wann hatte es je zuvor einen Mann mit einem solchen Lächeln gegeben? Ein Lächeln so voller Wärme und Lebensfreude und Abenteuerlust. Lucy könnte dieses Lächeln für den Rest ihres Lebens betrachten und würde dessen doch nie überdrüssig, da war sie sich sicher. Lucy konnte gar nicht in Worte fassen, wie sehr sie den Pinkhaarigen vermisste! Dabei war ihrem vernünftig denkenden Teil sehr wohl klar, wie absurd das war, da sie Natsu doch erst seit einer Woche kannte. Beinahe hatte sie ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Freunden in Crocus, die sie doch schon viel länger kannte, an die sie jedoch während ihrer Zeit mit Natsu kaum noch einen Gedanken verschwendet hatte. Und ein bisschen ärgerte sie sich sogar über ihre Schwärmereien für den Pinkhaarigen, ahnte sie doch, wohin das führen mochte. Nicht dass es ihr als Fürstin grundsätzlich verboten wäre, aber es machte alles so viel komplizierter, einfach weil es Sehnsüchte in ihr weckte, die sich definitiv nicht mit ihren Pflichten vereinbaren ließen. So gesehen, war es vielleicht sogar gut, dass sie Natsu jetzt eine Weile nicht mehr sehen würde. Das würde ihr hoffentlich helfen, wieder vernünftig zu werden. Am Tag, als sie sich von Natsu und Happy getrennt hatten, waren sie gemütlich weiter geritten. Zwar hatte Loke gesagt, in Heartfilia würde man auf sie warten – und das stimmte ja auch –, aber in ihrem Brief hatte Lucy ihrem Vater keine konkrete Reisezeit genannt. Rein theoretisch hätten sie also noch ein paar Tage mehr mit dem Duo aus Magnolia verbringen können, doch als Loke das Thema Weiterreise auf den Tisch gebracht hatte, waren Lucy keine vernünftigen Argumente eingefallen, warum sie noch länger bei Natsu und Happy bleiben sollten. Mittlerweile waren sie vier Tage unterwegs. Sie hatten die formale Grenze von Magnolia und Heartfilia passiert, ohne einen richtigen Grenzposten oder dergleichen zu sehen, aber das war nicht ungewöhnlich. Zwischen den Adelshäusern Dreyar und Heartfilia und ihren Untertanen herrschte schon seit vier Generationen ein freundschaftlicher Friede. Richtige Grenzposten gab es nur an der Kaiserlichen Straße, aber die hatten Lucy und ihre Begleiter ja bewusst gemieden. Nun waren sie nur noch drei Tagesritte von Heartfilia entfernt. Langsam kehrte Lucys Nervosität zurück, die sie dank Natsu so gut hatte vergessen können: Ob sie eine gute Fürstin sein würde? An ihrer Ausbildung zweifelte sie nicht. Ihren Magisterabschluss hatte sie sich hart und ehrlich erarbeitet und auch im Unterricht von Meister Capricorn hatte sie sich behauptet. Aber hatte sie überhaupt das Zeug dazu, die Verantwortung für so viele Menschen und Geister zu tragen? Würde sie sich gegenüber den anderen Fürsten behaupten können? Würde etwa die legendäre Wüstenlöwin Minerva Orland von Sabertooth sie ernst nehmen? Sie mochten zwar fast gleich alt sein, aber Minerva saß bereits seit acht Jahren auf dem Fürstenthron. Und dann waren da noch Fürsten wie Makarov Dreyar von Magnolia, der weit mehr Lebens- und Regierungserfahrung besaß. Eigentlich hatte Lucy den alten Mann immer sehr gemocht, aber jetzt fühlte sie sich vom bloßen Gedanken an ihn eingeschüchtert. „Pun?“ Eine kleine, hellblaue Pfote legte sich auf Lucys Hand und Plues Gesicht schob sich in ihr Blickfeld. Die junge Frau musste lächeln. Dankbar strich sie über den Kopf des kleinen Wesensgeistes, der die Streicheleinheit mit einem zufriedenen „Pun“ belohnte. „Du solltest nicht an dir zweifeln, Lucy.“ Loke hatte sein Pferd neben ihres zurückfallen lassen und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Das Volk von Heartfilia steht geschlossen hinter dir und du hast deinen Vater, Meister Crux und Meister Capricorn, die dir immer zur Seite stehen werden. Du bist nicht alleine mit dieser Aufgabe und ich bin mir sicher, dass das auch für alle anderen Herrscher in Fiore gilt. So etwas wie Alleinherrschaft kann gar nicht funktionieren.“ Da war was dran. Selbst im Dorf der Eismenschen war es nie so, dass der Anführer alle Entscheidungen alleine fällte, das hatten Gray und Lyon ihr erzählt. Und wenn Levy jetzt hier wäre, könnte sie wahrscheinlich den ganzen Tag Beispiele runter rattern, die Lokes Worte untermauerten. Lucy wurde beim Gedanken an ihre Freunde warm ums Herz. „Du hast ja Recht. Ich bin einfach nur nervös“, erklärte Lucy matt lächelnd. „Wird schon“, brummte Gemini von hinten. Mit einem bekräftigenden „Pun!“ riss Plue die Arme hoch und wäre deshalb beinahe vom Pferd gerutscht, wenn Lucy ihn nicht aufgefangen hätte. Lächelnd blickte Lucy reihum ihre Freunde an und setzte Plue wieder vor sich auf das Sattelhorn. Sie war von tiefer Dankbarkeit erfüllt und fühlte sich ermuntert. Sie wollte ihr Bestes für die Bewohner von Heartfilia geben, damit ihre Mutter stolz auf sie sein konnte. Auch wenn Lucy kaum Erinnerungen an ihre Mutter hatte, war diese ihr doch unendlich wichtig. Anhand der gefühlvollen Erzählungen ihres Vaters war ihr Layla Heartfilia in gewisser Weise immer nahe geblieben. Deshalb dachte Lucy auch oft darüber nach, wie ihre Mutter wohl an ihrer Stelle handeln würde. Die Blonde wollte noch etwas zum Dank sagen, doch Sagittarius’ erhobene Faust ließ sie abrupt ihr Pferd zügeln. Die Stute riss erschrocken den Kopf hoch und spielte nervös mit den Ohren. Beruhigend tätschelte Lucy den Hals des Tieres und griff unwillkürlich nach dem Rapier an ihrer Hüfte. Scorpio und Gemini schlossen zu ihr auf und flankierten sie, während Loke vom Pferd stieg. Der Rappe scharrte mit dem linken Vorderhuf, blieb jedoch gehorsam stehen, während sein Reiter zu Sagittarius ging und sich neben diesem zu Boden kniete. Die Beiden strichen über etwas am Boden und sahen einander dann abwägend an. „Zwanzig“, murmelte Sagittarius. „Vielleicht fünfundzwanzig.“ Loke nickte angespannt und blickte über seine Schulter. „Gemini, wir gehen auf Nummer Sicher.“ Der Wesensgeist nickte und schwang sich aus dem Sattel, um seine Lederrüstung abzulegen und den Gürtel enger zu schnallen. „Nein!“, rief Lucy mit scharfer Stimme. „Gemini, ich will nicht, dass du dich in Gefahr begibst, indem du dich in mich verwandelst.“ Sie wollte sich ebenfalls aus dem Sattel schwingen, aber auf einmal hielt Scorpio sie fest am Oberarm gepackt und Gemini griff in die Zügel ihrer Stute. In seinen Iriden loderten die magischen Farben und seine Haare richteten sich steil auf. „Beleidige uns nicht, Lucy“, sagte der Wesensgeist schroff und seine Stimme hatte dabei den Doppelklang, den der Geist für gewöhnlich problemlos kaschieren konnte. „Wir haben einen Eid geleistet und wir sind bereit, ihn zu erfüllen. Dafür sind wir mit dir und den Anderen nach Crocus gekommen.“ Hektisch schüttelte Lucy den Kopf. Gemini und die Anderen waren ihre Freunde, keine Schachfiguren, die man einfach opferte! Flehend blickte Lucy Scorpio an, doch dessen sonst so heitere Miene war nun ernst und verschlossen. „Lucy…“ Lokes Stimmte war von sanfter Strenge erfüllt. Er hatte sich wieder aufgerichtet und blickte unerschütterlich ruhig zu ihr hinüber. „Hältst du mich für jemanden, der einfach so einen Kameraden opfert?“ „Natürlich nicht!“, erwiderte sie hastig. „Aber ihr könnt doch nicht einfach für mich mit entscheiden.“ „Doch, das können wir.“ Loke deutete auf das Wappen auf seiner Brust: Das Wappen der Heartfilias, flankiert von einem Schild und einem Schwert. „Ich bin dein Schild und Schwert, Lucy. Du hast mich dazu gemacht, weil du mir vertraust. Und ich habe mich dazu machen lassen, weil ich dir vertraue. Du bist unsere Fürstin, wir glauben an dich. Wir, die Geister, und wir, die Bewohner von Heartfilia. Also musst du auch an uns glauben. Das ist kein Opfer, sondern eine Vorsichtsmaßnahme. Im Fall eines tatsächlichen Angriffs kann Gemini schnell genug reagieren. Dafür hat er seit Jahren trainiert.“ Noch immer war Lucy unwohl bei der Sache, aber sie nickte resigniert und erhob keine Proteste mehr. Gemini tätschelte versöhnlich ihr Knie und trat dann einen Schritt zurück, um sich auf seine Magie konzentrieren zu können. Im nächsten Moment war er in Rauch gehüllt und als dieser sich verzog, erblickte Lucy ein Abbild ihrer selbst in den Männerkleidern, die Gemini getragen hatte. Schnell griff der Wesensgeist nach dem rutschenden Gürtel, um ihn noch etwas enger zu schnallen. Danach bückte er sich, um seine Lederrüstung wieder aufzuheben. Schweren Herzens rutschte Lucy aus dem Sattel und löste ihren Rapier mitsamt Scheide vom Gürtel, um ihn Gemini zu geben und dafür sein Langschwert und die Lederrüstung entgegen zu nehmen und anzulegen. Das Langschwert hing ungewohnt schwer an ihrer Hüfte. Gemini wedelte mit dem Rapier, als wäre der aus Papier. „Niedlich“, urteilte er und über seine nun weiblichen Gesichtszüge huschte ein verschmitztes Grinsen. Lucy brummte matt. Sie mochte ihren Rapier und für gewöhnlich setzte sie sich auch sehr energisch für die Verteidigung seiner Vorteile ein, aber jetzt war ihr danach absolut nicht zumute. Scorpio, der nun ebenfalls abgestiegen war, klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und führte sie zu Loke und Sagittarius hinüber. Letzterer deutete auf eine Spur – größtenteils von Füßen in festen Stiefeln –, welche die Straße gekreuzt hatte. „Zu viele für Wanderer oder Jäger und Händler hätten normal die Straße genommen, wenn sie schon hier entlang gekommen wären“, erklärte der Bogenschütze mit ernster Miene. „Es handelte sich also höchstwahrscheinlich um eine Räuberbande“, schlussfolgerte Gemini. Lucy erschauderte. Ihre eigene Stimme aus Geminis Mund zu hören, war irgendwie beunruhigend. „Eine ganz schön stümperhafte, wenn sie solche Spuren hinterlässt“, urteilte Scorpio ungnädig. „Aber eine zu große, um sie auf die leichte Schulter zu nehmen“, erwiderte Loke ernst. „Lucy, Gemini, ihr tauscht auch noch die Pferde. Versteck’ deine Haare, Lucy. Im Fall eines Angriffs werden wir uns nicht mit denen anlegen, sondern uns aufteilen. Lucy und ich schlagen uns nach Norden durch und dann nach Westen zurück bis nach Magnolia. Zur Not bitten wir Fürst Makarov um Geleit. Ihr Drei geht nach Süden und versucht, Heartfilia zu erreichen. Im Zweifelsfall verwandelt Gemini sich und fliegt mit Plue weiter, während Scorpio und Sagittarius nach eigenem Ermessen ausweichen.“ Hilflos sah Lucy zu, wie ihre Freunde mit grimmigen Mienen nickten. Dass jemand um ihretwillen sein Leben riskierte, war ihr ganz und gar nicht geheuer, aber gegen die Entschlossenheit der vier Geister kam sie nicht an. Schweren Herzens zog sie sich die Kapuze ihres Reiseumhangs über den Kopf, damit ihre Haare wie gewünscht versteckt waren. Mühelos schwang sie sich in den Sattel von Geminis langbeinigen Apfelschimmel, während der Wesensgeist ihre Fuchsstute bestieg. Zutiefst verwirrt blickte Plue immer wieder von Gemini zu Lucy und wieder zurück, blieb aber auf dem Sattelhorn er Fuchsstute sitzen. Loke lenkte seinen Rappen neben den Apfelschimmel und gab dann das Zeichen zum Aufbruch. Scorpio und Sagittarius ritten mit Gemini in ihrer Mitte voran, Loke und Lucy hinten. Es ging nun flotter voran. Solange die Pfade es zuließen, trabten sie. Als auch nach einer halben Stunde nichts Interessanteres passiert war, als dass eine Bache mit einem Dutzend Frischlingen vor ihnen über den Weg gehetzt war, entspannte sich Lucy etwas. Vielleicht war die Räuberbande schnurgerade weiter nach Süden gezogen. Sobald sie in Heartfilia waren, mussten sie einen ausreichend großen Trupp hierher schicken, um sicher zu gehen, dass die Dörfer am Waldrand nicht behelligt wurden. Lucy hatte sich ihre erste Amtshandlung als Fürstin von Heartfilia wirklich anders vorgestellt. Gerade wollte sie sich Loke zuwenden, um eine Schrittpause zu erbitten, als der Feuergeist einen Wahnruf ausstieß und Lucy nach vorn auf den Hals ihres Pferdes drückte. Über ihren Köpfen hörte die Blonde es zischen und rechts von ihr bleiben zwei Pfeile in Bäumen stecken. „Galopp!“, brüllte Loke und instinktiv schmiegte Lucy ihr rechtes Bein an den Bauch des Apfelschimmels. Der Hengst schnaubte laut und verfiel in einen weitausholenden Galopp. Lucy ging in den leichten Sitz und stützte sich am Hals ihres Tieres ab, die Zügel lang, um ihm viel Raum zum Laufen zu geben. Vor ihnen preschten die Pferde von Gemini, Scorpio und Sagittarius dahin. Lokes und Lucys Hengste wurden vom Herdentrieb erfasst und beschleunigten, um zu ihren Artgenossen aufzuschließen. „Vorne!“, brüllte Scorpio und blickte über seine Schulter. „Mehr als ein Dutzend!“ „Folgt dem Plan!“, rief Loke in Geistzunge zurück. „Für Stern und Heimat!“ Die anderen drei Geister wiederholten die Formel und brachen nach rechts aus. Lucy zog die Zügel an und drückte fester mit dem rechten Bein. Gemeinsam mit Lokes Rappen brach der Apfelschimmel nach links aus und ins Unterholz ein. Lucy beugte sich noch tiefer über den Hals ihres Tieres, um ihr Gesicht vor tief hängenden Zweigen zu schützen. Ihr Herz schlug so laut, dass sie kaum etwas um sich herum mit bekam. Vor sich sah sie Loke auf dem Rappen. Sie überließ es ihrem Pferd, ihnen zu folgen. Ob sie nur Minuten oder Stunden ritten, konnte Lucy später nicht mehr sagen, aber irgendwann tauchten vor ihnen mehrere Pferde auf. Loke riss nach links aus, aber dann tauchten weitere Pferde auf, insgesamt mochten es jetzt zehn oder mehr sein. Das erste, ein reinweißer Schimmel, wurde von einem Mann mit feminin anmutenden Gesichtszügen und sorgsam gepflegten blonden Haaren geritten, der ein bestialisch großes Schwert mit schwarzer Klinge gezogen hatte. Ein Berserker-Schwert, erkannte Lucy. „Zurück“, rief Loke ihr in Geistzunge zu. „Ich lenke sie ab.“ Als Lucy zögerte, streckte er die Hand nach ihr aus und ließ einen schwachen Schwall Funken hinaus schießen, gefolgt von einem Löwenbrüllen. Lucys Pferd scheute und nahm Reißaus. Über ihre Schulter blickend sah Lucy noch, wie ihr Schild und Schwert seine eigene Klinge zog und sich dem blonden Krieger mit dem Berserker-Schwert stellte. Lokes Haare wurden länger und noch mehr Funken stoben auf. Als ihr Pferd strauchelte, richtete Lucy ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn und blinzelte die aufkommenden Tränen fort. Sie weigerte sich, zu glauben, dass dies das letzte Mal gewesen war, dass sie ihren treuen Freund gesehen hatte! Lucy presste ihre Schenkel hart gegen de Bauch des Pferdes und ließ die Zügel fahren, lenkte nur noch mit Schenkeldruck. Hinter sich hörte sie das Löwengebrüll erneut, gefolgt von Rufen und Schwerterklirren, aber sie blickte nicht noch mal zurück, sondern trieb ihr Pferd weiter an. Sie hatte keine Ahnung mehr, in welche Richtung sie eigentlich ritt, aber das war jetzt auch nicht wichtig. Spätestens in der Nacht würde es ein Kinderspiel für sie, sich zu orientieren, aber jetzt musste sie so viel Abstand wie irgend möglich zwischen sich und ihre Häscher bringen. Unter keinen Umständen durfte das, was ihre Freunde auf sich genommen hatten, um sie zu schützen, umsonst gewesen sein! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)